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Dreizehntes Kapitel

Angelika lag im Sterben. Es ging auf zehn Uhr, ein klarer, heiterer Vormittag gegen Ende des Winters; der Himmel zeigte ein tiefes Blau, und die Sonne badete die ganze Welt in ihren Strahlen. Angelika atmete in ihrem großen Bette mit den verblichenen Vorhängen kaum noch, seit dem Abend vorher ruhte sie ohne Bewußtsein. Sie lag auf dem Rücken, ihre schmalen Hände von elfenbeinernem Aussehen auf der Bettdecke zuckten nicht, ihre Augen waren geschlossen. Ihr feines Gesicht unter dem goldenen Schimmer ihrer Haare war noch durchsichtiger geworden. Wäre der schwache Hauch aus ihrem Munde nicht gewesen, hätte man sie schon für tot halten können.

Am Tage vorher hatte Angelika gebeichtet und das Abendmahl genommen, weil sie sich sehr krank fühlte. Der gute Abt Cornille hatte ihr gegen drei Uhr das heilige Abendmahl gereicht. Als am Abend der Tod sich allmählich eisig herniedersenkte, hatte die Kranke große Sehnsucht nach der letzten Ölung, diesem himmlischen Heilmittel zur Genesung der Seele und des Körpers zu erkennen gegeben. Ihr letztes Wort, kaum ein Murmeln, das Hubertine aufgefangen, ehe sie das Bewußtsein verloren hatte, war eine Bitte um die heiligen Öle gewesen; sofort wollte sie sie gereicht haben, ehe es zu spät sei. Doch die Nacht war schon zu weit vorgeschritten, man hatte den Tag abwarten müssen und dann sogleich zum Abt geschickt, der jetzt kommen sollte.

Die Vorbereitungen waren fertig, die Hubert legten an die der Feierlichkeit entsprechende Anordnung des Zimmers die letzte Hand. Beim heiteren Schein der Sonne, die in dieser frühen Stunde die Fenster vergoldete, schien das Zimmer in der Nacktheit seiner großen weißen Wände wie in Morgendämmerung getaucht. Ein weißes Tuch bedeckte den Tisch. Rechts und links von einem Kruzifix brannten zwei Kerzen in den silbernen Leuchtern aus dem Salon. Ferner stand dort geweihtes Wasser, und ein Weihwedel lag daneben, eine Wasserkanne mit einem Waschnapfe und einem Handtuche und zwei Näpfe aus weißem Porzellan; den einen füllte gezupfte Watte, den andern Tüten aus weißem Papier. In den Treibhäusern hatte man keine anderen Blumen als geruchlose, gefüllte weiße Päonien auftreiben können, deren mächtige Blüten den Tisch wie mit einem Geriesel weißer Spitzen bedeckten. Umgeben von diesem verstärkten weißen Glanze atmete die sterbende Angelika mit geschlossenen Augen noch immer kurz und kaum vernehmbar.

Der Doktor hatte sieh bei seinem Morgenbesuch dahin geäußert, daß sie das Ende des Tages nicht mehr erleben werde. Es sei möglich, daß sie von einem Augenblick zum anderen hinüberschlummere, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Gefaßt und ernst wachten die Hubert in lautloser Verzweiflung bei ihr. Ihre Tränen änderten doch nicht den Verlauf der Krankheit. Ihrem Wunsche, lieber ein totes, als ein entartetes Kind vor sich zu sehen, schien Gott beigestimmt zu haben. Was jetzt kam, entzog sich ihrer Macht, sie konnten sich nur seinem Willen unterwerfen. Sie bereuten nichts, aber ihr Sein erlag dem Schmerze. Seit Angelika ihrer Auflösung entgegenging, hatten beide sie gepflegt und jede fremde Hilfe zurückgewiesen. So wachten sie auch jetzt in dieser letzten Stunde allein bei ihr.

Hubert öffnete die Tür des Kachelofens, dessen Summen einem Klagetone glich. Tiefes Schweigen herrschte, die sanfte Wärme bleichte die Päonien aus. Seit einem Augenblick vernahm Hubertine in der Kathedrale hinter der Mauer Geräusch. Das Schwingen der Glocke teilte den alten Steinen ihr Erzittern mit. Abt Cornille verließ zweifellos mit den heiligen Ölen jetzt die Kirche. Sie stieg herunter, um ihn an der Sehwelle des Hauses zu empfangen. Zwei Minuten verflossen, ein lautes Gemurmel erhob sich auf der schmalen Turmtreppe. In dem heißen Zimmer überlief Hubert ein Zittern der Erwartung, während fromme Furcht und Hoffnung ihn auf die Knie sinken ließen.

