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Zu vieren und zu zweien sahen sich die beiden Liebespaare an. Der Jüngeren ging eine neue Welt auf. Ortwin Ladenburg versah sie mit sorgfältig ausgewählter Lektüre. Gedichtbände von Dichtern, die sie noch nicht einmal dem Namen nach kannte, Romane der neueren besseren Literatur, sowie auch Werke populärwissenschaftlichen Inhalts lieh und schenkte er ihr, und er ließ es sich auch in ihren Gesprächen angelegen sein, ihren Geschmack zu läutern und ihren geistigen Gesichtskreis zu erweitern. Er entwickelte vor ihr in leicht verständlicher Weise und mit dichterischem Schwung seine Weltanschauung, die eine so ganz andere war, als was sie bisher von der Entstehung der Welt und dem Sinn des Lebens gewußt hatte. Er vermittelte ihr nicht nur positive Kenntnisse, sondern stellte sie auch auf einen festeren Grund und erfüllte sie mit mehr Kraft und Freude zum Leben. Es war ein ganz anderes Gefühl, das in diesem Verkehr mit dem jungen Dichter in ihr erwachte, als ihr seinerzeit Kurt Vollbrecht eingeflößt hatte. Eine große innige Verehrung bildete sich in ihr; es war eine ganz geistige, seelische Liebe, die sinnliche Wallungen nicht in ihr aufkommen ließ.

Sie sahen sich nur an öffentlichen Orten. Da der junge Dichter als Redakteur Freikarten hatte, führte er sie oft in die großen Theater, und ihre Seele badete sich in dem Genuß der besten dramatischen Literatur Deutschlands und des Auslandes. Ihre schönen, idealen Beziehungen zu dem jungen Manne trübten keinerlei materielle Wünsche, wie es seinerzeit bei ihrem ersten Liebesverhältnis der Fall gewesen und die für sie zu einer Quelle unaufhörlicher Unruhe und bitterer seelischer Martern geworden waren. Ohne alle Nebengedanken hatte sie sich ganz dem Reize hingegeben, der für sie in den Zusammenkünften mit dem an geistiger Bildung sie so erheblich überragenden, ideal gesinnten jungen Dichter lag. Nicht ein einziges Mal kam ihr der Gedanke an eine Heirat mit dem jungen Manne. Es hatte sich von selbst ergeben, daß sie während ihrer Gespräche auf ihre persönlichen Verhältnisse zu sprechen kamen, und da hatte sie erfahren, daß sein Vater Gymnasiallehrer gewesen und daß seine verwitwete Mutter bei der seit einem Jahr verheirateten Tochter lebte. Bis dahin hatte er mit ihr und der Schwester einen Haushalt gebildet, und da die geringe Witwenpension nicht ausgereicht, hatte er schon als Student durch Erteilung von Privatstunden zum Unterhalt beigetragen. Sein Gehalt als Hilfsredakteur war gering und seine Zukunft ganz unsicher.

So war sie von dem Drucke frei, der früher immer auf ihr gelegen, und vor Enttäuschungen sicher. Sie war zufrieden mit der Gegenwart und wünschte nichts, als daß es ihr noch lange vergönnt sei, zu dem bewunderten Manne mit diesen Gefühlen innigster Freundschaft, Verehrung und Dankbarkeit aufzuschauen. Freilich, während der Ausflüge, die sie noch im August und auch an schönen Septembertagen unternahmen, bei ihren Spaziergängen im Tiergarten strömten doch wärmere Empfindungen in ihm und ihr und ergossen sich nicht nur in kosende Worte, sondern auch in verstohlene süße, leidenschaftliche Betätigungen ihrer Liebe.

Als sie eines Abends ihre Kusine besuchte, erkannte sie sofort, daß sich irgend etwas von tieferer Bedeutung ereignet haben müßte. Die Bewegung, mit der Else von dem Sessel, auf dem sie im Nichtstun – ein seltener Fall bei ihr – gesessen hatte, aufsprang, wie sie ihr entgegeneilte, das war so elastisch, von einem inneren Impuls beflügelt; aus ihren Augen strahlte eine innerliche Freude, ein verklärender Glanz lag auf ihrem Antlitz, und statt mit freundlichem Händedruck begrüßte sie die Eintretende mit stürmischer Umarmung.

