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Dr. Else Hauf ging endlich daran, eine Idee, die sie schon bald nach ihrer Übersiedlung viel beschäftigt hatte, zur Ausführung zu bringen. Der Umstand, daß sie inzwischen eine ganze Anzahl von Kolleginnen, Krankenschwestern und Patientinnen kennengelernt hatte, mit denen sie sich in ihren Anschauungen begegnete, ermöglichte ihr endlich, ihren Plan zur Gründung eines Junggesellinnenklubs zu verwirklichen. Es waren ihrer zehn unverheiratete Damen verschiedener Altersstufen, die an einem Januarabend die bescheidenen Räume des Junggesellinnenklubs einweihten. Außer der Begründerin waren an der Eröffnung dieses neuesten Damenklubs beteiligt: zwei Kolleginnen derselben, beide Ende der Dreißig, ferner zwei Krankenschwestern, beide Ausgangs der Zwanzig, eine ehemalige Telephonistin, die, nachdem sie von der Postverwaltung entlassen worden war, eine Papier- und Schreibwarenhandlung betrieb, eine frühere Lehrerin, eine Witwe, die infolge ihrer ehelichen Erfahrungen eine leidenschaftliche Hasserin der Ehe geworden war, eine Schauspielerin, und schließlich Lisbeth Glümer, die sich ja, seit sie sich rückhaltlos der Liebe zu Ortwin Ladenburg hingegeben, auf eine Heirat keine Hoffnung mehr machte. Im übrigen brauchte keine der in den Junggesellinnenklub Eintretenden sich zur Ehelosigkeit zu verpflichten, wie bei der nach der Eröffnungsrede der Gründerin stattfindenden Beratung der Statuten mit sechs gegen vier Stimmen beschlossen wurde. Die Majorität hatte sich bei ihrem Beschluß von der Erwägung leiten lassen, daß eine Verpflichtung zur Ehelosigkeit ja doch keinen praktischen Wert haben würde, denn man konnte ja selbstverständlich niemand zwingen, eine solche Verpflichtung auch einzuhalten. Dagegen wurde ein Paragraph einstimmig angenommen, der das Erlöschen der Mitgliedschaft im Falle der Verlobung oder Verheiratung eines Klubmitgliedes als selbstverständlich aussprach. Als Zweck der Begründung des Klubs wurde erklärt, ein besseres, tieferes Verständnis, eine ehrlichere und herzlichere Kameradschaft zwischen Weib und Weib anzubahnen und für Mädchen und verwitwete oder geschiedene Frauen, die sich von der Ehe enttäuscht fühlten, einen Mittelpunkt zur Pflege gemeinsamer Anschauungen und Bestrebungen und zum geselligen Verkehr zu schaffen. Auch zur wirtschaftlichen gegenseitigen Unterstützung und zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen sollte der Zusammenschluß dienen. Ferner wurde als einer der Hauptpunkte unter allgemeiner freudiger Zustimmung in das Gründungsprotokoll und in die Statuten die Erklärung aufgenommen, daß man nicht auf dem Standpunkt derjenigen emanzipierten Frauen stände, die ihr Geschlecht als Last, ihre Sexualität als Schimpf und die Erotik als Schmach und animalischen Zwang empfänden. Im Gegenteil, man erkenne sich ausdrücklich das Recht zu, vom Leben auch in der Liebe den vollen von der Natur jedem gesunden Weibe bestimmten Anteil in Anspruch zu nehmen.

Zugleich wurde der entschiedenste Protest gegen die Vernunft- und Kaufehe ausgesprochen, diesen schamlosen Mißbrauch, diese schmachvolle Herabwürdigung einer schönen, segensreichen Institution, und es wurde Bezug genommen auf die Äußerung eines Mediziners, der behauptet hatte, daß die Hälfte der Ehegattinnen der Vernunftehe vom »weiblichen Sexualgenuß« ausgeschieden seien.

