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Elftes Kapitel

Als man am Abend in der Küche vom Tisch aufstand, beichtete Angelika den Hubert; sie erzählte von dem Schritt, den sie beim Bischof unternommen und dessen Weigerung. Sie war sehr gefaßt und bleich.

Hubert war wie vor den Kopf geschlagen. Sein teures Kind sollte leiden? Auch Angelikas Herz blutete. Seine Augen standen voller Tränen, denn er fühlte sich ihrer Liebe verwandt, als Genossen jener trunkenen Fieberglut, die sich ihrer beim geringsten Anlasse bemächtigte.

0 mein armes, geliebtes Kind! Warum hast du mich nicht um Rat gefragt? Ich wäre mit dir gegangen und hätte vielleicht Hochwürden umgestimmt.

Hubertine legte ihm durch einen Blick Schweigen auf. Er gebärdete sich in der Tat ganz unvernünftig. Kam die Gelegenheit nicht wie gerufen, um diese unmögliche Heirat ganz einzusargen? Sie schloß das junge Mädchen in die Arme und küßte es zärtlich auf die Stirn.

Es ist also doch alles zu Ende, mein Liebling?

Angelika schien zuerst nicht zu verstehen. Dann flossen ihr die Worte wie aus weiter Ferne zu. Sie starrte vor sich hin, als wolle sie die Leere befragen und antwortete:

Zweifellos, Mutter.

Am nächsten Tage saß sie wieder an ihrem Rahmen und stickte, als sei nichts vorgefallen. Sie nahm ihr Leben von ehedem wieder auf und schien nicht zu leiden; es fiel auch keine einzige Anspielung, kein Blick schweifte zum Fenster hinaus, kaum ein letzter Schimmer von bleicher Farbe war sichtbar. Das Opfer schien vollbracht.

Hubert selbst glaubte es. Er pflichtete der Weisheit Hubertinens bei und bemühte sich, Felix von Angelika fernzuhalten, der sich seinem Vater nicht zu widersetzen wagte, aber nachgerade in so große Aufregung geriet, daß er sein Versprechen zu warten, ohne einen Versuch zu einem erneuten Zusammentreffen mit Angelika unternehmen zu wollen, kaum noch zu halten vermochte. Er schrieb ihr, aber seine Briefe wurden aufgefangen. Eines Morgens fand er sich in Person ein, wurde jedoch von Hubert empfangen. Die Auseinandersetzung war trostlos für den einen wie für den anderen. Der junge Mann schien furchtbar zu leiden, als ihm der Sticker von der lautlosen Genesung seiner Tochter erzählte und ihn bat, rechtschaffen zu sein, davonzugehen und sie nicht wieder in die furchtbare Aufregung der letzten Woche hineinzuschleudern. Felix gelobte von neuem, sich zu gedulden, aber er weigerte sich hartnäckig, Angelika sein Wort zurückzugeben; denn er hoffte immer noch, seinen Vater umstimmen zu können. Er wollte warten und sein Verhältnis zu den Voincourt in der Schwebe lassen, bei denen er zweimal in der Woche speiste, lediglich um es nicht zu einem offenen Bruche kommen zu lassen. Als er fortging, bat er Hubert noch, Angelika auseinanderzusetzen, warum er den Schmerz ertrage, sie nicht wiederzusehen: er denke nur an sie, und alle seine Maßnahmen hätten keinen anderen Zweck als den, sie sich zu erobern.

Als Hubert seiner Frau von dieser Unterredung Kenntnis gab, wurde sie nachdenklich.

Wirst du dem Kinde seinen Auftrag ausrichten? forschte sie nach einigem Schweigen.

Ich möchte es wohl.

Sie sah ihn scharf an und sagte:

Handle ganz nach deinem Gewissen ... Nur eines bedenke: er lebt ganz seiner Einbildung; schließlich wird er sich doch dem Willen seines Vaters unterwerfen, und unser armes Kind wird sterben.

Hubert sah es ein; voller Bangigkeit zögerte er und verzichtete endlich gänzlich auf eine Wiederholung von Felix' Äußerungen. Übrigens beruhigte er sich von Tag zu Tag mehr, weil seine Frau ihn auf die ruhige Haltung Angelikas aufmerksam machte.

Du siehst, die Wunde schließt sich ... Sie vergißt.

Angelika vergaß aber nicht, sie wartete eben. Jede menschliche Hoffnung allerdings war für sie tot, und so kehrten ihre Gedanken zu der Offenbarung eines Wunders zurück. Wenn Gott sie glücklich sehen wollte, würde sich ganz sicher eines zeigen. Sie befahl sich ganz in seine Hände und glaubte sich durch diese neue Prüfung dafür bestraft, daß sie seinen Willen durch die Belästigung Hochwürdens zu durchkreuzen versucht hatte. Ohne seine Gnade war jedes Geschöpf schwach und nicht teilhaft des Sieges. Ihr Durst nach Gnade machte sie demütig; nur von dem Unsichtbaren erhoffte sie noch Hilfe. Sie selbst unternahm nichts, sondern ließ die sie umschwebenden, geheimnisvollen Kräfte für sie tätig sein. Sie las allabendlich beim Scheine der Lampe von neuem in dem alten Bande der Goldenen Legende und schöpfte daraus neues Entzücken wie in der Einfalt ihrer Kindheit. Sie zweifelte nicht im geringsten an den Wundern und war überzeugt, daß die grenzenlose Macht des Unbekannten reinen Seelen zum Siege verhilft.