Aus alledem sprach eine innige Befriedigung, ein ungewöhnlich freudiges, beglückendes Erlebnis. Ähnlich war sie schon einmal gewesen, als es ihr gelungen war, eine Schwerkranke, die sie schon aufgegeben hatte, durch die gefährliche Krisis zu bringen.

»Also man darf gratulieren, Fräulein Doktor«, sagte sie herzlich. »Was hat ihr denn gefehlt?«

»Wem?« fragte die andere erstaunt.

»Na, deiner Patientin, der du kluge Ärztin Leben und Gesundheit wiedergeschenkt hast.«

Else Hauf lachte herzlich.

»Ach so! Nein, viel, viel Schöneres ist mir passiert. Ich selbst war die Patientin.«

»Du?« Verständnislos blickte die Jüngere der ihr beim Ablegen Behilflichen in die lebhaft funkelnden Augen.

Die junge Ärztin schnitt eine tragikomische Grimasse.

»Ja, ich war krank. Es ging mir schlecht; nichts machte mir mehr Freude, kein Essen schmeckte mir, kein Schlaf erquickte mich.«

»Aber davon habe ich doch gar nichts bemerkt.«

»Weil du selbst mit dir zu tun hast, weil du selbst an dieser Krankheit leidest.«

Schalkhaft blitzten die Augen der Sprechenden.

»Arme Lisbeth! Ich aber bin geheilt. Und nun ist das Leben wieder schön, die Welt wieder vollkommen!«

Und dann wollte sie sich ausschütten vor Lachen über das verblüffte Gesicht der anderen.

»Gestern war ich bei meinem Arzt, zum erstenmal. Und er war so lieb zu mir, so süß, so stürmisch, so feurig! Und nun bin ich wieder gesund, ganz gesund. Nun bin ich nicht nur Ärztin, Berufsmensch, nun bin ich auch Weib, ganz Weib!«

Sie streckte die Arme von sich, reckte das leuchtende Gesicht und schloß wie wonnetrunken die Augen.

»Aber Else!« sagte die andere gedehnt und wandte verschämt ihr Gesicht ab. Sie wunderte sich über den Freimut der Kusine, über den sie errötete und der ihr eine peinliche Empfindung bereitete.

Aber das Fräulein Doktor lachte nur wieder.

»Ach so, nun soll ich wieder die Heuchlerin spielen, wie das so üblich ist, mich am Ende schämen? Nein, meine Liebe, den Gefallen tu' ich dir nicht, fällt mir nicht ein! Und wenn ich es auch natürlich nicht einer Fernstehenden auf die Nase binde, dir gegenüber will ich nicht Verstecken spielen, vor dir will ich meine Genugtuung, mein Glück nicht verleugnen. Ja, Lisbeth, das Liebesglück ist doch das Höchste, Schönste, und die Freude, die einem der Erfolg im Beruf, das Gefühl erfüllter Pflicht bereitet, reicht da nicht heran, und auch alles andere nicht, was dieses miserable Leben an körperlicher und seelischer Lust uns bietet.«

Sie führte ihre Besucherin, die nicht wußte, was sie auf diesen ekstatischen Ausbruch ihrer sonst so ruhigen, ernsten, allem Überschwang abholden Kusine erwidern sollte, zum Sofa und setzte sich neben sie. Sie mit einem Arm umschlingend, sich vorbeugend und ihr forschend in die Augen schauend, fragte sie: »Nun, und du? Wie steht es mit dir, mit euch beiden?«

Lisbeth Glümer zeigte eine unwillige Miene und entgegnete ärgerlich:

»Du wirst mir doch nicht zutrauen, daß ich mich einem Manne an den Hals werfe.«

»Natürlich nicht. Denkst du, ich habe das getan? Nein! Aber man kommt doch, sich gegenseitig anziehend, von demselben natürlichen Verlangen mehr und mehr erfüllt, allmählich von selbst dazu, wobei natürlich der Mann die Initiative ergreift. Selbstverständlich vorausgesetzt, daß man Wohlgefallen aneinander empfindet, daß man sich liebt.«

»Herrn Ladenburg wird es nie einfallen, mir so – so etwas zuzumuten. Noch nie hat er mir auch nur die geringste Andeutung gemacht, daß es sein Wunsch sei, ich möchte ihn besuchen.«

Das Fräulein Doktor war offenbar wirklich überrascht.

