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Neuntes Kapitel

Als Angelika am selben Abend aus der Kirche kam, überlegte sie bei sich: »Ich werde ihn sogleich sehen; er wird auf dem Marienfelde sein, und ich will zu ihm hinuntergehen.« Ihre Augen hatten das Stelldichein besprochen.

Man speiste erst um acht Uhr wie üblich in der Küche, Hubert, den dieser Festtag angeregt hatte, plauderte allein. Hubertine, die sehr ernst war, antwortete kaum und verließ mit keinem Blick das junge Mädchen, das mit starker Eßlust, aber gedankenlos speiste; Angelika schien kaum zu wissen, daß sie die Gabel zum Munde führte, ihr Traum hielt sie vollständig gefangen. Hubertine las klar in ihrem Innern, sie sah die Gedanken nacheinander unter dieser heiteren, kristallklarem Wasser ähnlichen Stirn sich bilden und folgen.

Um neun Uhr ließ ein Zug an der Hausglocke sie überrascht auffahren. Es war Abt Cornille. Trotz seiner Abspannung sprach er vor, um ihnen zu erzählen, daß Hochwürden die drei Streifen alter Stickerei sehr bewundert habe.

Ja, er sprach mit mir darüber. Ich wußte, Sie würden sich freuen, es von mir zu hören.

Angelika hatte bei Nennung des Bischofs ihr Interesse erwachen fühlen, doch versank sie sofort wieder in ihr vorheriges Träumen, sobald man von der Prozession zu reden begann. Nach wenigen Minuten stand sie auf.

Wohin willst du? fragte Hubertine.

Diese Frage überraschte sie, als ob sie selbst noch nicht darüber nachgedacht habe, warum sie sich erhob.

Ich gehe hinauf, Mutter, ich bin sehr müde.

Hubertine ahnte unter diesem Vorwande den wahren Grund, nämlich das Bedürfnis Angelikas, mit ihrem Glück allein zu sein.

Umarme mich.

Als Hubertine sie fest in die Arme schloß, fühlte sie ihr Zittern. Ihr Abendkuß war heut ein flüchtiger. Hubertine blickte ihr prüfend ins Gesicht, sie las in Angelikas Augen von dem verabredeten Stelldichein und ihre fieberhafte Ungeduld, sich dahin zu begeben.

Sei vernünftig und schlafe wohl.

Doch schon war Angelika nach einem flüchtigen »Gute Nacht« an Hubert und Abt Cornille auf dem Wege nach ihrem Zimmer; bestürzt fühlte sie, daß die Offenbarung ihres Geheimnisses ihr bereits auf den Lippen geschwebt hatte. Hätte ihre Mutter sie noch eine Minute länger an ihr Herz gedrückt, sie würde gesprochen haben. Nachdem sie ihre Tür doppelt verschlossen hatte, tat ihr das Licht weh, sie löschte die Kerze aus. Der Mond stieg mit jeder Nacht später herauf, die Nacht war daher sehr dunkel. Ohne sich zu entkleiden, setzte sie sich in der Dunkelheit an das offene Fenster und wartete stundenlang. Die Minuten verflossen schnell, nur ein einziger Gedanke beschäftigte sie, daß sie nämlich zu ihm hinuntersteigen wolle, sobald es Mitternacht geschlagen habe. Das würde ganz natürlich zugehen; mit jener Leichtigkeit, die man nur in Träumen findet, sah sie Schritt für Schritt, Bewegung auf Bewegung ihr Unternehmen ins Werk setzen. Sie hörte jetzt auch den Abt Cornille aufbrechen. Jetzt gingen auch die Hubert in ihr Zimmer. Es schien ihr, als öffne sich zweimal deren Zimmer, als ob flüchtige Schritte die Treppe emporstiegen, wie wenn jemand draußen vor ihrer Tür lausche. Dann schien das ganze Haus in einen tiefen Schlummer zu versinken.

Als es Mitternacht schlug, erhob sich Angelika.

Vorwärts, er erwartet mich.

