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Siebentes Kapitel

Am Abende desselben Tages klagte Angelika, als man vom Tische aufstand, über große Übelkeit. Sie ging deshalb sogleich auf ihr Zimmer. Ihre Aufregung am Morgen, ihre Kämpfe mit sich selbst hatten sie furchtbar geschwächt. Sie legte sich sofort nieder und zerfloß von neuem in Tränen. Den Kopf versteckte sie unter die Decke; in ihrer Verzweiflung hätte sie am liebsten ganz verschwinden, gar nicht mehr vorhanden sein mögen.

Die Stunden verflossen, die Nacht war bereits hereingebrochen: eine heiße Julinacht, deren schwerdrückende Schwüle durch das weit geöffnete Fenster hereindrang. Vom dunklen Himmel leuchtete ein Gewimmel von Sternen hernieder. Es mußte nahe an elf Uhr sein. Der abnehmende, in seinem letzen Viertel stehende Mond konnte erst gegen Mitternacht auftauchen.

In dem dunklen Zimmer weinte Angelika noch immer, der Strom der Tränen schien unerschöpflich. Ein Klopfen an ihrer Tür ließ Angelika auffahren.

Erst tiefes Schweigen, dann rief eine Stimme sanft:

Angelika ... Angelika ... mein Herz ...

Sie hatte die Stimme Hubertines erkannt. Jedenfalls hatte diese, als sie sich mit ihrem Manne zu Bett begeben wollte, das ferne Schluchzen gehört; besorgt kam sie deshalb halb entkleidet nach oben.

Bist du krank, Angelika?

Das junge Mädchen hielt seinen Atem an und antwortete nicht. Angelika hatte ein unendliches Bedürfnis nach Einsamkeit, dem besten Heilmittel für ihr Übelbefinden. Tröstungen, Liebkosungen selbst von seiten ihrer Mutter würden ihr zur Marter geworden sein. Sie malte sich aus, wie Hubertine hinter der Tür stand, sie ahnte, daß sie dort mit bloßen Füßen ausharrte, denn sie hatte nur ein flüchtiges Streifen des Fußbodens vernommen. Zwei Minuten verflossen, und sie wußte Hubertine noch immer dort, wie sie das Ohr an die Wand legte und mit den schönen Armen die losen Gewänder zusammenhielt.

Als Hubertine nicht einmal einen Atemzug mehr vernahm, wagte sie nicht, abermals zu klopfen. Sie war fest überzeugt, Klagelaute gehört zu haben; wahrscheinlich aber war das Kind inzwischen eingeschlafen, wozu also es wecken? Sie wartete noch eine Minute; der uneingestandene Kummer ihrer Tochter bedrückte auch sie; denn sie ahnte ihn, und auch ihr Herz erfüllte eine zärtliche Rührung. Sie entschloß sich endlich wieder zu gehen, wie sie gekommen war; sie tastete sich mit den Händen an jeder ihr vertrauten Krümmung der Treppe vorüber und hinterließ in dem in Nacht getauchten Hause kein anderes Geräusch als das flüchtige, leise Auftreten ihrer nackten Füße.

Inzwischen hatte sich Angelika aufgerichtet Und horchte. Das Schweigen war so tief, daß sie das leichte Aufdrücken der Sohlen auf den Rand jeder Stufe unterschied. Sie hörte unten die Stubentür sich öffnen und schließen. Dann traf ein kaum vernehmliches Gemurmel ihr Ohr, ein halb erregtes, halb trauriges Geflüster; ihre Eltern erzählten sich gewiß gegenseitig von ihren Befürchtungen und Wünschen. Dieses Geflüster verstummte nicht, obwohl die Eltern längst in ihren Betten liegen und das Licht ausgelöscht haben mußten. Noch nie waren die nächtlichen Laute der alten Behausung so deutlich bis zu ihr gedrungen. Gewöhnlich versank Angelika sofort in den festen Schlaf der Jugend, sie hörte nicht einmal die Möbel krachen. Jetzt aber, wo der Kampf mit ihrer Leidenschaft den Schlaf vertrieben hatte, schien ihr, als klage und liebe das ganze Haus. Unterdrückten nicht auch die Hubert ihre Tränen und Klagen über die vergebliche Zärtlichkeit und über die unerfüllte Hoffnung auf Kindersegen? Sie wußte es nicht, sie hatte nur das Gefühl, daß unter ihr die beiden wach bleibenden Gatten in heißer Liebe und Tränen noch immer das endlose, keusche Glück der Flitterwochen genossen.