»So? Wirklich? Das ist ja eine Ausnahme von einem Manne. Arme Lisbeth! Was soll denn nun werden?«

»Nichts! Es soll bleiben, wie es ist. Ich verlange nichts anderes, daß du es weißt!« versetzte die Jüngere voll Entrüstung und Eifer. »Ich achte ihn, ich bewundere sein hohes Streben, sein großes Talent. Er spricht mit mir von seinen Arbeiten, seinen Plänen; er belehrt mich und klärt mich auf. Das genügt mir.«

Die andere strich über die glühenden Wangen der Erregten.

»Dann freilich – na, beruhige dich nur! Ich hab's ja nicht böse gemeint, ich dachte nur – – Also dann laß uns von etwas anderem sprechen!«

Im stillen aber hatte sie eine andere Ansicht. Als Ärztin kannte sie ja die menschliche Natur und das weibliche Empfinden besser, und sie huldigte der Meinung Schopenhauers, daß dieses ganze Schwärmen und zarte Getue doch nur den einen Untergrund hat und nur das eine Ziel erstrebt, wie der große Philosoph es zynisch ausdrückt: »Alle Verliebtheit, wie sie sich gebärden mag, wurzelt allein im Geschlechtstrieb. – Es handelt sich ja bloß darum, daß jeder Hans seine Grete findet! –«

*

Während eines ihrer nächsten Besuche bei dem Geliebten berichtete Else Hauf von Lisbeths Äußerungen über ihre Beziehungen zu Ortwin Ladenburg.

»Meinst du auch«, fragte sie mit ironischem Lächeln, »daß sie bei der Literatur stehenbleiben werden?«

»Wohl möglich«, gab er sinnend, ernst zurück.

Sie sah dem neben ihr Sitzenden erstaunt in das Gesicht.

»Du scherzest doch nur?«

Aber er verneinte mit einer Kopfbewegung.

»Mit meinem Freund Ortwin ist das ein besonderer Fall.«

»Ein besonderer Fall? Ist er irgendwie nicht normal?«

Das Interesse des Weibes und der Ärztin regten sich gleicherweise in der Fragenden.

»Körperlich ist er, soweit ich urteilen kann, wohl nicht unnormal. Aber seine seelische Entwicklung hat sich etwas außergewöhnlich gestaltet. Bis vor einem Jahre, also bis zu seinem vierundzwanzigsten Lebensjahre, hat er mit seiner Mutter zusammengelebt. Von Natur schon sehr sensitiv, feinorganisiert, hatte ihn der Einfluß der sehr empfindsamen und sehr sittenstrengen Mutter von allem weiblichen Verkehr außerhalb ihres kleinen Kreises zurückgehalten. In Berlin aber ist er, keusch und ästhetisch, wie er von Natur und Erziehung ist, den käuflichen Mädchen, denen die unerfahrenen jungen Leute meist unterliegen, ängstlich aus dem Wege gegangen. Ich weiß es von ihm selber, daß er geschlechtlich noch ganz –«

»Dann freilich! Arme Lisbeth!«

»Nun«, wandte der Chemiker auf diesen Ausdruck ihres Mitgefühls ein, »sie wird es doch gewiß nicht schwer, vielmehr, der weiblichen Natur entsprechend, leichter ertragen als mein keuscher Freund, denn ich habe den Eindruck, daß sie in Erotizis noch ebenso unerfahren ist wie er.«

Else Hauf überlegte ein paar Sekunden lang.

»Dir kann ich es ja sagen«, erklärte sie sodann, »du wirst ja Diskretion wahren: Du irrst.«

Und sie berichtete kurz, wie übel es ihrer Kusine ergangen war.

»Leidet denn dein Freund nicht unter dieser naturwidrigen Enthaltsamkeit?« fragte sie.

»Freilich. Er hat mir schon wiederholt sein Leid geklagt. Zeitweise fühlt er sich ganz unglücklich, schwermütig, ja, verzweifelt. Ich weiß nicht, ob dir diese Symptome bekannt sind – ?«

Sie nickte, im stillen lächelnd, denn er wußte noch immer nicht, daß sie Ärztin war.

»Ein wenig«.