Es kam dazu, daß gerade jetzt der Tapezierer der Kirche zu den Hubert gekommen war und ihnen eine Bestellung auf eine reiche Stickerei für den Bischofsstuhl Hochwürdens überbracht hatte. Diese anderthalb Meter breite und drei Meter hohe Stickerei sollte in das Schnitzwerk der Rücklehne eingelassen werden. Sie stellte zwei Engel in Lebensgröße dar, die über das Wappen der Hautecoeur eine Krone hielten. Die Stickerei mußte flach erhaben ausgeführt werden, eine Arbeit, die große Kunstfertigkeit und einen bedeutenden Aufwand von körperlicher Kraft verlangt. Die Hubert hatten zuerst die Bestellung von der Hand weisen wollen, weil sie Angelika zu ermüden und namentlich zu betrüben fürchteten; wenn sie durch Wochen dieses Wappen Faden für Faden stickte, mußten ihre Erinnerungen wieder wach werden. Aber Angelika hatte es geärgert, daß man die Bestellung ablehnen wollte; an jedem Morgen machte sie sich mit außerordentlicher Willenskraft an die Arbeit. Es schien, als fühle sie sich glücklich, sich müde machen zu können, als sei es ihr ein Bedürfnis, ihren Körper zu martern, um endlich Ruhe zu finden.

Das ruhige, regelmäßige Leben in der alten Arbeitsstube nahm seinen Fortgang, als hätten die Herzen keinen einzigen Augenblick schneller geschlagen. Während sich Hubert mit den Rahmen beschäftigte, durchpauste und ein- und ausspannte, half Hubertine Angelika. Beide fühlten kaum noch ihre Finger, wenn der Abend kam. Die Engel sowohl wie die Verzierungen hatte man in verschiedene Teile zerlegen müssen, die besonders fertiggestellt wurden. Angelika zog, um die Buckel hervorzubringen, mit einer Spindel dicke ungebleichte Fäden über den Stoff und überspannte sie in entgegengesetzter Richtung mit englischem Garn; je nach dem modellierte sie diese Fäden mit dem Mennelurd oder dem Bossierholz, durchfurchte damit die Gewänder der Engel und hob die Einzelheiten der Verzierungen hervor. Es war eine wahre Bildhauerarbeit. Sobald man die Form heraus hatte, überspannten Hubertine und sie diese mit Goldfäden, die mit kleinen Stichen festgenäht wurden. Die goldene Flacharbeit erschien von einer unvergleichlichen Milde und Schönheit, wie eine Sonne erstrahlte sie inmitten des eingeräucherten Raumes. Die alten Werkzeuge, die Ausschneideeisen, die Pfriemen, die Klöpfel und Hämmer standen noch in ihrer hundertjährigen Ordnung in Reih' und Glied da; auf den Rahmen hüpften die Abfallschachtel, das Wachs, die Fingerhüte und Nadeln umher; in den Ecken verrosteten das Handrad und die Haspel, sie schienen in dem durch die Fenster dringenden tiefen Frieden wie betäubt dahinzuschlummern.

Die Tage verflossen. Angelika zerbrach vom Morgen bis zum Abend fleißig ihre Nadeln, denn es war nicht leicht, das Gold auf den dicken, gewachsten Fäden festzunähen. Man hätte glauben können, ihr Körper wie ihr Geist würde durch die harte Arbeit so mitgenommen, daß sie kaum noch zu denken fähig sei. Um neun Uhr schon fiel sie auch um vor Müdigkeit, legte sieh nieder und schlief einen bleiernen Schlaf. Trotzdem war sie erstaunt, wenn die Arbeit ihrem Kopfe eine Minute Ruhe gönnte, Felix nicht zu sehen. Wenn sie auch nichts unternahm, um ihm zu begegnen, setzte sie doch von ihm voraus, daß er alle Schwierigkeiten überwinden werde, um in ihre Nähe dringen zu können. Dennoch pflichtete sie seinem weisen Benehmen bei; sie würde ihm böse gewesen sein, hätte sie ihn die Dinge überstürzen sehen. Sie lebte jetzt noch einzig und allein der Hoffnung; an jedem Abend hoffte sie auf den nächsten Tag. Bis jetzt gärte es in ihr noch nicht. Aber öfter erhob sie den Kopf: wie, noch immer nichts? Kräftig stach sie dann die Nadeln durch, die ihre kleinen Hände blutig rissen. Oft mußte sie die Nadel mit der Zange herausziehen. Selbst wenn die Nadel mit dem Klange berstenden Glases zerbrach, zeigte sie kein Zeichen von Ungeduld.