Wie sie aufrecht in ihrem Bette saß, hörte sie das ganze Haus erzittern und seufzen. Sie konnte sich nicht halten, sie mußte von neuem ihren Tränen freien Lauf lassen; aber jetzt strömten sie stumm, lebendig und so warm wie das Blut in ihren Adern. Eine einzige Frage wollte in ihr seit dem Morgen nicht verstummen und peinigte ihr ganzes Wesen: hatte sie recht getan, Felix in Verzweiflung von sich zu schicken mit dem ihm wie ein Messer mitten ins Herz gestoßenen Gedanken, daß sie ihn nicht liebe? Sie liebte ihn und hatte trotzdem so großes Leid über ihn wie auch über sich selbst gebracht. Warum nur dieser furchtbare Schmerz? Verlangten die Heiligen, daß man nicht weine? Würde es Agnes wehgetan haben, sie glücklich zu sehen? Jetzt wollte ein Zweifel nicht verstummen. Als sie früher den erwartete, der da kommen sollte, hatte sie sich alles so hübsch vorgestellt; er würde eintreten, sie ihn wiedererkennen, und beide würden für immer vereinigt miteinander fortgehen. Jetzt war er gekommen und – die eine wie der andere schluchzten, denn sie hatten sich für immer getrennt. Was sollte alles das bedeuten? Was war vorgegangen? Was hatte ihr diesen grausamen Schwur, ihn zu lieben, ohne es ihm zu sagen, abverlangt?

Namentlich aber folterte Angelika die Angst, die Schuldige und böswillig gewesen zu sein. Vielleicht war in ihr wieder die schlechte Tochter erwacht. Sie erschrak, als sie sich jetzt ihres gleichgültigen Benehmens, der boshaften Art des Empfanges von Felix und ihres Vergnügens an der Arglist erinnerte, die sie ins Feld geführt, um ihm eine falsche Vorstellung von sich beizubringen. Ihre Tränen flossen reichlicher, in ihrem Herzen erwachte ein unendliches, mächtiges Mitleid angesichts der Leiden, die sie ihm angetan hatte, ohne es zu wollen. Sie sah ihn vor sich, wie er sich zum Gehen wandte, sein trostloses Gesicht, seine umherirrenden Augen, die zitternden Hände; sie folgte ihm in Gedanken auf die Straße und sah ihn bleichen Gesichtes, tödlich durch sie verwundet und Blutstropfen auf Blutstropfen verlierend nach Hause wanken. Wo mochte er sich jetzt um diese Stunde befinden? Verzehrte ihn das Fieber? Ihre Hände krampften sich vor Angst bei der Vorstellung, kein Mittel zu kennen, das Übel gutzumachen. Es empörte sie der Gedanke, jemanden leiden zu lassen. Am liebsten wäre sie jetzt gleich gut gewesen, um rings umher Glück zu verbreiten.

Es mußte bald Mitternacht schlagen, die großen Ulmen im bischöflichen Garten verbargen noch den am Horizont aufgegangenen Mond, das Zimmer blieb schwarz. Angelika legte den Kopf auf die Kissen zurück und dachte an nichts mehr, sie wollte schlafen; aber sie konnte nicht, die Tränen drangen durch die geschlossenen Augenlider. Das Denken kehrte wieder, sie erinnerte sich jetzt an die Veilchen, die sie seit 14 Tagen auf dem Balkon vor ihrem Fenster fand, wenn sie des Abends ihr Zimmer betrat. Jeden Abend einen Veilchenstrauß. Zweifellos war es Felix, der ihn vom Marienfelde herüberwarf; denn sie erinnerte sich, ihm erzählt zu haben, daß nur die Veilchen die wunderbare Kraft besäßen, ihre Sinne zu beruhigen, während der Duft der anderen Blumen ihr entsetzliches Kopfweh bereite. Da verschaffte er ihr mit den Veilchen süße Nächte und einen festen Schlummer, den gute Träume erquickten. Das heute Abend vorgefundene Sträußchen stand neben ihrem Kopfkissen. Plötzlich kam ihr der gute Gedanke, es neben sich zu legen, sie drückte es an ihre Wange und beruhigte sich in der Tat durch das Einsaugen des Duftes allmählich. Endlich stillten die Veilchen auch ihre Tränen. Sie schlief zwar noch immer nicht, doch lag sie still inmitten des sie umschwebenden Duftes, der von ihm kam; sie fühlte sich glücklich, zur Ruhe gekommen zu sein, und verharrte regungslos im hingebungsvollen Schwinden ihres ganzen Seins.

