Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Trotz ihrer lauten Fröhlichkeit liebte Angelika die Einsamkeit sehr und befand sich mit dem freudigen Empfinden wirklicher Erholung des Morgens und des Abends allein in ihrem Zimmer: dort ließ sie sich völlig gehen, dort kostete sie nach Gefallen den kühnen Flug ihrer Träumereien. Wenn sie im Laufe des Tages einen Augenblick in ihr Zimmer hinauflaufen konnte, fühlte sie sich wie auf einer Flucht glücklich in völliger Freiheit.

Das sehr große Zimmer nahm eine ganze Hälfte des Giebels ein, dessen andere Teile der Boden füllte. Die Mauern und die Balkenlage bis auf die offen liegenden Dachsparren der Mansardenteile waren weiß getüncht. Inmitten dieser weißen Kahlheit erschienen selbst die alten eichenen Möbel schwarz. Seitdem man den Salon und das Schlafzimmer im unteren Stock verschönert hatte, war dort oben die altertümliche, aus allen Zeitaltern stammende Ausstattung aufgestapelt worden. Eine Truhe stammte aus der Zeit der Renaissance, Tische und Stühle aus der Zeit Ludwigs XIII., ein übergroßes Bett aus der Zeit Ludwigs XIV. und ein sehr schöner Schrank aus der Zeit Ludwigs XV. Nur das Geschirr aus weißem Porzellan und die Toilette, ein kleiner mit Wachstuch überzogener Tisch, hoben sich von diesen ehrwürdigen Altertümern ab. Umhüllt von einer alten rosa Gardine mit Haidekrautsträußchen, die so ausgebleicht war, daß man das verblaßte Rosa nur noch knapp ahnte, bewahrte vor allem das Bett die Würde seines hohen Alters.

Angelikas Liebe aber bildete der Balkon, auf den das eine Fenster führte. Von den früheren zwei Fenstern, die das Zimmer besaß, war das linker Hand vernagelt worden, und der Balkon, der einst an der ganzen Vorderseite entlanglief, war nur noch vor dem Fenster rechts vorhanden. Da die unteren Balken noch gut erhalten waren, hatte man einen Fußboden darüber gelegt und darauf ein eisernes Geländer an Stelle der ehemaligen, morsch gewordenen Brüstung errichtet. Ein reizendes Plätzchen, eine Art Nische, war es da unter der Giebelspitze, die in diesem Jahrhundert erneute Bohlen abschlossen. Wenn man sich hinüberbeugte, überblickte man die ganze, hier sehr hinfällige Seite des Hauses, die dem Garten zugekehrt war, mit ihrer Grundmauer von kleingeklopften Steinen, ihrem Holzgetäfel und dessen Füllmaterial von Ziegeln, mit ihren großen, heute verkleinerten Fensteröffnungen. Unten die Küchentür war mit einem Schutzdache aus Zinkbelag versehen. Oben waren die über einen Meter hinausragenden Schwellen des Daches durch Dachstuhlsäulen gestützt worden, deren Fuß auf den Balken des Erdgeschosses ruhte. Auf diese Weise lag der Balkon in einen ganzen Wald von Zimmergebälk gebettet, das Nelken und Moos umgrünten.

Seit Angelika das Zimmer bewohnte, hatte sie viele Stunden an die Brüstung gelehnt, dort verbracht. Zunächst öffnete sich unter ihr die Tiefe des Gartens, den dichter Buchsbaum mit seinem ewigen Grün beschattete; in dem der Kirche zunächst gelegenen Winkel schloß ein Rundteil armseliger Lilien eine alte Bank aus Granit ein; in der andern Ecke, halb verborgen unter dem Epheumantel, der die ganze Hintermauer überspannte, befand sich eine kleine Tür.

Sie führte auf das Marienfeld, ein großes, unbebaut gelassenes Stück Land. Dieses Marienfeld war der einstige Obstgarten der Mönche. Ein munter fließender Bach, die Chevrotte, durchströmte es; dort durften die Hausfrauen der benachbarten Häuser ihr Leinen waschen; Armenfamilien verkrochen sich in die Trümmer einer ehemaligen Mühle, die eingestürzt war; niemand sonst bewohnte das Feld, zu dem nur das Guerdaches-Gäßchen von der Magloire-Straße aus an den hohen Mauern des Bischofssitzes und des Hauses Voincourt vorüberführte. Im Sommer begrenzten die hundertjährigen Ulmen der beiden Parke mit ihren Blätterdächern die kurze Fernsicht, die gegen Süden das Riesendach der Kirche abschloß. Eingeschlossen auf allen Seiten, ruhte das Marienfeld, von wildwuchernden Kräutern bedeckt und mit Pappeln und Weiden bestellt, zu denen der Wind den Samen herbeigetragen hatte, im Frieden seiner Einsamkeit. Über die groben Kiesel hinweg hüpfte und sang die Chevrotte ihre ewige, kristallene Weise.

Nie fühlte sich Angelika dieses verlorenen Winkels überdrüssig, trotzdem sie sieben Jahre hindurch an jedem Morgen dasselbe Schauspiel vorfand, das sie am Abend vorher schon betrachtet hatte. Die Bäume des Hauses Voincourt, dessen Vorderseite auf die Große Straße hinausführte, standen so dicht, daß Angelika nur im Winter die Tochter der Gräfin erkennen konnte. Diese, Klara mit Namen, war ein Kind in ihrem Alter. Im bischöflichen Garten standen die Zweige noch dichter, vergebens hatte sich Angelika bemüht, Hochwürdens violette Sutane zu erkennen. Das alte, mit Läden bedeckte Gitter, das auf das Feld hinausführte, mußte schon seit langer Zeit verschlossen sein; denn sie erinnerte sich nicht, es jemals offen gesehen zu haben, um einem Gärtner Durchlaß zu gewähren. Außer den Hausfrauen, die ihr Leinen bearbeiteten, bemerkte sie stets nur kleine zerlumpte Kinder der Armen, die sich dort im Grase wälzten.

