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Zweites Kapitel

Beaumont setzt sich aus zwei vollständig getrennten und unterschiedlichen Städten zusammen: dem Kirchenviertel auf der Höhe mit seiner alten Kathedrale aus dem 12. Jahrhundert, seinem Bischofssitze, der erst im 17. Jahrhundert entstand, und mit kaum tausend Bewohnern, die dicht gedrängt im Innern der schmalen Gassen halb ersticken; und der Stadt am Fuße des Hügels und am Ufer des Ligneul, ursprünglich nur einer Vorstadt, die indessen durch ihre flottgehenden Spitzen- und Batistfabriken an Reichtum und Ausdehnung gewann, so daß sie fast 10 000 Einwohner zählt, luftige Plätze, eine stattliche Unterpräfektur hat, überhaupt ganz zeitgemäßen Geschmack entwickelt. Die beiden Stadtteile also, der nördliche und der südliche, haben im Grunde genommen höchstens die Verwaltung betreffende Beziehungen gemeinsam. Obwohl nur knapp 30 Meilen von Paris entfernt, wohin man in zwei Stunden gelangt, scheint das Kirchenviertel noch innerhalb seiner alten Wälle festgekeilt zu sitzen, von denen indessen nur noch drei Tore übrig sind. Dort wohnt noch ein seßhafter, ganz besonderer Menschenschlag und führt dasselbe Leben, das seine Vorfahren seit 500 Jahren von Vater auf den Sohn geführt haben.

Das Vorhandensein der Kathedrale erklärt alles, sie ist es, die alles das erzeugt und erhalten hat. Sie ist die Mutter, die Königin; wie eine Riesin überragt sie die niedrigen Häuser, die einer fröstelnd unter die steinernen Flügel niederkauernden Brut ähneln. Man haust dort nur für sie und durch sie; die Gewerke arbeiten, die Läden verkaufen nur, um sie zu erhalten, zu kleiden, zu beköstigen, sie und ihre Geistlichkeit; wenn man dort noch einige andere Bürger antrifft, sind es eben nur die letzten Getreuen untergegangener Geschlechter. Sie pulsiert in der Mitte, denn jede Straße ist eine ihrer Adern, die Stadt kennt keinen anderen Atem als den ihren. Diese Seele einer anderen Zeit, diese weihevolle Anklammerung an die Vergangenheit, diese klösterliche, altvaterische Stadt, welche die Kathedrale einrahmt, strömt daher noch jetzt einen ehrwürdigen Duft von Frieden und Glauben aus.

Von dieser ganzen geheimnisvollen Stadt stand das Haus Huberts, wo Angelika fortan leben sollte, der Kathedrale zunächst, war ein Stück Fleisch von ihrem Fleische. Die Erlaubnis, dort zwischen zwei Strebepfeilern bauen zu dürfen, mußte wohl von einem früheren Pfarrer erteilt sein, der den Urahn dieser Stickerfamilie als Meßgewandmacher und Lieferer der Sakristei an sich zu fesseln wünschte. Nach Süden zu sperrte der wuchtige Aufbau der Kirche den schmalen Garten ab: zunächst der Umkreis der seitlichen Kapellen, deren Fenster auf die Gartenbeete führten; ferner der schlanke Körper des Schiffes mit seinen ihn schützenden Strebepfeilern und ganz oben die mächtige Kuppel mit ihren Bleiplatten. Nie drang die Sonne bis auf den Boden dieses Gartens, daher gedieh nur Efeu und Buchsbaum dort. Aber trotzdem weckte der ewige Schatten, den die riesige Höhe der Wölbung dort schuf, nur angenehme Empfindungen; es war ein frommer, gruftartiger, reiner Schatten, der einen guten Geruch ausströmte. Kein anderer Ton als das Glockengeläut von den beiden Türmen der Kathedrale drang in dieses grüne, eine ruhige Frische aushauchende Halbdunkel. Der Nachklang der Glocken aber durchbebte das ganze Haus, das mit den alten Steinen der Kirche wie aus einem Stück gegossen schien und von ihrem Blute lebte. Es erzitterte schon bei der geringsten kirchlichen Feier; die großen Messen, das Grollen der Orgel, die Stimmen der Sänger bis zum unterdrückten Seufzer der Gläubigen, tönten in jedem seiner Steine wider, durchdrangen es wie mit einem heiligen Hauche des Unsichtbaren. Ja, durch die kühle Mauer hindurch drang es oft wie duftiger Hauch der Weihrauchkessel.

Dort wuchs Angelika wie in einem Kloster, abgeschieden von der Welt, fünf Jahre hindurch auf. Sie verließ das Haus nur des Sonntags, um die Sieben-Uhr-Messe anzuhören. Hubertine hatte die Erlaubnis erhalten, daß Angelika der Schule fernbleiben durfte, weil die vorsorgliche Frau daselbst schlechten Verkehr für das Kind fürchtete. Dieses altertümliche Haus in seiner Abgeschlossenheit und mit seinem friedhofsstillen Garten bildete daher Angelikas ganze Welt. Sie bewohnte unter dem Dache eine Kammer mit abgetünchten Wänden. Des Morgens stieg sie zum Frühstück nach der Küche hinunter, dann zur Arbeit wieder in das in dem ersten Stockwerke gelegene Arbeitszimmer hinauf. Diese Räume nebst der Wendeltreppe im Türmchen waren die einzigen Ecken, in denen Angelika ihr tägliches Leben verbrachte; gerade sie aber waren die von Geschlecht zu Geschlecht erhaltenen, ehrwürdigen Orte. Das Zimmer der Hubert betrat Angelika nie, kaum daß sie den Salon zur ebenen Erde durchschritt – beides Räume, die nach dem Geschmacke der Neuzeit umgewandelt waren. Im Salon hatte man die Balken übergipst, ein Kranz von palmenzweigartigem Stuck mit einer Mittelrosette schmückte die Decke. Die großblumige gelbe Tapete stammte aus der Zeit des ersten Kaiserreichs, ebenso der Kamin aus weißem Marmor und die Mahagonimöbel, ein Leuchterstuhl, ein Sofa und vier mit Utrechter Samt überzogene Sessel. Selten kam Angelika hierher, nur wenn die Auslage verändert werden mußte und neue Stickereien vor das Fenster gehängt werden sollten. Dann warf sie wohl einen hastigen Blick nach außen, um in der engen, an der Kirchentür der heiligen Agnes auslaufenden Straße immer wieder dasselbe sich nie verändernde Bild in sich aufzunehmen; sie sah eine Andächtige den sich geräuschlos schließenden Türflügel aufstoßen, die scheinbar stets leeren Läden des Goldschmiedes und des Wachshändlers gegenüber mit ihren Hostiengefäßen und den dickleibigen Wachskerzen. Der klösterliche Friede, der über dem ganzen Kirchenviertel ruhte, über der Magloire-Straße hinter dem Bischofssitze, über der Großen Straße, in welche die Goldschmiedestraße mündete, über dem Klosterplatz, an dem die beiden Türme in die Lüfte stiegen, machte sich in der trägen Luft fühlbar, die mit dem bleichen Tage zusammen langsam auf das einsame Pflaster niedersank.

