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Sechzehntes Kapitel

Abschied von der Freiheit

Sommer 1567 bis Sommer 1568

Die dunkeltragischen Szenen der Bothwell-Tragödie hätte nur ein Shakespeare vollendet als Dichtung gestalten können; die mildere, romantisch-rührselige des Nachspiels auf dem Schlosse Lochleven hat ein anderer, ein Geringerer gedichtet, Walter Scott. Und doch, wer sie als Kind, als Knabe gelesen, dem ist sie innerlich wahrer geblieben als die historische Wahrheit, denn in manchen seltenen, begnadeten Fällen siegt die schöne Legende über die Wirklichkeit. Wie haben wir alle als junge und leidenschaftliche Menschen diese Szenen geliebt, wie haben sie sich bildhaft eingeprägt in unser Gemüt, wie unsere Seele mit Mitleid umfangen! Denn alle Elemente des romantischen Rührenden waren hier im Stoff gleichsam schon vorbereitet; da waren die grimmen Wächter, welche die unschuldige Prinzessin bewachen, die Verleumder, die ihre Ehre geschmäht, da war sie selbst, jung, gütig und schön, die Strenge der Feinde magisch in Milde verwandelnd, die Herzen der Männer zu ritterlicher Hilfe berauschend. Und romantisch wie das Motiv auch die Szenerie: eine finstere Burg inmitten eines lieblichen Sees. Vom Söller kann die Prinzessin verschleierten Blicks hinaussehen in ihr schönes schottisches Land mit seinen Wäldern und Bergen, seiner Anmut und seiner Lieblichkeit, und irgendwo wogt ferne das nordische Meer. Alles, was an poetischer Kraft im Herzen des schottischen Volkes verborgen war, konnte sich kristallinisch sammeln um diesen romantischen Schicksalsaugenblick seiner geliebten Königin, und wenn eine solche Legende einmal vollendet geschaffen ist, dann dringt sie tief und unlösbar in das Blut einer Nation. Mit jedem Geschlecht erzählt und beglaubigt sie sich neu, wie ein unverwelklicher Baum treibt sie von Jahr zu Jahr neue Blüte, arm und achtlos liegen neben dieser höheren Wahrheit die papierenen Dokumente der Tatsachen, denn was einmal schön erschaffen wurde, bewahrt durch die Schönheit sein Recht. Und wenn man späterhin, reifer und mißtrauischer geworden, versucht, die Wahrheit hinter dieser rührenden Legende zu finden, so wirkt sie dann frevlerisch nüchtern, als schriebe man den Inhalt eines Gedichtes in kalter, trockener Prosa auf.

Aber es ist die Gefahr jeder Legende, daß sie das wahrhaft Tragische verschweigt zugunsten des bloß Rührseligen. So unterdrückt auch die romantische Ballade von Maria Stuarts Gefangenschaft auf Lochleven ihre wahre, ihre innerste, ihre menschlichste Not. Dies eine hat Walter Scott beharrlich zu erzählen vergessen, daß diese romantische Prinzessin damals von dem Mörder ihres Mannes schwanger war, und gerade dies war in Wahrheit ihre furchtbarste Seelennot in jenen furchtbaren Monaten der Erniedrigung. Denn, wenn das Kind, das sie im Schöße trägt, vorzeitig, wie es zu erwarten ist, zur Welt kommt, dann kann auch mitleidslos nachgezählt werden in dem untrüglichen Kalender der Natur, wann sie sich Bothwell körperlich hingegeben. Den Tag und die Stunde, man kennt sie nicht, aber jedenfalls war es zu einer nach Fug und Sitte unerlaubten Zeit, da Liebe entweder Ehebruch oder Unbeherrschtheit war, vielleicht in der Trauerzeit um den verstorbenen Gatten, in Seton und auf den sonderbaren Fahrten von Schloß zu Schloß, vielleicht und wahrscheinlich schon vordem und noch zu Lebzeiten ihres Gatten – schmählich das eine und schmählich das andere. Und nur dann begreift man die ganze Not dieser verzweifelten Frau, wenn man sich erinnert, daß die Geburt des Bothwell-Kindes der ganzen Welt kalendarisch klar den Anbeginn ihrer verbrecherischen Leidenschaft aufgedeckt hätte.