Der Frühling war in diesem Jahre von wunderbarer Milde. Angelika zählte jetzt 18 Jahre, und ihre Blicke hatten sich bisher nur an dem Ergrünen des Marienfeldes unter den Strahlen der Aprilsonne erfreut. Das Knospen der zarten Blätter, die Durchsichtigkeit der warmen Abende, der Frühling der Erde mit seinem ganzen Dufte hatte sie erbaut. In diesem Jahre aber hatte angesichts der ersten Knospen ihr Herz zu schlagen begonnen. Seitdem die Gräser sproßten und der Wind den würzigen Geruch des Grünen zu ihr hinübertrug, wallte es in ihr mächtig auf. Plötzliches Angstgefühl, ohne Ursache entstanden, drückte ihr die Kehle zusammen. Eines Abends warf sie sich weinend Hubertine in die Arme; sie quälte durchaus kein Kummer, im Gegenteil, sie fühlte sich glücklich, sie verspürte ein Gefühl so innigen, unbekannten Glückes, daß sie ihr ganzes Wesen dahinein hätte ausströmen mögen. In der Nacht erlebte sie entzückende Träume, sie sah Schatten vorübergleiten und schwand in so großer Seligkeit dahin, daß sie beim Erwachen, verwirrt von so vielem Glück, das die Engel bescherten, kaum sich des Geträumten zu erinnern wagte. Häufig fuhr sie aus der Tiefe ihres großen Bettes jäh empor, ihre eng verschlungenen Hände preßten sich dann an die Brust. Sie mußte mit nackten Füßen auf die Diele springen, um Atem zu schöpfen; damit noch nicht genug, eilte sie zum Fenster, öffnete es und verharrte dort, zusammenschauernd und ganz außer sich in dem Bade frischer Luft, das sie beruhigte. Sie kam aus dem Zustande der Verwunderung nicht heraus; sie war überrascht, sich nicht wiederzuerkennen, sich größer geworden zu sehen in Freuden und Schmerzen, die sie bisher nicht gekannt hatte: sie fühlte eben das bezaubernde Erblühen des Weibes.

Atmeten denn wirklich die unsichtbaren Lilien und Kleeblüten des bischöflichen Gartens einen so süßen Duft aus, daß sie ihn nicht mehr einsaugen konnte, ohne daß eine rosige Flut in ihre Wangen stieg? Noch nie hatte sie diesen wohligen Geruch zu verspüren gemeint, der jetzt ihren Atem beschleunigte. Hatte sie denn in den vergangenen Jahren nie die große Paulownia in ihrer Blütenfülle bemerkt, deren mächtiges, veilchenblaues Beet zwischen den Ulmen des Gartens der Voincourt auftauchte? Wenn sie in diesem Jahre die Blumen betrachtete, feuchtete eine innerliche Bewegung ihre Augen, so sehr ging ihr dieses ausgeblaßte Blau zu Herzen. Sie erinnerte sich sogar, noch nie die Chevrotte über ihre Kieseln zwischen den Binsen ihrer Ufer so laut plaudern gehört zu haben. Ganz gewiß, der Bach sprach, sie hörte ihn unbestimmte Worte sagen, immer dieselben, das verwirrte sie. Lag denn dort nicht mehr das wohlbekannte Feld, daß alles sie staunen ließ und neue Gefühle in ihr wachrief? Oder hatte sie sich geändert, und fühlte, sah und hörte sie dort neues Leben sprießen?

Die Kathedrale zu ihrer Rechten, diese wuchtige, zum Himmel strebende Masse, überraschte sie noch mehr. An jedem Morgen bildete sie sich ein, daß sie sie zum ersten Male sehe, und diese Entdeckung bewegte sie tief; sie begriff, daß das alte Gemäuer lebte und dachte wie sie. Es war durch nichts begründet, Angelika ging jedes Wissen ab, und dennoch fühlte sie sich dem geheimnisvollen Leben der Riesin verwandt, deren Entstehen drei Jahrhunderte gedauert hatte, und in welcher der Glaube von Geschlechtern sich auftürmte. Unten lag die Kirche auf den Knien, wie im Gebet gebeugt mit ihren romantischen Kapellen der Umwandung, ihren nackten Vollbogenfenstern, deren einzigen Schmuck die dünnen Säulchen unter dem Schwibbogengesims bildeten. Weiter oben stand sie aufrecht, Gesicht und Arme dem Himmel zugekehrt, mit den nach innen gewölbten Fenstern des Schiffes, die 80 Jahre später gebaut waren, den hohen, leichten, kreuzförmig geteilten Fenstern mit ihren durchbrochenen Bogen und Rosetten. Immer weiter strebte sie entzückt und geraden Weges vom Erdboden empor mit ihren Gegen- und Strebepfeilern des Chores, die zwei Jahrhunderte später ausgebaut und verziert mit ihren Glöckchen, Pyramiden und Spitzen im Vollwerte der Gothik schimmerten. Traufröhren leiteten am Fuße der Strebepfeiler das Wasser von den Bedachungen ab. Eine mit Geißblatt umrankte Brustwehr grenzte die Terrasse über den Kapellen der Apsis ein. Die Spitze zeigte gleichfalls Blumenschmuck. Das ganze Gebäude blühte, je mehr es sich dem Himmel näherte, in ununterbrochener Verjüngung auf; befreit von den Schrecknissen mittelalterlicher Priesterherrschaft warf es sich an den Busen des Gottes der Vergebung und der Liebe. Es hatte gleichsam dieses leibliche Gefühl, es dünkte sich frei und glücklich, als habe es einen Kirchengesang angestimmt, rein und fein in der stattlichen Höhe sich verlierend.