Sie öffnete die Tür und ließ sie offen. Als sie auf der Treppe an dem Zimmer der Hubert vorüberging, lauschte sie; aber sie hörte nichts, nur das Leben der Einsamkeit. Im übrigen war ihr völlig leicht ums Herz, sie fühlte weder Bestürzung noch Hast, denn das Bewußtsein, einen Fehltritt zu begehen, mangelte ihr. Eine unwiderstehliche Gewalt trieb sie vorwärts, das Ganze erschien ihr wie eine so einfache, selbstverständliche Sache, daß der Gedanke einer Gefahr sie zum Lachen gebracht hätte. Unten schritt sie durch die Küche nach dem Garten, und auch hier vergaß sie, den Riegel zu schließen. Dann erreichte sie mit dem ihr eigenen schnellen Schritt die kleine zum Marienfelde führende Pforte, sie ließ sie ebenfalls hinter sich weit offen. Trotz der großen Dunkelheit zögerte sie keinen Augenblick, sie ging geradeswegs auf das Brett zu, überschritt auf ihm die Chevrotte und tastete sich wie an einem bekannten Orte, wo jeder Baum ihr vertraut war, auf dem Felde vorwärts. Sie wandte sich nach rechts und hatte nichts weiter zu tun als unter einer Weide ihre Hände in die dessen zu legen, der sie dort, wie sie gewußt, erwarten würde.

Einen Augenblick preßte sie, ohne ein Wort zu reden, die Hände Felix' in den ihren. Sie konnten sich nicht sehen, der Himmel hatte sich mit einer Dunstwolke überzogen, welche die beim Aufgange schmale Mondsichel noch nicht durchleuchtete. Deshalb sprach sie in die Finsternis hinein, ihr ganzes Herz strömte über vor großer Freude.

O, mein teurer Herr, wie liebe ich Sie, und wie danke ich Ihnen!

Sie lachte, weil sie endlich wußte, wer er war, sie dankte ihm, daß er jung, schön und reich war, reicher noch, als sie je erwartet hatte. Es war eine klingende Heiterkeit, der Freudenruf des Erstaunens und der Dankbarkeit vor diesem ihr vom Traume gemachten Liebesgeschenk.

Sie sind der König, Sie sind mein Gebieter, und ich gehöre Ihnen, leider bin ich so wenig ... Aber ich bin stolz darauf, die Ihre zu sein, es genügt mir, daß Sie mich lieben und ich somit auch Königin bin ... Wie fühlte ich doch richtig, als ich Sie erwartete, aber mein Herz wurde noch weiter, als Sie so groß vor mir geworden ... Mein teurer Herr, wie danke ich Ihnen, und wie liebe ich Sie!

Er legte sanft seinen Arm um ihre Hüfte und führte sie fort.

Kommen Sie mit mir, sagte er.

Er ging mit ihr durch das üppig wuchernde Gras des Marienfeldes bis dorthin, wo das Feld aufhörte. Unterwegs erklärte sie sich, wie er allabendlich durch das alte, ehedem geschlossene Gitter des Bischofshauses nach dem Felde ging. Er hatte das Gitter offen gelassen und führte Angelika an seinem Arme in den großen Garten Hochwürdens. Am Himmel war der Mond allmählich emporgestiegen, er verbarg sich aber noch hinter dem Dunstschleier, den er in milchige Durchsichtigkeit tauchte. Das ganze, sternenlose Himmelsgewölbe war deshalb wie mit einer leuchtenden Staubwolke erfüllt, die stumm die Heiterkeit der Nacht durchrieselte. Sie gingen langsam an der Chevrotte entlang, die auch durch den Park floß, aber hier war es nicht mehr der reißende Bach, der über ein steiniges Bett dahinschießt, hier war sie ein ruhiges, entkräftetes Wasser, das unter den Baumkronen sich dahinwand. Zwischen den wogenden, in der leuchtenden Wolke sich badenden Bäumen schien der Bach wie in einem Traume dahinzufließen.

Ich bin so stolz und glücklich an Ihrem Arm! hatte Angelika fröhlich gesagt.

Felix war von so großer Bescheidenheit und Anmut entzückt und beglückt, sie in der Kindlichkeit ihres Herzens ohne Ziererei, ohne Vorbehalt alles sagen zu hören, was sie dachte.

Teures Herz, ich muß Ihnen dafür dankbar sein, daß Sie mich ein wenig, so edelmütig lieben ... Sagen Sie mir noch, wie Sie mich lieben, sagen Sie mir, was in Ihnen vorgegangen ist, seit Sie endlich wußten, wer ich bin.

Nein, nein, sprechen wir von Ihnen, nur von Ihnen, unterbrach sie ihn mit einer reizenden Bewegung der Ungeduld. Zähle ich überhaupt? Hat es etwas zu bedeuten, wer ich bin, und was ich denke? ... Es gibt jetzt nur Sie, nichts anderes.

Sie drückte ihn fester an sich, verlangsamte ihren Schritt längs des bezauberten Wassers und befragte ihn ohne Unterlaß; sie wollte alles kennen lernen, seine Kindheit, seine Jugend, wie er die 20 Jahre fern von seinem Vater zugebracht habe.