An Stelle des alten Priesters trat der Bischof im Spitzenhemde und in der violetten Stola zur Türe herein. Er trug das silberne Gefäß mit dem Öle der Siechen, das er selbst am Grün-Donnerstag geweiht hatte. Seine Adleraugen starrten unbeweglich, sein schönes bleiches Antlitz unter den dichten weißen Locken seiner Haare bewahrte seine Majestät. Hinter ihm tauchte wie ein einfacher Kirchendiener Abt Cornille auf mit dem Kruzifix in der Hand und der Kirchenordnung unter dem Arm.

Einen Augenblick blieb der Bischof auf der Schwelle stehen und sagte mit tiefer Stimme:

Pax huic domui.

Et omnibus habitantibus in ea, ergänzte etwas leiser der Priester.

Als die Männer das Zimmer betreten hatten, kam auch Hubertine herein; sie zitterte ebenfalls vor Überraschung und ließ sich neben ihrem Gatten auf die Knie nieder. Die Stirn zu Boden geneigt, beteten beide aus dem Grunde ihres Herzens.

Am Tage nach Felix' Besuch bei Angelika fand eine fürchterliche Auseinandersetzung zwischen dem Bischof und seinem Sohne statt. An jenem Tage hatte Felix schon früh am Morgen sich den Eingang zum Vater erzwungen und sogar das Betzimmer betreten, wo der Bischof nach einer Nacht heißen Kampfes gegen die wiederkehrende Vergangenheit im Gebet verharrte. In dem von Achtung erfüllten Sohne, den bis dahin die Furcht niedergehalten hatte, sprengte der mühsam unterdrückte Aufruhr alle Fesseln. Der Zusammenstoß beider Männer aus demselben Blute und von derselben Heftigkeit war ein grimmiger. Der Alte hatte seinen Betstuhl verlassen und hörte mit purpurrot gefärbten Wangen stehend und schweigend von oben herab dem Sohne zu. Dem jungen Manne stand ebenfalls die Glut im Gesicht; mit stetig anwachsender, grollender Stimme schüttete er sein Herz vor dem Vater aus. Er erzählte, daß Angelika krank und im Sterben liege, welchen schrecklichen Anfall bangen Zartgefühles sein Vorschlag, mit ihm zu fliehen, hervorgerufen, und wie sie sich mit der Ergebenheit und Keuschheit einer Heiligen ihm zu folgen geweigert habe. Er halte den für einen Mörder, der dieses gehorsame Kind, das ihn nur aus der Hand des Vaters empfangen wolle, sterben lasse! Als sie endlich ihn, seinen Namen, sein Vermögen hätte haben können, da habe sie nein gerufen und sich siegreich ihrer Leidenschaft erwehrt. Er liebe sie bis in den Tod und verachte sieh, weil er nicht an ihrer Seite weile, um mit ihr in einem Atemzuge sein Leben auszuhauchen! Wolle man wirklich die Grausamkeit so weit treiben und lieber beider Tod wünschen als sie durch ein Wort, ein einfaches Ja glücklich machen? Wiege wirklich der Stolz auf die Herkunft, der Glanz des Reichtumes, die Verbohrtheit in den Willen das Glück zweier Liebender auf? Felix hatte ganz außer sich die Hände gerungen, er bat anfänglich, dann forderte er unter Drohungen des Vaters Einwilligung. Aber der Bischof mit seinem blutdurchströmten Gesicht und den flammenden Blicken öffnete die Lippen nur, um das Wort seiner Allmacht: Niemals! auszusprechen.