Hubertine beunruhigte Angelikas zäher Eifer für die Arbeit; da gerade die Zeit der großen Wäsche nahe war, nötigte sie die Tochter mit Gewalt, die Stickerei ruhen zu lassen und sich vier Tage in frischer Luft und warmer Sonne herumzutummeln. Mutter Gabet hatte augenblicklich Ruhe von ihren Schmerzen und konnte bei der Wäsche und beim Spülen helfen. Die Wäsche auf dem Marienfelde wurde zum Fest, denn das Ende des August brachte himmlisches Wetter, einen glühenden Himmel und erquickenden Schatten; dabei entströmte der Chevrotte eine entzückende Kühle, weil der Schatten der Weiden das lebhafte Gewässer fast gefrieren ließ. Angelika verbrachte den ersten Tag recht heiter; sie klopfte und tauchte das Leinen und freute sich des Baches, der Ulmen, der in Trümmern liegenden Mühle, kurz aller ihr befreundeten, an Erinnerung reichen Dinge. Hatte sie nicht dort zuerst Felix im rätselhaften Schimmer des Mondes gesehen, dann so reizend linkisch kennen gelernt an jenem Morgen, als er das fortgeschwemmte Hemd gerettet hatte? Nach jedem Stück, das sie ausrang, konnte sie sich einen Blick auf das einst vernagelte Gitter des bischöflichen Gartens nicht versagen: hatte sie es doch eines Abends an seinem Arm durchschritten! Vielleicht öffnete er es auch jetzt unvermutet, um sie zu holen und vor die Knie seines Vaters zu führen. Diese Hoffnung belebte sie bei ihrer groben Verrichtung, während der Schaum sie umflog.

Als am nächsten Tage die Mutter Gabet die letzte Karre Wäsche herbeibrachte, die sie mit Angelika ausbreiten sollte, unterbrach sie ihr endloses Geschwätz, um ganz ohne böse Absicht zu fragen:

Da fällt mir ein... wissen sie schon, Fräulein, daß Hochwürden seinen Sohn verheiratet?

Das junge Mädchen, das gerade ein Tuch ausbreitete, sank mit den Knien in das Gras, das Herz hörte bei diesem Falle zu pochen auf.

Ja, die ganze Welt spricht davon ... Der Sohn Hochwürdens wird im Herbste Fräulein Voincourt heiraten... Vorgestern soll alles in Ordnung gebracht worden sein.

Angelika blieb auf den Knien liegen, eine Flut von wirren Gedanken schoß ihr durch den Kopf. Die Neuigkeit überraschte sie keineswegs, sie fühlte, daß sie wahr sei. Ihre Mutter hatte sie darauf vorbereitet, sie hätte darauf gefaßt sein müssen. Aber im ersten Augenblick schwächte der Gedanke ihre Beine, daß Felix in der Furcht vor seinem Vater an einem Abend der Schwachheit sich entschließen könne, die andere zu heiraten, ohne sie zu lieben. Dann würde er für sie, die ihn anbetete, verloren sein. Sie hatte nie an die Möglichkeit einer solchen Schwäche gedacht, sie sah ihn, gebeugt unter der Pflicht, im Namen des Gehorsams sie beide in das Unglück stürzen. Sie atmete nicht, doch ihre Augen richteten sich auf das Gitter, es wallte in ihr auf, es drängte sie, an den Stäben zu rütteln, die Angeln aufzureißen, zu ihm zu eilen und ihm mutig zur Seite zu stehen, damit er nicht weiche.

Sie war überrascht, sich rein instinktiv, um ihre Verwirrung zu verbergen, antworten zu hören:

Richtig, er heiratet ja Fräulein Klara... Sie ist sehr schön, man hält sie auch für gut...

Sobald die alte Frau fort war, wollte sie zu ihm eilen; das stand bei ihr fest. Sie hatte genug gewartet, sie wollte ihren Schwur, ihn nicht wiederzusehen, wie ein ungelegenes Hemmnis aus dem Wege räumen. Mit welchem Recht trennte man sie so? Alles um sie her, die Kathedrale, das fließende Gewässer, die alten Ulmen, unter denen sie sich geliebt, erzählten ihr von ihrer Liebe. Dort, wo ihre Leidenschaft sich entwickelt hatte, dort wollte sie ihn sich zurückerobern, um an seinem Halse so weit, so weit zu fliehen, daß niemand sie wiederfinde.

Fertig, sagte Mutter Gabet, die soeben die letzten Handtücher an einem Busche aufgehängt hatte, in zwei Stunden ist alles trocken ... Guten Abend, Fräulein, Sie brauchen mich jetzt nicht mehr.

Inmitten dieses im grünen Grase schimmernden Blütenfeldes von Wäsche dachte Angelika an jenen Tag, als beim Brausen des Windes unter dem Flattern des Leinens ihre Herzen sich so ehrlich gefunden hatten. Warum hatte er seine Besuche eingestellt? Hätte sie ihn jetzt in ihren Armen, dann würde sie gewußt haben, daß er nur ihr allein gehören konnte. Sie wollte ihm nicht einmal seine Schwäche vorhalten, es genügte schon, daß sie sich zeigte, um in ihm wieder den Wunsch nach Begründung ihres Glückes zu wecken. Er würde alles wagen, wenn sie nur einen Augenblick bei ihm sein könnte.