Ein heftiger Schauder überlief sie plötzlich. Es schlug Mitternacht. Als sie die Augen aufschlug war sie erstaunt, ihr Zimmer von einem hellen Licht erfüllt zu sehen. Langsam stieg über die Ulmen der Mond empor, und die Sterne verloschen am bleichen Himmel. Durch das Fenster sah sie die in weißes Licht getauchte Apsis der Kathedrale. Der Widerschein des Glanzes dort schien es zu sein, der das Zimmer mit dem milchfarbigen, neugeborenen Lichte des jungen Morgens füllte. Die weißen Mauern; die weißen Balken, die gesamte weiße Nacktheit des Raumes schien gewachsen, größer und ausgedehnter geworden, gerade als träume sie. Aber sie erkannte noch die alten Möbel von nachgedunkeltem Eichenholze, den Schrank, die Truhe, die Stühle mit den leuchtenden Kanten der Schnitzereien wieder. Nur ihr Bett, ihr viereckiges Bett von königlicher Breite überraschte sie, als habe sie es nie zuvor gesehen mit seinen gewundenen Säulen und seinem Himmel von rosigem Kattun. Das Mondlicht umnutete das Bett so voll, daß es ihr vorkam, als schwebe sie unter freiem Himmel auf einer Wolke, getragen von einem Schwärm unsichtbarer und unhörbarer Flügel. Einen Augenblick schien alles um sie her zu schwanken. Dann aber gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit, ihr Bett stand fest an seiner gewöhnlichen Stelle, und sie selbst lag mit unbeweglichem Haupte da, nur ihre Augen irrten in diesem Strahlenmeere umher, auf ihren Lippen ruhten die Veilchen.

Auf was wartete sie? Warum konnte sie nicht schlafen? Jetzt fühlte sie es als ganz gewiß, daß sie auf jemanden wartete. Sie hatte zu weinen aufgehört, weil er kommen sollte. Diese trostreiche Helle verjagte die bösen Träume und kündigte ihn an. Er sollte kommen, der Mond war sein Botschafter, er war ihm nur voraufgeschritten, um sie beide mit der Klarheit des jungen Morgens zu beleuchten. Das Zimmer war wie mit weißem Samt behangen, sie würden sich also sehen können. Sie erhob sich und kleidete sich an; ein einfaches Gewand legte sie an, das Musselinkleid, das sie am Tage des Ausfluges nach Hautecoeur getragen hatte. Sie ordnete nicht einmal ihre Haare, sondern ließ sie frei über ihre Schultern fallen. Die Füße ließ sie nackt in den Pantoffeln. So wartete sie.

Angelika wußte gegenwärtig noch nicht, woher er kommen sollte. Hinaufsteigen zu ihr konnte er nicht, aber sie würden sich trotzdem sehen können, sie würde auf dem Balkon, er unten auf dem Marienfelde stehen. Vorläufig hatte sie sich gesetzt, als fühle sie die Nutzlosigkeit, an das Fenster zu treten. Warum sollte er nicht schließlich auch durch die Wände kommen können wie die Heiligen der Legende? Sie wartete. Aber sie wartete keineswegs allein, denn sie wußte alle Jungfrauen, deren weiße Wolke sie seit ihrer Jugend umschwebte, um sich herum. Sie schwebten auf den Strahlen des Mondes herein, kamen aus den geheimnisvollen Bäumen des bischöflichen Gartens, von den blauen Wipfeln, aus den versteckten Winkeln der Kathedrale herüber, wo sie in dem Walde von Steinen hausten. Vom ganzen bekannten und geliebten Umkreise herüber, von der Chevrotte, den Weiden, den Gräsern hörte das junge Mädchen seine Träume widerklingen, seine Hoffnungen und Wünsche; es hatte sie auf alle diese Dinge übertragen, um sie täglich vor Augen zu haben, und jetzt schickten diese ihm die Träume wieder. Noch nie hatten die Stimmen des Unsichtbaren so deutlich zu Angelika gesprochen, sie hörte bis ins Jenseits hinüber, fühlte in der schwülen, von keinem Luftzug bewegten Nacht das leise Erzittern, das nach ihrer Meinung von dem Anstreifen des Gewandes der Agnes herrührte, als die Schutzheilige sich neben sie stellte. Es freute sie, Agnes mit den anderen dort zu wissen. Und sie wartete.

