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Beim nächsten Beisammensein der zehn Begründerinnen des Junggesellinnenklubs erklärte sich die ehemalige Lehrerin bereit, über ihr großes Liebeserlebnis, das entscheidend für ihre Stellung zur Liebe und Ehe überhaupt gewesen war, zu berichten. »Ich bin«, so erzählte die Fünfundvierzigjährige, »mit zwanzig Jahren Lehrerin an einer Gemeinschaftsschule Berlins geworden. Damals lernte ich einen jungen Lehrer kennen, der etwa vier Jahre älter war als ich. Voll von Idealen, stolz auf seinen Beruf, steuerte er mit vollen Segeln in den Ozean des Lebens hinaus. Daß es mit dem bekannten Wort von der Liebe auf den ersten Blick etwas auf sich hat, davon konnte ich mich jetzt überzeugen. Denn Emanuel – ich will ihn nur mit seinem Vornamen nennen – imponierte mir gleich bei der ersten Begegnung, und bald erkannte ich, wie tief mir sein Bild im Herzen saß, so tief, daß ich heute trotz alledem noch mit Rührung und schmerzlicher Innigkeit an ihn denke.«

Die Erzählende räusperte sich in stiller Ergriffenheit, während ein warmer Schein ihre schon etwas trockenen Züge belebte.

»Ach, wie schön, wie unvergeßlich herrlich war sie, die Zeit der jungen Liebe!« fuhr sie lebhaft fort. »Er besuchte uns häufig – ich lebte damals mit meinem Mütterchen zusammen – , und es waren unvergeßlich genußvolle Stunden. Wie gebannt hing ich an seinem Munde, wenn er von seinem Verkehr mit den Schülern, die alle für ihn schwärmten, und von seiner hohen Auffassung des Lehrerberufes erzählte, oder wenn er von unserer klassischen Literatur, deren Studium er einen großen Teil seiner freien Zeit widmete, sprach. Unsere Herzen fanden sich rasch. Von einer Heirat konnte vorläufig keine Rede sein; wir waren beide arm. Ich hatte mit einem kärglichen Gehalt und mit dem, was ich durch Privatunterricht dazu verdiente, auch meine Mutter zu ernähren. Er ermöglichte durch Unterstützungen, die er regelmäßig seinen Eltern sandte, einem sehr begabten jüngeren Bruder den Besuch des Gymnasiums. Wir waren beide jung, leidenschaftlich. Nach Jahr und Tag unserer Bekanntschaft und Liebe kam es, wie es kommen mußte: ich besuchte ihn häufig, und wir gehörten uns ganz an. Natürlich war es unter diesen Umständen unser heißes Sehnen, unseren Liebesbund auch öffentlich zur Anerkennung zu bringen, und wir verwünschten die rigorose Bestimmung, wonach eine Lehrerin, die sich verheiratete, ihrer Stellung verlustig ging. Wie glücklich hätten wir sein können, wären es vielleicht heute noch! So lag die Heimlichkeit, die ich ja selbst meinem Mütterchen gegenüber beobachten mußte, wie ein Schatten auf unserem Glück. Wie oft habe ich nicht in stillen Nächten geweint, wie bitter hat sich nicht mein Herz empört bei dem Gedanken, daß ich das, worauf ich doch so stolz war: den Besitz der Liebe des von mir so heiß geliebten, so schwärmerisch bewunderten Mannes vor aller Welt wie ein Verbrechen, wie eine Schuld verstecken mußte. Ich wußte ja, daß mich meine Vorgesetzten, meine Kolleginnen verachten und mitleidlos aus ihrer Mitte stoßen würden, erfuhren sie von meinen Beziehungen zu dem Geliebten. Wie bitter das war, wie furchtbar bitter! Erwähnen will ich, daß ich, Phantastin wie ich war, ständig ein Viertellos der Staatslotterie spielte in der Hoffnung, damit die Mittel zur Ehe mit Emanuel zu gewinnen. Vergebens! Die Jahre vergingen. Mein Mütterchen starb; Emanuel aber mußte noch immer einen nicht unerheblichen Teil seines Gehalts für seinen Bruder, der die Universität bezogen hatte, hergeben. Er selbst arbeitete fleißig, um das Rektoratsexamen zu machen. Zwölf Jahre, zwölf lange Jahre waren vergangen; endlich standen wir vor der Pforte des Glücks: Emanuel war zum Rektoratsexamen zugelassen. Da kam das Verhängnis und schlug uns die Tür vor der Nase zu. Es ist wohl erklärlich, daß wir im Laufe der Zeit etwas unvorsichtig geworden waren. Kurz, wir wurden denunziert; unsere süßen, intimen Heimlichkeiten wurden vor die Disziplinarbehörde gebracht, und ich wurde mit Schimpf und Schande davongejagt. Emanuel wurde als unwürdig für das Rektorat erklärt und mußte sich an einer Privatschule ein dürftiges Unterkommen suchen. Zum Glück hatte ich ja eine kleine Summe für meine Aussteuer zurückgelegt. Sonst hätte ich verhungern können. Ich machte nun einen Kursus in der Handelsschule durch, um mir als Kontoristin meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das Schlimmste aber war, daß Emanuel in seiner gänzlichen seelischen Niedergebrochenheit sich gegen mich verbitterte, mir heftige Vorwürfe machte, so daß es zu einem Bruche zwischen uns kam. Ein Jahr später verheiratete er sich mit der Tochter eines wohlhabenden Schlächtermeisters, und ich –«