Jetzt verlor Felix jede Fassung, und seine Auflehnung streifte fast an Wahnsinn. Er sprach von seiner Mutter und schmetterte donnergleich den Vater mit der Erinnerung an die Tote nieder. Diese selbst wurde in dem Sohne wach, um die Rechte der Liebe für sich zu fordern. Sein Vater habe jene also nicht geliebt, sondern sich ihres Todes gefreut, sonst werde er sich nicht so hart gegen die Liebenden, gegen die leben Wollenden zeigen. Er habe gut sich hinter die eisige Entsagung des Mönchtums zurückzuziehen! In ihm, dem Sohne, als dem leibhaftigen Zeugnis ihrer Ehe, werde die Mutter immer wieder ihn heimsuchen und quälen, weil er ihr Kind quäle. Dieses Kind lebe; so lebe auch sie und wolle für ewig in den Kindern ihres Kindes weiterleben. Er töte sie von neuem, wenn er seinem Sohne die erwählte Braut verweigere, die bestimmt sei, das Geschlecht fortzupflanzen. Man vermähle sich nicht der Kirche, wenn man zuvor ein Weib gefreit habe. Dem unbeweglich dastehenden Vater, der in seinem entsetzlichen Schweigen zu wachsen schien, schleuderte er Worte wie Meineidiger und Mörder in das Gesicht. Darm floh er schwankend, vom Schrecken erfaßt, von dannen.

Als Hochwürden sich allein befand, drehte er sich, wie von einem Messer in die Brust getroffen, um sich selbst und sank mit beiden Knien zugleich auf den Betstuhl. Ein schmerzliches Röcheln drang aus seiner Kehle. Diese Qualen des Herzens, diese unbesiegbaren Schwächen des Fleisches! Diese Frau, diese stets wiederauferstehende Tote, er liebte sie wie am ersten Abend, als er ihre weißen Füße geküßt hatte, und diesen Sohn betete er wie einen Teil ihrer selbst, wie ein Stück ihres ihm hinterlassenen Lebens an. Auch dieses junge Mädchen, diese kleine Arbeiterin, die er von sich stieß, betete er mit derselben Verehrung an, die sein Sohn ihr entgegenbrachte. Jetzt brachten ihn alle drei während der Nächte zur Verzweiflung. Die kleine Stickerin, die so schmucklos mit ihren Goldhaaren und ihrem frischen Nacken den Duft der Jugend ausströmte, hatte in der Kathedrale, ohne daß er es einzugestehen wagte, sein Herz gerührt. Er sah sie wieder so zart, so rein in ihrer triumphierenden Unterwürfigkeit an sich vorübergleiten. Was nützte es ihm, daß er sie offen von sich stieß; fühlte er doch, wie sie im geheimen sein Herz mit ihren niedriggeborenen, von Nadelstichen abgenutzten Fingern nicht mehr freiließ. Ja, selbst während Felix so eindringlich zu ihm gefleht, hatte er hinter des Sohnes blondem Haupte die beiden angebeteten Frauen erblickt, die, welche vor ihm geweint und die andere, welche für sein Kind gestorben war. Beide umfaßte er mit seiner ganzen Liebe; er wußte nicht zu sagen, woher er die Kraft zum Widerstände geschöpft hatte, so mächtig zog es ihn zu beiden hin. Schluchzend und völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, wußte er nicht, wo er seine Ruhe wiederfinden sollte. Er bat den Himmel, ihm den Mut zum Herausreißen seines Herzens zu verleihen, da dieses Herz nicht mehr Gott angehörte.

Der Bischof betete bis zum Abend. Als er wieder zum Vorschein kam, erinnerte sein Gesicht an die fahle Farbe des Wachses. Sein Herz war zerrissen, aber er fühlte sieh trotzdem fest in seinem Entschlüsse. Er vermochte nichts und wiederholte sich selbst das furchtbare Wort: Niemals! Gott allein hatte das Recht, ihn von seinem Worte zu entbinden, und der Gott, zu dem er gebetet hatte, schwieg. Es hieß also: leiden.