Hubertine hatte sich die Vervollständigung der Erziehung von Angelika zur Aufgabe gemacht. Auch sie pflichtete nämlich der althergebrachten Meinung bei, daß eine Frau genug weiß, wenn sie richtig schreiben und die vier Hauptrechnungsarten kann. Sie hatte jedoch stark gegen die Abneigung des Kindes anzukämpfen, das seine Augen gern durch das Fenster nach dem Garten schweifen ließ, trotzdem es nur ein mittelmäßiges Vergnügen war, und daher dem Unterricht unaufmerksam folgte. Angelika entwickelte keine Leidenschaft für das Lesen. Trotz der aus einer klassischen Auswahl hervorgegangenen Diktate brachte sie es nie fertig, auch nur eine Seite ohne einen orthographischen Fehler zu schreiben. Dabei hatte sie eine niedliche, dünne, feste Handschrift, die unregelmäßigen Schriftzüge der großen Damen von ehedem. In den übrigen Gegenständen, in der Länderkunde, der Geschichte und dem Rechnen blieb ihr Wissen gleich Null. Was sollte auch die Wissenschaft? Sie war vollständig überflüssig. Später, vor dem ersten Abendmahl, lernte sie Wort für Wort ihre Glaubenslehre mit einem solchen Überzeugungseifer auswendig, daß sie jedermann durch die Sicherheit ihres Gedächtnisses überraschte.

Im ersten Jahre verzweifelten die Hubert trotz ihrer Sanftmut oft genug. Angelika versprach eine sehr geschickte Stickerin zu werden, brachte aber nach Tagen beispiellosen Eifers durch plötzlichen Rückfall in eine unerklärliche Trägheit ihre Lehrer zu grenzenloser Verzweiflung. Sie wurde mit einemmal schlaff, ein Leckermaul und stahl mit niedergeschlagenen Augen in ihrem feuerroten Gesicht Zucker. Wenn man sie ausschalt, gab sie ungezogene Antworten. Wenn an manchen Tagen die Hubert sie zu strafen versuchten, bekam sie Anfälle einer ganz fürchterlichen Wut; sie stieß mit Händen und Füßen und war imstande, alles zu zerreißen und zu zerbeißen. Eine Art Furchtgefühl trieb das Ehepaar bei solchen Gelegenheiten von dem kleinen Ungetüm fort; sie scheuten den Teufel, der sich in dem Kinde regte. Wer mochte es sein? Woher war es gekommen? Diese Findelkinder entstammten fast immer dem Laster und dem Verbrechen. Zweimal waren sie schon auf dem Sprunge, sich des Kindes zu entledigen und mit dem Bedauern, es zu sich genommen zu haben, es tiefbetrübt der Anstalt zurückzugeben. Aber jedesmal endeten die abscheulichen Auftritte, von denen das Haus nachzitterte, mit denselben Tränenströmen, mit derselben tiefen Reue. Das Kind warf sich dann auf den Fußboden mit einer solchen Gier nach Züchtigung, daß man ihm wohl oder übel vergeben mußte.

Nach und nach gewann Hubertine die Herrschaft über Angelika. Sie mit ihrem gutmütigen Herzen, ihrem zugleich starken und milden Wesen, ihrem rechtschaffenen Sinn und dem steten Gleichgewicht ihrer Seele war zu dieser Erziehung wie geschaffen. Sie lehrte Angelika Pflicht und Gehorsam und daß der Leidenschaft und dem Zorn gegenüber gehorchen leben heiße. Man müsse Gott, den Eltern, den Vorgesetzten gehorchen, kurz sie führte dem Kinde ein ganzes Register von zu achtenden Persönlichkeiten vor; ein Ungehorsam gegen diese heiße ein entartetes und lasterhaftes Leben führen. Um sie Demut zu lernen, befahl Hubertine ihr bei jeder Auflehnung als Strafe eine untergeordnete Beschäftigung an; sie ließ sie das Geschirr reinigen und die Küche ausscheuern. Dann blieb sie dabei stehen und hielt sie über die Dielen gebeugt, bis die Wut, die hatte aufschäumen wollen, sich vollständig gelegt hatte, die Leidenschaftlichkeit dieses Kindes beunruhigte sie, ebenso sehr aber das Feuer und die Heftigkeit seiner Liebkosungen. Mehrmal hatte sie Angelika dabei angetroffen, wie sie sich selbst die Hände küßte. Sie sah sie für Bilder, kleine Darstellungen von Heiligen, für Jesusbilder, die sie sammelte, erglühen. Eines Abends fand sie sie in Tränen und bewußtlos, der Kopf ruhte auf dem Tische und der Mund auf den Bildern. Es gab einen fürchterlichen Auftritt, als man sie ihr nahm, Tränen und Geschrei, als ziehe man ihr die Haut vom Leibe. Von da an hielt Hubertine sie streng, sie litt nicht mehr ihr Alleinsein, überlud sie mit Arbeiten, ließ Stillschweigen und Kühle um sie her entstehen, sobald sie Angelika sich aufregen und ihre Augen glänzen, ihre Wangen sich röten sah.

Hubertine hatte übrigens in dem Buche der Armenpflege einen wirksamen Helfer entdeckt. Alle drei Monate, wenn der Steuereinnehmer seinen Namen darin unterschrieb, blieb Angelika bis zum Abend verstimmt. Das Blut schoß ihr zum Herzen, wenn sie eine Spule Goldfäden aus der Truhe nahm und das Buch dort bemerkte. An einem Tage wildester Wut, wo man ihr durch nichts beikommen konnte, blieb sie wie leblos vor dem unansehnlichen Hefte stehen, das sie erblickte, als sie in der Schublade alles von oben nach unten kehrte. Heftiges Schluchzen erstickte sie fast, sie warf sich den Hubert zu Füßen, demütigte sich und stotterte, sie hätten unrecht getan, sie aufzunehmen, sie verdiene nicht, ihr Brot zu essen. Von jenem Tage an hielt sie oft die Erinnerung an ihr Buch vor Ausbrüchen des Zornes zurück.

So wurde Angelika zwölf Jahre alt und damit des ersten Abendmahles teilhaftig. Die ruhige Umgebung, das kleine, im Schatten der Kathedrale schlummernde Haus, die vom Weihrauche durchduftete, von den kirchlichen Gesängen widerhallende Kirche begünstigten die allmähliche Veredelung dieses wilden Schößlings, den man, man wußte nicht wo, ausgerissen und auf diesen geheimnisvollen Boden des kleinen Gartens verpflanzt hatte; dasselbe bewirkten auch das regelmäßige Leben, das man dort führte, die tägliche Arbeit, die Unkenntnis der Ereignisse in der großen Welt, von denen nicht einmal ein Widerhall in das träumende Viertel klang. Doch in erster Linie verdankte die Sanftmut Angelikas viel der großen Liebe der Hubert, die durch ihre tiefe Reue an Innigkeit gewonnen zu haben schien. Er brachte seine Tage mit dem Versuche zu, aus dem Gedächtnisse seiner Frau das Unrecht auszulöschen, das er ihr dadurch angetan hatte, daß er sie gegen den Willen ihrer Mutter heiratete. Er hatte es beim Tode seines Kindes wohl gefühlt, daß sie ihm diese Strafe anrechnete, und er gab sich alle Mühe, ihre Verzeihung zu erlangen. Dieses Ziel hatte er schon seit langer Zeit erreicht, denn seine Frau liebte ihn von ganzem Herzen. Trotzdem zweifelte er manchmal daran, und dieser Zweifel trübte sein Leben. Um der Umstimmung der Toten, der hartnäckigen Mutter, in ihrem Grabe ganz gewiß zu sein, hätte es der Geburt eines zweiten Kindes bedurft. Ihr einziger Wunsch galt diesem Kinde der Versöhnung; er durchlebte zu den Füßen seiner Frau einen wahren Kultus, eine der glühenden und keuschen Leidenschaften, die einem fortgesetzten Brautstande gleichen. Ja, vor dem Lehrmädchen küßte er seiner Frau nicht einmal die Haare und nach zwanzigjähriger Ehe betrat er noch ihr Zimmer mit den Gefühlen eines jungen Gatten am Hochzeitstage. Es war dies ein lauschiges Zimmer mit seiner weißen und grauen Malerei, seinen Tapeten mit blauen Sträußen und den mit Leinwand überzogenen Nußbaummöbeln. Nicht das leiseste Geräusch drang aus ihm heraus, aber man fühlte die darin heimische Zärtlichkeit, denn sie durchsättigte das ganze Haus. Alles das bedeutete für Angelika ein Bad der Liebe, in dem sie voll Leidenschaftlichkeit und Reinheit aufwuchs.