Die Erzählende zögerte ein paar Sekunden. Alle horchten auf; die meisten ahnten wohl, was kommen würde.

Die Zaudernde hatte ihre Befangenheit bekämpft; sie reckte ihr Haupt und sah sich mit scharfen, herausfordernden Blicken um, als wollte sie von vornherein jede Mißachtung zum Schweigen bringen.

»Ich fühlte mich noch zu jung und lebensfrisch, um dieser Erfahrung wegen meinen Ansprüchen an Freude und Genuß für immer zu entsagen. Ich suchte in einem neuen Liebesglück Vergessen und Trost. Wer will mich deshalb tadeln?«

»Niemand!« erwiderte die Klubvorsitzende, und ringsum folgte zustimmendes Gemurmel.

»Und nun der Schluß!« nahm die ehemalige Lehrerin noch einmal das Wort. »Die Ironie des Schicksals fügte es, daß ich schließlich doch noch den so lange vergeblich ersehnten großen Lotteriegewinn machte. Er ermöglichte es mir, meine kurze Laufbahn als Kontoristin, die mir gar nicht zusagte, zu beenden und mir für meine alten Tage neue Liebe und neues Glück zu suchen. Hoffentlich wird mein kleines Adoptivtöchterchen meine Hoffnungen nicht täuschen.« –

Noch an demselben Abend legte eine andere Klubgenossin ihr Bekenntnis ab. Diesmal war es ein jüngeres Mitglied, die eine der beiden Krankenschwestern, die recht Peinliches aus ihrem Liebesleben zu berichten hatte. Einer ihrer Pflegebefohlenen hatte sie schon zu Anfang des zweiten Jahres ihrer Laufbahn als »Schwester« zu Fall gebracht. Sie schilderte sichtlich erregt unter den Erinnerungen, die ja bei ihr noch ziemlich frisch waren, wie aufstachelnd ihr Beruf auf ein mit lebhafter Phantasie begabtes und etwas sinnlich veranlagtes junges Mädchen wirkte. Der Eifer und ihre natürliche Lebhaftigkeit kämpften bei dem Bericht fast ununterbrochen mit der Befangenheit und Verschämtheit, in die die delikaten, offenherzigen Mitteilungen sie versenkten.

»Es war ein fortwährendes Ringen zwischen Mitleid, Schaudern und sinnigen Regungen, die die Hilfeleistungen, zu denen man den hilflosen Kranken gegenüber verpflichtet war, und der Anblick der sich im Fieber Entblößenden in mir hervorriefen. Dazu die wilde Gier der Rekonvaleszenten, ihre begehrlichen Blicke, ihre frivolen Reden, ja, ihre Handgreiflichkeiten. Einer von ihnen – ich war damals Privatkrankenpflegerin – tat mir Gewalt an.«

Die Sprechende beugte ihr Gesicht ein wenig und verbesserte beschämt und ehrlich zugleich: »Zur Hälfte freilich nur, denn in mir lag ja die Begierde schon lange wach und drängte mich ihm entgegen. Ich war ja nun, wie man sagt, eine der ›Geweckten‹, und meine Berufsausübung setzte meine Sinne immer von neuem in Aufruhr, bis mich ein gewissenloser Mensch, der so verliebt, so leidenschaftlich, mit so bestrickenden, verführerischen Beteuerungen um meine Liebe warb, daß ich ihn erhörte, und dann – dann –«

Die Erzählende kam ins Stocken und Stottern und fand offenbar nicht den rechten Ausdruck, um den Bericht von ihrem letzten Liebeserlebnis zum Abschluß zu bringen. Sie atmete schwer und wurde rot und blaß, während ihre Augen rastlos, in peinlichster Verlegenheit flirrten. Alle blickten erstaunt, neugierig, ahnungslos.