Eine geraume Zeit verfloß; Angelika war sich unklar, wie lange es gedauert hatte. Es erschien ihr aber ganz natürlich, daß Felix kam. Er schwang sich über die Balkonbrüstung. Seine schlanke Figur hob sich scharf von dem hellen Hintergrunde ab. Er trat nicht in das Zimmer, sondern blieb in dem Lichtrahmen des Fensters stehen.

Haben Sie keine Furcht ... Ich bin es, ich bin gekommen.

Sie fühlte keine Furcht, denn sie fand alles genau stimmend.

Sie sind am Balkenwerk heraufgestiegen, nicht wahr?

Ja, am Balkenwerk.

Daß es so bequem ging, ließ sie lächeln. Er hatte sich zuerst auf das Schutzdach der Tür emporgezogen, dann war er an der Dachstuhlsäule emporgeklettert, deren Fuß auf dem Unterbalken des Erdgeschosses ruhte. So hatte er ohne große Mühe den Balkon erreicht.

Ich erwartete Sie, kommen Sie näher.

Felix, der, ein Spielball der wahnsinnigsten Entschlüsse, gewalttätig hatte vorgehen wollen, rührte sich nicht; dieses plötzliche Glück brachte ihn außer Fassung. Jetzt wußte Angelika ganz genau, daß die Heiligen ihr ihre Liebe nicht verboten, denn sie hörte, wie sie ihn mit einem beifälligen Lachen empfingen, das so leise erklang wie ein Hauch der Nacht. Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein, anzunehmen, daß Agnes zürnen werde? Agnes strahlte neben ihr vor Freude, und diese freudige Empfindung, ähnlich dem Wehen zweier großer Flügel, übertrug sich von den Schultern herab auf den ganzen Körper. Alle die aus Liebe gestorben waren, nahmen teil an den Qualen der Jungfrauen und irrten durch die schwülen Nächte hin und her, um unsichtbar über ihr Liebesleid zu wachen.

Kommen Sie näher, ich erwartete Sie.

Felix schwankte herein. Er hatte sich vorgenommen, daß sie sein werden müsse, daß er sie in seine Arme schließen und ihren Schrei ersticken wolle. Als er sie jetzt so sanft reden hörte, als er das blendend weiße, keusche Zimmer betrat, da wurde er noch reineren Herzens wie sie und schwächer als ein Kind.

Er tat drei Schritte vorwärts. Da überlief ihn ein Zittern, er ließ sich weit ab von ihr auf die Knie nieder.

Wenn Sie meine gräßlichen Qualen kennten! Noch nie habe ich wie jetzt gelitten; sich nicht geliebt zu glauben – es gibt keinen ähnlichen Schmerz ... Ich will mit Freuden alles verlieren, ein Bettler sein, Hungers sterben und von Krankheit gepeinigt werden. Aber ich bin nicht imstande, noch einen solchen Tag zu verleben mit diesem das Herz verzehrenden Weh und mir sagen zu müssen, daß Sie mich nicht lieben ... Seien Sie barmherzig, ersparen Sie mir das ...

Sie hörte stumm, ergriffen von Mitleid und dennoch so recht, recht glücklich zu.