Ein Buch vollendete das Werk der Erziehung. Als Angelika eines Morgens herumstöberte, entdeckte sie auf einem verstaubten Brette im Arbeitszimmer unter abgenutzten Stickereigegenständen ein sehr altes Exemplar der »Goldenen Legende« von Jakob de Voragine. Diese aus dem Jahre 1549 stammende französische Übertragung war wahrscheinlich einstmals von einem Meßgewandmacher der darin enthaltenen Bilder und der nützlichen Auskünfte über die Heiligen wegen gekauft worden. Angelika begeisterte sich lange für nichts anderes als für die Bilder, alte Holzschnitte, Eingebungen eines einfältigen Glaubens, die sie entzückten. Sobald man ihr mit dem Buche zu spielen erlaubt hatte, nahm sie den in gelbes Leder gebundenen Quartband und durchblätterte ihn langsam. Zuerst kam der Schmutztitel mit der Adresse des Buchhändlers: »In Paris, Neue Liebfrauen-Straße, im Hause zu ›Johannes dem Täufer‹.« Dann der von Medaillons mit den vier Evangelisten eingerahmte Titel, unten von der Anbetung der drei Magier, oben von dem Triumphe Jesu Christi über den Tod abgeschlossen. Darauf folgten Bild auf Bild verzierte Buchstaben, große und mittlere Bilder im Texte, Seite für Seite: Die Verkündigung, ein ungeheurer Engel, der eine sehr gebrechliche Maria mit Strahlen überwirft; das Gemetzel der Unschuldigen, der grausame Herodes inmitten eines Haufens von Leichnamen; die Krippe, Jesus zwischen der Jungfrau und dem heiligen Joseph, der eine Kerze hält; der heilige Johannes gibt den Armen; der heilige Mathias zerbricht ein Götzenbild; der heilige Nikolaus als Bischof hat zu seiner Rechten Säuglinge in einem Kübel; und alle die Heiligen: Agnes mit dem vom Schwerte durchbohrten Halse, Christine, wie ihr die Brüste mit Zangen abgezwickt werden, Genoveva von ihren Lämmern gefolgt, die gegeißelte Juliana, die verbrannte Anastasia, Maria die Ägypterin, wie sie sich in der Wüste kasteit, Magdalena, das Gefäß mit Weihrauch tragend. Viele andere noch zogen an Angelika vorüber, und mit jedem Bilde nahmen Furcht und Mitleid in ihrer Brust zu. Es war eine jener schrecklichen und zugleich wohligen Geschichten, die das Herz krampfhaft zusammenziehen und die Tränen in die Augen treiben.

Aber in Angelika regte sich allmählich auch die Neugierde zu erfahren, was die Bilder vorstellten. Die beiden gedrängten Textreihen, deren Druck auf dem vergilbten Papiere ein tiefschwarzer geblieben war, erschreckten sie mit ihren barbarischen gotischen Schriftzügen. Aber sie gewöhnte sich an sie; sie entzifferte die Buchstaben, lernte die Abkürzungen und Zusammenziehungen verstehen, wußte den Sinn der Wendungen und der veralteten Worte zu erraten, und las schließlich das Buch geläufig, entzückt, als ob sie in ein Geheimnis eindringe, und über jede neue Schwierigkeit, die sie überwunden hatte, triumphierend. Aus diesem mühsam aufgehellten Dunkel flammte ihr eine ganze Welt auf. Sie trat in einen himmlischen Glanz. Ihre trockenen und kalten Schulbücher lebten für sie nicht mehr. Nur die Legende begeisterte sie und hielt sie, die Hände an die Stirn gedrückt, über das Buch gebeugt. Sie war von dem Lesen so gefesselt, daß ihr das wirkliche Leben vollständig verschwand; ohne Bewußtsein von Raum und Zeit sah sie aus dem Grunde des Unbekannten herauf den großen Traum dämmern.

Gott ist die Liebe, und ihm zunächst stehen die Heiligen beiderlei Geschlechts. Ihr Schicksal verlautet bereits bei ihrer Geburt, Stimmen verkünden ihre Ankunft, und ihre Mütter haben herrliche Träume. Alle sind schön, stark, siegreich. Ein helles Licht umgibt sie, ihr Antlitz leuchtet. Dominik führt einen Stern auf der Stirn. Sie lesen in den menschlichen Gedanken und wiederholen mit lauter Stimme die Gedanken. Sie besitzen die Gabe der Weissagung, und ihre Prophezeiungen treffen stets ein. Ihre Zahl ist eine unendliche, denn es gibt heilige Bischöfe und Mönche, keusche Jungfrauen und Gefallene, Bettler und vornehme Herren aus königlichem Geschlechte, nackte Einsiedler, welche Wurzeln essen und Greise mit Hindinnen in ihren Klausen. Ihre Geschichte ist die gleiche, sie wachsen für Christus auf, sie glauben an ihn, sie weigern sich, falschen Göttern zu opfern, werden gefoltert und sterben in voller Herrlichkeit. Die Verfolgungen werden den Kaisern lästig. Der ans Kreuz geschlagene Andreas predigt zwei Tage lang zwanzigtausend Menschen. In Masse tritt man zum neuen Glauben über, mit einem Schlage werden vierzigtausend Menschen getauft. Die Menschenmengen, die sich angesichts der Wunder nicht bekehren wollen, fliehen entsetzt. Man klagt die Heiligen der Zauberei an, man gibt ihnen Rätsel auf, die sie lösen, man läßt sie mit den Gelehrten streiten, die stumm bleiben. Sobald man sie in den Tempel zum Opfer führt, stürzen die Götzenbilder auf den bloßen Hauch ihres Mundes hin und zerbrechen. Eine Jungfrau legt ihren Gürtel um den Hals der Venus und diese zerfällt in Staub. Die Erde erzittert, und der Tempel der Diana stürzt vom Blitze getroffen zusammen; die Völker erheben sich, und Bürgerkriege entstehen. Oft genug verlangen die Henker selbst die Taufe, die Könige knien zu den Füßen der in Lumpen gehüllten Heiligen nieder, die sich der Armut vermählt haben. Sabina entflieht dem elterlichen Hause. Paulus verläßt seine fünf Kinder und beraubt sich der Wohltat des Bades. Kasteiungen und Fasten reinigen sie. Nicht Weizen, nicht Öl. Hermann streut Asche über seine Nahrung. Bernhard unterscheidet nicht mehr die Speisen, ihm schmeckt nur das klare Wasser. Agathon trägt drei Jahre hindurch einen Stein im Munde. Augustinus verzweifelt darüber, daß er gesündigt, weil er seine Aufmerksamkeit einem davoneilenden Hunde geschenkt habe. Glück und Gesundheit werden mißachtet, die Freude beginnt mit den Entbehrungen, die das Fleisch töten. So leben sie triumphierend in den Gärten, deren Blumen die Sterne sind, und wo die Blätter der Bäume singen. Sie rotten die Drachen aus, erregen Stürme und beruhigen die Winde; zwei Längen von der Sonne entfernt schwelgen sie in überirdischen Freuden. Verwitwete Frauen sorgen für die Bedürfnisse der Heiligen bei Lebzeiten und empfangen im Traume die Weisung, sie zu begraben, wenn sie gestorben sind. Ganz außerordentliche Geschichten geschehen ihnen, wunderbare Abenteuer, ebenso schön wie sie in Romanen vorkommen. Wenn man nach soundsoviel hundert Jahren die Grabstätten der Märtyrer öffnet, steigen angenehme Düfte daraus empor.