Im übrigen lebte die Kathedrale wirklich. Hunderte von Schwalben hatten ihre Nester unter den Kranz von Geißblatt geklebt, ja selbst in die Ausbuchtungen der Glöcklein und Spitzen. Ihr Flug führte unaufhörlich um die von ihnen bewohnten Strebe- und Sperrpfeiler herum. Auch die Holztauben der Ulmen im bischöflichen Garten drängten sich mit langsamen Schritten nach Art von Spaziergängern an den Rand der Terrassen, öfter putzte sich ein Rabe, verloren im Blauen und kaum so groß wie eine Fliege, auf der Spitze eines Türmchens das Gefieder. Eine ganze Welt von Pflanzen, Flechten, Grasarten sprossen aus den Spalten der Mauern und hauchte dem alten Gestein durch die geheime Arbeit ihres Wachstums Leben ein. An den Regentagen erwachte die ganze Apsis und grollte unter dem Geräusche des auf die Bleilagen des Daches herniederprasselnden Regens, der sich durch die Rinnen der Galerien von Stockwerk zu Stockwerk mit dem Lärm eines entfesselten Stromes ergoß. Selbst die schreckliche Windsbraut der Monate Oktober und März belebte die Kathedrale und verlieh ihr eine Stimme des Zornes und der Klage, wenn sie durch ihren Wald von Giebeln und Bögen, von Rosetten und kleinen Säulen pfiff. Schließlich ließ auch die Sonne im Spiele ihres Lichtes sie aufleben vom frühen Morgen an, wenn sie die Kirche in goldiger Herrlichkeit verjüngt erscheinen ließ, bis zum Abend, wenn sie mit den langsam sich verlängernden Schatten sie in die Welt des Unbekannten tauchte. Ihr inneres Leben, den Pulsschlag ihrer Adern bildeten die kirchlichen Feiern, von denen sie durch und durch erzitterte, mit dem Gesumme der Glocken, der Musik der Orgel und dem Gesänge der Priester. Ein stetes Leben durchbebte sie: verlorene Geräusche, das Gemurmel einer stillen Messe, das leichte Niederknien eines Weibes, ein kaum geahntes Leben, ja selbst der demütige Hauch eines Gebetes, das ohne Worte mit geschlossenem Munde ausgesprochen wurde.

Jetzt, da die Tage länger wurden, hockte Angelika am Morgen wie am Abend lange auf dem Balkon an der Seite ihrer großen Freundin, der Kathedrale. Am besten gefiel sie ihr des Abends, wenn sie nur die ungeheure Masse als ein einziges Ganzes und Großes vom gestirnten Himmel sich abheben sah. Die Einzelheiten verloren sich, sie unterschied kaum noch die Strebepfeiler, die wie Brücken über die Leere geschlagen schienen. Sie fühlte, daß die Kirche in der Dunkelheit erwachte aus der Träumerei von sieben Jahrhunderten, groß durch die Massen, die vor ihren Altären in Hoffnung und Leid niedergekniet waren. Von dem Unerklärlichen der Vergangenheit hinüber zu der Unendlichkeit der Zukunft hielt sie die Wache, die geheimnisvolle und drohende Wache des Hauses, wo Gott nie schlafen konnte. In der düstern, unbeweglichen und doch lebendigen Masse suchten ihre Blicke immer wieder das Fenster einer Kapelle im Chor in gleicher Höhe mit den Gebüschen des Marienfeldes auf, das einzige, das sich erhellte und gleichsam ein offenes Auge für die Nacht hatte. Hinter den Scheiben in dem Winkel eines Pfeilers brannte eine Altarlampe. Diese Kapelle war gerade die, welche die Äbte einst Johann V. und seinen Nachkommen als Grabstätte eingeräumt hatten aus Erkenntlichkeit für ihre Freigebigkeit. Sie war dem heiligen Georg geweiht und zeigte ein Kirchenfenster aus dem zwölften Jahrhundert, auf das die Geschichte dieses Heiligen gemalt war. Wenn es dämmerte, trat diese Legende aus dem Schatten heraus, strahlend wie eine Erscheinung. Aus diesem Grunde liebte Angelika das Fenster und schaute es immer wieder mit entzückten und träumerischen Blicken an.