Schließlich wurde mit leidenschaftlichen Worten Verwahrung eingelegt gegen das ungeschriebene, aber noch immer offiziell als verbindlich angesehene Sittengesetz einer in Liebessachen den widersinnigsten, heuchlerischsten, ungerechtesten Anschauungen huldigenden Gesellschaft, wonach alle unverheirateten Frauen zur geschlechtlichen Enthaltsamkeit für ihre ganze Lebensdauer verpflichtet seien.

»Wir wollen nicht mehr als alte Jungfern traurige Schreck- und Zerrbilder der Wirklichkeit darstellen. Wir drängen uns nicht zur Ehe, die der Frau so oft bitterste Enttäuschung, Entbehrung und Elend statt Erlösung, Befriedigung und Glück bringt, aber wir schämen uns auch unseres ehelosen Zustandes ebensowenig wie der Junggesell, und mit noch größerem Recht als er ziehen wir die Konsequenzen und schaffen als Pendant zu ihm den neuen sozialen Typus der Junggesellin. Wir wollen frei sein von jeder Geschlechtsfron, der aktiven sowohl, die das Weib zwingt, sich gegen ihre Neigung hinzugeben, wie der passiven des Verzichts auf Liebe.«

Aus der Gründung dieses neuen Klubs folgte zunächst als praktisches Ergebnis, daß sich sechs der Mitglieder je zu zweien als wirtschaftliches Paar zusammenschlossen, und zwar mieteten sich Else Hauf und ihre Kusine eine Dreizimmerwohnung und schufen sich ein behagliches Heim; ein Dienstmädchen, das sie engagierten, besorgte die Wirtschaft. Ferner schlossen sich die ebenfalls alleinstehenden beiden Krankenschwestern zusammen, und das dritte Paar, das sich eine gemeinschaftliche Wohnung nahm, bildeten die Lehrerin und die ehemalige Telephonistin, die beide schon die Grenze der Dreißig und Vierzig überschritten hatten. Die beiden letzteren taten noch ein übriges, um ihrem natürlichen Muttergefühl zu genügen und sich ein vollständiges Familienheim, mit Ausschluß eines Ruhestörers von Mann, zu schaffen: sie nahmen ein dreijähriges kleines Mädchen an Kindes Statt an.

Die Klubräume bestanden im Anfang nur aus zwei größeren Räumen, die abends um sieben Uhr zur Benutzung geöffnet wurden und in denen einige Zeitungen und Zeitschriften auslagen. Die Küche – es wurden kalte Speisen, Kaffee, Schokolade und andere Getränke verabfolgt – besorgte eine hierfür angestellte ältere Frau. Alle Mitglieder waren mit voller Seele bei der Sache, und sie hielten es für eine Ehrenpflicht, fleißig Propaganda für den Junggesellinnenklub zu machen. Kein Wunder, daß die gerade für eine Stadt wie Berlin so zeitgemäße, praktische Einrichtung in kurzer Zeit regen Zuspruch fand, und daß fast keine Woche verging, in der nicht einige Neuanmeldungen erfolgten. So war man bald in der Lage, sich zu erweitern und einen Musiksalon sowie ein Billardzimmer einzurichten. Am liebsten aber saß man im Konversationszimmer und plauderte bei einer Tasse Kaffee oder einem Glase Bier oder Wein oder einem der beliebten Cocktails und sonstigen Mischungen. Daß man dabei auch flott Zigaretten paffte, verstand sich von selbst.