Aber von diesem Geheimnis ist der Schleier nie gelüftet worden. Wir wissen nicht, wie weit Maria Stuarts Schwangerschaft vorgeschritten war, als man sie nach Lochleven brachte, nicht, wann sie von ihrer Gewissensangst erleichtert wurde, nicht, ob das Kind lebend geboren wurde oder tot, wir wissen nichts eindeutig Aufklärendes, nicht, wie viele Wochen oder wie viele Monate diese Frucht der ehebrecherischen Liebe gezählt, als man sie beiseite schaffte. Alles ist hier Dunkel und Vermutung, denn ein Zeugnis spricht gegen das andere, und nur das eine ist gewiß, daß Maria Stuart guten Grund haben mußte, die Daten jener Mutterschaft zu verdunkeln. In keinem Brief, mit keinem Wort hat sie – verdächtig schon dies – je dieses Bothwell-Kindes mehr Erwähnung getan. Nach dem von Maria Stuarts Sekretär Nau ausgearbeiteten Bericht, dessen Abfassung sie persönlich überwachte, hätte sie vorzeitig lebensunfähige Zwillinge zur Welt gebracht – vorzeitig, und man könnte die Mutmaßung beifügen, nicht ganz zufälligerweise vorzeitig, denn gerade ihren Apotheker nahm sie mit in die Gefangenschaft. Nach einer anderen, ebenfalls nicht verbürgten Version wäre das Kind, ein Mädchen, lebend zur Welt gekommen, heimlich nach Frankreich geschafft worden und dort in einem Nonnenkloster, seiner königlichen Herkunft unkundig, gestorben. Aber kein Raten hilft vor diesem Unerforschlichen und kein Raunen, hier bleiben die Tatsachen für ewige Zeiten verschattet. Versenkt ist der Schlüssel dieses ihres letzten Geheimnisses in den Tiefen des Teichs von Lochleven.

 

Schon diese eine Tatsache aber, daß ihre Hüter das für Maria Stuarts Ehre so gefährliche Geheimnis der Geburt oder Frühgeburt jenes Bastards im Schlosse Lochleven verdunkeln halfen, beweist, daß sie nicht die böswilligen Kerkermeister waren, wie die romantische Legende sie schwarz in schwarz gezeichnet hat. Lady Douglas of Lochleven, der Maria Stuart anvertraut wurde, war vor mehr als dreißig Jahren die Geliebte ihres Vaters gewesen, sechs Kinder hatte sie James V. geboren, darunter als ältestes den Earl of Moray, ehe sie sich dem Grafen Douglas of Lochleven vermählte, dem sie abermals sieben Kinder schenkte. Eine Frau, die schon dreizehnmal die Qualen der Geburt erlebt, die selbst die Seelennot erlitten, ihre ersten Kinder nicht ehelich anerkannt zu wissen, war befähigt, besser als jede andere Maria Stuarts Sorge zu verstehen. Alle Härte, die man ihr nachsagt, dürfte Fabel und Erfindung sein, und man kann vermuten, daß sie die Gefangene ausschließlich wie einen ehrenvollen Gast behandelte. Maria Stuart bewohnt eine ganze Flucht von Räumen, sie hat ihren Koch mit, ihren Apotheker, vier oder fünf Frauen zu ihrer Bedienung, in keiner Weise war sie in ihrer Freiheit innerhalb des Schlosses gehemmt, und es scheint ihr sogar erlaubt gewesen zu sein, zu jagen. Macht man sich von all der romantischen Rührseligkeit frei und versucht, gerecht zu sehen, so muß man ihre Behandlung eine durchaus nachsichtige nennen. Denn schließlich – die Romantik läßt es vergessen – hat sich diese Frau zumindest grober Fahrlässigkeit schuldig gemacht, indem sie drei Monate nach der Ermordung ihres Gatten den Mörder heiratete, und auch ein neuzeitliches Gericht würde sie bestenfalls, dank des mildernden Umstandes der Geistesverwirrung oder der Hörigkeit, von der Mitschuld freisprechen können. Wenn man also diese Frau, die durch ihr skandalöses Verhalten ihr Land in Unruhe getrieben und ganz Europa entrüstet hat, für einige Zeit gewaltsam zur Ruhe setzte, so war damit nicht nur dem Lande, sondern ihr selbst ein Gefallen getan. Denn in diesen Wochen der Abgeschlossenheit ist der erregten Frau endlich Gelegenheit gegeben, ihre überreizten Nerven zu beruhigen, die innere Festigkeit, den von Bothwell verstörten Willen wiederzugewinnen; eigentlich hat ja diese Haft von Lochleven die allzu Verwegene für ein paar Monate vor dem Gefährlichsten, vor ihrer eigenen Unrast und Ungeduld, geschützt.