Eine Stunde verstrich, Angelika wandelte mit langsamen Schritten zwischen der Wäsche umher. Der blendende Widerschein der Sonne ließ sie selbst ganz weiß erscheinen. Eine wirre Stimme erhob sich in ihrem Innern, wurde stärker und hinderte sie, sich dem Gitter zu nähern. Sie erschreckte der beginnende Kampf. Warum nur? Sie tat doch nur ihre Pflicht? Es war bereits etwas anderes dazwischengekommen, was sie stutzig machte und die schöne Kindlichkeit ihrer Leidenschaft beeinträchtigte. Nichts ist einfacher, als daß man zu dem Liebenden eilt. Aber sie wagte es nicht mehr, weil die Qual des Zweifels sie zurückhielt: sie hatte geschworen, daher war ihre Absicht vielleicht eine Schlechtigkeit. Als am Abend die Wäsche trocken und Hubertine zu ihrer Hilfe herbeigekommen war, hatte sie noch keinen festen Entschluß gefaßt. Sie nahm sich vor, während der Nacht zu überlegen. Die Arme mit den wohlriechenden, schneeigen Leinen beladen, warf sie noch einen Blick voller Unruhe auf das Marienfeld; sie fürchtete in diesem Winkel befreundeter Natur einen Mitwisser ihrer Gedanken.

Am nächsten Morgen erwachte Angelika voller Unruhe. Weitere Nächte verflossen, sie kam zu keinem Entschluß. Ihre Ruhe konnte sie nur in der Gewißheit wiederfinden, noch geliebt zu werden. Dieser Glaube war unerschütterlich; sie fand in ihm eine himmlische Ruhe. Wurde sie geliebt, so konnte sie warten und alles ertragen. Sie war wieder in einen ihrer Barmherzigkeitsanfälle geraten; das geringste Leiden ging ihr zu Herzen und füllte ihre Augen mit Tränen bis zum Überfluten. Vater Mascart ließ sich Tabak schenken, die Chouteau zogen aus ihr alles, selbst Näschereien heraus. Die Lemballeuse verstanden die Almosengeberin am besten zu nehmen; man sah Toni an Festtagen in einem Kleide des guten Fräuleins tanzen. Als Angelika eines Tages der alten Lemballeuse die am Abend vorher versprochenen Hemden brachte, bemerkte sie Frau Voincourt und deren Tochter Klara in der Begleitung von Felix bei den Bettlern. Letzterer hatte jene unzweifelhaft dahin geführt. Sie ließ sich nicht sehen und kehrte mit eiskaltem Herzen heim. Zwei Tage später sah sie die drei wieder, gerade als sie die Chouteau verließen. Zum Überfluß erzählte ihr auch eines Morgens der Vater Mascart, daß der schöne junge Mann ihn mit zwei Damen besucht habe. Da ließ sie ihre Armen gänzlich fahren, denn sie gehörten ja nicht mehr ihr. Felix hatte sie ihr fortgenommen, um sie seinen Damen zuzuführen. Sie ging kaum aus dem Hause aus Furcht, jenen abermals zu begegnen und ihre Herzenswunde neu aufbrechen zu sehen, deren Schmerz immer tiefer drang. Sie fühlte, daß etwas in ihr erstarb, daß ihr Leben Tropfen um Tropfen versiegte.

Er liebt mich nicht mehr!

Es war eines Abends nach jenen Begegnungen, als ihr in der Einsamkeit ihres Zimmers, während sie vor Angst fast erstickte, dieser Aufschrei entschlüpfte.

Sie sah Klara von Voincourt vor sich, groß und schön, mit ihrer Krone schwarzer Haare und ihn an der Seite schlank und stolz. Waren sie nicht wie füreinander geschaffen, von demselben Geschlecht und so zueinander passend, daß man sie für schon verheiratet halten konnte?

Er liebt mich nicht mehr, er liebt mich nicht mehr!

Dieser Schrei entrang sich ihr, als stürze etwas in ihr krachend in Trümmer. Ihr Glaube war erschüttert, jetzt brach alles zusammen; sie fand nicht mehr die Ruhe zur kalten Überlegung und Prüfung der Tatsachen wieder. Was sie noch am vergangenen Abend geglaubt, glaubte sie jetzt nicht mehr: ein Hauch, von dem sie nicht wußte, woher er gekommen, hatte das bewirkt. Mit einem Schlage war sie in das tiefste Elend geschleudert, das entsteht, wenn man sich nicht mehr geliebt glaubt. Er hatte ihr ja einstmals gesagt: nicht geliebt zu sein – es gibt keinen größeren Schmerz, keine abscheulichere Qual. Bis jetzt hatte sie ihre Fassung bewahren können, denn sie hatte sich stark in Erwartung des Wunders gefühlt. Aber ihre Stärke schwand mit dem Glauben und schmolz zu kindlicher Verzweiflung zusammen. Der schmerzensreiche Kampf begann.

Zunächst nahm sie zu ihrem Hochmut Zuflucht: wenn er sie nicht mehr liebte, umso besser! Sie wäre viel zu stolz, um ihn noch zu lieben. So log sie sich selbst etwas vor, redete sich ein, verraten zu sein, heuchelte Sorglosigkeit, während sie jetzt an dem Wappen der Hautecoeur stickte. Aber ihr Herz schwoll zum Ersticken, sie schämte sich einzugestehen, daß sie so feige war, ihn noch zu lieben. Eine ganze Woche hindurch bereitete ihr das Wappen, das Faden auf Faden unter ihren Fingern entstand, fürchterlichen Kummer. Es war ein Elend, die Hand zittern zu fühlen, den Kopf senken zu müssen, um die tränenvollen Augen zu verstecken, welche das Funkeln des Wappens blendete! Sie dachte nur an ihn, betete ihn an im Glanze seines sagenhaften Adels. Als sie den Wahlspruch »Wenn Gott will, will ich« in schwarzer Seide auf silbernem Bande stickte, erkannte sie, wie sehr sie seine Sklavin sei, und daß sie sich nimmermehr eines andern besinnen werde: ihre Augen hinderten sie am Sehen, und nur gewohnheitsmäßig fuhr sie fort, die Nadel durchzustechen.