Eines Abends war man in kleinem Kreise im Konversationszimmer beisammen; nur ganz leise, kaum hörbar, drang von dem zweitnächsten Zimmer das Zusammenklappen der Billardbälle herein, mit denen zwei passionierte Billardspielerinnen – sie saßen den ganzen Tag an der Schreibmaschine und waren froh, sich am Abend ein bißchen Bewegung machen zu können – sich vergnügten. Der Zufall fügte es, daß die im Konversationszimmer angeregt Plaudernden nur aus den zehn Begründerinnen des Klubs bestanden. Die Älteste der Anwesenden, die ehemalige Lehrerin, hatte eben mit unverhohlenem Ingrimm von den Beschränkungen gesprochen, denen sie und ihre Kolleginnen, besonders an den öffentlichen Schulen, unterworfen gewesen wären. Noch heute verlange man von einer Lehrerin, daß sie nicht nur in der Schule, sondern auch im alltäglichen Leben diejenige Zurückhaltung und strenge Moral bekunde, die sie ihrer Stellung als Erzieherin der Jugend schuldig sei. Und als sie schließlich auf das der Lehrerin wie den katholischen Geistlichen auferlegte Zölibat zu sprechen kam, erkannte man an dem zornigen Klang ihrer Stimme und den lebhaft blitzenden Augen, daß persönliche Erfahrungen und Erinnerungen in ihr lebendig wurden.

Als sie geschlossen hatte, nahm die Vorsitzende, Fräulein Dr. Hauf, der während der Ausführungen der anderen eine plötzliche Idee gekommen war, das Wort.

»Darf ich mir einen Vorschlag erlauben, meine werten, lieben Klubgenossinnen? Ich glaube, es müßte für uns alle recht interessant und lehrreich sein, wenn wir hier unter uns ein kleines Dekameron veranstalteten.«

»Ein Dekameron?« warf die eine der beiden jüngeren Krankenschwestern fragend ein.

»Nun ja, Sie wissen doch, daß das Dekameron ein italienisches Novellenbuch des Boccaccio ist, das hundert Geschichten enthält, die sich zehn junge Leute an zehn Abenden erzählen, um ihre Furcht während der in Florenz grassierenden Pest zu betäuben.«

»Aha, ich verstehe«, bemerkte die eine der beiden Berufskolleginnen der Vorsitzenden, »Sie meinen, daß jede von uns einiges aus ihrem Leben erzählen soll.«

»Ganz recht. Und zwar dasjenige Erlebnis, das sie in weiterer Folge zur Junggesellin gemacht hat.«

Bei dieser Erklärung Dr. Else Haufs schlugen einige der Anwesenden betreten die Augen nieder, einige andere konnten sich eines unwillkürlichen Errötens nicht enthalten.

Der Vorsitzenden entging diese Wirkung ihres Vorschlages nicht.

»Der Beweggrund meiner Idee«, sagte sie, »ist selbstverständlich nicht indiskrete Neugier, sondern ich bin der Ansicht, daß diese Mitteilungen, die wir zu hören bekommen werden, und von denen sich natürlich keine von uns ausschließen dürfte, recht belehrend für uns alle sein und unseren Gesichtskreis nicht unwesentlich erweitern möchten. Besonders den Jüngeren unter uns könnte Nützliches aus den Erlebnissen der Älteren erwachsen, und wir alle könnten Nutzen daraus ziehen für uns nahestehende junge Mädchen, die bisher von unseren Erfahrungen verschont geblieben sind. Und schließlich wissen wir ja alle, daß das, was wir erlebt haben und was den Grund zu unserer Lebensanschauung in uns gelegt hat, gerechterweise nicht uns anzurechnen ist, sondern den männlichen Sitten und Gewohnheiten, unter denen wir Frauen bis auf den heutigen Tag zu leiden haben.«

Die Sprechende sah sich forschend im Kreise der Genossinnen um; sie hatten alle bereits wieder ihre Blicke erhoben, und aus den ernsten Mienen sprachen starkes Interesse und ernste Entschlossenheit.