»Er machte dich krank, der Schurke«, ergänzte die neben ihr sitzende Kollegin, »und seitdem –«

»Seitdem«, fiel die andere ein, während ihre Augen in Abscheu, Haß und zorniger Empörung flammten, »und wenn ich auch inzwischen völlig wiederhergestellt bin, seitdem können mir alle Männer gestohlen bleiben, seitdem ekelt mich vor den Männern.«

Sie griff nach der Hand ihrer Berufs- und Wohnungskameradin, drückte sie herzlich, und beide tauschten einen Blick innigen Einverständnisses aus.

»Hh, hm!« machte die Vorsitzende leise, beobachtend, verständnisvoll nach den Schwestern schauend, die einander verliebt anlächelten. –

Die Fortsetzung des Dekamerons an einem der nächsten Abende brachte zwei weitere Erzählungen. Zunächst war es die Besitzerin des Schreibwarengeschäftes, die Wirtschaftsgenossin der ehemaligen Lehrerin, die von ihren Liebeserfahrungen berichtete. Das Erlebnis, das den plötzlichen, sehr unsanften Abschluß ihres ersten Liebesverhältnisses brachte, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schicksal der Lehrerin, nur daß das, was über die ehemalige Telephonistin hereinbrach, sich ungleich dramatischer und drastischer abspielte.

»Es ist bekanntlich eine alte Erfahrung«, erzählte die Schreibwarenhändlerin, »daß Schülerinnen für ihren Lehrer schwärmen und Angestellte oft für ihre Vorgesetzten. So war es auch in meinem Fall. Wir Telephonistinnen waren zum großen Teil in den Postsekretär, der in unserem Saale die Aufsicht führte, verliebt. Es war ein Mann Mitte der Dreißig, der etwas Bestimmtes, Autoritatives in seinem Wesen hatte, das uns imponierte. Dabei war er in seinem äußeren Verhalten sehr höflich und entgegenkommend. Ich hatte den Eindruck, daß er mich bevorzugte, und fühlte mich natürlich sehr geschmeichelt. Es ist vierzehn Jahre her; ich war damals noch so jung und so dumm. Tatsache war, daß er mir verliebte, werbende Blicke zuwarf und mir gelegentlich durch einen verstohlenen Händedruck seine Sympathie bewies. Ich will es kurz machen: es kam zwischen uns bald zu einer leidenschaftlichen Liebe. Schon nach drei Monaten unseres heimlichen Verkehrs aber wurde ich so unsanft aus meinem süßen Liebestraum aufgerüttelt, daß ich lange Zeit brauchte, bis ich mich davon erholt hatte. Eines Tages gerieten plötzlich nach kurzem, heftigem Wortwechsel zwei der Kolleginnen im Saale in ein Handgemenge. Die Kämme und falschen Zöpfe flogen nur so, die spitzen Fingernägel der wütenden Kämpferinnen hinterließen blutende Spuren auf den beiderseitigen Wangen. Es kostete Mühe, die Erbitterten auseinanderzubringen. Die Untersuchung stellte fest, daß Eifersucht die Ursache des Kampfes gewesen. Es gab einen großen Skandal, in den auch ich verwickelt wurde und der mich gründlich kurierte von meinem blinden Vertrauen auf ehrliche Männerliebe. Unser Aufsichtsbeamter, der Postsekretär, hatte in den drei Jahren seiner Amtsführung in unserem Saale mit nicht weniger als zweiundzwanzig Telephonistinnen Liebesverhältnisse gehabt, von denen ein halbes Dutzend nicht ohne Folgen geblieben war. Wir wurden natürlich sämtlich entlassen. Das war mein erster Liebesroman; ich will ehrlich hinzufügen: ich war schwach oder Weib genug, noch manch anderen Mann zu lieben, vertraut habe ich keinem mehr.«

Die Erzählung der ehemaligen Telephonistin erregte viel Interesse.