Den Heiligen gegenüber stehen die Teufel, unzählige Teufel. »Sie fliegen oft um uns wie Fliegen und erfüllen zahllos die Luft. Die Luft ist ebenso voll von Teufeln und bösen Geistern wie der Sonnenstrahl voller Atome.« Der ewige Kampf entbrennt. Stets sind die Heiligen die Sieger, und immer müssen sie den Sieg von neuem erkämpfen. Je mehr Teufel man verjagt, in desto größerer Zahl kommen sie wieder. Man zählt 6666 in dem Körper einer einzigen Frau, die Fortunatus erlöst. Sie tollen umher, sprechen und schreien durch den Mund der Besessenen, deren Körper sie wie im Sturme schütteln. Sie fahren durch die Nase, den Mund, die Ohren in sie hinein und nach Tagen schrecklicher Kämpfe mit Gebrüll aus ihnen heraus. An jeder Straßenecke wälzt sich ein Besessener, und ein vorübergehender Heiliger liefert eine Schlacht. Basilius schlägt sich Leib an Leib, um einen jungen Menschen zu retten. Macarius schläft zwischen den Gräbern, wird überfallen und muß sich die ganze Nacht hindurch verteidigen. Die Engel selbst sehen sich auch an den Totenbetten gezwungen, die Teufel mit Schlägen zu vertreiben, um die Seelen retten zu können. Bei anderen Gelegenheiten wird nur auf Sinn und Verstand Sturm gelaufen. Man scherzt und sucht sich gegenseitig zu überlisten, der Apostel Petrus und Simon der Magier streiten um Wunder. Der herumlungernde Satanas nimmt alle möglichen Gestalten an, er verwandelt sich in eine Frau und geht so weit, sich den Heiligen selbst ähnlich zu machen. Sobald er aber besiegt ist, erscheint er in seiner ganzen Häßlichkeit: »Eine schwarze Katze, viel größer als ein Hund, mit mächtigen, glühenden Augen und einer breiten, blutigen Zunge, die bis zum Nabel geht, den gekrümmten Schwanz hoch erhoben und sein Hinterteil zeigend, dem ein schrecklicher Gestank entströmt.« Der Teufel ist die einzige Sorge; ihn haßt man, ihn fürchtet man, ihn verspottet man. Man geht wirklich nicht ehrlich mit ihm um. Trotz der fürchterlichen Zurüstung seiner höllischen Feuerkessel bleibt er im Grunde genommen ewig der Geleimte. Alle seine Verträge werden ihm mit Gewalt oder mit List entrissen. Schwache Frauen werfen ihn zu Boden, Margarete zermalmt ihm den Kopf mit ihrem Fuße. Juliane reißt ihm die Weichen mit den Schlägen der Kette auf. Es mehren sich Freudigkeit und stolze Verachtung des Bösen, da der Teufel ohnmächtig ist; die Gewißheit des ewigen Heiles steigt empor, denn die Tugend bleibt Herrscherin. Die Bekreuzung genügt; dagegen kann der Teufel nichts ausrichten; er heult auf und verschwindet. Wenn eine Jungfrau das Zeichen des Kreuzes schlägt, stürzt die ganze Hölle zusammen.

In diesem Kampfe der heiligen Männer und Frauen gegen den Satan zeigen sich uns entsetzliche Opfer der Verfolgung. Die Henker setzen mit Honig bestrichene Märtyrer den Fliegen aus; sie lassen, sie mit nackten Füßen über zerbrochenes Glas und glühende Kohlen gehen; sie stoßen sie in mit Schlangen gefüllte Gräben; sie geißeln sie mit Riemen, in die Bleikugeln, geflochten sind; sie schließen sie lebendigen Leibes in Särge ein und werfen diese ins Meer; sie hängen sie an den Haaren auf und verbrennen sie; sie füllen ihre Wunden mit ungelöschtem Kalk, siedendem Pech und geschmolzenem Blei; sie setzen sie auf Sessel von weißglühendem Erz und glühende Helme auf den Kopf; sie verbrennen ihre Lenden mit Fackeln, zerbrechen ihnen die Schenkel auf Ambossen, reißen ihnen die Augen aus, schneiden ihnen die Zunge ab und knicken ihnen einen Finger nach dem andern. Die Heiligen aber zählen ihre Marter nicht, sie verachten sie und zeigen eine Gier, eine Freudigkeit nach weiteren Leiden. Übrigens schwebt ein beständiges Wunder als Schutz über ihnen, sie ermüden ihre Henker. Johannes nimmt Gift und fühlt sich nicht im geringsten davon belästigt. Sebastian lacht darüber, daß er mit Pfeilen gespickt wird. In anderen Fällen bleiben die Pfeile rechts und links vom Märtyrer in der Luft hängen, oder vom Schützen geschnellt, prallen sie auf ihn zurück und durchbohren sein Auge. Sie trinken geschmolzenes Blei wie Eiswasser. Löwen kauern vor ihnen nieder und lecken gleich Schafen ihnen die Hände. Der Rost dünkt dem heiligen Laurentius ein Ort angenehmer Kühle. Er ruft: »Unglücklicher, du hast einen Teil von mir geröstet, drehe mich um und dann iß, denn er ist genug geröstet.« Cäcilie nimmt ein siedendes Bad und »befindet sich da so wohl wie an einem kühlen Orte, kaum daß sie ein wenig Schweiß vergießt.« Christine spottet der Strafen: ihr Vater läßt sie von zwölf Menschen schlagen, alle werden sie matt; ein anderer Henker folgt auf ihn, er flicht sie auf ein Rad und legt darunter Feuer an: die Flamme wird angefacht und verzehrt 1500 Menschen; er wirft sie ins Meer, nachdem er ihr einen Stein um den Hals gehängt hat, aber die Engel halten sie über Wasser, Jesus in Person kommt zu ihrer Taufe und vertraut sie dem heiligen Michael an, daß er sie wieder an das Land führe; ein anderer Henker schließt sie mit Schlangen zusammen ein, schmeichelnd legen sie sich um ihren Hals; fünf Tage bleibt sie in einem Ofen, sie singt dort, und nichts Böses widerfährt ihr. Vincentius mußte noch mehr ertragen und litt dennoch nichts: man brach ihm die Gliedmaßen; man riß ihm mit eisernen Schrauben die Haut vom Leibe, bis die Eingeweide heraustraten: man spickte ihn mit Nadeln, man warf ihn auf die Kohlenglut; man schleppte ihn in das Gefängnis zurück und nagelte seine Füße an einen Pfahl: und zerhackt, geröstet, mit offenem Leibe lebt er dennoch. Seine Martern verwandeln sich zur Lieblichkeit von Blumen, ein helles Licht erfüllt den Kerker, und die Engel singen mit ihm auf einem Lager von Rosen. »Der süße Ton des Gesanges und der duftige Geruch der Blumen drangen nach außen, und als die Wächter das gesehen hatten, bekehrten sie sich zu dem Glauben, und als Dacian das sah, sagte er voller Wut: ›Was können wir ihm noch mehr antun? Wir sind besiegt.‹ « So rufen alle Peiniger, ihre Menschenschinderei aber kann nur mit ihrer Bekehrung oder ihrem Tode enden. Ihre Hände ergreift eine Lähmung. Sie kommen gewaltsam um, Fischgräten ersticken sie, der Blitzstrahl trifft sie, ihre Wagen zerbrechen. Die Kerker der Heiligen erglänzen alle, Maria und die Apostel dringen durch die Mauer ganz nach Belieben hinein. Unausgesetzt kommen Hilfe und Erscheinungen vom offenstehenden Himmel hernieder, wo Gott sich zeigt, in den Händen hält er die Krone von Edelsteinen. Auch der Tod ist ein freudenreicher, sie verachten ihn, und die Anverwandten frohlocken, wenn einer von ihnen stirbt. Auf dem Berge Ararat hauchen 10 000 Gekreuzigte ihr Leben aus. Nahe bei Köln lassen sich 11 000 Jungfrauen von den Hunnen niedermetzeln. In den Kampfspielen krachen die Knochen unter den Zähnen der wilden Tiere. Quiricus, der in einem Alter von drei Jahren schon wie ein Mann redet, erleidet den Märtyrertod. Kinder an der Mutterbrust beschimpfen die Henker. Eine Verachtung, eine Verabscheuung alles Fleisches, des menschlichen Fetzens verwandelt den Schmerz in eine himmlische Wollust. Wenn man das Fleisch zerreißt, bricht und verbrennt, das tut wohl, immer mehr und mehr, es wird nicht in Todeszuckungen sich krümmen. Sie wünschen sich das Eisen, das Schwert in die Kehle, denn nur das tötet. Eulalia, von der geblendeten Volksmenge verhöhnt, facht auf dem Scheiterhaufen die Flamme mit ihrem Atem an, um so schneller zu verbrennen. Gott erhört sie, eine weiße Taube fliegt aus ihrem Munde zum Himmel empor.