»Nun also, dann wirst du ja wissen, wie das einem jungen Mann an der Lebensfreude, sogar auch bei der Arbeit hindert. Wie ein Held ringt er mit sich und kann sich doch nicht entschließen, sich des allein heilenden Mittels zu bedienen. Aber da deine Kusine eine Wissende ist, so werden sie ja, verliebt, wie sie ineinander sind, den natürlichen Weg zu einander finden.«

»Das glaube ich nicht«, versetzte Else Hauf. »Lisbeth wird sich kaum zu dem ersten Schritt verstehen.«

»Ach so – ja freilich. Das wäre unweiblich. Du hast recht, den Eindruck macht sie nicht. Die Armen! So werden sie ihr geheimes Leiden immer mehr steigern, obgleich sie sich lieben oder vielleicht richtiger: weil sie sich lieben, aufrichtig lieben. So verkehren unsere konventionellen Anschauungen und Empfindungen das Natürliche in das Gegenteil.«

»Wenn man ihnen nur helfen könnte!« meinte die junge Ärztin nachdenklich. »Man kann ihnen doch nicht sagen? Gehet hin und – paaret euch! Damit bewirkt man nur das Gegenteil«, fügte sie in Erinnerung an ihr Gespräch mit der Kusine hinzu.

»Freilich. Und man kann sie doch auch nicht einander in die Arme legen«, bemerkte der Chemiker lächelnd, »obgleich es für meinen Freund die höchste Zeit wäre, sonst wird seine Gesundheit, auch sein Geist und Charakter darunter leiden, und schließlich wird er ein freudloser, unglücklicher Mensch werden. – Armer Ortwin!«

»Arme Lisbeth!«

*

Die leidige Grippe, die im Spätherbst grassierte, kam in ihren weiteren Folgen den Wünschen der Besorgten entgegen. Es packte den jungen Dichter arg; das Fieber stieg am zweiten Tage auf 40 Grad; der Arzt ordnete zweistündige Umschläge an und empfahl zur Nacht eine Krankenschwester. Dr. Moeller, der sich entschlossen hatte, bei dem Freunde zu wachen, ging bei seiner Geliebten mit heran, um sich von ihr eine zuverlässige Schwester empfehlen zu lassen.

»Ich komme selber«, sagte Else Hauf. »Ich habe heute keinen Nachtdienst.«

»Desto besser! Und schönen Dank im voraus!«

Sie machte sich fertig, und sie begaben sich gemeinsam in die Wohnung des Kranken, der ein größeres und ein kleineres Zimmer in einem Gartenhause des Westens bewohnte. Mitten in der Nacht bekam der stark Fiebernde einen Herzanfall.

»Ich muß ihm eine Einspritzung geben«, sagte die Pseudokrankenschwester.

»Ja, hast du denn eine Spritze bei dir?«

»Das Handwerkszeug hat unsereiner doch immer bei sich«, sagte sie lächelnd.

Sie entnahm ihrer Handtasche ein Besteck mit Instrumenten.

»Es fehlt aber noch das Kokain«, sagte sie. »Du mußt schon so freundlich sein, zur Apotheke zu gehen.«

»Ja, bekomme ich es denn so ohne weiteres?«

»Nein«, erwiderte sie und setzte sich an den Schreibtisch, »aber ich schreibe dir die Verordnung.«

»Du?« fragte er erstaunt.

Sie entgegnete nichts, schrieb mit eiliger, geübter Hand und reichte ihm das Blättchen. Er las erstaunt die Unterschrift: »Dr. E. Hauf« und sah sie aufs höchste befremdet an.

»Aber das ist ja eine Fälschung.«

Sie lachte.

»Unsinn! Beeile dich nur! Es ist alles in Ordnung.«

Mancherlei war ihm schon früher aufgefallen an ihren gelegentlichen Äußerungen, bei denen sie für den Augenblick nicht bedacht hatte, daß sie in seinen Augen immer noch die Krankenschwester war. Jetzt begriff er auf einmal, daß sie ihn getäuscht hatte. Er sah sie mit einem so komischen Gemisch von Verdutztheit und Respekt an, daß sie laut auflachte.

Da lachte auch er.

»Du Flausenmacherin! Warum hast du mich denn so angeschwindelt?«

»Das erkläre ich dir ein andermal! Jetzt laufe!«

Er stürmte hinaus. Nach einer Viertelstunde war er wieder da. Als die Einspritzung gegeben und der Kranke ruhiger geworden war und in Schlummer verfiel, kam Dr. Moeller auf seine Frage zurück: »Also, warum hast du mir vorgeredet, daß du Krankenschwester bist?«

»Du hast es mir ja selbst in den Mund gelegt.«

Er dachte nach.