Der Grund des Fensters war blau, die Einfassung rot. Von diesem Untergründe düsteren Reichtums hoben sich in lebhaften Farben die Persönlichkeiten ab, deren fliegende Gewänder die nackten Körper zeigten; ein jeder Teil bestand aus bemalten, schwarz beschattetem Glas und war einzeln in Blei gefaßt. Drei Abschnitte aus der Legende nahmen in drei Feldern das Fenster bis zum Schwibbogengesims ein. Auf der untersten Darstellung begegnet die in königlichen Gewändern die Stadt verlassende Tochter des Königs auf dem Wege zum Ungeheuer, das sie fressen sollte, dem heiligen Georg nahe dem Weiher, aus dem schon der Kopf des Drachen auftauchte. Ein Wimpel trug die Inschrift: »Guter Ritter, gehe nicht für mich in den Tod, denn du würdest mir weder helfen noch mich befreien können, sondern mit mir umkommen«. Das mittlere Feld zeigt den Kampf, der was folgender Satz erklärt: »Georg schwang seine Lanze so, daß er den Drachen verwundete und ihn zu Boden warf«. Oben endlich führte die Königstochter das besiegte Ungeheuer in die Stadt. »Georg sagte: Wirf ihm deinen Gürtel um den Hals und fürchte nichts, schönes Mädchen.« Als das geschehen war, folgte der Drache wie ein ganz sanftmütiger Hund. Als seinerzeit das Glasgemälde fertiggestellt wurde, war es jedenfalls in der Mitte des Bogens von einem Zierschmuck gekrönt gewesen. Als jedoch später die Kapelle denen von Hautecoeur zugesprochen wurde, brachten sie an seiner Stelle ihr Wappen an. Deshalb flammte während der dunklen Nächte oberhalb der Legende dieses schimmernde Wappen neueren Datums auf. Das Wappenschild war in vier Felder eingeteilt. Das erste und vierte Feld zeigten die Abzeichen Jerusalems, das zweite und dritte die von Hautecoeur. Das Wappen Jerusalems ist das brückenförmige Kreuz von Gold in silbernem Felde, die vier Winkel des Kreuzes sind von je einem kleinen Kreuz ausgefüllt; das Wappen von Hautecoeur zeigt im blauen Felde eine goldene Festung und im schwarzen Schilde ein vertieftes silbernes Herz, das Ganze fassen drei Lilien ein, zwei zu oberst und eine am unteren Rande. Der Schild wird zur Rechten und zur Linken von zwei goldenen Greifen gehalten und von einem silbernen, mit Gold ausgelegten Helm in blauem Federschmuck gekrönt; der Helm liegt vornüber, und das geschlossene Visier zählt elf Stäbe, das Abzeichen also der Herzöge, Marschälle von Frankreich, Standesherren und Häupter von gebietenden Genossenschaften. Als Wahlspruch: »Wenn Gott will, will ich«.

Angesichts der Darstellung, wie der heilige Georg den Drachen mit der Lanze durchbohrt, während die Königstochter die verschlungenen Hände emporstreckt, hatte Angelika nach und nach für den Ritter eine Leidenschaft gefaßt. In dieser Entfernung unterschied sie die Figuren nur ungenau, doch sah sie genauer, wenn Träume sie in vergrößertem Maßstabe vor ihr entstehen ließen: das Mädchen schlank und blond mit ihrem eigenen Gesicht, der Heilige mit klaren, stolzen Zügen von der Schönheit eines Erzengels. Sie selbst war es, die er befreite, und die ihm aus Dankbarkeit die Hände geküßt haben würde. In dieses Abenteuer, von dem sie wirres Zeug träumte, so ein Zusammentreffen am Ufer eines Sees, eine Gefahr, aus der sie ein junger Mann, viel schöner als der Tag, errettete, mischte sich die Erinnerung an ihren Spaziergang nach Schloß Hautecoeur, die geisterhafte Erscheinung bei der in den Himmel ragenden, von den früheren hohen Herren bewohnten Warte. Das Wappen leuchtete wie ein Stern in der Sommernacht, sie kannte es wohl und las geläufig die kräftig klingenden Worte, denn sie stickte häufig Wappenschilder. Johann V. ging von Tür zu Tür in der von der Pest verwüsteten Stadt, um den Kranken das Gesicht zu küssen und sie mit den Worten zu heilen: »Wenn Gott will, will ich«. Als Felician III. hörte, daß Krankheit Philipp den Schönen von dem Zuge nach Palästina zurückhielt, pilgerte er für ihn bloßen Fußes mit einer Kerze in der Hand dorthin. Aus diesem Grunde hatte er dem Wappen von Jerusalem einen Platz in seinem Wappenschilde eingeräumt. Noch andere Geschichten wurden wieder in ihr wach, namentlich die der Damen von Hautecoeur, der glücklichen Toten, wie sie die Sage nannte. Die Frauen dieser Familie pflegten nämlich schon im jugendlichen Alter mitten im Glück zu sterben. Zwei, drei Geschlechter blieben mitunter von diesem Unglück verschont, dann aber kam der Tod lächelnd mit sanftem Händedruck wieder und entführte die Frau oder die Tochter eines Hautecoeur, wenn sie höchstens 20 Jahre alt waren, gerade wenn ihnen ein großes Glück in der Liebe erblühte. Laurette, die Tochter Raouls I., glaubte, als sie am Abend ihres Verlobungstages an ihrem Fenster im Davidsturme ihren Bräutigam und Vetter Richard am Fenster des Turmes Karls des Großen bemerkte, daß dieser sie rufe, und da gerade ein Strahl des Mondes eine Brücke zwischen den beiden Türmen schlug, eilte sie zu ihm. Sie hatte gerade den Weg zur Hälfte durchmessen, als sie in ihrer Hast einen Fehltritt machte, herunterstürzte und am Fuße der Mauer zerschmetterte. Seit jener Zeit fliegt sie allnächtlich, wenn der Mond klar herniederscheint, um das Schloß, welches das lautlose Streifen ihres weiten Gewandes in weißen Schimmer taucht. Balbine, die Frau Herberts VII., glaubte sechs Monate hindurch ihren Mann im Kriege gefallen. Als sie eines Morgens auf der Zinne des Wachtturmes, wie immer auf ihn harrte, erkannte sie ihn auf der zum Schlosse führenden Straße; sie eilte atemlos vor Freude hinunter und stürzte auf der letzten Stufe der Treppe tot zusammen. Noch heutigen Tages steigt sie, wenn die Dämmerung hereinbricht, von Stockwerk zu Stockwerk hernieder, man sieht sie durch die Gänge und Kammern schlüpfen und wie einen Schatten hinter den über die Tiefe gähnenden Fenstern vorübergleiten. Sie alle kehrten wieder, die Ysabeau, Gudula, Yvonne und Austrabertha, alle die glücklichen Toten, die Geliebten des Todes; denn, indem er sie im jugendlichen Alter in der Seligkeit des ersten Glückes auf seinen Fittichen entführte, hatte er ihnen die Enttäuschungen des Lebens erspart. In manchen Nächten erfüllte ihr weißer Flug das Schloß wie eine Schar Tauben. So erging es fast allen, selbst noch der Mutter des Sohnes von Hochwürden, die man vor der Wiege ihres Sohnes leblos am Boden liegend fand. Selber krank hatte sie sich zu ihrem Kinde geschleppt, und die Freude, es umarmen zu können, tötete sie. Diese Geschichten quälten die Einbildungskraft Angelikas; sie sprach davon wie von feststehenden Tatsachen, die erst gestern geschehen waren; sie hatte die Namen der Laurette und Balbine auf den alten, in die Mauer der Kapelle eingelassenen Grabsteinen gelesen. Warum starb nicht auch sie so jung und glücklich. Das Wappen blitzte, der Heilige stieg aus seinem Gemälde heraus, und sie lebte, von dem schwachen Hauche eines Kusses entzückt, beseligt in ihrem Himmel.