Es war einen Augenblick zum Erbarmen, Angelika verzweiflungsvoll lieben zu sehen, wie sie mit ihrer hoffnungslosen Liebe kämpfte, die sie trotzdem nicht töten konnte. Noch immer wollte sie zu Felix eilen und sich ihm an den Hals werfen, um ihn sich zurückzuerobern. Der Kampf begann immer von neuem. Oft glaubte sie gesiegt zu haben, weil in ihrem Innern ein großes Schweigen entstand; sie kam sich selbst wie eine Fremde vor, wie sie kühl und schmächtig als gehorsame Tochter in der Demut der Entsagung niederkniete: das war nicht mehr sie selbst, sondern ein wohlerzogenes Mädchen, wie es gemeinhin der Alltagsglaube und die Erziehung zuwege bringen. Dann wieder betäubte sie fast ein aufsteigender Blutstrom; ihre blühende Gesundheit, ihre lebensfreudige Jugend eilten mit verhängten Zügeln davon; sie war wieder sie selbst mit ihrem Hochmut und ihrer Leidenschaft und vollständig dem heftigen Drange ihrer unbekannten Abstammung unterworfen. Hatte sie nötig, gehorsam zu sein? Es lag gar keine Verpflichtung vor, der Wille war frei. Sie erwog bereits ihre Flucht und rechnete sieh genau aus, welche Stunde zum Aufschließen des Gitters am bischöflichen Garten die günstigste sei. Aber ebenso schnell kehrten auch ihre Angst, ein dumpfes Ungemach, die Qualen des Zweifels wieder. Schreckliche Stunden verstrichen in dieser Ungewißheit. Der Wirbelwind dieses Unwetters trieb sie unaufhörlich von der Empörung ihrer Liebe zum Schrecken vor dem Fehltritt. Aus jedem neuen Siege ihres Herzens ging sie geschwächter hervor.

Als sie eines Abends schon im Begriff stand, das Haus zu verlassen, um Felix aufzusuchen, dachte sie in ihrer Verzweiflung über den Mangel an Kraft zum Widerstande gegen ihre Leidenschaft plötzlich an ihr Armenpflegebuch. Sie nahm es aus der Truhe und durchblätterte es. Bei jeder Seite rief sie sich von neuem die Niedrigkeit ihrer Abstammung vor Augen, sie fühlte geradezu einen brennenden Durst nach Demütigung. Ihre Eltern waren unbekannt, kein Name fand sich vor, nur ein Datum und eine Nummer, so verlassen wie die wild wachsende Pflanze, die am Rande der Straße sproßt, war sie in das Leben getreten! Erinnerungen stiegen in Scharen vor ihr auf; sie sah die fetten Weiden der Nièvre wieder, die Tiere, die sie dort gehütet, die ebene Landstraße von Soulanges, auf der sie nackten Fußes entlang gewandelt und Mama Nini, die sie ohrfeigte, wenn sie Äpfel gestohlen hatte. Ganz besonders aber riefen die Seiten ihre Erinnerungen wach, auf denen alle drei Monate die Besuche des Unteraufsehers und des Arztes vermerkt waren; mehrfach fanden sich Bemerkungen und Auskünfte neben den Unterschriften: hier las man, daß sie beinahe an einer Krankheit gestorben, dort eine Forderung ihrer Nährmutter wegen verbrannter Schuhe und tadelnde Bemerkungen wegen ihres unbezähmbaren Charakters. Das Heft war ein Tagebuch des Elends. Ein Umstand aber rührte sie vollends zu Tränen; es war die Verhandlung, laut der das Halsband gelöst worden war, das sie bis zu ihrem sechsten Lebensjahre getragen hatte. Sie erinnerte sich, daß sie dieses Halsband aus knöchernen Oliven, die auf eine seidene Schnur gereiht waren und von einem silbernen Medaillon mit dem Datum ihres Eintrittes und ihrer Nummer zusammengehalten wurden, instinktiv gehaßt hatte. Sie ahnte, daß es eine Sklavenkette war, und hätte sie gern mit ihren kleinen Händen ohne Furcht vor den Folgen gesprengt. Als sie älter wurde, fürchtete sie, das Halsband könne sie erwürgen. Welche Freude, als der Unteraufseher in Gegenwart des Gemeindevorstehers die Schnur löste und das Zeichen der Individualität durch eine förmliche Personbeschreibung ersetzte, in der bereits von ihren blauen Augen und ihren feinen, goldenen Haaren die Rede war! Trotzdem spürte sie das Halsband, das man wohl Haustieren umlegt, um sie wiederzuerkennen, noch immer an ihrem Halse: der Druck war ihrem Fleische geblieben, sie glaubte zu ersticken. Als sie an jenem Abend bei jener Seite angelangt war, fühlte sie voller Schrecken die ganze Niedrigkeit ihrer Herkunft und stieg schluchzend in ihr Zimmer hinauf, sie glaubte sich seiner Liebe unwürdig. Noch bei zwei anderen Gelegenheiten rettete sie das Buch. Dann aber hatte auch dieses keine Gewalt mehr über ihre Aufwallungen.