Ich weiß, daß Ihre Mutter bei Ihrer Geburt ums Leben kam, und daß Sie bei einem Onkel, einem alten Abt, aufgewachsen sind ... Ich weiß, daß Hochwürden sich weigerte, Sie zu sehen ...

Da sprach Felix mit leiser, wie aus ferner Vergangenheit heraufklingender Stimme.

Ja, mein Vater hat meine Mutter angebetet. Mein Kommen tötete sie, und ihr Tod lastete als Schuld auf mir. Mein Onkel erzog mich streng in völliger Unkenntnis über meine Familie, als ob ich ein armes, seiner Fürsorge anvertrautes Kind gewesen sei. Ich habe die Wahrheit erst viel später, vor kaum zwei Jahren erfahren. Das hat mich nicht weiter überrascht, denn ich fühlte stets, daß ein großes Glück hinter mir stand. Jede regelmäßige Arbeit langweilte mich, das Liebste war mir, durch die Felder laufen zu können. Dann offenbarte sich meine Leidenschaft für die gemalten Fenster unserer kleinen Kirche ...

Angelika lachte, und er wurde ebenfalls heiterer.

Ich bin ein Arbeiter wie Sie; als dieses viele Geld sich über mich ergoß, hatte ich bereits beschlossen, meinen Lebensunterhalt nur durch Malen von Kirchenfenstern zu erwerben ... Mein Vater zeigte großen Kummer an den Tagen, an denen ihm mein Onkel schrieb, daß ich ein großer Wildfang sei und niemals zu bewegen sein werde, in einen Orden einzutreten. Es war sein fester Wille, daß ich Priester werden sollte, vielleicht war ihm der Gedanke gekommen, daß ich den Mord meiner Mutter dadurch sühnen könne, daß ich Priester werde. Er hat jetzt doch nachgegeben und mich zu sich gerufen ... Wie schön ist das Leben, ist es zu leben, um zu lieben und geliebt zu werden.

Seine kräftige, jungfräuliche Jugend sprach aus diesem Rufe, von dem die stille Nacht erschauerte. In ihm lebte dieselbe Leidenschaft, die seine Mutter getötet hatte, die Leidenschaft, die ihn in die erste aus dem Geheimnisvollen entstandene Liebe hineingetrieben hatte, in sie strömten überschäumender Jugendmut, seine Schönheit, seine Rechtlichkeit, seine Unwissenheit und seine heiße Lebenslust über.

Ich glich Ihnen, ich wartete ebenfalls, und als Sie sich in der ersten Nacht am Fenster zeigten, habe ich Sie sofort wiedererkannt ... Sagen Sie mir, was Sie träumten, erzählen Sie mir von Ihren vergangenen Tagen ...

Sie verschloß ihm von neuem den Mund.

Nein, sprechen wir nur von Ihnen, nichts weiter als von Ihnen. Ich wünsche, daß mir nichts an Ihnen verborgen bleibe, daß ich Sie vollständig habe, daß ich Sie völlig lieben könne.

Sie wurde nicht müde, ihn von sich sprechen zu hören, sie fühlte eine geradezu überirdische Freude darüber, daß sie ihn völlig kennen lernte, daß sie ihn anbeten konnte, wie eine heilige Jungfrau zu den Füßen Jesu sitzt. Beide wurden nicht müde, sich bis ins Unendliche dieselben Dinge zu wiederholen, wie sie sich geliebt hatten, wie sie sich noch liebten. Die Worte kamen ähnlich wieder, und doch waren es stets neue, die ungeahnte, unergründliche Bedeutungen annahmen. Ihr Glück stieg beim Genuß der Musik von ihren Lippen. Er gestand ihr, welchen Reiz allein schon ihre Stimme auf ihn ausübe; wenn er sie höre, sei er nur noch ihr Sklave. Sie offenbarte ihm ihre entzückende Angst, die er ihr verursachte, wenn seine weiße Haut beim geringsten Anlasse zum Zorn von einer Blutwelle durchzogen wurde. Sie hatten jetzt den dunstigen Rand der Chevrotte verlassen und verloren sich, die Arme um die Hüften geschlungen, im dunklen Gehölz der großen Ulmen.

O dieser Garten, sagte Angelika leise und freute sich der aus dem Blätterwerk niederwehenden Frische. Jahrelang schon sehnte ich mich nach einem Besuche des Parks... Und jetzt bin ich hier bei Ihnen, jetzt bin ich hier!