Angelika war starr vor Staunen, wenn sie es las. So viele Greuel und diese triumphierende Freude brachten sie außer sich vor Entzücken und entrückten sie der Wirklichkeit. Andere Teile der Legende, die nicht so schaurig waren, ergötzten sie, die Tiere zum Beispiel, von denen es in dem Buche wie in einer Arche Noah wimmelte. Sie nahm Anteil an den Raben und Adlern, die den Einsiedlern die Nahrung zutragen mußten. Was für schöne Geschichten von den Löwen! Der dienstbare Löwe, der für Maria die Ägypterin das Grab aushöhlt; der flammende Löwe, der die Türe der verrufenen Häuser bewacht, als die Prokonsuln die Jungfrauen dorthin führen lassen; und dann noch der Löwe des Hieronymus, dem man einen Esel anvertraut hat; er läßt ihn stehlen und bringt ihn wieder zurück. Es war da auch ein Wolf, der von Reue gepackt ein gestohlenes Schwein wieder herbeischleppte. Bernhard tut die Fliegen in den Bann, und sie fallen tot zur Erde. Remigius und Blasius speisen die Vögel an ihrem Tische, segnen sie und geben ihnen die Gesundheit wieder. Franziskus predigt ihnen und ermahnt sie, Gott zu lieben. Ein Vogel, der sich Grille nennt, saß auf einem Feigenbaum; Franziskus streckte seine Hand aus und rief diesen Vogel, er gehorchte sofort und kam auf seine Hand. Und er sagte zu ihm: Singe, mein Lieber, und lobe unsern Herrgott. Sofort sang der Vogel ohne Unterlaß und flog nicht eher fort, als bis es ihm befohlen würde. Das Lesen bildete für Angelika ein fortwährendes Ergötzen; das Buch gab ihr den Gedanken ein, die Schwalben herbeizurufen; sie war neugierig, ob sie kommen würden. Dann gab es noch Geschichten, über die mußte sie soviel lachen, daß sie fast krank wurde. Christoph, der gute Riese, der Jesus trug, rührte sie zu Tränen. Sie erstickte angesichts des Mißgeschicks des Statthalters bei den drei Mägden der Anastasia, wie er sie in der Küche aufsucht und die Pfannen und Kessel küßt in dem Glauben, er umarme die Mägde. »Er kam mit fast schwarzen, beschmutzten und zerrissenen Kleidern wieder heraus. Als die draußen wartenden Diener ihn so verändert sahen, glaubten sie, er habe sich in einen Teufel verwandelt; da schlugen sie ihn mit Ruten, dann flohen sie und ließen ihn allein.« Aber ein wahrhaft tolles Lachen überfiel sie, wenn man auf den Teufel losschlug, wie Juliana namentlich, die, im Kerker von ihm versucht, ihm mit der Kette eine außergewöhnlich derbe Lehre verabreichte. »Als der Statthalter befahl, daß Juliana herbeigeführt würde, schleppte sie den Teufel hinter sich her, und er schrie laut: Frau Juliana, tut mir nichts Böses. Juliana aber schleppte den Teufel über den ganzen Markt, und dann warf sie ihn in einen stinkenden Graben.« Sie wiederholte den Hubert beim Sticken die Legenden, die viel schöner seien als alle Feengeschichten. Sie hatte sie schon so oft gelesen, daß sie sie auswendig wußte: die Sage von den Siebenschläfern, die auf der Flucht vor der Verfolgung in einer Höhle eingemauert wurden, dort 377 Jahre schliefen, und deren Erwachen den Kaiser Theodosius so sehr wunderte; die Sage vom heiligen Clemens, endlose, überraschende und rührende Abenteuer, eine ganze Familie, Vater, Mutter und drei Söhne durch großes Unglück voneinander getrennt und schließlich nach Durchkosten der schönsten Wunder wieder vereinigt. Ihre Tränen flössen, sie träumte nachts davon und lebte nur noch in dieser klagereichen und doch triumphierenden Welt der Wunder, im übernatürlichen Reiche der Tugenden und ihrer erfreulichen Vergeltungen.

Als Angelika zum ersten Abendmahl ging, schien es ihr, als schwebe sie wie die Heiligen zwei Fuß über dem Erdboden. Sie war eine junge Christin der ursprünglichen Kirche, sie empfahl sich den Händen Gottes; denn sie hatte aus dem Buche gelernt, daß ihre Seele ohne seine Gnade nicht errettet werden könne. Die Hubert Welten es so: an den Sonntagen besuchten sie die Messe, an hohen Feiertagen nahmen sie das Abendmahl mit der zufriedenen Überzeugung der Demütigen, vielleicht auch ein wenig aus Überlieferung und ihrer Kundschaft wegen; die Meßgewandmacher waren eben alle, Vater und Sohn, zum Abendmahl gegangen. Hubert selbst unterbrach häufig seine Beschäftigung, um der Vorlesung des Kindes zuzuhören; er erzitterte mit ihr, seine Haare schienen sich beim geringsten Hauche des Unsichtbaren zu sträuben. Er fühlte mit ihr und weinte, als er sie im weißen Kleide sah. Dieser Tag kam ihnen wie ein Traum vor, beide kamen aus der Kirche betäubt und abgespannt zurück. Hubertine mußte sie tüchtig ausschelten, sie mit ihrem klaren Verstände verurteilte jede Übertreibung, selbst wenn sie guten Dingen galt. Überdies mußte sie den Eifer Angelikas dämpfen, namentlich ihre Sucht nach Wohltun. Franziskus machte die Armut zu seiner Gebieterin, Julian, der Almosenier, nannte die Armen seine Herren, Gervasius und Protas wuschen ihnen die Füße, Martin teilte mit ihnen seinen Mantel. Das Kind wollte nach dem Beispiele der Lucia alles verkaufen, um alles verschenken zu können. Zunächst beraubte sie sich selbst ihres geringen Eigentums, dann begann sie das ganze Haus zu plündern. Aber das Schlimme war, daß sie mit offenen Händen auch den Unwürdigen ohne Unterschied der Person schenkte. Eines Abends, am zweiten nach dem Abendmahle, tadelte man sie, weil sie einer Trunkenboldin ein Stück Leinen aus dem Fenster zugeworfen hatte, sofort kehrten ihre alten Wutanfälle wieder; es gab einen fürchterlichen Auftritt. Dann wurde sie aus Scham über ihr Benehmen krank und mußte drei Tage lang das Bett hüten.