»Das mag wohl sein. Aber du hättest doch nicht zu bejahen brauchen, sondern mir die Wahrheit sagen können.« Sie lächelte schelmisch.

»Das wollte ich ja eben nicht, denn ich ahnte, daß du auch zu den Männern gehörst, die Frauenrechtlerinnen und studierte Weiber nicht mögen.«

»Lag dir denn daran, Eindruck auf mich zu machen?«

Ein Leuchten voll Zärtlichkeit brach aus ihren Augen.

»Ja, es war etwas an dir, an deinem Wesen, in deinem Gesicht, das mich ansprach. Und ich hatte die instinktive Empfindung: den könntest du lieben, und zugleich den Wunsch, dir zu gefallen.«

Er zog sie verliebt an sich und spitzte schon die Lippen. Aber sie wehrte ihn mit neckisch-wichtiger Miene ab. »Hier wird nicht geküßt! Hier bin ich nicht Femininum, sondern Neutrum: das Fräulein Doktor!«

*

Else Hauf hatte ihrer Kusine Nachricht von der Erkrankung Ladenburgs gegeben. Es ließ Lisbeth Glümer keine Ruhe. An einem der nächsten Nachmittage – sie hatte sich etwas früher vom Geschäft losgemacht – eilte sie nach seiner Wohnung. Else öffnete ihr und nickte ihr freundlich zu.

»Das ist recht, daß du kommst. Es geht ihm besser. Er wird sich freuen, dich zu sehen.«

Aber die Befangene stotterte etwas von: »Nur erkundigen wollen, gleich wieder gehen.«

Die junge Ärztin lachte.

»Unsinn! Hab' dich nicht!«

Sie zog die nur schwach Widerstrebende ins Zimmer. Dr. Moeller war auch da; sie erglühte beschämt, verlegen. Aber er begrüßte sie so herzlich und so unbefangen, als sei es die natürlichste Sache von der Welt, daß sie kam, um nach dem Erkrankten zu sehen.

»Er ist gerade munter. Sie können sich selbst überzeugen, wie es mit ihm steht.«

Er faßte sie an der Hand und zog sie in das Schlafzimmer, kehrte aber sofort zu Else zurück, die im Arbeitszimmer des Dichters zurückgeblieben war. Der Kranke öffnete seine Augen weit, und dann stieß er einen Laut des Entzückens aus und streckte ihr die Hand entgegen. Sie eilte zu ihm hin, befangen und doch glücklich, ihn so verhältnismäßig munter zu sehen.

Er zog ihre Hand an seine Lippen.

»Wie geht es – Ihnen?« stammelte sie.

»Liebe Lisbeth!« flüsterte er selig. Und darauf: »Wir sind allein.«

Sie warf einen scheuen Blick um sich, dann strömte die Liebe in ihr über, und sie beugte sich zu ihm hinab, um ihn zu küssen. Aber er warnte: »Nein! Vorsicht! Ich habe noch Husten!«

Und dann, ein wenig verschämt, mit bittendem Blick:

»Küsse mich auf die Stirn, auf die Augen!«

Sie tat, wie er geheißen.

»Dank! Dank!« sagte er leise, verzückt. »Das war schön! Das schmeckt viel besser als alle Arznei.«

Er zog sie auf den Stuhl neben seinem Bett, und dann sahen sie einander in die Augen, schweigend, mit hochklopfendem Herzen, ganz erfüllt von dem Glück des nahen Zusammenseins.

Auch in den nächsten Tagen besuchte sie ihn, um sich von den Fortschritten, die er in der Genesung machte, zu überzeugen, um ihm die Zeit mit ihrem Geplauder zu vertreiben oder ihm vorzulesen. Auch als er schon aufgestanden und in der Rekonvaleszenz war, kam sie. Nun war keine Gefahr mehr, nun konnten sie sich auch küssen nach Herzenslust. Ach, das war doch viel, viel schöner als das gelegentliche scheue, ängstliche Küssen auf den Spaziergängen, wo man immer vor Beobachtern auf der Hut sein mußte.