Jetzt wurde sie von den Anfällen der Versuchung namentlich in der Nacht gepeinigt. Ehe sie zu Bett ging, zwang sie sich zum Lesen der Heiligengeschichte, um einen ruhigen Schlaf zu finden. Aber trotz aller Anstrengungen, den Kopf in den Händen vergraben, verstand sie nicht mehr, was sie las: die Wunder betäubten sie, nur eine farblose Flucht wesenloser Gestalten zog an ihrem Geiste vorüber. Nach einer bleischweren Ohnmacht weckte sie mitten in der finstern Nacht ein plötzliches Angstgefühl in ihrem großen Bette. Sie wandte sich fassungslos um oder kniete zwischen den umgewühlten Bettkissen nieder; ihre Schläfen waren in Schweiß gebadet, ein kalter Schauer überlief sie; sie faltete dann wohl die Hände und stammelte: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Daß sie sieh in solcher Stunde allein im Dunkeln befand, brachte sie zur Verzweiflung. Sie hatte von Felix geträumt, sie bangte davor, sich anzukleiden und zu ihm zu eilen, da niemand zugegen war, der sie daran gehindert hätte. Die Gnade verließ sie, Gott war nicht mehr an ihrer Seite. Verzweifelt rief sie das Unbekannte herbei und lieh den Tönen des Unsichtbaren ihr Ohr. Aber die Luft war leer, keine säuselnden Stimmen, kein geheimnisvolles Rauschen waren mehr vernehmbar. Alles schien erstorben: das Marienfeld mit der Chevrotte, die Weiden, die Ulmen im bischöflichen Garten, selbst die Kathedrale. Keiner der Träume, mit denen sie alles umsponnen hatte, war geblieben, selbst die weiße Wolke der heiligen Jungfrauen war zerflossen, geblieben war nur von alledem das Grab. Machtlos, und entwaffnet wand sie sich in Krämpfen wie eine Christin der ursprünglichen Kirche, welche die Erbsünde zu Boden drückte, sobald ihr das Übernatürliche nicht mehr beistand. In dem Todesschweigen ihres Zufluchtswinkels hörte sie die Erbsünde auferstehen und heulend über ihre Erziehung triumphieren. Wenn innerhalb zwei Minuten ihr von unbekannten Gewalten kein Helfer erschien, wenn die Dinge um sie her nicht zu neuem Leben erwachten und sie unterstützten, mußte sie ganz gewiß unterliegen und in ihr Verderben gehen. »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Sie lag auf den Knien in ihrem Bette, so klein, so zart und fühlte den Tod nahen.

Bisher hatte sie jedesmal in der letzten Minute der Verzweiflung noch immer eine Kühle erquickt. Es war die Gnade, die mitleidsvoll bei ihr Einzug hielt und ihr ihren Wahn wiedergab. Sie sprang mit nackten Füßen auf die Diele ihres Zimmers und lief geschwind zum großen Fenster. Dort hörte sie von neuem die Stimmen, die unsichtbaren Flügel streiften ihre Haare. Das Volk der Legende trat aus den Bäumen und Steinen und umgab sie in Scharen. Ihre Reinheit, ihre Güte, alles was von ihr in jenen Dingen lebte, kam wieder zum Vorschein und rettete sie. Dann verspürte sie keine Furcht mehr, sie fühlte sich geborgen, Agnes war wieder bei ihr, und die anderen Jungfrauen schwebten milden Antlitzes in den erschauernden Lüften umher. Von fern her kam ihr diese Ermutigung, ein langanhaltendes Gemurmel des Sieges mischte sich in den nächtlichen Wind. Eine Stunde hindurch atmete sie diese beruhigende Milde ein; zu Tode betrübt war sie entschlossen, lieber zu sterben als ihrem Schwur untreu zu werden. Endlich legte sie sich gebrochen nieder, sie schlief ein mit der Furcht vor dem Anfall des folgenden Tages und von dem Gedanken gequält, daß sie schließlich doch unterliegen müsse, wenn ihre Schwäche mit jedem Anfalle zunehme.

Seit Angelika sich nicht mehr von Felix geliebt glaubte, brachte in der Tat eine große Mattigkeit ihre Kräfte zum Sinken. Sie fühlte die Wunde in der Brust, die sie mit jeder Stunde stumm und ohne Klage dem Tode näherbrachte. Zuerst hatte sich die Krankheit durch Müdigkeit offenbart, dann ergriff sie Atemnot, sie mußte die Nadel fallen lassen und eine Minute mit erloschenen Augensternen ins Leere starren. Sie hörte auf zu essen und nahm kaum einige Schluck Milch zu sich. Sie versteckte ihr Brot und warf es den Hühnern in der Nachbarschaft vor, um ihre Eltern nicht zu beunruhigen. Ein herbeigerufener Arzt hatte nichts gefunden, er legte die Schuld an dem Übel ihrem allzu klösterlichen Leben bei und empfahl Bewegung. Ihr ganzes Wesen, drückte eine unbezwingbare Ohnmacht nieder, es war ein langsames Hinschwinden. Ihr Körper schwankte wie von zwei großen Flügeln getragen, von ihrem Antlitz ging ein Licht aus, in dem sich ihre Seele verzehrte. Es kam so weit, daß sie sich mit beiden Händen an den Wänden des Treppenflurs halten mußte, wenn sie ihr Zimmer verlassen wollte. Aber sie nahm sich zusammen und tat mutig, wenn sie sich beobachtet fühlte, sie wollte sogar die schwierige Stickerei für den Bischofsstuhl Hochwürdens vollenden. Ihre schmalen Hände aber hatten nicht mehr die Kraft hierzu, und wenn eine Nadel abbrach, konnte sie sie selbst nicht mehr mit der Zange herausziehen.