Wie konnten Sie mich heute morgen so von sich gehen lassen! Ich bildete mir ein, Sie wären gütiger geworden. Sie hätten mich verstanden. Da fand ich Sie wie am ersten Tage teilnahmlos! Sie behandelten mich wie einen Kunden, den man dulden muß, und führten mir in grausamster Weise die niedrigsten Fragen der Alltäglichkeit vor Augen. Auf der Treppe strauchelte ich. Auf der Straße lief ich davon, denn ich fürchtete, die Tränen nicht zurückhalten zu können Als ich in meine Wohnung hinaufsteigen wollte, fühlte ich, daß ich ersticken müsse, wenn ich mich einschlösse ... So rettete ich mich ins freie Feld; ich bin blindlings darauf losgewandert, hier eine Straße und dort eine Straße. Die Nacht senkte sieh hernieder, und ich lief noch immer. Aber meine Qualen waren ebenso schnell wie ich, sie verzehrten mich. Wenn man liebt, kann man der Liebespein nicht entfliehen ... Hier haben Sie das Messer angesetzt, und seine Spitze drang immer tiefer in die Brust.

Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm bei der schmerzlichen Erinnerung an seine Marter.

Stundenlang lag ich im Grase, von tiefem Weh niedergeworfen wie ein ausgerissener Baum ... Nichts war für mich vorhanden, nur Sie allein. Der Gedanke, daß Sie mir nicht gehören sollten, tötete mich. Meine Füße waren erschlafft, aber mein Kopf raste im Wahnsinn ... Deshalb bin ich zu Ihnen zurückgekehrt. Ich weiß nicht, wie mich mein Weg geführt hat, wie ich bis in dieses Zimmer dringen konnte. Vergeben Sie mir, aber ich wäre imstande gewesen, die Türen mit meinen Fäusten zu zertrümmern und am hellen lichten Tage zu Ihrem Fenster emporzuklettern.

Angelika saß im Schatten. Er kniete im vollen Schimmer des Mondes und sah sie nicht in reuiger Liebe erbleichen, so bewegt, daß sie nicht zu reden vermochte. Er hielt sie für gefühllos und faltete die Hände.

Es ist schon lange her, seit ich Sie eines Abends hier an diesem Fenster zum erstenmal bemerkte. Sie erschienen mir nur als ein helleuchtendes Etwas, ich unterschied kaum die Züge Ihres Gesichtes, und dennoch sah ich Sie, ich stellte Sie mir so vor, wie Sie sind. Aber ich hatte große Furcht, ich bin viele Nächte herumgestreift, ohne den Mut zu finden, Ihnen am Tage zu begegnen ... Sie gefielen mir auch als geheimnisvolle Erscheinung; mein höchstes Glück war, von Ihnen wie von einer Unbekannten, die ich nie kennen würde, zu träumen ... Als ich später wußte, wer Sie waren, konnte ich dem Zwange, das Traumbild zu erforschen und in Besitz zu nehmen, nicht widerstehen ... Damals begann mein Fieber. Es nahm mit jedem Zusammentreffen zu. Erinnern Sie sich unserer ersten Begegnung unten auf dem Felde an jenem Morgen, als ich das Kirchenfenster untersuchte? Noch nie hatte ich mich so linkisch benommen, Sie hatten vollständig recht, sich über mich lustig zu machen ... Späterhin habe ich Sie stets erschreckt; ich benahm mich weiterhin ungeschickt, weil ich Sie bis zu Ihren Armen verfolgte. Aber ich war damals schon nicht mehr Herr meines Willens, ich fürchtete mich und erschrak vor dem, was ich getan ... Als ich der Bestellung der Mitra wegen bei Ihnen erschien, trieb mich eine innere Gewalt, ich allein hätte diesen Schritt nie gewagt, weil ich wußte, daß er Ihnen mißfallen werde ... Begreifen Sie jetzt, wie elend ich bin? Lieben Sie mich nicht, aber lassen Sie mich lieben. Seien Sie kalt, seien Sie boshaft, ich will Sie lieben, wie Sie sind. Ich will Sie nur sehen ohne jede Hoffnung, nur der Freude halber, wie jetzt zu Ihren Füßen liegen zu dürfen.