»Wenn Sie einverstanden sind«, fügte Else Hauf hinzu, »bin ich gern bereit, den Reigen zu beginnen.«

Allgemeine freudige Zustimmung erfolgte. Unter sichtlicher Spannung der anderen begann die Vorsitzende:

»Ich will nur von meinem ersten erotischen Erlebnis sprechen; es legte den Grund für meine spätere seelische Entwicklung, für meine Anschauungen und meine weitere Betätigung in Sachen Erotik. Ich kam mit zwanzig Jahren auf die Universität. Natürlich war ich wie wohl viele meiner Kolleginnen in diesem ersten Stadium ihrer Beschäftigung mit der ärztlichen Wissenschaft ganz erfüllt von Eifer und ganz durchdrungen von der Wichtigkeit meines Studiums und meiner Persönlichkeit als angehende ›Wohltäterin der Menschheit‹. Mit mitleidiger Geringschätzung und erhabener Verachtung sah ich auf meine Mitschwestern herab, die ihr Interesse ausschließlich dem Putz und Flirt widmeten. Das alles existierte für mich ja nicht mehr; ich hielt es mit meiner Würde als akademische Bürgerin und junge Wissenschaftlerin nicht vereinbar, an der Ausschmückung meines Körpers irgendwelches Wohlgefallen zu empfinden und ihm auch nur das geringste Interesse zu widmen. Freilich eine gewisse, ganz unbewußte Koketterie war doch in mir, indem ich nämlich meiner äußeren Erscheinung etwas ostentativ Geschmackloses, ein der Männerkleidung sich annäherndes Aussehen gab: ein schwarzer Männerhut, ein formloses Sackjackett und ein einfacher dunkler Rock, selbstverständlich ohne irgendwelche Falten oder Plissierung, war meine stereotype Kleidung. Meiner kindischen Backfischliebschaften mit Gymnasiasten gedachte ich nur noch mit ärgerlicher Beschämung. Da ich unter meinen weiblichen Kommilitonen doch nicht den richtigen wissenschaftlichen Ernst fand oder zu finden glaubte, d. h. die ausschließliche Beschäftigung mit dem Studium, die keine anderen Interessen aufkommen lassen durfte, zog ich mich von ihnen zurück. Die einen kultivierten noch immer ihr Äußeres, wohl um den Kommilitonen im Hörsaal zu gefallen, flirteten während der Vorlesungen, in den Pausen und auf dem Nachhausewege, als wenn sie noch Haustöchter wären, die kein höheres Ideal kannten als Liebe und Ehe. Ja, von einigen munkelte man – meine Wirtin, die gern klatschte, hatte es mir erzählt – , daß sie Liebschaften hätten und schamlos den Studenten nächtliche Besuche abstatteten. Ich war darob namenlos erbittert und schämte mich für diese Entarteten, Unwürdigen, die die heilige Sache der Frauenbewegung und des Frauenstudiums in den Schmutz zogen. Ach, ich wußte noch nicht, welche Gefahren gerade in dieser wissenschaftlichen Betätigung lagen, und wie listig und raffiniert lüsterne Männer den fanatischen Eifer und die eitle Wichtigtuerei ahnungsloser, unerfahrener, blindgläubiger Studentinnen für ihre Zwecke irrezuführen und auszubeuten verstanden.«

Die Erzählende zündete ihre ausgegangene Zigarette wieder an, tat einen Schluck aus dem vor ihr stehenden Bierglase und fuhr unter der lautlosen Aufmerksamkeit ihrer Klubgenossinnen, deren Interesse sich an den letzten Worten der Vorsitzenden noch stärker anfachte, fort:

»Eines Abends klopfte es an meiner Tür. Es war ein älterer Student, auch ein Mediziner, der auf demselben Flur wohnte, und der auf mein ›Herein‹ ins Zimmer trat.

Ganz unbefangen, wie es sich einer Studiengenossin gegenüber ja geziemte, sagte er: ›Sie entschuldigen, Kommilitonin, wenn ich Sie bei Ihrer Arbeit störe. Aber ich bin in arger Verlegenheit. Meine Teemaschine ist kaputt, wie ich eben feststellte. Die Wirtin ist nicht zu Hause. Da dachte ich mir, vielleicht könnten Sie mir aushelfen. Nämlich, ich habe noch ein paar Stunden zu arbeiten, und ohne Pfeife und Tee‹ – er lächelte harmlos – ›geht das nun mal nicht‹.