Sie fragte ihn nicht wohin er sie führe, sie überließ sich inmitten der von den hundertjährigen Stämmen ausgehenden Dunkelheit vollständig seinem führenden Arm. Der Boden unter ihnen war weich, die Kronen der Bäume verloren sich in mächtiger Höhe wie die Gewölbe der Kirchen. Kein Laut, kein Hauch war hier vernehmbar, nur das Schlagen ihrer Herzen.

Endlich stieß er die Tür eines Pavillons auf.

Treten Sie näher, sagte er, Sie befinden sich in meiner Behausung.

Abseits, hier in diesem entlegenen Winkel des Parks, glaubte der Vater für Felix eine passende Wohnung gefunden zu haben. Das Häuschen enthielt zu ebener Erde einen großen Salon, oben befand sich eine vollständig eingerichtete Wohnung. Eine Lampe erleuchtete den unteren großen Raum.

Sie sehen, fuhr er lächelnd fort, daß Sie sich bei einem Künstler befinden.

Das Zimmer bildete in der Tat ein Atelier, eingerichtet nach der Laune eines reichen, jungen Mannes, der mit der Glasmalerei angeblich seinen Lebensunterhalt erwarb. Er folgte dem Verfahren im 13. Jahrhundert und konnte sich daher für einen jener ursprünglichen Glasmaler halten, die mit den armseligen Mitteln jener Zeit arbeiteten. Er behalf sich mit einem alten, mit geschmolzener Kreide überzogenen Tisch, auf dem er mit roter Kreide zeichnete; hier schnitt er auch das Glas mit heißem Eisen, anstatt, wie jetzt üblich, mit dem Diamant. Die Muffel, ein kleiner, nach einer Zeichnung errichteter Ofen, befand sich gerade in Tätigkeit; dort wurde soeben eine Malerei für ein anderes Fenster der Kathedrale eingebrannt. In Kisten lagen in allen möglichen Farben gehaltene Glasscheiben, die er nach seinen Angaben anfertigen ließ, blaue, gelbe, grüne, rote, blasse, gesprenkelte, angerauchte, dunkle und perlmutterartige. Das Gemach selbst aber war mit herrlichen Stoffen ausgelegt, das Atelier verschwand unter dem Reichtum an wunderbarem Mobiliar. Im Hintergrunde lächelte eine große vergoldete Jungfrau Maria mit ihren purpurnen Lippen von einem altertümlichen Tabernakel hernieder, das ihr als Sockel diente.

Der Ofen belustigte Angelika, und sie verlangte, daß Felix ihr seine ganze Arbeit erklärte: wie er sich nach dem Vorbilde der alten Meister gefärbter Muster bei der Arbeit bediene und sie einfach mit schwarz schattiere; warum er nur kleine hervortretende Figuren male und ihre Bewegungen und Gewänder scharf hervorhebe. Er entwickelte ihr seine Ansichten über die Kunst des Glasmalers, die im Niedergehen begriffen war, seit man begonnen hatte, auf Glas zu malen, zu emaillieren und besser zu zeichnen. Seine Ansicht gipfelte darin, daß eine Glasmalerei nichts weiter als ein durchsichtiges Mosaik in lebhaftesten und mit harmonischer Reihenfolge geordneten Farben, nur ein zarter und glänzender Farbenstrauß sein dürfe. Was ging Angelika im Grunde genommen in diesem Augenblick die Kunst der Glasmalerei an? Alle diese Dinge hatten für sie nur Interesse, weil sie ihm zukamen, ihn beschäftigten, ein Teil seiner selbst waren.

Wir werden glücklich sein, meinte sie. Sie werden malen, und ich werde sticken.

Er hatte inmitten des großen Raumes, der sie mit Freude erfüllte, von neuem ihre Hände ergriffen. Dieses Zimmer schien ihr natürlicherweise der Ort zu sein, wo fortan ihre Anmut blühen sollte. Beide schwiegen einen Augenblick. Sie war es, die wieder das Wort ergriff.

Es ist also abgemacht?

Was? fragte er lächelnd.

Daß wir heiraten.

Er zögerte eine Sekunde mit der Antwort. Sein blasses Gesicht hatte sich mit glühender Röte bedeckt. Sie wurde unruhig.

Tue ich Ihnen weh?

Doch schon drückte er ihr die Hände so stark, daß sie völlig gefangen war.

Es ist abgemacht. Es genügt, wenn Sie etwas wünschen; allen Hindernissen zum Trotz soll es durchgeführt werden. Mein Leben hat nur den einen Zweck, Ihnen zu gehorchen.

Angelika strahlte.

Wir werden uns heiraten, uns ewig lieben und uns nie verlassen.