Die Legende hatte es sie gelehrt: bildet das Wunder nicht die allgemeine Regel, den gewöhnlichen Gang aller Dinge? Es lebt leibhaftig und ununterbrochen, es vollzieht sich mit äußerster Leichtigkeit und bei jeder Gelegenheit, vervielfältigt sich, breitet sich aus und überschreitet die Grenzen, selbst unnötigerweise, nur aus dem reinen Vergnügen, die Naturgesetze zu verleugnen. Man lebt mit Gott auf vertrautem Fuße. Abagar, König von Edessa, schreibt an Jesus, und dieser antwortet ihm. Ignatius empfängt Briefe von der Jungfrau Maria. Allerorten erscheinen Mutter und Sohn, verwandeln sich und plaudern frohgelaunt und gutmütig. Als Stephan ihnen begegnet, ist er mit ihnen ganz vertraut. Alle Jungfrauen heiraten Jesus, die Märtyrer steigen zum Himmel auf, um sich mit Maria zu vereinigen. Die Engel und die Heiligen sind die alltäglichen Begleiter der Menschen, sie gehen, kommen, schlüpfen durch die Mauern, zeigen sich im Traume, sprechen aus den Wolken heraus, sind bei der Geburt und beim Tode zugegen, lindern die Todespein, erschließen die Kerker, bringen Antworten und führen Besorgungen aus. Ihren Schritten folgt ein unerschöpfliches Aufblühen von Wundern. Silvester bindet das Maul eines Drachen mit einem Faden. Die Erde hebt sich, um Hilarius, den seine Gefährden erniedrigen wollen, als Sitz zu dienen. Ein kostbarer Stein fällt in den Becher des heiligen Martin, ein Hund läßt einen Hasen laufen, ein Feuer hört zu brennen auf, wenn er es befiehlt. Maria, die Ägypterin, schreitet über die Wogen, und Bienen entschlüpfen dem Munde des Ambrosius bei dessen Geburt. Unentwegt heilen die Heiligen die Kranken, den Aussatz und namentlich die Pest. Nicht eine einzige Krankheit leistet dem Zeichen des Kreuzes Widerstand. Die Schwachen und Leidenden werden aus der Menge ausgesondert und durch einen Blitzstrahl in Masse geheilt. Der Tod ist besiegt, die Auferstehungen sind so zahlreich, daß sie zu den täglich wiederkehrenden Ereignissen gehören. Wenn selbst die Heiligen ihren Geist aufgegeben haben, hören die Wunder doch nicht auf, sondern verdoppeln sich; sie gleichen lebendigen, aus ihren Grabhügeln sprießenden Blumen. Zwei Ölquellen, ein königliches Heilmittel, quellen aus den Füßen und dem Kopfe des Nikolaus. Ein Duft von Rosen entströmt dem Sarge der Cäcilia bei seiner Eröffnung. Der Sarg Dorotheas ist voller Manna. Sämtliche Gebeine der Jungfrauen und Märtyrer verrichten Wunder, entlarven die Lügner, zwingen die Diebe zur Rückgabe ihres Raubes, erhören die Wünsche kinderloser Frauen und geben den Sterbenden die Gesundheit wieder. Nichts ist mehr unmöglich, das Unsichtbare regiert, als einziges Gesetz gilt nur die Laune des Übernatürlichen. In den Tempeln treiben Zauberer ihr Wesen, man sieht Sicheln von selbst mähen und eherne Schlangen sich bewegen; man hört bronzene Bildnisse lachen und Wölfe singen. Alsbald antworten die Heiligen und überwinden sie; die Hostien verwandeln sich in lebendes Fleisch, die Bilder Christi lassen Blut strömen, in die Erde gepflanzte Stäbe blühen, Quellen sprudeln, warme Brote vervielfältigen sich zu den Füßen der Armen, ein Baum beugt sich anbetend vor Jesu, und abgeschnittene Köpfe sprechen, zerborstene Becher werden von selbst ganz, der Regen verschont eine Kirche und ergießt sich über die benachbarten Paläste, das Gewand der Einsiedler nützt sich nicht ab, sondern erneuert sich in jeder Jahreszeit wie ein Tierfell. In Armenien werfen die Verfolger die bleiernen Särge von fünf Märtyrern in das Meer, der Sarg mit der Leiche des Apostels Bartholomäus setzt sich an die Spitze, die vier anderen folgen ihm als Ehrenbegleitung und in der schönen Ordnung eines Geschwaders schwimmen sie langsam unter dem Winde dahin über weite Meeresstrecken bis zum Gestade Siziliens.