Eines Morgens mußten Hubert und Hubertine notwendigerweise ausgehen und ließen Angelika allein bei ihrer Arbeit. Als der Sticker heimkehrte, fand er sie ohnmächtig auf der Diele vor dem Rahmen liegen, sie war vom Stuhle zu Boden geglitten. Sie war der Arbeit nicht mehr gewachsen, einer der großen goldenen Engel blieb unvollendet. Erschreckt nahm Hubert sie in seine Arme und mühte sich, sie aufzurichten. Aber sie fiel zurück und erwachte nicht aus ihrer Ohnmacht.

Mein Kind, mein Kind ... Antworte mir um Himmels willen ...

Endlich schlug sie die Augen auf und starrte ihn mit trostlosen Blicken an. Warum rief er sie zum Leben zurück? Sie fühlte sich im Tode so glücklich!

Was ist dir, Herzblättchen, du hast uns getäuscht, du liebst ihn noch immer?

Sie antwortete nicht, sie sah ihn nur an mit dem Ausdrucke unendlicher Traurigkeit. Mit der Kraft der Verzweiflung hob Hubert sie auf und trug sie auf ihr Zimmer. Als er sie so schwach und bleich auf ihr Bett gelegt hatte, weinte er ob des grausamen Amtes, das er auf sich genommen hatte, sie fern zu halten von dem, den sie liebte.

Ich würde ihn dir ja gern gegeben haben! Warum hast du mir nichts gesagt?

Aber sie sprach nicht, ihre Augenlider schlossen sich, sie schien einzuschlummern. Er war vor ihr stehen geblieben, seine Augen ruhten auf dem schmalen Liliengesicht, sein Herz blutete vor Mitleid. Als sie sanft atmete, stieg er hinunter, er hörte seine Frau kommen.

Unten in der Arbeitsstube kam es zu einer Erklärung. Hubertine legte gerade ihren Hut ab. Er erzählte ihr unverzüglich, daß er das Kind vom Boden aufgenommen habe, und daß es auf dem Bette in einem todesähnlichen Schlummer liege.

Wir haben uns getäuscht. Sie denkt noch immer an den jungen Menschen und wird daran sterben ... Wenn du wüßtest, wie mich das getroffen hat, und wie sehr mich Gewissensbisse quälen, seit ich begriffen und sie in so bejammernswertem Zustande nach oben getragen habe! Wir tragen die Schuld, wir haben sie durch Lügen getrennt ... Du ließest sie ruhig leiden und sagtest nichts, um sie zu retten?

Hubertine schwieg wie Angelika und sah ihn bleich vor Kummer in ihrer verständig klugen Weise an. Er, der Leidenschaftliche, den dieses Liebesleid ganz und gar aus seiner gewöhnlichen Unterwürfigkeit riß, beruhigte sich nicht und wirtschaftete mit seinen Händen fieberhaft umher.

Gut, ich werde sprechen und ihr sagen, daß Felix sie liebt, und daß wir es gewesen sind, die sein Kommen hintertrieben, daß wir auch ihn getäuscht ... Jede ihrer Tränen brennt mir jetzt auf dem Herzen. Ich komme mir wie ein Mitschuldiger an einem Morde vor. Ich will sie glücklich sehen, gleichviel durch welche Mittel ...

Er hatte sich seiner Frau genähert, sein empörtes Zartgefühl schrie laut auf, noch mehr aber machte ihn das traurige Schweigen irre, das jene bewahrte.

Wenn sie sich lieben, so sind sie ihre eigenen Herren ... Es gibt eben nichts Höheres, als wenn man liebt und geliebt wird ... Ja, das Glück hat seine Berechtigung, gleichviel wie ...

Endlich sprach Hubertine in ihrer langsamen Art; unbeweglich stand sie vor ihm.

Damit er sie uns nimmt, nicht wahr, gegen unseren und seines Vaters Willen? ... Das rätst du ihnen, du glaubst, daß sie dann glücklich sein werden, daß die Liebe genügen wird ...

Ohne Übergang fuhr sie mit derselben herzzerreißenden Stimme fort:

Als ich auf dem Rückwege am Kirchhofe vorüberging, ließ mich ein Gefühl der Hoffnung dort eintreten ... Ich bin wieder einmal niedergekniet an jenem Platze, den unsere Knie bereits abgenutzt haben, und habe lange gebetet ...