Sie zweifelte nicht daran, daß die Sache schon morgen mit jener Leichtigkeit, die sie aus den Wundern der Heiligengeschichte kannte, vor sich gehen werde. Es kam ihr nicht einmal der Gedanke, daß eine vorübergehende Verzögerung, ein geringer Verzug eintreten könne. Warum auch hätte man sie noch trennen sollen, wenn sie sich liebten? Man betet sich an und heiratet sich, eine ganz einfache Geschichte. Eine große, ruhige Freude erfüllte sie.

Schön, schlagen Sie ein, rief sie scherzend und reichte ihm die Hand.

Er führte die kleine Hand an seine Lippen.

Abgemacht.

Als sie aufbrach in der Furcht, die Morgendämmerung könne sie überraschen und voller Hast, ihr Geheimnis endlich offenbaren zu können, wollte er sie heimbegleiten.

Nein, nein, wir würden erst mit Tagesanbruch zu Hause ankommen. Ich werde den Weg schon allein finden ... Auf morgen!

Auf morgen!

Felix gehorchte und begnügte sich, Angelika nachzublicken, wie sie unter den dunklen Ulmen und längs der im Licht gebadeten Chevrotte dahineilte. Schon hatte sie das Parkgitter durchschritten und ging jetzt eilends quer durch das hohe Gras des Marienfeldes. Unterwegs überlegte sie, daß sie sich schwerlich bis Sonnenaufgang werde gedulden können und das es das Beste sei, die Hubert herauszuklopfen und ihnen alles zu sagen. Ihr Glück ließ sich nicht mehr bändigen, ihre Freimut war in heller Empörung begriffen: sie fühlte sich nicht mehr imstande, das so lange gehütete Geheimnis nur noch fünf Minuten länger bei sich zu behalten. Sie trat in den Garten ein und schloß die Tür.

Dort, auf der Steinbank, die ein dünner Fliederbusch einrahmte, an die Kathedrale gelehnt erwartete Hubertine sie. Ein beklemmendes Gefühl der Angst hatte sie aus dem Schlafe geschreckt, sie war in Angelikas Zimmer hinaufstiegen, hatte die Türen offen gefunden und begriffen. Da sie nicht wußte, wohin sie der Flüchtigen nacheilen sollte, und aus Furcht, die Dinge noch zu verschlimmern, wartete sie.

Angelika warf sich sofort, ohne Verlegenheit zu zeigen, ihr an den Hals; ihr Herz hüpfte vor Jubel, und sie lachte vergnügt, denn sie hatte keine Verheimlichung mehr nötig.

O Mutter, es ist abgemacht! ... Wir werden uns heiraten, ich bin glücklich!

Hubertine sah ihr scharf ins Gesicht, ehe sie antwortete. Aber ihre Befürchtungen verschwanden angesichts dieser blühenden Jungfräulichkeit, der klaren Augen und reinen Lippen. Es blieb in ihr nichts als schwerer Kummer; schon jetzt flossen ihr die Tränen reichlich über die Wangen.

Mein armes Kind, seufzte sie leise wie am Abend zuvor in der Kirche.

Angelika war überrascht, Hubertine, die stets ihren Gleichmut bewahrte, und die sie noch niemals hatte weinen sehen, in dieser Verfassung zu erblicken.

Was gibt es, Mutter? Du machst dir Sorgen? rief sie. Es ist ja wahr, ich bin recht häßlich zu dir gewesen, weil ich ein Geheimnis vor dir hatte. Aber wenn du wüßtest, wie schwer dieses Geheimnis auf mir lastete; zuerst sagt man nichts, und nachher wagt man es nicht mehr ... Du mußt mir vergeben.

Sie hatte sich neben sie gesetzt und einen Arm um ihre Hüfte geschlungen. Die alte Bank in dieser moosigen Ecke der Kathedrale schien zu versinken. Über ihren Häuptern sorgte der Flieder für Schatten. Ferner war an dieser Stelle der wilde Rosenstrauch, den Angelika pflegte, um zu sehen, ob nicht echte Rosen an ihm erblühen würden. Seit einiger Zeit jedoch hatte sie ihn vernachlässigt, und jetzt wucherte er in seiner früheren Wildheit weiter.

Ich will dir alles sagen, Mutter, aber ins Ohr.

Mit halblauter Stimme erzählte sie Hubertine die Geschichte ihrer Liebe in einer unerschöpflichen Flut von Worten; die geringsten Begebenheiten ließ sie aufs neue entstehen und wurde selbst warm bei ihrem erneuten Erwachen. Sie übersah nichts beim Durchblättern ihrer Erinnerungen; ihre Erzählung war für sie eine Beichte. Ohne Stocken und ohne Verlegenheit sprach sie, das leidenschaftliche Blut färbte ihr Gesicht, eine Flamme des Stolzes brach aus ihren Augen, trotzdem sie ihre flüsternde und glühende Stimme nicht anschwellen ließ.