Eines Abends war sie wieder bei ihm; sie hatte etwas Aufschnitt mitgebracht; Brot und Butter hatte er vorrätig, dazu hatte er ein paar Flaschen Bier von dem Dienstmädchen seiner Wirtin holen lassen, und so ließen sie es sich wohl sein und schmausten und schwatzten nach Herzenslust. Als das Abendbrot verzehrt war, kam auch die Zärtlichkeit, die ihnen das Herz warm und übervoll machte, zu ihrem Recht. Die Küsse wurden immer länger und inniger, bis sie plötzlich aufsprang und an den Spiegel trat, erhitzt, mit hochwogendem Busen, mit zerzaustem Haar.

Er stand hinter ihr, ein paar Schritte ab, und schaute ihr mit glänzenden Augen zu. Die Glut auf seinen Wangen flammte noch dunkler als auf den ihren, und das heiße, leidenschaftliche Verlangen pulsierte ihm ungestüm in allen Adern und Nerven.

Sie drehte sich zu ihm herum, verlegen, befangen, unwillkürlich die Blicke senkend vor den auf sie gehefteten lodernden Blicken des Geliebten.

Er aber, ganz beherrscht von dem Ungestüm der in ihm erwachten, so lange beherrschten Triebe, faßte sie an den Händen, und dann ließ er sich auf einem Stuhl nieder und zog sie auf seine Knie.

»Du – du!« stammelte er und überflutete sie aufs neue mit seinen Küssen.

Sie dehnte und reckte sich in seinen Armen und schloß die Augen, ganz Hingabe. Da sprang er plötzlich auf, so daß sie erschrocken – taumelnd von seinen Knien glitt. Sein Atem ging wie im Fieber; er griff sich an die Stirn und senkte das Haupt in die Hand, stöhnend, in qualvollem Ringen.

»Geh!« stieß er mit keuchender Brust hervor. »Ich bitte dich, geh, Lisbeth!«

Ganz beherrscht von seiner Dringlichkeit, nahm sie ihren Hut, befestigte ihn mit zitternden Händen, warf eilig ihren Mantel über und verließ wie betäubt das Zimmer.

Durch ihre Erfahrungen mit Kurt Vollbrecht gewitzigt, blieb Lisbeth Glümer nicht im unklaren über die Bedeutung des Vorgangs, der zu ihrem überstürzten, abschiedslosen Fortgehen aus der Wohnung des Geliebten geführt hatte. Durch seine zwingende Bitte, sie möchte ihn verlassen, hatte er sie und sich selbst vor der in ihm erwachten, begehrlichen Leidenschaft schützen wollen. So sehr seine Selbstbeherrschung auch geeignet war, ihre Achtung vor seinem Charakter und die Verehrung, die er ihr als Dichter und als Mensch immer eingeflößt hatte, noch zu steigern, es war doch auch eine leise Unzufriedenheit in ihr. Was nun? Würden sie sich nun nicht mehr sehen? Jeden Abend bei ihrem Nachhausekommen war ihre erste Frage, ob kein Brief für sie gekommen sei, und tiefe Traurigkeit befiel sie jedesmal bei dem verneinenden Bescheid der Wirtin.

Warum schrieb er nicht wenigstens? Schämte er sich oder ging er mit sich zu Rate?

Eine Mitteilung, die ihr Else Hauf in diesen Tagen machte, versetzte sie in eine noch größere Unruhe und rief heftige, leidenschaftliche Seelenkämpfe in ihr hervor. Die junge Ärztin erzählte ihr, was ihr Dr. Moeller über seinen Freund berichtet hatte. Wie eine Offenbarung von tiefster Bedeutung wirkte das Ungeahnte auf das leichtbewegte Mädchengemüt. Als die Kusine sie verlassen hatte, zog die starke Erschütterung sie in ihre Knie nieder; sie erhob ihre Arme und faltete die Hände über ihren Kopf, und wie ein frommes, heiliges Erschauern lief es durch ihre Glieder. Sie war ja nun erfahren genug, um zu wissen, daß dieser Zustand der absoluten Keuschheit bei einem Manne in dem Alter Ortwin Ladenburgs eine große, große Seltenheit war, und er, gerade er, dieser seltene reine Mann, zeichnete sie mit seiner Liebe aus! Und dann fiel ihr plötzlich ein, wie unwert sie der Liebe dieses Mannes war. Ihre Arme sanken ihr bei diesem Gedanken matt herab, und wie vernichtet drückte sie ihr Gesicht in die Hände und weinte bitterlich. Alle Schmerzen, die ihr die von ihrem Verführer zugefügte Schmach bereitet hatte, wurden wieder wach in ihr, und in ihrer Zerknirschung gelobte sie sich im Bewußtsein ihrer Unwürdigkeit, sich künftig von dem verehrten Manne fernzuhalten.