Zwei Tage verstrichen. Felix schlich, wahnsinnig vor Schmerz, um das kleine Haus herum, um Neues zu erspähen. Sooft es jemand verließ, fühlte er sich vor Furcht einer Ohnmacht nahe. Das war auch an jenem Morgen der Fall, als Hubertine in die Kirche eilte, um die heiligen Öle für Angelika zu erbitten. Er wußte jetzt, daß Angelika diesen Tag nicht überleben werde. Abt Cornille war nicht zugegen, er durchsuchte die Stadt nach ihm, denn durch ihn hoffte er auf eine letzte, göttliche Hilfe. Als er jedoch den gutmütigen Priester gefunden, schwand sein Hoffen von neuem, und Zweifel und Wut packten ihn. Was sollte er tun, um den Himmel zu einer Einmischung zu nötigen? Er eilte davon und erzwang sich abermals den Eingang zum Bischof. Sein Vater fürchtete sich einen Augenblick, denn er wurde aus den zusammenhangslosen Worten des Sohnes nicht klar. Endlich begriff er, daß Angelika im Sterben Hege und nach der letzten Ölung verlange. Also Gott allein nur konnte sie noch retten. Der junge Mann wollte diesem fürchterlichen Vater sein Leiden noch einmal vorhalten und gänzlich mit ihm brechen, aber zuvor ihm noch einmal das Wort Mörder ins Gesicht schleudern. Hochwürden hörte ihn ohne Regung des Zornes, erhaben und ernst an; seine Augen hatte plötzlich ein Strahl durchzuckt, als habe jetzt endlich in ihm eine Stimme gesprochen. Er bedeutete Felix vorauszugehen und folgte ihm mit den Worten:

Wenn Gott will, will ich.

Felix überlief es kalt und heiß. Sein Vater war einverstanden, sein eigenes Wollen den guten Absichten des Wunders unterzuordnen. Menschen kamen also hier nicht mehr in Betracht, Gott allein sollte handeln. Seine Tränen blendeten ihn, während Hochwürden in der Sakristei aus den Händen des Abtes Cornille die heiligen Öle empfing. Felix schwankte hinter den Geistlichen einher, doch wagte er nicht, das Sterbezimmer zu betreten. Vor der weit offen stehenden Tür kniete er auf dem Treppenabsatze nieder.

Pax huic domui.

Et omnibus habitantihus in ea.

Hochwürden setzte die heiligen Öle auf den weißen Tisch zwischen die beiden Kerzen nieder, nachdem er mit dem silbernen Gefäß das Zeichen des Kreuzes gemacht hatte. Dann empfing er aus den Händen des Abtes das Kruzifix; er näherte sich mit ihm der Kranken, um es von ihr küssen zu lassen. Angelika lag noch immer bewußtlos da; ihre Augenlider waren gesenkt, der Mund geschlossen, die Hände gefaltet; sie selbst glich den klaren, starren Steinfiguren, wie sie auf den Grabstätten ruhen. Der Bischof betrachtete sie einen Augenblick, und als er an ihrem schwachen Atem noch Leben in ihr bemerkte, legte er ihr das Kruzifix auf die Lippen. Er wartete, sein Antlitz bewahrte die Majestät eines Sühne heischenden Priesters, und kein menschenfreundlicher Zug stellte sich auf ihm ein, bis er beobachtet, daß kein Erzittern weder das feine Gesicht noch die lichtumflossenen Haare überlaufen hatte. Sie lebte aber, ihre Sünden konnten also noch von ihr genommen werden.

Da nahm der Bischof vom Abt den Weihkessel und den Weihwedel entgegen, und während dieser ihm die aufgeschlagene Kirchenordnung hinhielt, besprengte er die Sterbende mit geweihtem Wasser, wobei er die lateinischen Worte ablas:

Asperges me, Domine, hyssopo, et mundabor; lavabis me, et super nivem dealbabor.

Die Tropfen zerstäubten, das große Bett schien wie vom Tau erquickt. Das Wasser fiel auf die Finger, auf die Wangen. Aber ein Tropfen nach dem anderen rollte ab, wie auf gefühllosem Marmor. Der Bischof wandte sich an die Zeugen des Vorganges und besprengte auch sie. Seite an Seite kniend und gebeugt im überzeugungsvollen Glauben neigten sich Hubert und Hubertine noch tiefer unter dieser Flut der Segenspendung. Der Bischof segnete auch das Zimmer, die Möbel, die weißen Wände. Als er an der Tür vorüberschritt, sah er sich seinem Sohne gegenüber, der vor der Schwelle kniete und in seine glühenden Hände hineinschluchzte. Mit langsamer Bewegung hob er dreimal den Weihwedel und reinigte auch jenen durch den sanften Regen. Somit war das geweihte Wasser, das die unsichtbaren, vieltausendfach umherfliegenden bösen Geister vertreiben sollte, überall ausgesprengt worden. In diesem Augenblick schlüpfte ein fahler Strahl der Wintersonne bis in das Bett; eine ganze Wolke von unzähligen Atomen, beweglichen Staubkörperchen schien lebendig von dem Fensterkreuze herniederzuschweben, um in ihrer wohligen Masse die kalten Hände der Sterbenden zu baden.