Hubertine unterbrach sie schließlich und begann ebenfalls leise zu sprechen.

Also dahin bist du geraten? Du hast dich gut gebessert, jedesmal fährst du wieder wie ein Sturmwind auf und davon ... O, du hochmütiges, leidenschaftliches Ding, du bist noch immer das Kind, das nicht die Küche aufscheuern wollte und die eigenen Hände küßte.

Angelika konnte ihr Lachen nicht zurückhalten.

Lache lieber nicht, du wirst bald nicht genug Tränen zum Weinen haben ... diese Heirat kann nie stattfinden, mein armes Kind.

Jetzt brach Angelikas Heiterkeit erst recht los; ihr klingendes Lachen verstummte nicht mehr.

Was sagst du da, Mutter? Willst du mich durch Necken strafen? Die Geschichte ist doch so einfach. Heute abend noch wird er mit seinem Vater sprechen. Morgen wird er kommen, um alles mit uns zu regeln.

Bildete sie sich das wirklich ein? Hubertine mußte also unerbittlich sein. Eine kleine namenlose Stickerin ohne Vermögen wollte Felix von Hautecoeur heiraten, einen an 50 Millionen reichen Mann, den letzten Sprossen eines der ältesten Geschlechter Frankreichs!

Warum nicht? antwortete Angelika gelassen auf jeden neuen Einwand.

Eine solche Heirat würde ein Skandal sein, denn sie läge außerhalb der gewöhnlichen Wandelgänge des Glückes. Alles werde sich gegen ihr Zustandekommen auflehnen. Sie gedenke gegen alles anzukämpfen?

Warum nicht?

Man erzählte sich, daß Hochwürden stolz auf seinen Namen sei und unnachsichtlich streng gegen Liebesabenteuer. Und sie wollte hoffen, seinen Sinn zu beugen?

Warum nicht? Es ist zu drollig, Mutter, für wie böse du die Welt hältst, setzte sie in der Unerschütterlichkeit ihrer Zuversicht hinzu. Ich sage dir, es wird alles gut ablaufen! ... Vor zwei Monaten noch lachtest du mich aus und necktest mich, wie du dich erinnern wirst, und trotzdem hatte ich recht; denn was ich verkündete, ist eingetroffen.

Warte das Ende ab, Unglückliche!

Hubertine war in Verzweiflung. Wie sehr bereute sie jetzt, Angelika in Unwissenheit erzogen zu haben. Sie wünschte, sie hätte ihr gezeigt, wie hart die Lehren der Wirklichkeit sind, wünschte, sie hätte sie über die Grausamkeit und Bosheit der Welt aufgeklärt; in diesem Augenblick aber suchte sie vergebens nach den geeigneten Worten. Wie traurig wäre es, wenn sie sich eines Tages das Unglück dieses Kindes, das sie in klösterlicher Absperrung, in der ewigen Lüge des Traumes erzogen hatte, vorzuwerfen haben würde.

Sieh, Liebe, du könntest den jungen Menschen selbst gegen den Willen von uns allen und seines Vaters doch nicht heiraten.

Angelika wurde ernst, sie sah Hubertine an und sagte:

Warum nicht? Ich liebe ihn, und er liebt mich ...

Die Mutter schlang beide Arme um sie und drückte sie fest an sich. Sie sah ihr, ohne ein Wort zu sprechen, ins Gesicht. Der verschleierte Mond war hinter der Kathedrale verschwunden, die verfliegenden Nebel am Himmel röteten sich schwach, der junge Tag war nahe. Beide Frauen badeten sich in der morgendlichen Reine, in der großen frischen Stille, die hier und da allein durch das Gezwitscher der erwachenden Vögel unterbrochen wurde.

Mein Kind, nur Pflicht und Gehorsam bringen das Glück. An einer Stunde der Leidenschaft und des Hochmuts siecht man sein ganzes Leben lang. Wenn du glücklich sein willst, unterwirf dich, verzichte und verschwinde ...

Sie fühlte, wie Angelika in ihrer Umarmung sich sträubte, und wovon sie noch nie gesprochen hatte, das kam jetzt zögernd zum erstenmal über ihre Lippen.

Du hältst uns, Vater und mich, für glücklich, nicht wahr? Ja, wir würden es sein, wenn nicht ein großer Schmerz unser Leben trübte ...