Ich erklärte mich gern bereit, ihm meinen Samowar zu leihen, auf den ich, nebenbei bemerkt, sehr stolz war, und den mir mein älterer Vetter, der ihn seinerzeit von einem russischen Kommilitonen zum Andenken erhalten, bei meinem Abgange zur Universität verehrt hatte. Dazu kam, daß mir mein Flurnachbar, ein ruhiger, wie es schien, sehr fleißiger Student, nicht unsympathisch war. Er grüßte immer höflich, wenn ich ihm im Flur oder auf der Treppe begegnete, aber weder mit dem ironischen, geringschätzigen Lächeln, wie es sich manche männlichen Kommilitonen uns Studentinnen gegenüber nicht verkneifen konnten, noch setzte er jene eroberungslustige, herausfordernde Miene auf, wie es bei den jungen Leuten jedem nicht gerade häßlichen Mädchen gegenüber üblich zu sein pflegte. Während ich die Teemaschine aus dem Schrank holte, blickte er in das auf dem Tisch liegende dickleibige Buch, bei dessen Studium ich durch seinen Eintritt unterbrochen worden war. Es war der Grundriß der Physik von Borchardt, zum Gebrauch für junge Mediziner bestimmt. Er kannte es natürlich auch und machte ein paar Bemerkungen darüber. Ein Gespräch zwischen uns entwickelte sich darüber, das für mich von größtem Interesse war. Mir schien, daß er ein sehr kluges, treffendes Urteil hatte, und ich bedauerte im stillen, daß er sich schon nach etwa zehn Minuten wieder empfahl. Am nächsten Nachmittag brachte er mir den Samowar zurück, und abermals entspann sich bei dieser Gelegenheit eine wissenschaftliche Unterhaltung zwischen uns. Mir imponierte das Wissen des älteren Kommilitonen, der schon im siebenten Semester stand, während ich erst deren eins hinter mir hatte, ungemein. Ich bot ihm einen Stuhl an, und er blieb wohl eine Stunde.«

Die Vorsitzende stärkte sich wieder durch einen Schluck, zündete sich eine neue Zigarette an und nahm den Faden ihrer Erzählung wieder auf.

»Ich will über diese Anfangsstadien unserer Bekanntschaft und des sich daraus entwickelnden großen Wendepunktes meines Lebens rasch hinweggehen. Kurz, es kam zu einem regelmäßigen Verkehr zwischen uns, und es wurde zur Gewohnheit, daß er allabendlich eine oder auch zwei Stunden bei mir verplauderte, während wir Tee tranken und er seine Pfeife dazu rauchte. Als er mir eines Tages den Vorschlag machte, mir einmal seine Bude anzusehen – er habe eine Anzahl von neueren medizinischen Werken, die mich gewiß interessieren würden – , fand ich durchaus nichts Besonderes oder gar Ungehöriges dabei. Auch wußte er meine Neugierde stark zu erwecken, indem er mir, wichtig die Augenbrauen emporziehend, mit verheißungsvollem Blick noch etwas ganz besonders Sehenswertes in Aussicht stellte: ›Präparate, Sie werden sich wundern, Kommilitonin, ich sage Ihnen, hochinteressant!‹