 

Milde Strafe für so viele Torheiten muß man diese romantische Haft vor allem nennen, vergleicht man sie mit der ihres Mitschuldigen und Geliebten. Denn wie anders faßt das Schicksal Bothwell an! Über Land und Meer wird der Geächtete trotz dem gegebenen Versprechen von der Meute gejagt, tausend schottische Kronen werden auf seinen Kopf gesetzt, und Bothwell weiß, auch sein bester Freund in Schottland würde ihn dafür verraten und verkaufen. Aber leicht ist dieser Verwegene nicht zu fassen: erst versucht er, seine Borderers zusammenzuraffen zu einem letzten Widerstand, dann flüchtet er auf die Orkney-Inseln hinüber, um von dort aus Krieg gegen die Lords zu entfesseln. Aber Moray setzt ihm mit vier Schiffen auf die Inseln nach, und nur mit Mühe entkommt der Gejagte auf einer erbärmlichen Nußschale von Schiff in den offenen Ozean. Dort faßt ihn der Sturm. Mit zerfetzten Segeln treibt die nur für Küstenfahrt bestimmte Barke gegen Norwegen zu, wo sie schließlich von einem dänischen Kriegsschiff angehalten wird. Bothwell sucht unerkannt zu bleiben, um seiner Auslieferung zu entgehen. Er borgt sich von der Schiffsmannschaft gewöhnliches Gewand, lieber will er als Pirat gelten denn als der gesuchte König von Schottland. Aber schließlich wird er erkannt, von einem Ort zum andern geschleppt, eine Zeitlang in Dänemark in Freiheit gesetzt, und schon scheint er glücklich gerettet. Aber da erreicht den hitzigen Frauenräuber unvermutete Nemesis; seine Lage verschlimmert sich dadurch, daß eine dänische Frau, die er seinerzeit unter der Zusage der Ehe verführt, gegen ihn Klage einbringt. Inzwischen hat man auch in Kopenhagen Genaueres erfahren, welchen Verbrechens er beschuldigt wird, und von nun an schwebt das Beil ständig über seinem Haupte. Diplomatische Kuriere sausen hin und her, Moray fordert seine Auslieferung und noch stürmischer Elisabeth, um einen Kronzeugen gegen Maria Stuart zu haben. Heimlich aber sorgen die französischen Verwandten Maria Stuarts dafür, daß der König von Dänemark diesen gefährlichen Zeugen nicht ausliefere. Immer schärfer wird jetzt die Haft, und doch ist der Kerker noch sein einziger Schutz vor der Rache. Jeden Tag muß der Mann, der hundert Feinden in der Schlacht kühn und verwegen gegenübergestanden wäre, befürchten, in Ketten heimgeschickt und unter den erdenklichsten Martern als Königsmörder hingerichtet zu werden. Unablässig wechselt er Gefängnis gegen Gefängnis, immer enger wird er eingeschlossen, immer strenger hinter Gittern und Mauern gehalten wie ein gefährliches Tier, bald weiß er, nur der Tod wird ihn erlösen. In furchtbarer Einsamkeit und Tatlosigkeit verbringt der starke, vollsaftige Mann, der Schrecken seiner Feinde, der Liebling der Frauen, Wochen und Wochen, Monate und Monate, Jahre und Jahre, und bei lebendigem Leibe verfault und vergeht dieses riesige Stück Leben. Ärger als Folter, ärger als Tod ist für diesen Unbändigen, der nur im Übermaß der Kraft, nur in grenzenloser Freiheit sich voll empfunden, der über die Felder gestürmt zur Jagd, der zum Kampf geritten mit seinen Getreuen, der Frauen genommen in allen Ländern und an geistigen Dingen seine Lust gehabt, diese gräßliche, tatenlose Einsamkeit zwischen kalten, stummen und dunklen Wänden, diese Leere der Zeit, die seine Lebensfülle zerdrückt. Berichte melden – und man kann sie glaubhaft nennen –, daß er wie ein Rasender getobt habe gegen die eisernen Gitter und im Wahnsinn erbärmlich zugrunde gegangen sei. Von allen den vielen, die für Maria Stuart Tod und Marter erlitten, hat dieser, den sie am meisten liebte, am längsten und fürchterlichsten gebüßt.