Sie senkte ihre Stimme noch mehr und erzählte mit zitterndem Atem ihre Geschichte, wie sie Hubert gegen den Willen ihrer Mutter geheiratet hatte, vom Tode ihres Kindes, von ihrer vergeblichen Sehnsucht nach einem anderen, daß sie es zur Strafe für ihr Vergehen nie bekommen werde. Trotzdem beteten sie sich an und lebten anspruchslos von dem Ertrage ihrer Arbeit. Sie wären zweifellos unglücklich geworden und hätten in Zank und Unfrieden gelebt, ihr Leben wäre zur Hölle auf Erden geworden, vielleicht wäre auch eine unheilbare Trennung entstanden, wenn sie beide sich nicht alle Mühe gegeben hätten, gut miteinander auszukommen, er mit Hilfe seiner Güte, sie mit Hilfe ihrer Vernunft.

Überlege, mein Kind, zerre nichts in dein Leben hinein, worunter du später leiden könntest ... Sei demütig, gehorsam und bringe das Blut in deinem Herzen zum Schweigen ...

Angelika hörte überwunden, bleichen Antlitzes zu, sie hielt kaum ihre Tränen zurück.

Mutter, du tust mir weh. Ich liebe ihn, und er liebt mich.

Ihre Tränen flossen. Sie war erschüttert, gerührt von der vertraulichen Mitteilung, und ihre Bestürzung malte sich in ihren Zügen wieder, als peinige es sie, daß sie dieses Stückchen Wahrheit gesehen. Aber sie ergab sich nicht. Sie wäre so gern für ihre Liebe in den Tod gegangen!

Jetzt führte Hubertine den Hauptschlag.

Ich wollte eigentlich dich nicht soviel Kummer auf einmal leiden lassen. Es ist trotzdem gut, daß du alles erfährst ... Als du gestern abend auf dein Zimmer gegangen warst, habe ich Abt Cornille ausgeforscht und mir von ihm erklären lassen, warum Hochwürden nach so langer, hartnäckiger Weigerung seinen Sohn nach Beaumont berufen hatte ... Des Bischofs größten Kummer bildete des jungen Menschen jugendliche Hitze, die regellose Hast, mit der jener sich ins volle Leben stürzen wollte. Nachdem er mit Schmerzen darauf Verzicht geleistet, aus ihm einen Priester zu machen, hoffte er kaum noch, ihn zur Aufnahme einer seiner Stellung und seinem Vermögen angemessenen Tätigkeit veranlassen zu können. Es war zu fürchten, daß er stets nur ein leidenschaftlicher, toller Mensch, ein Künstler bleiben werde. Er fürchtete, sich selbst nochmals in ihm aufleben, jene wahnsinnige Leidenschaft in ihm entstehen zu sehen, unter der er so grausam gelitten hatte ... Aus Furcht also vor irgendeiner Torheit des Herzens seines Sohnes wollte er ihn um sich haben, um ihn schnell zu verheiraten.

Nun? fragte Angelika, die noch nicht begriff.

Schon vor des Sohnes Ankunft war seine Verheiratung in Aussicht genommen und bereits alles besprochen worden. Abt Cornille hat mir ausdrücklich erklärt, daß Felix zum Herbst Fräulein Klara von Voincourt heiraten wird ... Du kennst ja das Haus Voincourt dort neben dem Hause des Bischofs. Die Voincourt sind sehr befreundet mit Hochwürden. Beide Teile können sich nichts Besseres wünschen, denn die Heirat muß sowohl in Hinsicht der Geldfrage wie auch der gesellschaftlichen Stellung als passende bezeichnet werden. Der Abt billigt diese Verbindung sehr ...

Das junge Mädchen hörte diese Vernunftgründe gar nicht mehr. Angelika hatte sich plötzlich ein Bild vor Augen gerückt, das jener Klara. Sie sah sie, wie sie sie oft im Winter in den Gängen des Parkes und in der Kathedrale an großen Festtagen hatte an sich vorbeigleiten sehen: eine große Brünette in ihrem Alter, ein schönes Mädchen von einer weit mehr in die Augen springenden Schönheit wie die ihre und mit einem königlichen Auftreten. Man sagte ihr trotz ihres kühlen Äußeren große Güte nach.

Er heiratet... dieses große, schöne, reiche Mädchen...

Sie sprach die Worte so leise wie im Traum. Dann plötzlich fühlte sie einen Krampf im Herzen.

Er lügt also! Mir hat er nichts davon gesagt! schrie sie.

Sie erinnerte sich seines kurzen Zögerns, des Blutstromes, der seine Wangen gefärbt, als sie von ihrer Heirat zu ihm gesprochen hatte. Der sie schüttelnde Frost trat so heftig auf, daß ihr farbloses Haupt auf die Schulter der Mutter sank.