Er schwieg, halb ohnmächtig und mutlos geworden, denn er glaubte nichts mehr hervorbringen zu können, um sie zu rühren. Er sah nicht, daß sie lächelte, daß ein siegreiches Lächeln allmählich auf ihren Lippen entstand. Der liebe Mann, wie war er so einfältig und gläubig! Er sagte sein Herzensgebet so frisch und leidenschaftlich vor ihr her, als knie er vor dem Traume seiner Jugend. Und sie hatte gekämpft, um ihn nicht wiederzusehen, sie hatte es sich geschworen, ihn zu lieben, ohne daß er es wissen solle! Tiefes Schweigen herrschte wieder, die Heiligen verwehrten es gewiß nicht zu lieben, wenn man so liebte. Hinter ihrem Rücken zog etwas wie ein froher Hauch vorüber; es war wie die vorrückende Lichtwelle des Mondes auf der Diele des Zimmers. Ein unsichtbarer Finger, ohne Zweifel der ihrer Hüterin, legte sich auf ihren Mund, als wolle er das Siegel des Schwures lösen. Sie konnte jetzt reden, alles, was in ihr an allmächtiger Liebe wogte, konnte ihr die Worte eingeben.

Ach ja, ich erinnere mich, ich erinnere mich ...

Felix überlief es warm bei der Musik dieser Stimme; sie übte einen so mächtigen Zauber auf ihn aus, daß seine Liebe gleich wuchs, wie er sie hörte.

Ja, ich erinnere mich, wie Sie mir des Nachts erschienen. Sie waren mir an den ersten Abenden so fern, daß ich das schwache Geräusch Ihrer Schritte mir nicht zu deuten wußte. Dann merkte ich, daß Sie ein und derselbe sein mußten, später sah ich Ihren Schatten, und eines Abends endlich zeigten Sie sich mir; es war eine herrliche, lichtdurchflossene Nacht ähnlich der heutigen. Sie traten langsam aus dem Rahmen der Dinge heraus, wie ich Sie seit Jahren erwartet hatte ... Ich erinnere mich, wie ich das Lachen unterdrückte, und wie es dennoch gegen meinen Willen ausbrach, als Sie das von der Chevrotte fortgespülte Stück Leinen gerettet hatten. Ich erinnere mich meines Zornes, als Sie mir meine Armen stahlen und ihnen soviel Geld schenkten, daß ich ihnen als Geizige erscheinen mußte. Ich erinnere mich meiner Furcht an dem Abend, als Sie mich zwangen, mit nackten Füßen über das Feld zu flüchten ... Ja, ich erinnere mich, ich erinnere mich ...

Ihre wie Kristall tönende Stimme trübte sich etwas bei dieser zuletzt wachgerufenen Erinnerung, als werde ihr noch einmal das »Ich liebe Sie« entgegengehaucht. Entzückt hörte er zu.

Es ist wahr, ich bin recht häßlich zu Ihnen gewesen. Man ist so dumm, wenn man nichts weiß. Man tut Dinge, die man für notwendig hält, man hat Furcht, Fehler zu begehen, sobald man nur seinem Herzen folgt. Aber wie fühlte ich stets die Gewissensbisse, wie litt ich unter Ihrem Leiden! ... Wenn ich Ihnen das auch erklären wollte, ich wäre doch nicht imstande. Als Sie mit Ihrem Muster der heiligen Agnes kamen, war ich entzückt, daß ich für Sie tätig sein konnte, und zweifelte, daß Sie wiederkommen würden. Ja, ich habe ein wenig Gleichgültigkeit täglich geheuchelt, als ob ich mit Ihnen anbinden wollte, damit Sie unserem Hause fern blieben. Geht es denn nicht anders, als daß man sich unglücklich macht? Während ich selbst Sie mit offenen Händen empfangen wollte, lebte in meinem Innern eine zweite Frau, die sich empörte, Sie fürchtete und Ihnen mißtraute, die sich ein Vergnügen daraus machte, Sie in quälender Ungewißheit zu lassen, und sich einbildete, sich mit Ihnen einer veralteten und längst vergessenen Ursache halber herumstreiten zu müssen. Ich bin eben nicht immer gut, es streiten sich in mir unverständliche Dinge ... Das Schlimmste war, daß ich mit Ihnen vom Gelde sprechen mußte. Ach, das Geld! Noch nie hat mir etwas am Gelde gelegen; ja, scheffelweise möchte ich es besitzen, aber nur um die Freude zu empfinden, daß man nach Gefallen Geld regnen lassen kann. Wie kam ich nur zu dem boshaften Vergnügen, mich selbst zu verleumden? Werden Sie mir verzeihen?