Angelika glaubte fest an die Wunder. In ihrer Unwissenheit fühlte sie sich vom Wunderbaren umgeben, denn als Wunder erschien ihr sowohl das Aufgehen der Sterne wie auch das Aufblühen der bescheidenen Veilchen. Die Welt als eine mechanische, nach bestimmten Gesetzen geleitete Einrichtung sich zu denken, erschien ihr als wahnsinnig. Soviele Dinge entgingen ihrem Verständnis, sie fühlte sich schwach und verloren inmitten der Gewalten, deren Macht zu ermessen ihr unmöglich war, und deren Vorhandensein sie nicht einmal geahnt hätte, wenn nicht ab und zu ein Hauch des Allmächtigen ihr über das Antlitz gestrichen wäre. Als Christin der ursprünglichen Kirche, von dem Lesen der Legende gerührt, überließ sie träge es den Händen Gottes, den Makel der Erbsünde von ihr zu nehmen. Sie kannte keine Freiheit, Gott allein konnte ihr das Heil spenden, indem er sie seiner Gnade teilhaftig machte. Seine Gnade war es, die sie unter das Dach der Hubert geführt hatte, in den Schatten der Kathedrale, in ein Leben der Unterwürfigkeit, der Reinheit und des Glaubens. Wohl hörte sie im innersten Kern ihres Wesens die Erbsünde grollen: wer weiß, was aus ihr auf heimatlichem Boden geworden wäre? Zweifellos ein schlechtes Geschöpf, während sie jetzt in diesem gesegneten Winkel von Jahr zu Jahr in blühenderer Gesundheit aufwuchs. Stand also nicht die Gnade, dieser Kernpunkt aller der Geschichten, die sie auswendig wußte, des Glaubens, den sie in sich aufgenommen, des Übernatürlichen, das sie getrunken, diese Welt des Unsichtbaren, dessen Wunder ihr natürlich schienen, ihrem täglichen Leben zur Seite? Er war es, der sie für den Kampf des Lebens stählte, wie die Gnade es war, welche die Märtyrer stark machte. Sie schuf ihn sich selbst nach ihrer Eingebung: er wuchs aus ihrer von den Fabeln überreizten Einbildungskraft, aus den unbewußten Wünschen ihrer Jungfräulichkeit heraus; er breitete sich über alle ihre Unwissenheit aus und rief das in ihr und in allen Dingen lebende Unbekannte hervor. Alles kam aus der Gnade, um wieder zu ihr zurückzukehren; der Mensch schuf sich Gott zur Rettung des Menschen. Das lehrte sie der Traum. Oftmals staunte sie, sie betastete alsdann verwirrt ihr eigenes Gesicht, denn sie zweifelte an ihrem wirklichen Vorhandensein. War sie vielleicht ebenfalls eine Erscheinung, die verschwinden würde, nachdem sie ein Traumwerk geschaffen?

In einer Mainacht brach sie auf dem Balkon, auf dem sie ganze Stunden weilte, in Tränen aus. Sie fühlte keine Traurigkeit, sondern sich nur durch eine Erwartung geängstigt, obwohl niemand kommen sollte. Es war sehr dunkel, das Marienfeld öffnete sich wie das schwarze Reich der Schatten unter dem mit Sternen besäten Himmel; sie unterschied kaum die düsteren Massen der Ulmen des bischöflichen Gartens und des Hauses Voincourt. Nur das Fenster der Kapelle leuchtete. Wenn niemand kommen sollte, warum klopfte dann ihr Herz in bangen Schlägen? Dieses Gefühl der Erwartung stammte schon aus ferner Zeit, aus ihrer ersten Jugend; es war mit ihr gealtert und zu einem Fieber ausgeartet, seit sie 17 Jahre zählte. Nichts würde sie überrascht haben, wochenlang hörte sie das Gemurmel von Stimmen in diesem geheimnisvollen, von ihrer Einbildungskraft bevölkerten Winkel. Die Legende hatte ihr die übernatürliche Welt der Heiligen beiderlei Geschlechts erschlossen, das Wunder schickte sich an zu erblühen. Sie begriff sehr wohl, was sich belebte, daß die Stimmen von sonst schweigsamen Dingen herrührten, von den zu ihr sprechenden Blättern der Bäume, den Gewässern der Chevrotte und den Steinen der Kathedrale. Aber wen kündigte so das Geflüster des Unsichtbaren an? Was wollten die unbekannten Mächte von ihr, die aus dem Jenseits herübersäuselten und in den Lüften wallten? Sie heftete die Augen auf die Finsternis wie auf ein Stelldichein, das niemand ihr gegeben hatte, und so wartete und wartete sie, bis sie vor Schlaf umsank. Sie fühlte, daß das Unbekannte, ohne nach ihrem Willen zu fragen, über ihr Leben entschied.

Vier Abende weinte Angelika auf diese Weise im Schutze der dunklen Nacht. Sie kam immer wieder hierher zurück und wartete geduldig. Ihre Bedrängnis jedoch nahm zu und steigerte sich allabendlich, als sei der Horizont zurückgerückt und enge sie ein. Ein Etwas lag ihr schwer auf dem Herzen, die Stimmen summten jetzt in ihrem eigenen Hirn, ohne daß sie sie deutlicher vernahm. Es war eine langsame Besitzergreifung; die ganze Natur, die Erde mitsamt dem weiten Himmelszelt hielt in ihr eigenes Wesen Einzug. Beim geringsten Geräusche glühten ihre Hände, und ihre Augen gaben sich Mühe, die Finsternis zu durchdringen. Kam endlich das erwartete Wunder? Nein, noch immer nichts, nichts als das Rauschen der Flügel eines Nachtvogels vielleicht. Sie horchte gespannt, sie unterschied schließlich sogar das verschiedenartige Säuseln der Blätter in den Ulmen und Weiden. Zwanzigmal gewiß überlief sie ein Schauder, wenn ein Stein im Bache herunterrollte oder ein umherstreichender Vogel die Mauer streifte. Halb ermattet neigte sie sich über das Geländer. Nichts, noch immer nichts.