Als Hochwürden zum Tische zurückgekehrt war, sprach er das Gebet.

Exaudi nos ...

Er beeilte sich nicht. Er wußte, daß der Tod schon hinter den alten rosakattunen Vorhängen lauerte, aber er fühlte, daß er es nicht eilig hatte und sieh gedulden werde. Trotzdem das Kind es in seiner Ohnmacht nicht hören konnte, sprach er doch zu ihm und fragte es:

Haben Sie nichts auf dem Gewissen, was Ihnen Qualen bereitet? Beichten Sie Ihre Kümmernisse, erleichtern Sie Ihr Herz, meine Tochter.

Angelika schwieg auch jetzt. Nachdem er ihr vergebens Zeit zur Antwort gelassen hatte, wiederholte er mit derselben vollen Stimme seine Ermahnung. Er schien nichts davon wissen zu wollen, daß keines seiner Worte zu ihr drang.

Sammeln Sie sich, bitten Sie aus dem Innersten Ihres Herzens Gott um Vergebung. Das Sakrament kann Sie reinigen und Ihnen neue Kräfte verleihen, Ihre Augen werden klar, Ihre Ohren keusch, Ihre Nasenflügel frisch, Ihr Mund heilig, Ihre Hände unschuldig werden ...

Er sagte, die Augen auf Angelika gerichtet, bis zum Schluß, was er zu sagen hatte. Sie atmete kaum, keine Wimper ihrer geschlossenen Augenlider rührte sich. Dann befahl er:

Sprechen Sie das Glaubensbekenntnis.

Nachdem er gewartet, sprach er es selbst:

Credo in unum Deum...

Amen, schloß Abt Cornille.

Man hörte auf dem Flure noch immer Felix heftig schluchzen, denn seine Hoffnung schwand vollends dahin. Hubert und Hubertine beteten noch immer in derselben gebeugten, furchtsamen Haltung, als fühlten sie alle unbekannten Mächte herniederschweben. Es trat jetzt eine Stille ein, die das Stammeln eines Gebetes ausfüllte. Dann wurden die Litaneien der Kirchenordnung, die Anrufung der Heiligen beiderlei Geschlechts vorgenommen, zum Schluß stieg das Kyrie eleison empor und rief schließlich alle Heiligen der erbärmlichen Menschheit zu Hilfe.

Plötzlich sanken die Stimmen, ein tiefes Schweigen trat ein. Hochwürden wusch sich mit einigen Tropfen Wassers die Hände, die der Abt aus der Kanne über sie ergoß. Jetzt endlich ergriff er das Gefäß mit den heiligen Ölen, deren Wirkung zur Tilgung aller tödlichen oder verzeihlichen Sünden ausreicht, die noch unvergeben in der Seele nach Empfang des üblichen Abendmahles zurückgeblieben waren, als da sind alte Reste vergessener Sünden, Sünden, die man unwissentlich begangen, Sünden der Schwachheit, die eine Befestigung in der Gnade Gottes nicht zugelassen hatten. Aber woher hier die Sünden nehmen? Sie konnten nur von draußen auf dem Sonnenstrahle mit den tanzenden Staubkörperchen hereindringen, welche die Keime des Lebens bis auf das weiße und kalte Totenbett einer Jungfrau trugen.

Hochwürden hatte sich gesammelt, und die Blicke auf Angelika gerichtet, überzeugte er sich, daß das schwache Atmen noch fortbestand. Noch immer fühlte er sich über jede menschliche Regung erhaben, selbst als er sie so klein, in fast überirdischer Gestaltung und in ihrer engelhaften Schönheit liegen sah. Sein Daumen zitterte nicht beim Eintauchen in die heiligen Öle, nicht als er die Salbungen der fünf Teile des menschlichen Körpers vornahm, in dem die Sinne ihren Sitz nahmen, dieser fünf Fenster, durch welche das Böse in die Seele dringt.

Er salbte zuerst die Augen auf den geschlossenen Lidern, erst das rechte, dann das linke; mit leiser Berührung zog der Daumen das Zeichen des Kreuzes.

Per istam sanctam unctionem et suam piissimam misericordiam indulgeat tibi Dominus, quidquid per visum deliquisti.