Noch ein Umstand kam hinzu, nämlich mein Besucher qualmte mir immer mit seiner Tabakspfeife meine Bude ganz entsetzlich voll, so daß ich nach seinem Besuch stets eine Stunde lüften mußte, ehe ich zu Bett gehen konnte. Überhaupt als Studentin und zukünftige Ärztin war ich ja über kleinliche Bedenken erhaben, und ich sah ja in meinem Flurnachbar nicht den jungen Mann, sondern lediglich den Kommilitonen. Die Beziehungen zu dem Kandidaten der Medizin waren für mich natürlich von großem Wert. Sein Wissen imponierte mir außerordentlich, und ich war ihm sehr dankbar und fühlte mich sehr geehrt, daß er mir einen Teil seiner kostbaren Zeit widmete. Er lieh mir Bücher, soviel ich deren haben wollte, und war immer bereit, mir Auskunft zu geben, wenn mir irgend etwas in den schweren wissenschaftlichen Werken nicht klar war. Das meiste Interesse aber flößten mir seine Präparate ein. Besonders war es eine Sammlung von Embryonen in den verschiedensten Stadien, an denen ich mich nicht satt sehen konnte. Es war ungemein reizvoll, die einzelnen in Spiritus gesetzten und vortrefflich erhaltenen Objekte zu vergleichen. Während sich in dem Fötus der vierten Woche noch wenig der zukünftige Mensch zeigte, konnte man bei einem solchen der achten Woche Kopf, Arme und Beine in der gekrümmten sitzenden Stellung schon deutlich unterscheiden.

Eine lebhafte Bewegung in dem Kreise der Zuhörerinnen unterbrach die Erzählerin.

»Ist es die Möglichkeit!« entfuhr es der ehemaligen Telephonistin.

»Hochinteressant muß das gewesen sein!« rief die eine der Krankenschwestern lebhaft.

»Wie groß war denn der Acht-Wochen-Embryo?« fragte die ehemalige Lehrerin wißbegierig.

Die junge Ärztin deutete mit zwei Fingern eine Länge von etwa drei Zentimetern an.

»Mein Gott, so klein!« bewunderte die zweite der Schwestern.

Dr. Else Hauf nickte und belehrte: »Wunderbar war der Fortschritt von der achten zur zwölften Woche. Da war der Fötus schon doppelt so groß geworden.«

Die frühere Telephonistin legte ihre Hand auf die der neben ihr sitzenden Klubgenossin, mit der sie in Wohnungsgemeinschaft lebte.

»Da haben wir's bequemer«, meinte sie lächelnd, auf das Pflegekind anspielend, das sie gemeinsam an Kindes Statt angenommen hatten. »Unser Baby hat uns keine Beschwerden bereitet.«

»Aber wie war der Kommilitone in den Besitz dieser wertvollen Objekte gekommen?« fragte die eine der anderen beiden Ärztinnen.

»Ja, er war sehr stolz darauf«, fuhr Dr. Else Hauf fort. »Er erzählte mir, wie furchtbar schwer die Erlangung der wissenschaftlich so wertvollen Embryonen gewesen war. Er hatte sich mit seiner sogenannten weisen Frau in Verbindung gesetzt, deren Adresse er von einer ihrer Klientinnen erhalten hatte, die die geheime Hilfe dieser Menschenfreundinnen« – sie lächelte ironisch – »immer zahlreicher in Anspruch nehmen.«

»Da wundert es mich«, unterbrach die dritte Ärztin, »daß die betreffende Klientin der weisen Frau, die beide doch immer in der Furcht vor der Entdeckung und vor Denunziation schweben mußten, sich und ihre Helferin Ihrem Studiengenossen verraten hatte.«

Um die Lippen der Klubvorsitzenden zuckte ein leicht frivoles Lächeln.

»Er ließ durchblicken, er selbst sei die Veranlassung gewesen, weshalb das betreffende junge Mädchen die Hilfe der im geheimen, natürlich gegen angemessene oder auch unangemessene Bezahlung wirkenden Wohltäterin so vieler Frauen und Mädchen, die sich vor der Mutterschaft fürchten, nachgesucht hatte.«

Ein Raunen ging durch Zuhörerinnen.