»Das war ja die reine Paschawirtschaft!« meinte eine der Zuhörenden. »Ob es auf allen Ämtern so zugeht?«

»Es war vor vierzehn Jahren«, gab die Klubvorsitzende zu bedenken, »heute werden sich die weiblichen Staatsangestellten nicht mehr aus lauter Respekt zu Lustsklavinnen der Vorgesetzten erniedrigen.«

»Beim Theater ist es heute noch ebenso wie damals«, warf die Schauspielerin ein, »wer nicht Protektion hat oder sonst durch einen Glückszufall sein Talent durchzusetzen Gelegenheit hat, muß dem Herrn Direktor oder dem Herrn Oberregisseur gefällig sein, um eine Anstellung oder um eine gute Rolle zu erwischen.«

Dr. Else Hauf fragte, welche von den Klubgenossinnen zunächst den Reigen fortsetzen wollte. Da meldete sich die zweite Krankenschwester.

»Ich glaube, daß mein Bericht etwas Abwechslung in unsere Bekenntnisse zu bringen geeignet ist, und ich darf wohl annehmen, daß es keinem der werten Klubmitglieder so übel ergangen ist wie mir. Es war nach Beendigung meiner Ausbildung und Ablegung meiner Prüfung. Meine erste Anstellung hatte ich in einem Sanatorium für Nervenkranke. Es waren überwiegend Damen in der Anstalt. Am beliebtesten bei dem weiblichen Teile der Kranken war der Oberarzt. Es lag etwas Überredendes in seiner Art, daß sich keine der oft so sehr schwer zu behandelnden Patientinnen unserer Nervenheilanstalt seinen Anordnungen widersetzte, vielmehr unterwarfen sie sich alle blindlings den Vorschriften, die der Arzt mit den zwingenden Blicken ihnen gab. Ich litt damals viel an Kopfschmerzen, wohl infolge der Überanstrengung und der noch nicht gewohnten starken Gemütserschütterungen an aufregenden Krankenlagern. ›Ich muß einmal eine Kur mit Ihnen vornehmen, Schwester‹, sagte der Oberarzt zu mir. ›Mit Hypnose werde ich Sie behandeln.‹ Dumm und unerfahren, wie ich noch war, und natürlich verliebt in den von allen seinen Patientinnen angeschwärmten Arzt, freute ich mich auf die Kur. Hätte ich gewußt, was mir bevorstand, ich wäre entsetzt geflohen!«

»Arme!« sagte die neben ihr sitzende Berufskollegin, die die Geschichte ihrer Freundin natürlich schon kannte, und strich der Erzählenden teilnahmsvoll die Wange.

»Ich ging also zu ihm in sein Sprechzimmer. Er strich mir mit seinen wohlgepflegten schönen Händen die Stirn und blickte mich mit gebieterischen Blicken an, bis ich in Schlaf verfiel. ›Ich kann in deine Seele blicken‹, sprach er zu mir, ›nichts ist mir verborgen, was in dir vorgeht. Ich weiß auch, daß du mich liebst. Nicht wahr, du liebst mich? Sprich! Ich befehle es dir.‹ ›Ja!‹ hauchte ich verschämt. ›Ich wußte es‹, fuhr er fort. ›Und ich weiß auch, daß du dich nach einem Kuß von mir sehnst. Ist es so? Du brauchst dich nicht zu schämen, es mir zu gestehen. Ich sagte dir schon, ich lese in deiner Seele wie in einem aufgeschlagenen Buche. Also komm!‹ Ich beugte mich ihm entgegen, ich rundete meine Lippen. Er küßte mich. ›Schlinge die Arme um meinen Hals.‹ Ich tat es. ›Und nun küsse mich mit aller Leidenschaft; ich weiß, daß du, wenn du auch den Eindruck eines schüchternen Mädchens machst, deiner wahren Natur nach ein heißes, leidenschaftliches Temperament hast. Küsse mich!‹ Ich küßte ihn, meine ganze Seele lag in meinen Küssen. ›Komm!‹ befahl er, faßte mich an der Hand und führte mich zu einem Liegesessel. ›Jetzt wirst du mich glücklich machen, ganz glücklich! Sträube dich nicht! Es ist ja doch nur Heuchelei! Ich weiß ja, daß alle deine Gedanken, alle deine Empfindungen, alle Fibern in dir nach meiner Umarmung schreien. Ist es nicht so?‹ Ich nickte, und willenlos streckte ich mich auf die Chaiselongue. Ich war ja überzeugt, daß sich keine seiner Patientinnen ihm geweigert hätte.«

»Empörend!« rief die älteste Klubgenossin.