Aber denkt Maria Stuart noch an Bothwell? Wirkt der Bann der Hörigkeit noch aus der Ferne, oder löst sich leise und langsam der glühende Ring? Man weiß es nicht. Auch dies ist ein Geheimnis geblieben wie vieles andere in ihrem Leben. Nur eines sieht man überrascht: kaum vom Kindbett genesen, kaum von ihrer mütterlichen Last befreit, übt sie als Frau wieder den alten Zauber, abermals geht Unruhe von ihr aus. Abermals, zum dritten Male, zieht sie einen jungen Menschen in ihren Schicksalskreis.

Man muß es immer wiederholen und beklagen: die überlieferten Bilder Maria Stuarts, meist bloß von mittleren Malern geschaffen, geben uns keinen Blick in ihr wahres Wesen. Immer halten sie kühl und flach nur ein anmutiges, ruhiges, freundlich gewinnendes und weiches Gesicht uns entgegen, nichts aber lassen sie von dem sinnlichen Reiz ahnen, der dieser merkwürdigen Frau zu eigen gewesen sein muß. Irgendeine besondere frauliche Macht muß von ihr werbend ausgestrahlt sein, denn überall gewinnt sie sich Freunde, selbst inmitten ihrer Feinde. In Brautzeit und Witwenzeit, auf jedem Thron und in jedem Gefängnis weiß sie um sich eine Aura von Sympathie zu schaffen und die Luft um sich weich und freundlich zu machen. Kaum ist sie in Lochleven, so hat sie schon den jungen Lord Ruthven, einen ihrer Wächter, derart gefügig gemacht, daß sich die Lords genötigt sehen, ihn zu entfernen. Und kaum verläßt er das Schloß, so bezaubert sie schon einen andern, den jungen Lord Georges Douglas of Lochleven. Nach wenigen Wochen ist der Sohn ihrer Wächterin schon bereit, alles für sie zu tun, und tatsächlich wird er für die Flucht ihr getreuester, hingebungsvollster Helfer.

 

War er bloß Helfer? War der junge Douglas ihr nicht mehr in diesen Monaten der Haft? Ist diese Neigung wirklich ganz chevaleresk und platonisch geblieben? Ignorabimus. Aber jedenfalls nützt Maria Stuart die Leidenschaft des jungen Menschen auf das praktischeste aus und spart nicht mit Täuschung und List. Außer ihrem persönlichen Reiz hat eine Königin immer noch eine andere Lockung: die Verführung, mit ihrer Hand auch die Herrschaft zu gewinnen, wirkt magnetisch auf jeden, der ihr begegnet. Es scheint, daß Maria Stuart – hier kann man nur Vermutungen wagen und keine Behauptungen – der geschmeichelten Mutter des jungen Douglas die Möglichkeit einer Ehe vorgetäuscht hat, um sie nachsichtiger zu stimmen, denn nach und nach wird die Überwachung lässiger, und Maria Stuart kann endlich an das Werk gehen, dem alle ihre Gedanken gehören: an ihre Befreiung.

 

Der erste Versuch (am 25. März) mißlingt, obwohl er geschickt geplant war. Jede Woche wird eine Wäscherin mit andern Mägden in einem Boot über den See hinüber und zurückgerudert. Douglas weiß sie zu überreden, und sie erklärt sich bereit, mit der Königin die Kleider zu tauschen. Im groben Kleide der Magd und durch einen dichten Schleier vor dem Erkanntwerden geschützt, gelangt Maria Stuart glücklich durch das streng bewachte Schloßtor. Schon wird sie über den See gerudert, an dessen anderem Ufer sie Georges Douglas mit Pferden erwarten soll. Da fällt es einem der Bootsleute ein, mit dem schlanken, verschleierten Wäschermädchen zu scharmutzieren. Er versucht, um zu sehen, ob sie hübsch sei, ihr den Schleier zu lüften. Maria Stuart hält ihn aber erregt fest mit ihren schmalen, zarten, weißen, feinen Händen. Jedoch gerade die Zartheit, die Feinheit, die einer Wäscherin unangemessene Gepflegtheit der Finger verrät sie. Sofort schlagen die Schiffsleute Alarm, und obwohl die Königin ihnen zornig befiehlt, sie an das andere Ufer zu rudern, bringt man sie wieder in ihr Gefängnis zurück.