Eines Abends endlich, als eine schwüle, mondlose Finsternis auf die Erde herabsank, begann etwas. Sie fürchtete, sich zu täuschen, denn das gehörte schwache Geräusch war ein ganz oberflächliches, kaum wahrnehmbares, und doch war es ein ganz anderes Geräusch als die, welche sie kannte. Es zögerte mit einer Wiederholung, sie hielt den Atem an. Da ließ es sich wiederum vernehmen, etwas stärker, aber immer noch undeutlich. Am ehesten hätte sie es sich noch als den entfernten, kaum geahnten Schall eines Schrittes erklären können; dieses Nachzittern der Luft schien eine außerhalb des Gesichts- und Horchkreises vor sich gehende Annäherung zu bedeuten. Der Unsichtbare ihrer Erwartung sonderte sich langsam aus allem ab, was sie in ihrer Umgebung zusammenfahren ließ. Stück für Stück löste er sich von ihrem Traum wie eine Verwirklichung der unbestimmten Wünsche ihrer Jungfräulichkeit ab. Streifte der heilige Georg des Glasfensters mit den leblosen Füßen seines gemalten Ebenbildes die hohen Gräser, um zu ihr emporzusteigen? Das Fenster erblich auch gerade, so daß sie den Heiligen nicht mehr genau erkennen konnte; er schien nur noch einer kleinen purpurnen, verwischten und verdunstenden Wolke ähnlich. Doch genaueres hörte Angelika an jenem Abend nicht. Am folgenden Abend nahm zu derselben Stunde, während derselben Dunkelheit das Geräusch zu, es näherte sich etwas. Es war zweifellos der Schall von Schritten, von Schritten der Erscheinung, die den Boden streiften. Sie hörten auf, sie erschollen wieder hier und dort, ohne daß es Angelika möglich wurde, den Ort zu bestimmen, woher sie kamen. Vielleicht machte im Garten der Voincourt jemand einen späten Spaziergang unter den Ulmen. Vielleicht auch, und diese Annahme lag näher, klang der Ton der Schritte aus den dichten Büschen des Bischofssitzes von den großen Lilien herüber, deren starker Geruch Angelikas Herz erfüllte. Umsonst suchte sie die Finsternis zu durchdringen; ihr Gehör allein verkündete ihr das erwartete Wunder und auch dessen Geruch, diesen verschärften Duft der Blumen, als habe sich ein lebendiger Atem hineingemischt. Mehrere Nächte hindurch zog der Kreislauf der Schritte immer engere Linien um den Balkon. Bis zur Mauer zu ihren Füßen hörte sie die Schritte. Dort verstummten sie, ein tiefes Schweigen breitete sich rings umher aus, und ihre Bedrängnis stieg auf die Spitze: sie verspürte das langsame, anwachsende Umfassen des Unbekannten, in dem sie ihre Kräfte dahinschwinden fühlte.

An den nächsten Abenden sah sie zwischen den Sternen die dünne Sichel des Neumondes auftauchen. Aber das Gestirn neigte sich mit dem zu Ende gehenden Tage und verschwand hinter dem Dache der Kathedrale, wie wenn das Lid ein hellblinkendes Auge bedeckt. Sie folgte ihm mit den Blicken und sah es mit jeder Dämmerung wachsen; fast zürnte sie dieser Leuchte, die endlich das Unsichtbare erhellen sollte. In der Tat löste sich das Marienfeld mit den Ruinen der alten Mühle, seinen Baumgruppen und seinem schnellfließenden Bache von der Dunkelheit ab. Im Lichte wuchs die Schöpfung. Das Wesen des Traumes nahm den Schatten eines Körpers an; denn sie bemerkte zuerst nur einen verwischten Schatten sich im Scheine des Mondes dahinbewegen. Was für ein Schatten war es? Der eines vom Monde bewegten Zweiges? Mitunter verblich das Ganze, und das Feld schlief in der Starrheit des Todes, so daß sie an Gesichtstäuschung zu glauben begann. Dann aber wieder war kein Zweifel möglich: ein dunkler Fleck hatte einen hellbeschienenen Raum durchschritten und glitt von Weide zu Weide. Sie verlor ihn, sie fand ihn wieder, ohne jemals zu einer endgültigen Unterscheidung zu gelangen. Eines Abends glaubte sie den geschmeidigen Bau eines Schulternpaares zu erkennen; ihre Augen lenkten sich sofort auf das Glasfenster: es schien ergraut, wie leer bei dem Scheine des Vollmondes. Von diesem Augenblick an bemerkte sie, daß der lebendige Schatten sich verlängerte, sich ihrem Fenster näherte und stets von einem dunklen Punkt zum anderen längs der Kirche dahinzuschleichen suchte. Je näher er ihr kam, eine desto stärkere Empfindung bemächtigte sich ihrer, jene nervöse Aufregung, die man verspürt, wenn man geheimnisvolle Blicke auf sich gerichtet fühlt, ohne daß man selbst imstande ist, diese Blicke zu unterscheiden. Jedenfalls befand sich dort unter den Blättern ein lebendes Wesen, das die erhobenen Blicke nicht von ihr wandte. Auf den Händen, auf dem Gesicht spürte sie den körperlichen Eindruck dieser langen, sanften, auch furchtsamen Blicke; sie entzog sich ihnen nicht, weil sie ihre Reinheit fühlte und sie aus dem Zauberreich der Legende kommend wähnte; ihre anfängliche Ängstlichkeit verwandelte sieh in eine köstliche Verwirrung, in eine Gewißheit des Glückes. Eines Nachts schließlich zeichnete sich der Schatten auf der vom Mondlichte fast weißen Erde in freien, scharfen Linien ab. Es war der Schatten eines Mannes, den sie selbst nicht sehen konnte, weil er hinter den Weiden verborgen stand; der Mann rührte sich nicht, und sie betrachtete lange Zeit den unbeweglichen Schatten.