Felix lag zu ihren Füßen. Er war auf den Knien bis zu ihr gerutscht. Sein unverhofftes Glück kannte keine Grenzen.

O teures, unschätzbares, schönes und gutes Herz, flüsterte er, ein Wunder an Güte! Ein bloßer Hauch schon hat mich geheilt! Ich weiß kaum noch, ob ich gelitten habe ... An Ihnen ist es, mir zu vergehen, denn ich muß Ihnen ein Geständnis machen, ich muß Ihnen sagen, wer ich bin.

Er fühlte sich verlegen werden bei dem Gedanken, daß, wenn er sich ihr jetzt freimütig zu erkennen gab, er sich nicht mehr werde verstecken können. Das war treulos. Er zögerte trotzdem aus Furcht, sie vielleicht zu verlieren, wenn sie ihn kannte und sich deshalb über die Zukunft beunruhigen sollte. Sie wartete absichtlich, damit er spreche; das war wieder boshaft, aber ganz gegen ihren Willen.

Ich habe Ihre Eltern belogen, fuhr er mit leiser Stimme fort.

Ja, ich weiß es, sagte sie lächelnd.

Nein, Sie wissen es nicht und können es nicht wissen, das Richtige liegt Ihnen zu fern ... Ich male nur zu meinem Vergnügen auf Glas ...

Sie legte ihm hastig die Hand auf den Mund und beendete damit seine Beichte.

Ich will nichts wissen. Ich erwartete Sie, und Sie sind gekommen. Das genügt mir.

Er sprach nicht mehr, die kleine Hand auf seinen Lippen erhöhte sein Glück.

Ich werde es später schon erfahren, wenn es an der Zeit ist ... Im übrigen versichere ich Sie, daß ich alles weiß. Sie können nur der schönste, der reichste, der edelste Mann sein, denn so stellte mein Traum Sie mir vor; ich warte deshalb ruhig, ich fühle, daß er sich erfüllen wird ... Sie sind der, auf den ich hoffte, und ich gehöre Ihnen ...

Noch einmal unterbrach sie sich, denn nur stockend entströmten ihr die Worte. Sie allein fand sie nicht, die herrliche Nacht, der weite, leuchtende Himmel, die alten Bäume und das schlummernde alte Gestein, das seine Träume dort drüben träumte, gaben sie ihr ein; auch die Stimmen ihrer Freundinnen aus der Legende, von denen die Luft erfüllt war, flüsterten sie ihr zu. Noch ein Wort aber blieb zu sagen, das Wort, vor dem alles andere dahinschmolz, die Erwartung, das langsame Auftauchen des Geliebten, das wachsende Fieber der ersten Begegnungen. Dieses Wort, es schwebte wie der schimmernde Flug eines zum Licht aufsteigenden Morgenvogels durch die jungfräuliche Helle des Zimmers.

Ich liebe Sie!

Angelikas Hände öffneten sich und glitten auf die Knie nieder. Sie war sein. Felix erinnerte sich des Abends, an dem sie ihn so liebenswert erschien, als sie nackten Fußes über die Wiese eilte, daß er ihr nachgeeilt war, um ihr ins Ohr zu flüstern: Ich liebe Sie. Er merkte wohl, daß sie jetzt ihm, nur ihm mit demselben Ausrufe antworten wollte: Ich liebe Sie; daß dieser ewige Ruf endlich aus ihrem ihm sich öffnenden Herzen dringen werde.

Ich liebe Sie ... Nehmen Sie mich hin, tragen Sie mich hinweg, ich gehöre Ihnen.

Sie gab sich ihm hin, gab sich ihm mit Leib und Seele. Die erbliche Flamme war in ihr entfacht. Ihre unsicher umhertappenden Hände griffen in die Leere, ihr Kopf sank schwer auf den zarten Nacken. Hätte er die Arme ausgebreitet, wäre sie ihm an die Brust gesunken; denn sie wußte nichts, folgte nur dem Drängen ihres Blutes, fühlte nur das Bedürfnis, in ihm völlig aufzugehen. Und er, der eigens gekommen war, um sie mit Gewalt sich zu nehmen, erzitterte vor dieser Leidenschaftlichkeit und Unschuld. Er hielt sie sanft an den Gelenken fest und kreuzte ihre keuschen Hände über die Brust. Einen Augenblick sah er sie an, ohne selbst der Versuchung, einen Kuß auf ihre Haare zu drücken, nachzugeben.