»Ach, ich war weit entfernt von einem solchen Gefühl!« fuhr die Erzählende fort. »Ich liebte ihn schrankenlos. Er war mein Herr und Gebieter. Keinen eigenen Willen hatte ich ihm gegenüber mehr. Und als er mich eines Tages fragte, ob ich bereit sei, ihm einen Beweis meiner Liebe zu geben, erklärte ich freudig, alles zu tun, was er wünschen würde. Er befahl mir, mich zu entkleiden. ›Ich will sehen‹, sagte er, ›ob deine Liebe so weit reicht, daß du ihretwegen Schmerzen zu ertragen imstande bist. Erst dann werde ich die Überzeugung haben, daß es keine leere Phrase, daß es keine kindische Schwärmerei ist, die bei der ersten Prüfung verfliegt wie Spreu vor dem Winde, sondern daß du Weib geworden, mit aller Kraft des Weibes, das für den Geliebten in den Tod zu gehen bereit ist. Willst du?‹ ›Ja, ja‹, rief ich fanatisch und riß mir das Kleid vom Leibe. ›Drehe dich um!‹ befahl er, als ich mich auf sein Geheiß auf den Liegestuhl gelegt hatte. Ich war so stark in seinem Bann, daß ich blindlings gehorchte und keine Furcht hatte. Er nahm ein Rutenbündel und peitschte mich.«

Ein wahrer Aufstand brach unter den Klubmitgliedern los, die in atemloser Spannung, in steigender Erregung zugehört hatten.

»Unerhört! Entsetzlich!«

»Wie konnten Sie sich das nur gefallen lassen?« Am entrüstetsten waren die drei Ärztinnen.

»Ein schmachvoller Mißbrauch seiner Autorität als Arzt und Vorgesetzter!« rief die eine.

»Sie hätten es sofort dem Leiter des Sanatoriums mitteilen sollen!« meinte die zweite.

»Der Mensch hätte ins Gefängnis gesteckt werden müssen wie ein gemeiner Verbrecher!« schalt die dritte.

»Ach, ich war weit entfernt davon, einen solchen Wunsch zu hegen!« bekannte die Krankenschwester.

»Aber empfanden Sie denn nicht die Schmach, die er Ihnen antat?« fragte die ehemalige Lehrerin.

»Nein, damals noch nicht!« erwiderte die Gefragte, während ihre Kollegin sie liebevoll mit einem Arm umschlang. »Ich glaubte ihm ja aufs Wort, daß das nur eine Art Liebesprobe sein sollte, um so mehr, als er mich hinterher mit großem Mitgefühl behandelte. Er rieb mir den ganzen Rücken und die Beine, die auch einige Striemen aufwiesen, mit lindernder Salbe ein und tröstete mich aufs zärtlichste. Erst allmählich, als er immer grausamere Martern ersann und immer schimpflichere Anforderungen an mich stellte, die nichts Menschliches mehr hatten, wurde ich stutzig, und dann las ich eines Tages in einer Zeitung von einer Gerichtsverhandlung gegen einen Sadisten, der sich gegen einen Knaben vergangen hatte, und da erst wurde mir klar, daß auch mein Oberarzt zu dieser unheimlichen Sorte von Menschen gehörte.«

»Nun waren Sie endlich kuriert von Ihrer Liebe?« warf eine der Klubgenossinnen ein.

»Zunächst noch nicht ganz. Zu leidenschaftlich hatte ich ihn geliebt, zu hoch ihn verehrt. Ich empfand mehr Bedauern als Empörung.«

»Und Sie zeigten ihn auch jetzt noch nicht an?« fragte die Klubvorsitzende.

»Nein. Dazu schämte ich mich viel zu sehr. Ich begnügte mich, meine Entlassung zu nehmen. Heute freilich fluche ich ihm, denn seitdem fürchte ich mich vor den Männern. Und –« der Glanz süßester Erinnerungen breitete sich über ihr Gesicht – »es war doch so schön, so wunderschön war die erste Zeit unserer Liebe!«

Mit einem Ruck löste die Kollegin ihre Arme von der Sprechenden, während sie schmollend, zürnend ihre Lippen aufwarf.

*

Im Sommer suchten die beiden Paare gemeinsam ein kleines, erst neu eingerichtetes Ostseebad auf, in dem sie so ziemlich sicher vor der Begegnung mit Berliner Bekannten sein konnten. Hier logierten sie sich als zwei Ehepaare ein. Else Hauf war anfangs eigentlich dagegen gewesen, schließlich aber hatte sie den Bitten des Geliebten nachgegeben.