Hubert war erbleicht, eine starke Abkühlung verjagte sein Fieber. Ja, er kannte dieses Grab der hartnäckigen Mutter. Früher waren sie dorthin gegangen, hatten dort geweint, sich gemeinsam gedemütigt und sich des Ungehorsams beschuldigt, damit die Tote aus dem Grunde ihrer Gruft ihnen verzeihe. Stundenlang hatten sie dort geweilt in der Gewißheit, daß sie diese Vergebung innerlich fühlen würden, wenn sie jemals überhaupt ihnen zuteil werden sollte. Was sie verlangten, was sie erwarteten, war ein zweites Kind, ein Kind der Verzeihung, das einzige Zeichen, an dem sie die Vergebung erkannt haben würden. Aber es war nichts eingetreten, die kalte, taube Mutter ließ unerbittlich die Strafe und den Tod des ersten Kindes auf ihnen ruhen, das sie genommen, und dessen Rückgabe sie verweigerte.

Ich habe lange gebetet, wiederholte Hubertine, und gehorcht, ob sich nichts bewege ...

Huberts Blick ruhte mit banger Frage auf ihr.

Nichts, nichts stieg aus der Erde auf, nichts erbebte in mir. Vorbei, es ist zu spät, wir haben unser Unglück gewollt.

Du beschuldigst mich? fragte er zitternd.

Ja, du bist der Schuldige, auch ich beging einen Fehltritt, indem ich dir folgte ... Wir waren ungehorsam, unser ganzes Leben hat dafür büßen müssen.

Du bist also nicht glücklich?

Nein, ich bin nicht glücklich ... Eine kinderlose Frau ist nicht glücklich ... Lieben allein ist nichts wert, die Liebe muß auch gesegnet sein.

Er war kraftlos auf einen Stuhl gesunken, dicke Tränen standen ihm in den Augen. Noch nie hatte sie ihm die offene Wunde ihres Daseins so vorgehalten; und sie, die sich sonst beeilt hatte, ihn zu trösten, wenn sie ihm mit einem unwilligen Tadel zu nahe getreten war, sie stand diesmal regungslos vor ihm und tat keinen Schritt ihm entgegen. Er weinte und rief inmitten seiner Tränen:

Auch das teure Kind dort oben verdammst du ... Du willst nicht, daß er sie heirate, wie ich dich geheiratet habe, daß sie leide, wie du gelitten hast ...

Sie antwortete mit einem bloßen Nicken ihres Kopfes, aber darin drückte sich die ganze Willenskraft und Schlichtheit ihres Herzens aus.

Aber du sagtest doch selbst, daß das liebe Mädchen dann sterben werde ... Wünschest du seinen Tod?

Ja, eher den Tod als ein elendes Dasein.

Hubert hatte sich erhoben und flüchtete zusammenschauernd in ihre Arme. Beide schluchzten. Lange hielten sie sich eng umschlungen. Er war überzeugt, und sie mußte sich jetzt auf seine Schulter stützen, um ihren Mut zu sammeln. Sie gingen aus der Umarmung mit Verzweiflung im Herzen, aber entschlossen hervor. Wenn Gott es wollte, dann wollten sie sich in den Tod des Kindes fügen.

Angelika konnte von diesem Tage an ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Ihre Schwäche wurde so groß, daß sie nicht mehr in die Arbeitsstube hinuntersteigen konnte; versuchte sie es, dann drehte sich ihr der Kopf, und ihre Beine trugen sie nicht. In den ersten Tagen konnte sie noch bis zum Balkon gehen, wenn sie sich an den Möbeln festhielt; später mußte sie sich mit einem Gange vom Bett bis zum Sessel begnügen. Das war schon ein weiter Weg, und sie getraute sich nur zweimal am Tage, am Morgen und am Abend ihn zu machen, wobei ihr bereits der Atem ausging. Trotzdem arbeitete sie noch immer. Die erhabene Stickereiarbeit allerdings hatte sie aufgegeben, da sie sie zu sehr mitnahm, dagegen stickte sie Blumen mit schattierter Seide. Sie arbeitete sie nach der Natur, nach einem Strauß geruchloser Blumen, die sie nicht aufregten, Hortensien und Malven. Die Blumen standen in einer Vase; oft ließ sie minutenlang die Arbeit ruhen, denn die Seide, so leicht sie war, wog schwer in ihren Fingern. In zwei Tagen brachte sie nur eine Rose zustande, die auf dem Atlas in frischer Blüte schimmerte. Das Sticken war ihr Leben, bis zum letzten Atemzuge wollte sie die Nadel in der Hand haben. Sie schwand in ihrem Leiden dahin, ihr Leben war nur noch eine reine und schöne Flamme.

Wozu sollte sie auch noch kämpfen, da Felix sie nicht mehr liebte? Jetzt starb sie an dieser Überzeugung: er liebte sie nicht, vielleicht hatte er sie nie geliebt. Solange sie noch die Kraft in sich gefühlt, hatte sie gegen ihr Herz, gegen ihre Gesundheit, ihre Jugend, die sie zur Wiedereinigung mit ihm drängten, angekämpft. Seit sie sich an ihr Zimmer gefesselt wußte, mußte sie verzichten, es war alles vorbei.

Als Hubert sie eines Morgens auf ihren Sessel niedersetzte und ihr ein Kissen unter die kleinen, gelähmten Füße schob, sagte sie lächelnd:

Jetzt bin ich gewiß vernünftig und werde nicht davonlaufen.

Hubert mußte sich beeilen, das Zimmer zu verlassen, denn er fürchtete, in Tränen auszubrechen, so wallte es in ihm auf.


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