Inzwischen verflossen Wochen und Monate. Zwei Jahre gingen vorüber. Angelika zählte 14 Jahre und wurde ein Weib. Wenn sie jetzt in der Legende las, brauste es ihr in den Ohren, und das Blut klopfte in den feinen blauen Adern an ihre Schläfen. Jetzt fühlte sie die Zärtlichkeit einer Schwester für die Heiligen.

Die Jungfräulichkeit ist die Schwester der Engel, die Besitzerin alles Guten; sie bedeutet die Niederlage des Teufels und die Herrschaft des Glaubens. Sie verleiht die Gnade, sie stellt die Vollkommenheit dar, die sich nur zu zeigen braucht, um zu siegen. Der Heilige Geist stärkte Lucia so, daß 1000 Mann und fünf Gespanne Ochsen nicht imstande waren, sie in ein verrufenes Haus zu schleppen, wie der Prokonsul befohlen hatte. Ein Statthalter, der Anastasia umarmen wollte wurde blind. Die Reinheit der Jungfrauen wird bei den Folterungen offenbar, ihr blendend weißes Fleisch läßt Ströme von Milch anstatt Blutes dahinfließen, wenn die eisernen Werkzeuge den Körper zerfleischen. Gewiß zehnmal wiederholt sich die Geschichte einer jungen Christin, die ihrer Familie entflieht und sich unter einem Mönchsgewande verbirgt; man wirft ihr vor, ein junges Mädchen in der Nachbarschaft zu Fall gebracht zu haben; sie leidet die Verleumdung, ohne sich von dem Vorwurfe zu reinigen, dann triumphiert sie, denn ihre Unschuld offenbart sich plötzlich. Eugenia wird vor den Richter geführt, sie erkennt ihren Vater, zerreißt ihr Gewand und zeigt sich. Der Kampf der Keuschheit beginnt unaufhörlich von neuem, denn ihre Feinde entstehen immer und immer wieder. Auch bildet die Furcht vor der Frau die Weisheit der männlichen Heiligen. Die Welt ist voll böser Listen, die Einsiedler eilen daher in die Wüste, wo es keine weiblichen Wesen gibt. Sie fechten furchtbare Kämpfe aus, geißeln sich und werfen sich nackt in die Brombeersträucher und in den Schnee. Ein Einsiedler, der seine Mutter über eine Furt leiten will, umwickelt sich die Finger mit seinem Mantel. Ein gefesselter Märtyrer wird von. einem weiblichen Wesen in Versuchung geführt, er beißt sich die Zunge ab, um sie ihr ins Gesicht zu schleudern. Franziskus erklärt, er habe keinen ärgeren Feind als seinen Körper. Bernhard schreit: Haltet den Dieb, haltet den Dieb! um sich gegen eine Frau, seine Gastfreundin, zu schützen. Eine Frau, der Papst Leo die Hostie reicht, küßt ihm die Hand, er schneidet die Hand am Gelenk ab, die Jungfrau Maria setzt sie wieder an ihren alten Platz. Alle rühmen die Trennung der Ehegatten. Alexis, der verheiratet und sehr reich ist, unterrichtet seine Frau in der Keuschheit; dann verläßt er sie. Justina, beim Anblicke Cyprians von Liebe gepeinigt, widersteht ihren Gefühlen, sie bekehrt ihn und geht gemeinsam mit ihm in den Tod. Cäcilia, die ein Engel liebt, teilt ihr Geheimnis am Hochzeitsabende ihrem Gatten Valerian mit; dieser ist damit einverstanden, sie nicht zu berühren und die Taufe zu empfangen, um des Anblickes des Engels teilhaftig zu werden. Er fand in seiner Kammer Cäcilia, die mit dem Engel sprach, und der Engel hielt zwei Rosenkronen in der Hand; er gab die eine Cäcilia, die andere Valerian und sagte: Hütet diese Kronen makellosen Herzens und Körpers. Zwanzig andere vereinigen sich nur, um sich zu verlassen, der Tod ist stärker als die Liebe; man mißachtet ihr Vorhandensein. Hilarius bittet Gott, er möge seine Tochter Apia in den Himmel aufnehmen, damit sie sich nie verheirate; sie stirbt, und die Mutter bittet den Vater, daß ihr desgleichen geschehe. Die Jungfrau Maria in Person entführt den Frauen ihre Verlobten. Ein Edelmann, Verwandter des Königs von Ungarn, leistet Verzicht auf ein Mädchen von wunderbarer Schönheit, sobald Maria sich an dem Kampfe beteiligt. Plötzlich erschien Unsere liebe Frau und sagte: Warum verlassest du mich einer anderen wegen? Und er verlobte sich ihr.