Der Vorfall wird sofort gemeldet und daraufhin die Überwachung verschärft. Georges Douglas darf das Schloß nicht mehr betreten. Das hindert ihn aber nicht, in der Nähe und in Verbindung mit der Königin zu bleiben; als getreuer Bote übermittelt er Nachrichten an ihre Anhänger. Denn siehe, obzwar verfemt und als Mörderin überwiesen, hat nach einem Jahr der Moray-Regierung die Königin wieder Anhänger. Einige der Lords, die Huntlys und Setons vor allem, waren der Königin – nicht zum mindesten aus Haß gegen Moray – unbedingt ergeben geblieben. Aber merkwürdigerweise findet Maria Stuart ihre beste Gefolgschaft gerade bei den Hamiltons, die bisher ihre grimmigsten Gegner gewesen. An sich steht zwar zwischen den Hamiltons und den Stuarts uralter Feud. Immer haben die Hamiltons als das nächstmächtigste Geschlecht den Stuarts die schottische Krone mißgönnt und für ihren Clan angestrebt; nun winkt plötzlich die Möglichkeit, durch eine Heirat mit Maria Stuart einen der Ihren zum Herrn über Schottland zu machen. Und sofort treten sie – Politik hat nichts mit Moral zu schaffen – auf die Seite der Frau, deren Hinrichtung als Mörderin sie erst vor wenigen Monaten gefordert. Es ist kaum anzunehmen, daß es Maria Stuart Ernst war mit dem Gedanken (ist Bothwell schon vergessen?), einen Hamilton zu heiraten. Wahrscheinlich hat sie ihre Zustimmung nur aus Berechnung gegeben, um frei zu werden. Georges Douglas, dem sie sich zur andern Hand versprochen hat – verwegenes Doppelspiel einer Verzweifelten –, dient als Bote in dieser Sache und leitet die entscheidende Aktion. Am 2. Mai ist alles reif; und immer, wo Mut gilt statt der Klugheit, hat Maria Stuart niemals versagt.

 

Diese Flucht geschieht so romantisch, wie es einer romantischen Königin geziemt: Maria Stuart oder Georges Douglas haben unter den Insassen des Schlosses einen kleinen Jungen, William Douglas, der dort als Page dient, zur Hilfe gewonnen, und der flinke aufgeweckte Bursche macht seine Aufgabe geschickt. Die strenge Hausordnung verlangt, daß bei dem gemeinsamen Abendessen im Schlosse Lochleven alle Schlüssel der Ausgangspforten zur Sicherheit auf den Tisch zur Seite des Schloßverwalters gelegt werden, der sie dann nachts mitnimmt, um sie unter seinem Kopfkissen zu bewahren. Aber selbst bei den Mahlzeiten will er sie sichtbar zur Hand haben: so liegen sie auch diesmal schwer und metallen vor ihm auf dem Tisch. Während des Servierens wirft nun der kleine gewitzte Junge dem Schloßverwalter rasch eine Serviette über die Schlüssel, und indes die Tafelgesellschaft, reichlich mit Wein bewirtet, sorglos weiterplaudert, nimmt er beim Abräumen unbeachtet mit der Serviette auch die Schlüssel mit sich. Dann geschieht alles mit vorbereiteter Eile; Maria Stuart verkleidet sich in die Tracht einer ihrer Dienerinnen, der Knabe läuft nun voran, schließt die Türen von innen auf und versperrt sie sorgfältig von außen, so daß niemand rasch nachfolgen kann; die Schlüssel selbst wirft er in den See. Vordem hat er schon alle vorhandenen Boote zusammengekoppelt und führt sie mit dem seinen in den See hinaus; damit ist ein Nachsetzen unmöglich gemacht. Jetzt braucht er nur mit raschen Ruderschlägen den Kahn in der warmen mailichten Nacht an das andere Ufer des Sees zu treiben, und dort warten schon Georges Douglas und Lord Seton mit fünfzig Reitern. Die Königin, ohne zu zögern, schwingt sich aufs Pferd und galoppiert die ganze Nacht durch bis zum Schlosse der Hamiltons. Mit der Freiheit ist auch die alte Kühnheit wieder in ihr erwacht.