»Du hast recht«, sagte sie, »es wird interessant und nützlich sein, einmal die Ehe praktisch zu erproben. Man wird dann ein noch besseres Urteil gewinnen als allein durch die Beobachtung.«

Am glücklichsten von den vier Sommerfrischlern fühlte sich wohl Lisbeth Glümer. In ungetrübtem Frohsinn flossen ihr die Tage hin. Sinne und Seele waren gleich befriedigt. Den größten Teil des Tages hielt sie sich mit ihrem geliebten Ortwin am Strande auf. Im Strandkorb sitzend, las er ihr die bereits fertigen ersten Akte seines modernen Dramas vor, an dem er mit gleicher Hingabe arbeitete, nach einigen anderen Versuchen, die er als unbefriedigend wieder verworfen hatte. Sie war entzückt, hingerissen, und ihr Stolz und ihr Glück hätten sich noch gesteigert, wenn dies überhaupt möglich gewesen. Das Schönste aber waren doch die kostbaren Abende, die himmlischen Nächte. Von allen Nebengedanken frei, ohne von ewiger Sorge und Furcht gequält zu sein wie einst während ihrer Beziehungen zu Kurt Vollbrecht, konnte sie sich ihren Gefühlen hingeben, die nichts Niederziehendes, Demütigendes mehr hatten. Die Gegenwart war so ideal schön, daß daneben kein Gedanke an die Zukunft aufkommen konnte.

Nur zu schnell verflogen die vier Wochen. Am Tage vor der Abreise hatten Dr. Moeller und Else eine sehr ernste Aussprache.

»Nun, wie denkst du über unsere Ferienehe?« fragte er, während sie abseits von dem anderen Paar im Strandkorb saßen.

»Es war sehr schön!« erwiderte sie mit warmem Blick in seine strahlenden Züge.

Er drückte ihre Hand in der seinen.

»Ich danke dir und stimme dir aus vollem Herzen bei. Du machst mir Mut, dir einen Vorschlag zu unterbreiten. Wollen wir nicht aus dieser Probeehe eine dauernde machen?«

Ihre Augen öffneten sich weit. Aufs höchste überrascht starrte sie ihn an. Scherzte er? Nein, es lag etwas Feierliches in seinen Mienen. Es war ihr in den letzten acht Tagen aufgefallen, daß er zerstreut war und oft schweigend neben ihr am Strande promenierte und, wenn sie ihn anredete, wie aus tiefem Nachdenken auffuhr. Das aber hatte sie nicht vermutet.

»Ist das wirklich dein Ernst?« fragte sie, noch immer voll Staunen.

»Mein heiliger Ernst. Wenn wir uns beide glücklich gefühlt haben, warum sollen wir die tiefe Zufriedenheit, die uns in den letzten vier Wochen erfüllt hat, nicht für unser ganzes künftiges Leben uns wahren?«

»Warum? Da gibt es so mancherlei Bedenken; zuerst: erinnerst du dich der Worte des enttäuschten Freiers in Hebbels ›Maria Magdalena‹: Darüber kommt kein Mann hinweg?!«

Er machte eine abwehrende Handbewegung.

»Das war damals. Heute haben wir freiere und vernünftigere Ansichten. Überdies lassen sich für diese so komplizierten, schwerwiegenden Fragen nicht allgemeine Regeln aufstellen. Hier muß jeder Fall individuell betrachtet und beurteilt werden. Ich bin nicht der Freier in dem Hebbelschen Drama, und du? Ich bin überzeugt, daß sehr viele sogenannte keusche Mädchen, die rein, körperlich rein in die Ehe gehen, sittlich tief unter dir stehen. Entweder lag ein Manko vor, oder sie waren von Natur so phantasie- und temperamentlos und so kalt überlegend und berechnend, daß sie nur immer kühl an die Ehe, das heißt an die Versorgung dachten, und daß das andere für sie nur eine nebensächliche Rolle spielte.«

Er drückte wieder ihre Hand, und seine Augen hingen an ihr mit einem Ausdruck hingebender, unbeirrter Liebe.

»Ich weiß, daß ich dir vertrauen und auf deine unbedingte Treue rechnen kann.«

Sie reckte sich mit starkem Selbstgefühl, und ihre Blicke tauchten in die seinen.

»Das kannst du allerdings. Solange ich dich liebe und du mich liebst, würde dich mein moralisches und körperliches Sauberkeitsgefühl vor einer Untreue meinerseits schützen.«

»Nun also. Das ist doch die Hauptsache. Welche Bedenken könntest du denn sonst noch haben?«

»Ich habe das Bedenken, daß der schönste Reiz, sozusagen der schimmernde Schmelz unserem Verhältnis abhanden kommen würde, wenn wir es in die üblichen bürgerlichen Bande legen, es in das Alltagsleben verpflanzen würden.«

Er verneinte mit einer entschiedenen Kopfbewegung.