Da fand sie am nächsten Abend beim Nachhausekommen einen Brief von seiner Hand. Er schrieb in einem Ton, der sie tief beschämte, der aber zugleich ihr Herz auch frohlocken, jubeln machte. In zartester Weise deutete er ihr an, daß er sich geschämt habe, an sie zu schreiben, und daß er in diesem Gemütszustande noch weniger es über sich vermocht habe, ihr wieder unter die Augen zu treten. Aber nun lasse ihm die Sehnsucht keine Ruhe, und er bitte sie, ihm Nachricht zu geben, ob und wann sie sich, vielleicht in der Konditorei am Potsdamer Platz, wo sie sich schon wiederholt getroffen, wiedersehen könnten.

Ihr erster Impuls war, ihm ein offenes Geständnis abzulegen. Sie wollte ihn über ihre Vergangenheit aufklären, ihm nichts verheimlichen. Dann mochte er entscheiden, ob er sie noch seines Interesses und seines Umganges für wert halte. Aber als sie sich nun an den Tisch gesetzt hatte und zu schreiben begann, ward sie inne, wie furchtbar schwer es war, gerade ihm ein solches offenes Bekenntnis zu machen. Sie konnte die rechten Worte nicht finden; bald schien ihr der Ausdruck zu plump, zu häßlich, zu herabsetzend für sie, bald wieder zu gewunden, zu unklar, und schließlich warf sie die Feder weg. Unmöglich, ihm das alles zu sagen, was sie gerade in seinen Augen so tief herabwürdigen, so verächtlich und hassenswert machen mußte. Angesichts seines Briefes, der ein so überzeugendes, so bewundernswertes Bild seines hochstehenden Charakters war, wurde ihr klar, daß sie ihn für immer verlieren mußte, wenn sie ihm bekannte, daß sie nicht mehr die war, die er in ihr erblickte. Und wenn sie sich auch zu ihrer Entschuldigung sagte, daß sie im Grunde nicht so verdammenswert war, wie es den Anschein haben mochte, daß sie das Opfer ihrer Unerfahrenheit, der raffinierten Verführungskünste eines gewissenlosen Mannes und vielleicht mehr zu bedauern als zu verdammen war, sie fürchtete doch, daß gerade ein Mann, der sich selbst seine Reinheit erhalten hatte, strenger urteilen müßte als jeder andere.

In ihrer Herzensnot eilte sie zu ihrer Kusine, um ihr, so peinlich es ihr auch war, alles mitzuteilen und um ihren Rat zu bitten.

Schon während des stockend, beschämt vorgebrachten Berichtes schüttelte die junge Ärztin mit dem Kopf. Als die andere ihre Mitteilung beendet hatte, brach sie los:

»Toren, die ihr seid! Warum quält ihr euch gegenseitig, anstatt einfach eurem Gefühl, dem natürlichen Verlangen, zu folgen? Wem tut ihr damit etwas Gutes? Etwa euch selbst? Ihr martert euch, ihr wütet gegen euch selbst. Ich kann dir nur raten, anstatt ihm zu schreiben und das, was doch kommen wird und unter unseren Verhältnissen kommen muß, noch weiter hinauszuschieben: geh einfach zu ihm, und das Weitere wird sich finden.«

»Aber Else«, wandte die Jüngere entsetzt ein, »bedenkst du denn nicht, daß er mich für schamlos halten, daß er mich verachten würde, wenn ich das täte!«

»Unsinn! Es ist deine Sache, ihn nicht zu solchen Gedanken und Empfindungen kommen zu lassen. Hinterher wird er es nur als Befreiung, als Erlösung empfinden; seine Liebe für dich wird noch viel, viel herzlicher, inniger werden, und seine Dankbarkeit dir gegenüber wird keine Grenzen kennen.«

Lisbeth Glümer hob ihre ineinander verschlungenen Hände und rief entzückt: »Ach, Else, wenn das wahr wäre!«