Sie lieben mich und ich liebe Sie ... Wie herrlich ist die Gewißheit, geliebt zu werden!

Eine plötzlich in ihnen aufsteigende Unruhe führte sie zur Wirklichkeit zurück. Was war das? Sie erblickten sich in einem hellen, blendenden Lichte, das des Mondes schien sich auszubreiten und ähnlich dem der Sonne zu erstrahlen. Es tagte, ein über den Ulmen des bischöflichen Gartens stehendes Wölkchen überzog sich purpurn. Wie? Schon der Tag nahe? Sie waren bestürzt, sie konnten nicht begreifen, daß sie schon mehrere Stunden plaudernd zugebracht hatten. Dabei hatte sie ihm eigentlich noch nichts gesagt, und er hatte ihr noch von sovielen Dingen zu erzählen.

Eine Minute, nur noch eine Minute!

Der Morgen erwachte in heiterem Glanze, die laue Morgenluft verhieß einen heißen Sommertag. Die Sterne erblichen einer nach dem anderen, und mit ihnen verschwanden die umherirrenden Erscheinungen, die unsichtbaren Freundinnen entschwebten auf den Strahlen des Mondes. Im Lichte des jungen Tages erschien das Zimmer nur noch durch seine weißen Wände und Balken weiß und mit seinen Möbeln von nachgedunkeltem Eichenholz fast leer. Man sah das durchwühlte Bett, von einem der zurückgefallenen Vorhänge nur halb verhüllt.

Eine Minute, nur noch eine Minute!

Angelika hatte sich erhoben, sie wehrte Felix ab und drängte ihn zum Gehen. Seit der Morgen graute, fühlte sie sich wie wirr im Kopfe, und der Anblick des Bettes steigerte dieses Gefühl. Zu ihrer Rechten glaubte sie ein leises Geräusch zu vernehmen, und ihre Haare bewegten sich, trotzdem kein Lüftchen in das Zimmer drang. War es Agnes, die, von der Sonne verjagt, sie als letzte verließ?

Nein, lassen Sie mich, ich bitte Sie ... Es wird schon hell, ich fürchte mich.

Felix gehorchte, er zog sich zurück. Daß er geliebt wurde, überstieg sein kühnstes Hoffen. Am Fenster wandte er sich noch einmal nach ihr um und betrachtete sie lange, lange, als wolle er alles an ihr in sich aufnehmen. Ihre Blicke tauchten voller Seligkeit tief ineinander, und vom Lichte der Dämmerung umwoben standen sie lächelnd sich gegenüber.

Noch einmal sagte er:

Ich liebe Sie.

Und sie wiederholte:

Ich liebe Sie.

Kein Wort mehr, er war bereits mit lautloser Geschwindigkeit am Gebälk heruntergestiegen, während sie über den Balkon lehnend ihm ihre Blicke nachsandte. Sie hatte das Veilchensträußchen ergriffen und atmete seinen Duft ein, um ihre Sinne zu beruhigen. Als er über das Marienfeld schritt und den Kopf erhob, sah er sie seine Blumen küssen.

Kaum war Felix hinter den Weiden verschwunden, da wurde Angelika unruhig, denn sie hörte unten die Haustür öffnen. Es schlug vier Uhr, sonst wachte man erst zwei Stunden später auf. Ihre Überraschung stieg, als sie Hubertine erkannte, denn gewöhnlich erhob sich Hubert zuerst. Sie sah sie langsam durch die schmalen Gänge des Gartens wandeln, ihre Hände hingen schlaff hernieder, das Gesicht erschien in der Morgenluft bleich. Es schien, als habe es sie nach einer schlaflosen Nacht aus dem stickigen Zimmer herausgetrieben. Hubertine war noch immer schön in ihren hastig umgeworfenen Gewändern. Sie schien sich sehr matt, glücklich und doch so hoffnungsleer zu fühlen.


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