Das ist die berühmte Ballade von der Flucht Maria Stuarts aus dem flutumwogten Schloß, dank der Hingebung eines glühenden jungen Menschen und der Aufopferung eines Knaben; man lese sie in ihrer Romantik bei Walter Scott gelegentlich nach. Etwas kühler denken darüber die Chronisten. Sie meinen, die strenge Hüterin Lady Douglas sei nicht so ganz ahnungslos gewesen, wie sie sich stellte und dargestellt wird, und habe überhaupt diese schöne Geschichte nur nachträglich ersonnen, um die Lauheit und gewünschte Blindheit der Wächter zu entschuldigen. Aber man soll Legenden, wenn sie schön sind, nicht zerstören. Warum dies letzte romantische Abendlicht im Leben Maria Stuarts verdunkeln? Denn schon steigen am Horizont die Schatten. Zu Ende sind die Abenteuer, und zum letztenmal hat diese junge, kühne Frau Liebe erregt und Liebe erfahren.

 

Nach einer Woche hat Maria Stuart eine Armee von sechstausend Mann beisammen. Noch einmal scheint sich das Gewölk zerstreuen zu wollen, einen Augenblick lang sieht sie wieder günstige Sterne über ihrem Haupt. Nicht nur die Huntlys, die Setons, die alten Gefährten sind gekommen, nicht nur der Clan der Hamiltons hat sich in ihre Dienste gestellt, sondern erstaunlicherweise auch der Großteil des schottischen Adels, acht Grafen, neun Bischöfe, achtzehn Lords und über hundert Barone. Erstaunlicherweise und doch nicht erstaunlicherweise, denn in Schottland darf nie einer wirklich Herr sein, ohne daß der Adel sich gegen ihn auflehnte. Morays Härte hat die Lords aufsässig gemacht: lieber wollen sie, ob auch hundertfach schuldig, eine demütige Königin als diesen strengen Regenten. Auch das Ausland bekräftigt sofort die befreite Königin in ihrer Stellung. Der französische Gesandte sucht Maria Stuart auf, um ihr, der rechtmäßigen Herrscherin, zu huldigen. Elisabeth sendet auf die »freudige Nachricht ihres Entkommens« hin einen eigenen Botschafter. Ungleich gefestigter und aussichtsreicher ist ihre Stellung in dem Jahr der Gefangenschaft geworden, wunderbar hat sich das Blatt gewendet. Aber als ob eine düstere Ahnung sie bewegte, sucht Maria Stuart, sonst so mutig und kampffroh, eine Entscheidung durch Waffen zu vermeiden, lieber wäre ihr eine stille Aussöhnung mit dem Bruder; einen kleinen dünnen Glanz von Königtum, wenn er ihn ihr jetzt gönnte, und die schwer Geprüfte würde ihm die Macht belassen. Etwas von der Kraft – die nächsten Tage werden es zeigen –, die in ihr lebte, solange der eherne Wille Bothwells sie stählte, scheint gebrochen, und nach all den Sorgen und Nöten und Qualen, nach all den wilden Feindseligkeiten ersehnt sie nur eines noch: Freiheit, Frieden und Rast. Aber Moray denkt nicht mehr daran, Macht zu teilen. Sein Ehrgeiz und der Ehrgeiz Maria Stuarts sind Kinder desselben Vaters, und gute Helfer schmieden mit an seiner Entschlossenheit. Während Elisabeth ihre Glückwünsche an Maria Stuart sendet, drängt seinerseits Cecil, der englische Staatskanzler, auf ihn energisch ein, doch endgültig mit Maria Stuart und der katholischen Partei in Schottland ein Ende zu machen. Und Moray zögert nicht lange: er weiß, solange diese Unnachgiebige in Freiheit ist, wird nicht Ruhe in Schottland sein. Ihn lüstet es, für immer mit den schottischen aufständischen Lords abzurechnen und ein Exempel zu statuieren. Mit seiner gewohnten Energie rafft er über Nacht eine Armee zusammen, schwächer an Zahl als die Maria Stuarts, aber besser geführt und diszipliniert. Ohne weitere Verstärkungen abzuwarten, marschiert er von Glasgow ab. Und am 13. Mai kommt es bei Langside zur endgültigen Abrechnung zwischen der Königin und dem Regenten, zwischen Bruder und Schwester, zwischen Stuart und Stuart.

 

Die Schlacht bei Langside ist kurz, aber entscheidend. Sie beginnt nicht wie jene von Carberry Hill mit langem Zögern und Parlieren; in einer Attacke werfen sich die Reiterscharen Maria Stuarts gegen den Feind. Aber Moray hat seine Position gut gewählt, die feindliche Kavallerie wird, ehe sie den Hügel erstürmen kann, durch scharfes Feuer zersprengt und in einem Gegenangriff die ganze Linie geworfen. Nach dreiviertel Stunden ist alles zu Ende. In wilder Flucht stiebt, ihre Kanonen und dreihundert Tote zurücklassend, die letzte Armee der Königin auseinander.