»Ich glaube im Gegenteil, daß wir unser tägliches Leben damit vergolden würden.«

Es war ein wehmütiges Lächeln, das um ihre Lippen zuckte.

»Du bist ein Schwärmer. Die Flitterwochen unserer Liebe haben deine Phantasie beschwingt, und du übersiehst nun die Realitäten des Lebens. Bisher war es so, daß wir zueinander kamen wie zu einem Feste. Unsere Seelen waren heiter und froh gestimmt; für die kurze Zeit unseres abendlichen Zusammenseins brachte jeder von uns dem anderen sein Bestes, Schönstes. Die Arbeit, die Last, der Ärger des Tages und des Berufes lagen hinter uns, und wir dachten nicht daran; in den kurzen Stunden, die uns vergönnt waren, frischten wir uns aneinander auf, schenkten einer dem andern, was an Schönheit, an Glücksgefühl, an Liebe in ihm war. Es war ein Feiertag unserer Seelen, unserer Körper. Wenn wir nun auch unser äußeres Leben miteinander verflechten würden, so fürchte ich, würden wir uns seelisch weniger geben als bisher. Dann müßten wir auch unser materielles Dasein miteinander teilen, alle Sorgen, Kleinigkeiten, Verdrießlichkeiten des Alltagslebens, kurz, alles das, was in das Zusammenleben zweier Menschen Meinungsverschiedenheiten, Mißhelligkeiten, Ärger, Zank und Streit zu tragen pflegt. Für zwei Liebende, die nur ihrer Liebe leben und alles an Erdenlast daraus verbannen, kann jedes Zusammensein ein Feiertag sein, für zwei Eheleute gibt es aber mindestens sechs Wochentage. Stelle dir vor, Geliebter«, fuhr sie rasch fort, als er sie unterbrechen wollte, »wir kommen am Nachmittag nach Hause, jeder ermüdet, nervös, verstimmt von der Anstrengung, von dem gelegentlichen Verdruß, den das Berufsleben unausbleiblich mit sich bringt. Dann haben wir nicht die Muße, uns auszuruhen, uns vorzubereiten, alles das aus unserem Gedächtnis zu verbannen, was uns reizt, verbittert, bevor wir uns aufsuchen zu einem behaglichen Plauderstündchen, zu zärtlichem Kosen –«

»Aber«, wandte er voll Eifer ein, »du glaubst doch nicht, ich würde zugeben, daß du dich noch weiter in deinem Berufe abmühtest.«

Sie lächelte, nicht ganz ohne Ironie.

»Siehst du, das ist gleich ein Punkt, der eine Meinungsverschiedenheit, einen Zwist zwischen uns heraufbeschwören würde. Du würdest nicht zugeben, daß ich noch weiter meinen Beruf ausübte. Ja, mein Lieber, ich würde dich doch gar nicht um die Erlaubnis fragen. Würdest du mich nicht einfach auslachen, wenn ich an dich ein ähnliches Anerbieten stellen möchte?«

»Aber das – das ist doch etwas ganz anderes!« erwiderte er bestürzt, während ein peinliches Zucken über sein Gesicht lief.

»Etwas anderes? Freilich, du bist der Mann, ich das Weib, und als solches habe ich mich zu fügen. Siehst du, mein Lieber, hier gehen wir schon auseinander, hier scheitert schon das eheliche Einvernehmen. Ich könnte mich nicht dazu verstehen, mein Selbstbestimmungsrecht widerspruchslos und demütig deinen Wünschen, deinen Ansichten unterzuordnen.«

»Aber liebe Else«, begütigte er und griff wieder nach ihrer Hand, die sie ihm im Eifer des Disputs entzogen hatte, »eine Frau hat doch in der Ehe andere Aufgaben als der Mann.«

»Freilich. Das läßt sich nicht leugnen. Sie hat Kinder zu gebären und aufzuziehen. Es fragt sich nur, ob mich dieser Beruf mit mehr Befriedigung erfüllen würde als meine ärztliche Tätigkeit. Gewiß, ich gebe zu, daß es etwas unvergleichlich Schönes, Erhebendes sein mag, das Muttergefühl, aber es ist doch auch mancherlei damit verknüpft, und mit dem Familienleben und der Führung des Haushalts, was mich vielleicht verdrießen würde. Ich weiß doch nicht, ob ich mich dafür eignen würde, und ob es nicht schon zu spät für mich ist. Ich habe mich doch vielleicht schon zu sehr in meinen ärztlichen Beruf hineingelebt. Das soll ich nun plötzlich aufgeben, all die stolze Genugtuung, die tiefe Befriedigung, die ich darin finde, auf eine doch ganz ungewisse andere Glücksmöglichkeit hin?«

Sie blickte in die Ferne, über das Meer hin, und etwas Nachdenkliches, leise Schwermütiges trat in ihre Mienen.