»Dann allerdings«, meinte die zweite Ärztin. »Aber machte das auf Sie, die damals Zwanzigjährige, nicht einen abstoßenden Eindruck?«

Die Gefragte sann ein paar Sekunden vor sich hin.

»Ich muß gestehen«, erwiderte sie, »daß diese verblümte Mitteilung meine Phantasie beschäftigte, und daß sie mich im ersten Augenblick peinlich berührte. Aber das war rasch überwunden. Das ging mich ja nichts an. Daß die jungen Leute nicht keusch lebten und am wenigsten die Studenten, war mir ja ebenso bekannt, wie daß es junge Mädchen gab, die sich den Männern nicht versagten. Mein Interesse war ganz von dem wissenschaftlichen Material, in dessen Besitz der Kommilitone war, gefangen, und seine Erläuterungen waren so hochinteressant für mich, daß ich ihm diese männliche Schwäche gern nachsah. Freilich oft, wenn ich allein war in meinem stillen Stübchen, dachte ich wohl darüber nach, und ich fragte mich, ob denn wirklich in jungen Männern und sogar auch in jungen Mädchen dieser geschlechtliche Trieb so stark war, daß sie ihm nicht widerstehen konnten. Ich konnte das gar nicht begreifen, denn ich hatte dergleichen nie empfunden. Für mich gab es nur mein Studium und meinen Ehrgeiz.«

Ein ironisches Lächeln flog über die Züge der Erzählenden.

»Freilich, ich will nicht verhehlen, daß ich den Kommilitonen seitdem manchmal mit verstohlenen Blicken betrachtete, die nicht gerade von wissenschaftlicher Neugierde ausgingen, und daß ich mich mit der stillen Frage beschäftigte, was an ihm wohl die Zuneigung und Hingabe des jungen Mädchens erweckt haben mochte. Ein Adonis war er jedenfalls nicht, wenn er auch nicht als häßlich bezeichnet werden konnte. Hübsch fand ich seine breite Stirn und seine klugen Augen. Was man galant nennt, war er nicht, wie ich schon bemerkte. Aber gerade das gefiel mir, daß er mit mir ganz ungeniert wie mit einem männlichen Studiengenossen verkehrte. Phrasen und gesellschaftliche Artigkeiten gab es zwischen uns nicht. Erst viel später ging mir die Erkenntnis auf, daß sich hinter dieser scheinbar persönlichen, ich will deutlicher sagen: geschlechtlichen Uninteressiertheit vielleicht doch von vornherein ein raffinierter Plan verbarg. Doch ich will nicht vorgreifen. Unter den Gläsern mit den Präparaten – es waren darunter eine menschliche Niere, das Herz eines Hundes und anderes – befand sich ein mit einem Tuch verhüllter Gegenstand, der meine Neugier so stark erregte, daß ich eines Tages meine instinktive Scheu überwand und fragte, was er denn in dem Glase verberge. Da sah er mich mit einem ironisch lächelnden Blick an; ›das will ich Ihnen lieber doch nicht zeigen, Kommilitonin, Sie sind noch ein zu junges Semester, als daß die weibliche Empfindlichkeit oder richtiger: Prüderie für Sie ein überwundener Standpunkt sein sollte. Ich glaube, daß Sie doch immer noch mehr junges Mädchen als Studentin und angehende Ärztin sind. In der Anatomie waren Sie doch auch noch nicht!‹ Natürlich war meine Neugier nur noch mehr angefacht, dazu fühlte ich mich als Studiengenossin und in meiner Würde als junge Wissenschaftlerin gekränkt. Ich drang nun erst recht in ihn, und er gab nach. ›Also, wenn Sie denn durchaus wollen, aber vergessen Sie nicht, daß ich es nur auf Ihren Wunsch tue.‹ Damit nahm er das Tuch herab und –«

Die Erzählende machte eine Kunstpause. Alle sahen sie in gespannter Erwartung an.

»Nun?« rief die zweite Ärztin.