Maria Stuart hat dem Kampf von einer Anhöhe aus zugesehen; sobald sie merkt, daß alles verloren ist, eilt sie den Hügel hinab, schwingt sich auf ein Pferd und jagt, von wenigen Reitern begleitet, in scharfem Galopp davon. An Widerstand denkt sie nicht mehr, eine grauenhafte Panik hat sie überkommen. Ohne zu rasten, es ist ein toller Ritt über Weidland und Moore, durch Wälder und Felder, jagt sie den ersten Tag vorwärts, von dem einzigen Gedanken befeuert: nur sich retten! »Ich habe«, schreibt sie später an den Kardinal von Lothringen, »Beschimpfungen, Verleumdungen, Gefangenschaft, Hunger, Kälte, Hitze erlitten, ich bin geflohen, ohne zu wissen, wohin, zweiundneunzig Meilen durch das Land, ohne Mahlzeit und Rast. Ich mußte auf der nackten Erde schlafen, saure Milch trinken und Hafergrütze ohne Brot essen. Drei Nächte habe ich wie eine Eule, ohne eine Frau zu meiner Hilfe, in diesem Lande gelebt.« Und so, im Bilde dieser letzten Tage, als kühne Amazone, als heroisch-romantische Gestalt, ist sie im Gedächtnis ihres Volkes geblieben. Vergessen sind heute in Schottland ihre Schwächen und Torheiten, vergeben und entschuldigt die Vergehen ihrer Leidenschaft. Nur dies eine Bild ist geblieben, das der sanften Gefangenen auf dem einsamen Schloß, und dann das andere der kühnen Reiterin, die, um ihre Freiheit zu retten, auf schäumendem Pferd durch die Nacht stürmt und tausendmal lieber den Tod wagt, als sich ängstlich und feige ihren Feinden zu ergeben. Dreimal schon ist sie so nächtlich geflohen, das erstemal mit Darnley aus Holyrood, das zweitemal in Männertracht aus dem Schloß Borthwick Castle zu Bothwell, das drittemal mit Douglas aus dem Schlosse von Lochleven. Dreimal hat sie mit solchem scharfen, verwegenen Ritt sich die Freiheit und Krone gerettet. Nun rettet sie nichts mehr als das nackte Leben.

 

Am dritten Tage nach der Schlacht bei Langside erreicht Maria Stuart die Abtei Dundrennan in der Nähe des Meeres. Hier endet ihr Reich. Bis an die äußerste Grenze ihres Gebietes hat man sie gehetzt wie ein flüchtiges Wild. Für die Königin von gestern gibt es jetzt keine sichere Stelle mehr in ganz Schottland, es gibt kein Zurück; in Edinburgh wartet unnachsichtig John Knox und noch einmal der Hohn des Pöbels, noch einmal der Haß der Geistlichkeit und vielleicht Pranger und Feuerbrand. Ihre letzte Armee ist geschlagen, ihre letzte Hoffnung zerstoben. Nun kommt eine schwere Stunde der Wahl. Hinter ihr liegt das verlorene Land, in das kein Weg mehr zurückführt, vor ihr das unendliche Meer, das zu allen Ländern führt. Sie kann hinüber nach Frankreich, sie kann hinüber nach England, sie kann hinüber nach Spanien. In Frankreich ist sie aufgezogen, dort hat sie Freunde und Verwandte, dort wohnen noch viele, die sie lieben, die Dichter, die sie besungen haben, die Edelleute, die sie begleitet; schon einmal hat dieses Land sie gastlich aufgenommen und mit Prunk und Pracht gekrönt. Aber gerade, weil sie dort Königin gewesen, geschmückt mit allem Glanz dieser Erde, erhoben als Höchste über die höchsten des Reichs, will sie dorthin nicht zurückkehren als Bettlerin, als Bittstellerin mit zerrissenen Kleidern und beschmutzter Ehre. Sie will nicht das höhnische Lächeln der haßvollen Italienerin Katharina von Medici sehen, nicht irgendein Almosen annehmen oder sich in ein Kloster einsperren lassen. Auch zu dem frostigen Philipp nach Spanien wäre eine Flucht Erniedrigung: nie wird der bigotte Hof verzeihen, daß sie Bothwell vor einem protestantischen Priester die Hand zum Bunde gereicht, daß sie den Segen eines Ketzers empfangen. So bleibt eigentlich nur eine Wahl, die keine Wahl mehr ist, sondern ein Zwang: hinüber nach England. Hat denn nicht gerade in den aussichtslosesten Tagen der Gefangenschaft Elisabeth ihr ermutigend sagen lassen, »sie könne jederzeit auf die Königin von England als eine sichere Freundin zählen«? Hat sie nicht feierlich versprochen, sie als Königin wieder einzusetzen? Hat Elisabeth ihr nicht einen Ring gesandt als Zeichen, dessen sie sich jederzeit zur Anrufung ihres schwesterlichen Gefühls bedienen solle?