»Ja, wenn das nicht gewesen wäre, wenn es alles das nicht gegeben hätte, diese ganze Frauenbewegung mit ihren neuen Lehren, mit ihrer Aufrüttelung des weiblichen Selbstgefühls, des Bestrebens, in allem dem Manne gleichgestellt zu werden! Siehst du«, sie kehrte wieder ihren Blick dem neben ihr Sitzenden zu, »nun bin ich eine so eigenwillige Natur mit starkem Selbständigkeitsdrang geworden. In einer Ehe aber, ja, überhaupt in jedem Zusammenleben zweier Menschen kommen Meinungsverschiedenheiten vor. Ein Wille kann bei entgegengesetzten Meinungen und Wünschen doch nur maßgebend sein. Deiner oder meiner? Darüber würde es, müßte es zum Streit kommen, und dann würde gegenseitige Verbitterung eintreten. War es nicht ein Jahr voll ungetrübten Liebesglückes? Wollen wir das jetzt aufs Spiel setzen?«

»Du malst zu schwarz, Else!« gab er betrübt zurück.

Aber sie ließ sich nicht beirren.

»Vielleicht noch nicht schwarz genug.« Sie wandte sich ganz ihm zu und legte ihre Hand auf seine Schulter, beugte sich ein wenig vornüber und sah ihm mit herzlichem Blick in die Augen.

»Ich habe viel Vertrauen zu dir, Reinhold, ich weiß, du bist ein ehrlicher Charakter, ein Mann mit großem Gerechtigkeitsgefühl, denn sonst würdest du mir nicht diesen Vorschlag gemacht haben, für den ich dir von Herzen danke und der mich froh und stolz macht. Aber du bist doch auch nur ein Mensch, und es könnte doch sein, daß du einmal in einem schwachen Moment, vielleicht in einem schweren Meinungsstreit zwischen uns, überdies überarbeitet, nervös, eine Andeutung machtest auf meine Vergangenheit –«

»Aber Else!« unterbrach er verletzt, beschwörend.

»Und wäre es auch nur mit einem Blick, einer Geste, ich könnte keine Minute länger mit dir leben, ich hätte keine Ruhe mehr, kein Vertrauen zu dir. Immer würde mich der Gedanke verfolgen, peitschen, daß du mich im stillen verachtest und daß du dich ein zweites Mal vergessen könntest.«

Er ließ traurig sein Haupt sinken.

»Das solltest du nicht von mir denken, Else!«

Sie faßte beschwichtigend nach seiner Hand.

»Gewiß. Vielleicht sehe ich wirklich zu schwarz. Aber wenn es auch nicht dazu käme, ich würde doch immer vor dieser Möglichkeit zittern, und ich werde immer ein gewisses Gefühl der – der Unwürdigkeit –«

»Aber Else!«

»Nun ja, man kann doch diese Empfindungen, die einem von kleinauf eingepflanzt sind, nie ganz loswerden, und besonders ihr Männer seid doch alle so tief darin befangen.«

Ihre Bewegung trieb sie von dem Sitz im engen Strandkorb auf; blaß, zitternd von allem, was die Unterredung in ihr aufgewühlt hatte, stand sie vor ihm.

»Überhaupt – siehst du, davon bin ich tief durchdrungen, das ist meine feste Überzeugung: ich bin kein Weib, das für die Ehe taugt mit ihren Kleinigkeiten, mit ihren Beschränkungen und ihren Fesseln. Wir können uns liebhaben, ja, viel ungetrübter, hingebungsvoller, ehrlicher ohne die Ehe.«

»Aber wenn wir einmal alt werden!«

Sie lächelte.

»Wenn wir alt werden! Sollen wir uns deshalb möglicherweise unsere besten Jahre verpfuschen?«

Sie umfaßte ihn schelmisch.

»Warten wir ab! Vielleicht sprechen wir später noch einmal darüber – in zehn oder in fünf Jahren, wenn du –« sie blickte neckisch – »wenn du mich dann noch magst.«

Sie reckte ihm ihr Gesicht und ihre Lippen entgegen. Er zog sie an sich und küßte sie stürmisch, in Schmerz und Freude.

*


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