Die Sünden des Gesichts, als da sind unzüchtige Blicke, unehrenhafte Neugier, die Nichtigkeiten der weltlichen Schauspiele, schlechte Bücher, die schuldhaften Kummers halber geflossenen Tränen waren getilgt. Angelika aber hatte kein anderes Buch als die Legende gekannt, ihren Gesichtskreis engte die Apsis der Kathedrale ein, die ihr die übrige Welt verschlossen hatte. Ihre Tränen waren nur im Kampfe des Gehorsams gegen die Leidenschaft geflossen.

Abt Cornille nahm ein Flöckchen Watte, trocknete damit die beiden Augenlider und wickelte es in eine der weißen Papiertüten ein.

Jetzt salbte der Bischof die Ohren an den Ohrläppchen von perlmutterartiger Durchsichtigkeit, erst das rechte, dann das linke; das Zeichen des Kreuzes befeuchtete sie kaum.

Per istam sanctam unctionem et suam piissimam misericordiam indulgeat tibi Dominus, quidquid per auditum deliquisti.

Damit war jede Schuld des Gehörs getilgt, als da ist das Anhören verderblicher Worte und Musik, Lästerungen, Verleumdungen, selbstgefälliger Prahlereien, frecher Vorschläge, Vorspiegelungen der Liebe, die die Pflicht untergraben sollen, gemeiner, die Sinnlichkeit aufregender Gesänge, der Violinen des Orchesters, die unter den Kronleuchtern vor Wollust weinen. Angelika aber hatte in ihrer klösterlichen Abgeschlossenheit nicht einmal das zügellose Geschwätz der Nachbarn gehört, nicht einmal das Fluchen eines seine Pferde peitschenden Kärrners. In ihren Ohren klang keine andere Musik wider als die heiligen Gesänge, das Grollen der Orgel, das Flüstern der Gebete, von denen das in der Seite der alten Kirche eingenistete Häuschen nachzitterte.

Der Abt trocknete auch die Ohren mit einem Flöckchen Watte und wickelte es in ein zweites Papierstückchen ein.

Dann ging der Bischof zu den zwei weißen Rosenblättchen ähnlichen Nasenflügeln über, erst zum rechten, dann zum linken; sein Daumen reinigte sie mit dem Zeichen des Kreuzes.

Per istam sanctam unctionem et suam piissimam misericordiam indulgeat tibi Dominus, quidquid per odoratum deliquisti.

Der Geruch kehrte zu seiner ursprünglichen Unschuld zurück. Er war von jeder Befleckung rein gewaschen, nicht nur von der fleischlichen Lust an Wohlgerüchen, von der Verführung der zu süß duftenden Blumen und der in den Lüften ausgestreuten Gerüche, die die Seele einschläfern, sondern auch von den Sünden innerlichen Geruches, von den schlechten, anderen gegebenen Beispielen, von der ansteckenden Pest des Ärgernisses. Angelika aber war rechtschaffen und rein, nichts anderes als eine Lilie unter den Lilien gewesen, eine schöne Lilie, deren Duft die Schwachen stärkte und die Starken aufheiterte. Gerade sie war so wunderbar empfindlich gewesen, daß sie die beißenden Gerüche der Bisamlilien, der Fieber verursachenden Hyazinthen niemals vertragen hatte Wohl fühlte sie sich nur unter sanften Blüten, unter Immergrün und Tausendschön.

Der Abt trocknete die Nasenflügel und wickelte die Watte in ein neues Stückchen Papier.

Dann stieg Hochwürden zum geschlossenen Munde herab, den die schwache Atmung kaum öffnete; hier salbte er die Unterlippe mit dem Zeichen des Kreuzes.

Per istam sanctam unctionem et suam piissimam misericordiam indulgeat tibi Dominus, quidquid per gustum deliquisti.

Der ganze Mund war jetzt nur noch ein Kelch der Unschuld. Diesmal wurden verziehen die niedrigen Befriedigungen des Geschmackes, der Feinschmeckerei, das sinnliche Begehren von Wein und Leckereien; ferner wurden namentlich gesühnt die Verbrechen der Zunge, dieser Allerweltsschuldigen, ihre Herausforderungen und ihre Vergiftungen; denn sie ist es, die Streit, Kriege, Irrtümer und falsche Worte in die Welt setzt, die selbst dem Himmel seinen Ruhm raubt. Feinschmeckerei war niemals Angelikas Laster gewesen; sie hatte sich wie die Elisabeth ohne Unterscheidung der Speisen ernährt. Hatte sie wirklich in einem Irrtum befangen gelebt, so hatte sie nur der Traum dazu verleitet, diese Hoffnung auf das Jenseits, dieser Trost des Unsichtbaren, jene zauberische Welt, die ihre Unwissenheit ihr geschaffen und aus ihr eine Heilige gemacht hatte.