Wessen Hand aber einmal vom Unglück berührt ist, der greift immer nach dem falschen Würfel. Vorschnell wie bei jeder wichtigen Entscheidung entschließt sich Maria Stuart auch bei dieser wichtigsten; ohne sich vorher Sicherungen geben zu lassen, noch aus dem Kloster von Dundrennan schreibt sie an Elisabeth: »Du wirst, teuerste Schwester, wohl in Kenntnis eines großen Teils meiner unglücklichen Umstände sein. Aber die, die mich heute veranlassen, Dir zu schreiben, haben sich zu kürzlich ereignet, als daß sie Dein Ohr schon hätten erreichen können. Ich muß Dich daher so knapp, als ich kann, verständigen, daß einige meiner Untertanen, denen ich am meisten vertraute und die ich zu den höchsten Ehrenstellen erhoben habe, die Waffen gegen mich ergriffen und mich in der unwürdigsten Weise behandelt haben. Auf unerwartete Weise hat der allmächtige Walter aller Dinge mich aus der grausamen Gefangenschaft befreit, der ich unterworfen war. Aber ich habe seitdem eine Schlacht verloren, in der die meisten von denen, die mir Treue bewahrten, vor meinen Augen gefallen sind. Ich bin nun aus meinem Königreich getrieben und in solche Bedrängnis gebracht, daß ich außer auf Gott keine Hoffnung habe als auf Deine Güte. Ich bitte Dich darum, teuerste Schwester, daß ich vor Dich geführt werde, damit ich Dir alle meine Angelegenheiten anvertrauen kann.

Gleichzeitig bitte ich Gott, Dir allen himmlischen Segen und mir Geduld und Trost zu schenken, den ich vor allem durch Dich zu erlangen hoffe und flehe. Um Dich zu erinnern an den Anlaß, den ich habe, auf England zu vertrauen, sende ich an dessen Königin dieses Juwel, dieses Zeichen ihrer verheißenen Freundschaft und Hilfe. Deine liebende Schwester M. R.«

Mit rascher Hand, wie um sich selbst zu bereden, schreibt Maria Stuart diese Zeilen, die für immer ihre Zukunft entscheiden. Dann siegelt sie den Ring in den Brief und übergibt beides einem reitenden Boten. Aber in diesem Brief ist nicht nur der Ring, sondern ihr Schicksal verschlossen.

Nun sind die Würfel gefallen. Am 16. Mai besteigt Maria Stuart ein kleines Fischerboot, überquert den Golf von Solway und landet auf englischer Erde in der Nähe der kleinen Hafenstadt Carlisle. An diesem schicksalsentscheidenden Tage ist sie noch nicht fünfundzwanzig Jahre und doch schon ihr wirkliches Leben zu Ende. Alles, was die Welt an Überschwang zu geben vermochte, hat sie erlebt und erlitten, alle Höhen des Irdischen hat sie erstiegen, alle Tiefen durchmessen. In winzigstem Zeitraum, in ungeheuerlichster Seelenspannung hat sie alle Gegensätze durchfühlt, zwei Männer hat sie begraben, zwei Königreiche vertan, durch ein Gefängnis ist sie geschritten, und den schwarzen Weg des Verbrechens, und immer wieder neu die Stufen des Thrones, des Altars mit neuem Stolze empor. In Flammen hat sie gelebt diese Wochen, diese Jahre, in so hoher und fanatischer Flamme, daß der Widerschein noch durch Jahrhunderte leuchtet. Aber jetzt stürzt und löscht dieser Brand, und ihr Bestes ist darin aufgezehrt: was übrigbleibt, ist Schlacke und Asche, ein armer Rest dieser großartigen Glut. Ein Schatten ihrer selbst geht Maria Stuart in die Dämmerung ihres Schicksals.


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