Unter allen diesen Heiligen hatte Angelika ihre Lieblinge, deren Lehren ihr bis ins innerste Herz drangen, und nach denen sie sich besserte. So die heilige Katharina, die in Purpur geboren, im Alter von 18 Jahren durch ihr großes Wissen alles bezauberte. Sie stritt mit 50 Rednern und Sprachgelehrten, die ihr Kaiser Maximus entgegenstellte. »Sie wurden geschlagen und wußten nichts mehr zu sagen, so daß alle schwiegen. Und der Kaiser tadelte sie, weil sie sich von einer Jungfrau hatten so schimpflich besiegen lassen.« Die fünfzig erklärten ihm alsdann, daß sie sich bekehrten. »Als der Tyrann das sah, bemächtigte sich seiner eine furchtbare Wut, und er befahl, daß alle inmitten der Stadt verbrannt würden.« In Angelikas Augen war Katharina die unbesiegbare Wissende, die ebenso trotzig und herausfordernd ihrer Schönheit als ihrer Weisheit wegen war; wie Katharina hätte Angelika sein mögen, um ebenso die Menschen überzeugen und sich im Gefängnisse von einer Taube ernähren lassen zu können, bevor man ihr den Kopf abgehauen habe. Doch namentlich war es Elisabeth, des Königs von Ungarn Tochter, die ihre beständige Führerin wurde. Immer wenn der Zorn sich in ihr zu regen begann, wenn die Heftigkeit sie fortriß, dachte sie an dieses Muster von Sanftmut und Einfachheit, an diese Fromme von fünf Jahren, die sich weigerte zu spielen, sich lieber an die Erde kauerte, um Gott zu dienen, und die, als sie später die gehorsame und gekränkte Gattin des Landgrafen von Thüringen wurde, ihrem Gemahl ein heiteres Gesicht zeigte, während ihr die Nächte hindurch die Tränen über die Wangen liefen, und die als keusche Witfrau aus ihrem Lande verjagt, glücklich war, ein Leben der Armut führen zu können. Ihre Kleidung war eine so armselige, daß sie nur einen grauen Mantel trug, verlängert durch ein Stück von anderer Farbe; die Ärmel ihres Rockes waren zerrissen und mit andersfarbigem Tuche geflickt. Der König, ihr Vater, ließ sie durch einen Grafen aufsuchen. Als sie der Graf in solchem Aufzuge und spinnend fand, schrie er vor Schmerz über dieses Wunder auf und sagte: »Noch kein Königskind trug ein solches Kleid und wurde spinnend gesehen.« Elisabeth stellte die vollendetste Demut des Christentums vor, die von dem Schwarzbrote der Bettler ißt, ohne Ekel ihre Wunden verbindet, ihre groben Hüllen trägt, auf harter Erde schläft und ihre Wallfahrten nackten Fußes ausführt. »Sie wusch jedesmal die Schüsseln und das Geschirr der Küche heimlich, damit die Kammerfrauen sie nicht hinderten.« Und sie sagte: »Hätte ich einen niedrigeren Stand gefunden, ich hätte ihn erkoren.« Daher verstand sich Angelika, die früher vor Zorn außer sich war, wenn man ihr befahl, die Küche zu reinigen, jetzt zur Besorgung niedriger Arbeiten, wenn sie sich vom Triebe der Herrschsucht besessen fühlte. Teurer aber noch als Katharina und als Elisabeth, als alle war ihr eine Heilige, die kindliche Märtyrerin Agnes. Ihr Herz erbebte, wenn sie in der Legende diese Jungfrau im Schmucke ihres Kopfhaares wiederfand, die sie damals unter der Tür der Kathedrale beschützt hatte. Welche Flamme reiner Liebe, als sie den Sohn des Statthalters abweist, der sich ihr beim Verlassen der Schule näherte! »Gehe von mir, Hirt des Todes, Beginn der Sünde und Nährer des Treubruchs.« Wie sie ihren Geliebten feiert! »Ich liebe den, dessen Mutter die heilige Jungfrau und dessen Vater kein Weib berührte, über dessen Schönheit Sonne und Mond staunen, durch dessen Hauch die Toten auferstehen.« Als Vespasian befiehlt, ihr das Schwert durch den Hals zu stoßen, steigt sie zum Paradiese empor, um sich ihrem »glänzenden und strahlenden Gatten anzutrauen«. Namentlich wenn, wie es seit einigen Monaten in wirren Stunden geschah, das heiße Blut in ihren Schläfen tobte, rief Angelika die Heilige an und betete zu ihr; und sofort schien sie neugestärkt. Sie sah sie beständig um sich; sie fürchtete oft, etwas zu tun und etwas zu denken, worüber jene sich beleidigt fühlen könnte. Als sie sich eines Abends die Hände küßte, woran sie immer noch Vergnügen fand, wurde sie plötzlich rot und wandte sich verwirrt ab, obwohl sie sich ganz allein befand, denn sie war sich bewußt geworden, daß die Heilige es gesehen haben mußte. Agnes war die Hüterin von Angelikas Körper.

Angelika war deshalb mit 15 Jahren ein liebenswürdiges Mädchen. Selbstredend hatten weder das klösterliche und arbeitsame Leben, noch der trauliche Schatten der Kathedrale, noch die Legenden von den schönen Heiligen aus ihr einen Engel, ein vollkommenes Geschöpf gemacht. Immer noch riß sie der Jähzorn hin, es offenbarten sich immer noch Fehler und tauchten unerwartet in den Winkeln der Seele auf, die man zu festigen vergessen hatte. Aber dann zeigte sie sich tief beschämt – wollte sie doch die Vollendung selbst sein – und im Grunde genommen war sie auch menschenfreundlich, heiter, unwissend und rein. Als man von einem der großen Ausflüge heimkehrte, die sich Huberts zweimal im Jahre, am Pfingstmontage und zu Mariä Himmelfahrt, erlaubten, hatte sie einen wilden Rosenstock ausgerissen und sich damit erlustigt, ihn in das kleine Gärtchen zu verpflanzen. Sie beschnitt und begoß ihn, und er trieb größere Blüten, die einen zarten Geruch ausströmten. Sie merkte eifrig auf, ob der Stock durch ein Wunder echte Rosen tragen werde, ohne daß man erst seine Veredelung vorzunehmen brauchte. Sie tanzte um ihn herum und wiederholte entzückt: »Das bin ich, das bin ich!« Wenn man sie wegen ihrer Heckenrose neckte, lachte sie selbst, wenn sie auch bleich wurde und ihr die Tränen an den Augenrand traten. Ihre Veilchenaugen waren noch sanfter geworden, ihr Mund öffnete sich halb und zeigte die kleinen weißen Zähne im länglichen Oval ihres Gesichts, das ihre schwach lichtblonden Haare mit einem goldenen Schimmer umrahmten. Sie war groß geworden, ohne schwächlich zu erscheinen, Hals und Schultern zeigten noch immer eine stolze Anmut, ihre Brust rundete sich, ihre Hüften waren geschmeidig. Fröhlich und heiter, war Angelika eine seltene Schönheit von unendlicher Anmut geworden, deren Körper und Seele in Unschuld und Keuschheit erblühten.

Die Hubert faßten von Tag zu Tag eine größere Zuneigung zu ihr. Beiden Gatten war der Gedanke einer Annahme Angelikas an Kindesstatt gekommen. Nur ließen sie bisher nichts davon verlauten aus Furcht, die Reue könne von neuem aufbrechen. In der Tat sank die Frau an dem Morgen, als ihr Mann zu einem festen Entschlüsse gelangt war, schluchzend in ihrem Zimmer auf einen Sessel. Dieses Kind an Kindesstatt annehmen, hieß es nicht für immer auf ein eigenes Verzicht leisten? In ihrem Alter war allerdings darauf nicht mehr zu rechnen; darum gab sie ihre Einwilligung, gerührt bei dem Gedanken, aus Angelika ihre Tochter zu machen. Als sie mit Angelika darüber sprachen, sprang diese ihnen an den Hals und erstickte sie fast unter Tränen. Abgemacht, sie werde immer bei ihnen, in diesem Hause bleiben können, das sie bereits ganz erfüllte, das sie durch ihre Jugend verjüngt, durch ihr Lachen aufgeheitert hatte. Doch schon beim ersten Schritt machte sie ein Hindernis bestürzt. Der Friedensrichter, Herr Grandsire, den man darüber befragte, setzte ihnen die Unmöglichkeit der Adoption auseinander, weil das Gesetz die Großjährigkeit der an Kindesstatt Anzunehmenden verlangte. Als er den Kummer der Hubert sah, gab er ihnen ein Mittel zur Erlangung einer vorläufigen Adoption an die Hand: Jede über 50 Jahre alte Person kann ein minderjähriges, mindestens 15 Jahre altes Wesen durch einen gesetzlichen Akt sich verbinden, indem sie sein amtlicher Vormund wird. Die Altersverhältnisse paßten, und erfreut griff man zu dieser Ausflucht. Überdies kam man überein, sogleich die Adoptierung des Mündels auf testamentarischem Wege, wie es das Gesetz erlaubt, vorzunehmen. Herr Grandsire nahm sich der Eingabe des Gatten und der Vollmacht der Frau an und setzte sich mit dem Vorsteher der öffentlichen Armenpflege in Verbindung, welcher der Vormund aller Findelkinder, und dessen Zustimmung zu dem Akte notwendig ist. Der gerichtliche Termin fand statt, und die Aktenstücke wurden in Paris bei dem näher bezeichneten Friedensrichter hinterlegt. Man wartete nur noch auf das Protokoll, das den Akt der amtlichen Vormundschaft zu Recht erklären sollte, als die Hubert von einem nachträglichen Bedenken heimgesucht wurden.