Der Abt hatte den Mund getrocknet und wickelte das Flöckchen Watte in die vierte Papienhülse.

Zum Schluß salbte Hochwürden die Handflächen erst der rechten, dann der linken Hand, die wie Elfenbein auf dem Bettuche ruhten, und nahm mit dem Zeichen des Kreuzes ihre Sünden von ihnen.

Per istam sanctam unctionem et suam piissimam misericordiam indulgeat tibi Dominus, quidquid per tactum deliquisti.

Jetzt war der ganze Körper weiß gewaschen von jedem Makel schmutziger Berührungen, von Raub, Schlägerei und Mord, ohne die Sünden der übergangenen Körperteile zu zählen, als da sind die der Brust, der Lenden, der Füße, die gleichzeitig mit der letzten Salbung vom Menschen genommen werden; alles, was in unserem Fleische brennt und heult, unsere Zornesausbrüche, unsere Wünsche, unsere zügellosen Leidenschaften, die Freuden des Fleisches, denen wir nachjagen, die verbotenen Vergnügen, nach denen unsere Glieder schreien, alles wird damit getilgt. Seit Angelika an ihrem Siege starb, hatte sie ihre Heftigkeit, ihren Hochmut und ihre Leidenschaftlichkeit völlig bekämpft, als habe die Erbsünde nur deshalb vorher ihren Einzug bei ihr gehalten, um ihr zum Ruhme des Triumphes behilflich zu sein. Sie wußte nicht einmal, daß sie irgendwelche Wünsche gehabt, daß ihr Fleisch je nach Liebe geseufzt habe, daß der Schauer, der sie nachts überlaufen hatte, sündhaft sei, so gepanzert mit Unwissenheit, so völlig weiß war ihre Seele.

Der Abt trocknete die Hände und ließ das Flöckchen Watte in dem letzten Papiersäckchen verschwinden. Dann verbrannte er die fünf Päckchen im Kachelofen.

Die Feier war vorüber, Hochwürden wusch sich die Hände, um das Schlußgebet zu sprechen. Es erübrigte ihm nur noch, der Sterbenden die sinnbildliche Kerze in die Hand zu geben und sie zu ermahnen, die Teufel zu verjagen, zu zeigen, daß ihr die Unschuld des Täuflings wieder zu eigen sei. Angelika blieb steif wie eine Tote mit geschlossenen Augen und Mund liegen. Die heiligen Öle hatten ihren Körper gereinigt, die Zeichen des Kreuzes hinterließen ihre Spuren auf den fünf Fenstern der Seele, ohne indessen eine Welle neuen Lebens in die Wangen zu zaubern. Das herbeigesehnte, herbeibeschworene Wunder hatte sich nicht gezeigt. Hubert und Hubertine, die noch immer Seite an Seite knieten, beteten nicht mehr, ihre glühenden Augen wandten sich so starr nach einer Richtung, daß man sie für festgebannt auf ewige Zeiten halten konnte; sie ähnelten den Figuren der Stifter von Kirchenfenstern, die in einer Ecke derselben der Wiederauferstehung harren. Felix war auf den Knien bis an die Tür selbst vorgerutscht. Er hatte zu schluchzen aufgehört und den Kopf erhoben, um erzürnt über die Taubheit Gottes besser sehen zu können.

Hochwürden nahte sich, von Abt Cornille gefolgt, zum letztenmal dem Bette. Der Abt trug die angezündete Kerze, welche der Kranken in die Hand gegeben werden sollte. Der Bischof hatte sich die vollständige Durchführung des Rituals in den Kopf gesetzt, um auf diese Weise Gott Zeit zum Handeln zu lassen. Daher sprach er jetzt die Formel:

Accipe lampadem ardentem, custodi unctionem tuam, ut, cum Dominus ad judicandum venerit, possis occurrere ei cum omnibus sanctis et vivas in saecula saeculorum.

Amen, ergänzte der Abt.