Angelika hatte jetzt ein Geheimnis. Ihre nackte, mit Kalk getünchte, weiße Kammer war voll von diesem Geheimnisse. Stundenlang lag sie in ihrem großen Bett, in dem sie sich fast verlor, mit geschlossenen Augen; sie schlief nicht und sah immer und immer wieder den unbeweglichen Schatten auf dem schimmernden Boden. Wenn sie des Morgens die Augen öffnete, wanderten ihre Blicke von dem mächtigen Schrank zur alten Truhe, von dem Kachelofen zum Toilettentisch, voller Staunen, den geheimnisvollen Schattenriß nicht vorzufinden, den sie im Gedächtnis in sicheren Zügen nachgebildet hatte. Sie hatte den Schatten im Schlafe wiedergesehen, wie er zwischen dem ausgebleichten Heidekraut auf ihren Vorhängen dahinschlich. Ihre Träume wie ihr Wesen waren von ihm erfüllt. Er war ein Begleiter ihres eigenen Schattens, sie hatte jetzt zwei Schatten, obgleich sie sich mit ihrem Traume allein befand. Dieses Geheimnis vertraute sie niemandem an, nicht einmal Hubertine, der sie bis dahin alles erzählt hatte. Als diese sie nach dem Grunde ihrer Freude fragte, wurde sie sehr rot; der frühzeitige Frühling stimme sie heiter, antwortete sie. Vom Morgen bis zum Abend summte sie wie eine von den ersten Sonnenstrahlen trunkene Fliege. Noch nie hatten die von ihr gestickten Meßgewänder in einem so berückenden Glänze von Gold und Seide gestrahlt. Die lächelnden Hubert glaubten nichts weiter, als daß Angelika sich der besten Gesundheit erfreue. Ihre Heiterkeit wuchs, je mehr der Tag. sich neigte; wenn der Mond hinaufstieg, sang sie, und wenn die Stunde gekommen war, kauerte sie auf dem Balkon und sah den Schatten. Während des ganzen Viertels fand sie ihn pünktlich beim Stelldichein, aufrecht und stumm, ohne daß sie mehr von ihm wußte, ohne daß sie das Wesen kannte, das ihn erzeugte. War es wirklich nur ein Schatten, nur eine Erscheinung, vielleicht der aus dem Glasfenster verschwundene Heilige, vielleicht der Engel, der einst Cäcilia geliebt hatte und jetzt zu ihr herniederstieg? Dieser Gedanke machte sie hoffärtig, er schmeichelte ihr als eine Zärtlichkeit des Unsichtbaren. Dann ergriff sie die Ungeduld, die persönliche Bekanntschaft des Schattens zu machen, die Erwartung begann von neuem.

Der Vollmond bestrahlte das Marienfeld. Als er im Zenith stand, warfen die senkrecht vom weißen Licht übergossenen Bäume keinen Schatten mehr; sie schienen in stummer Klarheit rieselnden Springbrunnen ähnlich. Das ganze Feld war in Mondeslicht gebadet, eine schimmernde Woge von kristallener Durchsichtigkeit hatte es überflutet. Der Schimmer war ein so durchdringender, daß man selbst den feinen Schnitt der Weidenblätter unterschied. Die geringste Luftbewegung schien dieses Meer von Strahlen, das zwischen den großen Ulmen der benachbarten Gärten und der Riesenkuppel der Kirche im allmächtigen Frieden des Feldes schlummerte, zu kräuseln.

Noch zwei weitere Abende verstrichen. In der dritten Nacht jedoch zuckte Angelikas Herz, als sie sich auf dem Balkon niederließ, heftig auf. Dort in blendender Klarheit sah sie ihn aufrecht, ihr zugewandt. Sein Schatten war wie jener der Bäume unter seinen Füßen zusammengeschrumpft verschwunden. Nur er allein stand schattenlos da. Bei dieser kurzen Entfernung sah sie ihn wie am hellen Tage, 20 Jahre alt, blond, groß und schlank. Er ähnelte dem heiligen Georg, einem herrlichen Jesus mit seinem lockigen Haar, seinem schwachen Barte, seiner geraden und etwas starken Nase, seinen dunklen, stolzen und doch sanft blickenden Augen. Sie erkannte ihn vollständig wieder, denn sie hatte noch nie einen anderen gesehen, er war es, den sie erwartete. Das Wunder vollzog sich endlich, die langsame Erschaffung des Unsichtbaren floß in diese leibhaftige Erscheinung über. Er war es, der aus dem Unbekannten, dem Erzittern der Dinge, den murmelnden Stimmen, dem beweglichen Spiele der Nacht, aus allem entstanden war, was sie bedrängt hatte, bis sie schwach wurde. Sie sah ihn zwei Fuß über dem Boden, in dem Übernatürlichen seines Auftauchens, während das Wunder sie auf allen Seiten einschloß und auf dem geheimnisvollen Mondsee dahinschwamm. Sie erkannte als seine Begleitung das gesamte Volk der Legende, die Heiligen, deren Stäbe erblühten und die, deren Wunden Milch entströmte. Und der weiße Schwarm der Jungfrauen ließ die Sterne erbleichen.

Angelika sah und sah. Er erhob die beiden Arme und öffnete sie weit, weit. Sie hatte keine Furcht mehr, sie lächelte ihm zu.


 << zurück weiter >>