Meine Kleine, liebe, süße Kleine ... Ich weiß, ich bin grausam. Aber es wäre noch grausamer, dich warten zu lassen. Reiße sofort das Messer aus deiner Wunde ... Wiederhole dir bei jedem erneuten Erwachen deiner Torheit, daß Hochwürden, der schreckliche Johann XII., an dessen unerträglichen Stolz sich noch jetzt die Welt erinnert, seinen Sohn, den letzten deines Geschlechts, niemals einer vor der Tür gefundenen, von armen Leuten, wie wir es sind, an Kindesstatt angenommenen kleinen Stickerin geben wird.

Angelika vernahm die Worte in ihrer Ohnmacht, aber sie lehnte sich nicht dagegen auf. Was hatte sie über ihr Gesicht streifen fühlen? Ein kalter, von weither über die Dächer streichender Hauch ließ ihr Blut zu Eis erstarren. War es der Jammer dieser Welt, diese traurige Wirklichkeit, von der man wie von den Wölfen spricht, mit denen man die vernünftigen Kinder ängstigt? Es klang in ihr wohl ein Schmerz nach, doch ging er nicht tief. Denn schon entschuldigte sie Felix, er hatte nicht gelogen, er war eben nur stumm geblieben. Denn wollte sein Vater ihn in der Tat mit dem jungen Mädchen verheiraten, so würde er zweifellos sich weigern. Aber er wagte noch nicht, diesen Kampf aufzunehmen. Er hatte nichts gesagt, weil er vielleicht sich jetzt erst zu diesem Kampf entschloß. Diesem ersten Wanken ihres Schicksals, diesem ersten Stoß mit dem rauhen Finger des Lebens gegenüber blieb sie bleich zwar, doch noch immer gläubig, sie verlor nicht den Glauben an ihren Traum. Es mußte sich dennoch alles erfüllen, nur ihr Hochmut war entkräftet, sie fiel in die Demut der Gnade zurück.

Es ist wahr, Mutter, ich habe gesündigt, ich werde aber nicht mehr sündigen ... Ich verspreche dir, mich nicht aufzulehnen und so zu sein, wie der Himmel es haben will.

Die himmlische Gnade sprach aus ihr, der Sieg, er blieb dem Hause, wo sie herangewachsen war, der Erziehung, die sie empfangen hatte. Warum sollte sie an dem kommenden Tage zweifeln, da bis jetzt ihre ganze Umgebung sich ihr so edelmütig und wohlwollend gezeigt hatte? Sie wollte die Klugheit Katharinas, die Bescheidenheit Elisabeths, die durch den Beistand aller Heiligen gestärkte Keuschheit der Agnes sich bewahren in der Gewißheit, daß sie allein ihr zum Siege verhelfen könnten. Würde ihre alte Freundin, die Kathedrale, das Marienfeld und die Chevrotte, das kleine, kühle Haus der Hubert, alles, was sie liebte, sie etwa nicht verteidigen, wenn sie, statt selbst zu handeln, gehorsam und reinen Herzens sich zeigen würde?

Du versprichst mir, daß du nichts gegen ungern und namentlich nichts gegen den Willen Hochwürdens unternehmen willst?

Ja, Mutter, ich verspreche es.

Du versprichst mir, den jungen Mann nicht wiederzusehen und nicht mehr an diese törichte Heirat denken?

Bei diesen Fragen fühlte sie ihr Herz schwach werden. Noch einmal wollte es sich empören und auf seine Liebe pochen. Aber der Kopf Angelikas sank herab, sie war vollständig gezähmt.

Ich verspreche, nichts zu tun, um ihn wiederzusehen und unsere Heirat zu fördern.

Hubertine preßte sie bewegt in ihre Arme und dankte ihr für ihren Gehorsam. Welch ein Elend! Die Geliebten leiden lassen zu müssen, wenn man das Gute will. Sie war wie gebrochen und erhob sich, überrascht von dem fortschreitenden Erwachen des Tages. Die Stimmen der Vögel hatten sich vermehrt, aber noch keinen einzigen sah man auffliegen. Am Himmel verflüchtigten sich die Wolken in dem durchsichtigen Blau der Luft wie Gase.

Angelikas Blicke ruhten unbewußt auf dem wilden Rosenstrauch; endlich bemerkte sie ihn mit seinen armseligen Blüten. Ein trauriges Lächeln überflog ihre Züge.

Du hast recht, Mutter, er ist noch nicht so weit, um Rosen zu tragen.


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