Als sie Angelikas Hand zu öffnen und diese um die Kerze zu legen versuchten, fiel sie träge auf die Brust zurück.

Jetzt zitterte auch Hochwürden heftig. Die lang unterdrückte Bewegung brach hervor und verscheuchte die letzte Strenge des Priestertums. Er hatte dieses Kind von dem Tage an geliebt, als es rein und in der Frische seiner Jugend schluchzend zu seinen Füßen gelegen hatte. Wie war es doch jetzt bedauernswert! In ihrer Todesblässe erschien sie ihm von so schmerzensreicher Schönheit, daß er nicht den Blick auf das Bett zu richten vermochte, ohne daß sein Herz im geheimen von Kummer durchtränkt wurde. Jetzt verlor er jede Haltung, zwei dicke Tränen drangen aus seinen Augenlidern und liefen über seine Wangen. Sie sollte so nicht sterben, er war durch ihren noch im Tode ausgeübten Reiz besiegt.

Er erinnerte sich der Wunder, die sein Geschlecht dank der ihm vom Himmel verliehenen Heilkraft vollbracht hatte. Er dachte daran, daß Gott zweifellos seine Zustimmung als Vater erwarte. Er rief die heilige Agnes an, vor der alle die Seinen gekniet hatten, und wie Johann V. von Hautecoeur an die Betten der Pestkranken getreten war und diese geküßt hatte, so betete auch er und küßte Angelika auf den Mund.

Wenn Gott will, will ich.

Angelika schlug sofort die Augen auf. Sie sah ihn, als sie aus ihrer langen Ohnmacht erwachte, ohne Überraschung an; ihre vom Kusse noch feuchten Lippen lächelten. Es sollte also alles in Erfüllung gehen; wahrscheinlich hatte sie ihren Traum soeben nochmals durchträumt und betrachtete es jetzt als selbstverständlich, daß Hochwürden zugegen war, um sie Felix anzutrauen. Sie setzte sich deshalb in ihrem Bett aufrecht.

Der Bischof strahlte, aus seinen Augen schimmerte die Glorie des Wunders. Er wiederholte die Formel:

Accipe lampadem ardentem ...

Amen, schloß der Abt.

Angelika hatte die angezündete Kerze genommen und hielt sie mit kräftiger Faust aufrecht. Das Leben war zurückgekehrt; klar brannte die Flamme und verscheuchte die Geister der Nacht.

Ein lauter Aufschrei hallte durch das Zimmer, Felix war, wie vom Wehen des Wunders emporgehoben, aufgesprungen, während die Hubert unter demselben Wehen mit weitaufgerissenen Augen und entzücktem Antlitz über das, was sie erblickt, auf den Knien liegen geblieben waren. Das Bett schien ihnen wie von einem blendenden lichte umgeben, in dem Sonnenstrahl stiegen weiße Körperchen herauf, die weißen Federn ähnelten. Die weißen Mauern, das ganze Gemach war wie von einem schneeigen Schimmer durchzogen. Wie eine auf ihrem Stengel erfrischte und wieder aufgerichtete Lilie teilte Angelika diese Klarheit. Ihre weichen, goldigen Haare umgaben sie wie mit einem Heiligenschein, ihre veilchenblauen Augen leuchteten göttlich, der Abglanz des Lebens strahlte von ihrem reinen Antlitz wider. Als Felix sie gerettet sah, verlor er völlig den Kopf über die vom Himmel gekommene Gnade; er näherte sich und ließ sich vor dem Bett auf die Knie nieder.

0, mein teures Herz, Sie erkennen uns wieder. Sie leben... Ich gehöre nur Ihnen, mein Vater hat ja gesagt, weil Gott es gewollt.

Sie neigte mit heiterem Lächeln den Kopf.

Ich wußte es, erwartete es... Alles, was ich geschaut, wird nun wahr werden.

Hochwürden, der seinen ruhigen Stolz wiedergefunden hatte, legte von neuem das Kruzifix auf den Mund. Als unterwürfige Dienerin küßte sie es diesmal. Mit einer alle umfassenden Armbewegung erteilte er über alle Köpfe hinweg dem ganzen Räume seine letzten Segnungen, während die Hubert und Abt Cornille in Tränen ausbrachen.

Felix hatte Angelikas Hand ergriffen. In der anderen kleinen Hand brannte hell und hoch die Kerze der Unschuld.


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