Hätten sie vor der Adoptierung Angelikas sich nicht erst um die Wiederauffindung der Familie des jungen Mädchens bemühen müssen? Wenn ihre Mutter noch lebte, woher nahmen sie dann das Recht, über die Tochter zu verfügen, ohne ihrer Hingabe durchaus gewiß zu sein? Dann kam ihnen auch wieder jenes Unbekannte, jener Sündenpfuhl in die Erinnerung, dem Angelika vielleicht entstammte; der Gedanke daran beunruhigte sie jetzt wieder genau wie damals. Alles ängstigte sie so, daß sie keinen ruhigen Schlaf mehr fanden.

Plötzlich reiste Hubert nach Paris. Es war ein Ereignis in seinem ruhigen Leben. Er belog Angelika; denn er sprach zu ihr nur davon, daß seine Anwesenheit dort der Regelung seines vormundschaftlichen Verhältnisses zu ihr gelte. Innerhalb 48 Stunden hoffte er, alles zu wissen, was er wollte. Aber in Paris verfloß ein Tag nach dem andern; bei jedem neuen Schritte türmten sich andere Hindernisse vor ihm auf, und so verstrich eine ganze Woche, während welcher er von Pontius zu Pilatus geschickt wurde. Im höchsten Grade außer sich durcheilte er die Straßen; oft genug war ihm das Weinen nahe. Im Büro der öffentlichen Armenpflege empfing man ihn sehr kühl. Ein Verwaltungsgesetz bestimmt, daß nach der Abstammung des Kindes nicht vor dessen Großjährigkeit geforscht werden darf. An zwei Morgen hintereinander schickte man ihn wieder fort. Es gehörte Hartnäckigkeit dazu, sich in drei Büros auszusprechen, sich als gesetzlicher Pfleger heiser zu reden, bis ein Unterchef, ein großer dürrer Herr, die Gnade hatte, ihm das Fehlen einer jeglichen genauen Urkunde zu melden. Die Verwaltung wußte gar nichts, eine Hebamme hatte das Kind Angelika Marie eingeliefert, ohne die Mutter zu nennen. Halb verzweifelt wollte er sich schon auf den Weg nach Beaumont machen, als ein guter Gedanke ihn zum viertenmal die Armenpflege aufsuchen ließ, um sich aus dem Aufnahmeakt den Namen der betreffenden Hebamme sagen zu lassen. Auch das war noch eine schwierige Sache. Endlich wußte er ihren Namen. Frau Foucart hieß sie und wohnte damals, im Jahre 1850, in der Zweitaler-Straße.

Jetzt begannen die Laufereien von neuem. Das betreffende Ende der genannten Straße war niedergerissen. Kein Schankwirt der benachbarten Straßen erinnerte sich einer Frau Foucart. Er schlug ein Adreßbuch nach: ein solcher Name fand sich gar nicht vor. Die Augen beständig nach oben, studierte er die Schilder an den Häusern, um einige Hebammen ausfindig zu machen. Dies Mittel schlug an, es glückte ihm, auf eine alte Dame zu stoßen, die ihn gleich überschrie. Wie? Sie solle eine so angesehene Frau wie die Frau Foucart nicht kennen, die nur Unglück gehabt habe? Sie wohne Pachtstraße am andren Ende von Paris. Hubert eilte dorthin.

Durch die gemachten Erfahrungen gewitzigt, nahm er sich vor, hier diplomatisch vorzugehen. Aber Frau Foucart, eine mächtige Figur auf kurzen Beinen, ließ ihm gar nicht die Zeit, ihr seine so schön ausgedachten Fragen vorzulegen. Kaum hatte er die Namen des Kindes und das Datum seiner Geburt ausgesprochen, als es aus ihrem Munde auch schon unaufhaltsam wie ein grollender Strom dahinschoß. Die Kleine lebe also! Na, sie könne auf die Schanddirne von Mutter stolz sein! Frau Sidonie, wie man sie, seit sie Witwe war, nannte, sei aus guter Familie; wie man sich erzählt, habe sie sogar einen Minister zum Bruder, das halte sie jedoch in keiner Weise von einem schlechten Lebenswandel ab. Sie setzte Hubert weitschichtig auseinander, wie sie ihre Bekanntschaft gemacht hatte, als das liederliche Weibsbild in der Honorius-Straße einen Handel mit Früchten und Provenceöl eröffnete; sie und ihr Mann seien damals gerade aus Plassans nach Paris gekommen, um hier ihr Glück zu machen. 15 Monate nachdem ihr Gatte gestorben und begraben war, habe sie ein Kind bekommen, ohne recht zu wissen, woher sie es eigentlich hatte, denn sie sei dürr wie ein Kontobuch gewesen, kalt wie ein Wechselprotest, gleichgültig und roh wie ein Gerichtsdiener. Du lieber Gott, einen Fehltritt verzeihe man schon, aber Undankbarkeit? Habe sie, Frau Foucart, jene nicht sechs Wochen lang während ihres Wochenbettes ernährt, nachdem der kleine Laden schon längst zugrunde gegangen sei? Habe sie nicht jene von einer großen Last dadurch befreit, daß sie die Kleine forttrug? Und was sei ihr Lohn gewesen? Als sie selbst in Not geraten, sei es ihr nicht gelungen, die Pension für den Monat bezahlt zu bekommen, nicht einmal die 15 Franken habe sie zurückerhalten, die sie jener geliehen habe. Augenblicklich habe Frau Sidonie in der Vorstädtischen Fischer- Straße einen kleinen Laden und drei Zimmer im Halbgeschoß, wo sie unter dem Aushängeschild eines Verkaufes von Spitzen alles feilhalte. Ach ja, ach ja, da sei es doch besser, man kenne eine solche Mutter lieber nicht.

Eine Stunde später streifte Hubert um den Laden der Frau Sidonie herum. Er sah im Innern eine magere, blasse Frau, deren Alter und Geschlecht sich schwer bestimmen ließen; sie trug ein schwarzes abgenutztes Kleid, das die Merkmale von jeder Art zweideutigen Handels zeigte. Daß in dem Herzen dieser Zwischenhändlerin eine Erinnerung an ihr, dem Zufalle entsprungenes Kind nie aufgetaucht sein konnte, sah man. Hubert zog heimlich Erkundigungen ein und erfuhr Dinge, die er niemandem, selbst seiner Frau nicht erzählte. Trotzdem zögerte er noch immer und kam noch einmal zurück, um an dem geheimnisvollen Laden vorüberzugehen. War es nicht besser, die Tür aufzureißen, sich zu erkennen zu geben und eine Einwilligung zu erhalten? Ihm, dem ehrenhaften Manne stand das Urteil zu, ob er das Recht habe, den Faden für immer zu durchschneiden. Er tat es. Entschlossen drehte er dem Laden den Rücken zu und kehrte am Abend nach Beaumont zurück.

Hubertine hatte von Herrn Grandsire gerade erfahren, daß das Protokoll bezüglich der gesetzlichen Vormundschaft unterzeichnet sei. Als Angelika sich in die Arme Huberts warf, erkannte er an dem fragenden Ausdruck ihrer Augen, daß sie sehr wohl um den eigentlichen Grund seiner Reise wußte.

Schluchzend umarmte Angelika die Hubert leidenschaftlich. Nie wieder wurde ein Wort hierüber gesprochen. Sie war ihre Tochter.

Mein Kind, deine Mutter ist nicht mehr am Leben, sagte er darum gelassen.


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