»Ob das Wahrheit werden wird, hängt nur von dir ab. Du bist die Erfahrenere von euch beiden, an dir ist es, den ersten Schritt zu tun. Ja, das ist nicht nur dein Recht, es ist auch deine Pflicht, liebe Lisbeth, wie die Sachlage nun einmal ist.«

»Meine Pflicht?«

»Jawohl. Oder wäre es dir lieber, wenn ihn sein natürliches Verlangen schließlich einer anderen in die Arme führt, die weniger törichte Skrupeln hat wie du?«

Die Jüngere seufzte schmerzlich, und die ekstatisch erhobenen Hände sanken schlaff an ihrem Körper hinab. Leise, unsicher, gar nicht im Ton der Überzeugung kam es von ihren Lippen: »Er wird es nicht tun, Else.«

»Um so schlimmer für ihn. Dann wird er schließlich seelisch und körperlich verkümmern und ein einsamer, unseliger Mensch werden.«

Und sie teilte der bestürzt Aufhorchenden die Besorgnisse mit, die Dr. Moeller von dem enthaltsamen Leben seines Freundes für dessen Zukunft fürchtete.

»So«, schloß sie die intime Aussprache, »nun siehst du klar? Dein Gefühl wird dir sagen, was du zu tun hast.« –

Die halbe Nacht rang Lisbeth Glümer in heißen Kämpfen. Bilder des Schreckens quälten sie, die ihr den Geliebten bleich, abgezehrt, ruhelos und freudlos zeigten. Dann wieder kamen Phantasien über sie, die sie mit heißer Glut erfüllten. Am anderen Abend war ihr Entschluß gefaßt. Gleich beim Nachhausekommen nahm sie ein Bad, legte frische Wäsche an und das schickste Kleid. Dann begab sie sich, innerlich zwischen Bangen und Verlangen schwankend, nach der Wohnung des Geliebten. Als sie die Treppe hinaufstieg, schlugen ihr die Zähne wie im Fieberfrost zusammen. Doch als sie nun in sein Zimmer eintrat und er erstaunt, verwirrt aufsprang, zwang sie sich zu einem ruhigen, sicheren Auftreten.

»Verzeihe, daß ich dich überrasche! Aber ich hatte solche Sehnsucht. Da wollte ich nicht erst Zeit mit dem Schreiben und Verabreden verlieren.«

Ein liebliches Lächeln strahlte ihm aus ihren Zügen entgegen, und der rührend verschämte Blick ihrer blauen Augen drang in sein Herz.

»Und es ist doch so viel trauter und heimischer bei dir als in den Lokalen, unter fremden Menschen.«

Vor der Anmut ihrer halb schüchternen, halb nach ihm verlangenden Haltung vergaß er seine anfängliche Befremdung; voll Freude eilte er ihr entgegen.

»Ich danke dir, Lisbeth! Es ist so lieb von dir. Auch ich habe mich ja so sehr nach dir gesehnt!«

Er zog sie in seine Arme, und ihre Lippen fanden sich in einem langen, heißen Kuß. – – –

Lisbeth Glümer erkannte, wie recht ihre erfahrenere, kundigere Kusine hatte. Es gewährte ihr eine innige, herzerfreuende Genugtuung, zu sehen, wie dankbar ihr der Geliebte war, wie seine Liebe zu ihr sich noch vertiefte, noch verehrungsvoller, zärtlicher wurde, wie eine sichtliche Veränderung mit ihm vorging. Frischer und freier wurde sein Blick, elastisch sein Gang, seine Gesichtsfarbe gesünder; sein ganzes Wesen erfüllte etwas Sicheres, Männliches. Seine Freude am Leben und seine Arbeitslust steigerten sich, und eines Tages teilte er der Geliebten freudestrahlend mit, daß er ein schon lange geplantes Drama, zu dem ihm immer noch der Mut, das rechte Vertrauen gefehlt, zu schreiben begonnen habe.

»Du hast mich zum Mann gemacht«, flüsterte er der glückselig Errötenden ins Ohr, »zum glücklichsten aller Menschen. Nun weiß ich erst, wie schön, wie reich das Leben ist!«

Auf den Weihnachtstisch legte er ihr seinen eben erschienenen Gedichtszyklus: »Die Ostsee«, und voll Stolz und Freude las sie die dem Werk vorgedruckte Widmung: »Lisbeth in Dankbarkeit und Verehrung zugeeignet.«

*


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