»So sagen Sie es doch!« fielen die beiden Krankenschwestern ein.

»Ich kann es mir schon denken«, sagte die dritte Ärztin und markierte ruhigen, wissenschaftlichen Ernst, während die anderen ahnungsvoll sich teils verdutzt, verschämt, teils mit empörten Mienen ansahen.

»Pfui!« rief die ehemalige Telephonistin schaudernd.

Dr. Else Hauf nickte und amüsierte sich im stillen.

»Ich sehe, Sie erraten, um was es sich handelte.«

Die beiden Krankenschwestern kicherten. Für sie war das ja nichts Besonderes.

»Und was sagten Sie nun?« fragte die andere der beiden Kolleginnen der Erzählenden.

»Nichts! Ich brauchte meine ganze Willenskraft und Selbstbeherrschung, um die auf mich einstürmenden Empfindungen zu bemeistern. Ich fühlte, daß mein Gesicht die Farbe wechselte, daß ich am ganzen Körper erzitterte. Eine unbeschreibliche Aufregung war in mir. Am liebsten wäre ich ja davongelaufen. Er bemerkte meinen Zustand natürlich. ›Sehen Sie‹, sagte er, ›ich habe es ja gewußt. Das ist nichts für Sie. Ich hätte Ihnen doch lieber nicht nachgeben sollen. Nun sind Sie am Ende noch böse auf mich.‹ Nein, nein, stammelte ich mühsam. Ich hatte meine Blicke sofort wieder abgewendet, aber nun schämte ich mich dieser unwissenschaftlichen Regung, auch wurde meine Neugier wieder wach, obgleich es mich heiß und kalt durchschauerte.«

»Natürlich verfolgte der Student mit alledem einen bestimmten Zweck«, bemerkte die eine der Kolleginnen der Erzählenden.

»Freilich. Aber damals war ich noch weit entfernt, das zu vermuten, obgleich ja die Wirkung dieses Vorganges auf mein Seelenleben nicht ausblieb. Meine Phantasie beschäftigte sich viel mit dieser, mir so plötzlich, unerwartet zuteil gewordenen Bereicherung meiner Kenntnis des männlichen Körpers. Natürlich war ich voll Zorn gegen mich selbst und bemühte mich mit verzweifelter Anstrengung, diese Willensschwäche zu besiegen. Mit meiner Unbefangenheit war es selbstverständlich vorbei, und hätte ich nicht befürchtet, das, was in mir vorging, zu verraten und mich in seinen Augen verächtlich zu machen, so hätte ich meine Besuche am liebsten eingestellt. Aber auch er schien seine frühere Ruhe und Unberührtheit verloren zu haben, denn ich wurde wiederholt gewahr, daß seine Blicke zuweilen auf mir ruhten mit einem Ausdruck, der mich verlegen machte, und den ich früher nicht an ihm bemerkt hatte. Von Besuch zu Besuch steigerte sich seine Nervosität; er wurde zerstreut, und mitten in einer Erklärung, die er mir über irgendeine wissenschaftliche Frage gab, brach er zuweilen ab, während seine Blicke über meinen Körper glitten. Da eines Tages ließ der Kommilitone eine überraschende Erklärung hören: ›Also, liebes Fräulein‹ – es war zum ersten Male, daß er mich so anredete – ›es hilft nichts, daß wir es uns länger verheimlichen: wir befinden uns in einem ähnlichen Zustand, wie die ersten Menschen im Paradiese vor dem Sündenfall. Sie erinnern sich, daß es, ich glaube im dritten Kapitel Mosis, ungefähr heißt: da wurden ihre beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackend waren. Wir haben uns bisher nur immer als Kommilitonen angesehen, und nun sind wir gewahr geworden, daß wir doch auch Mann und Weib sind. Sie sind nicht mehr dieselbe, wie in der ersten Zeit unseres kollegialen Verkehrs, und ich bin es auch nicht. Nein, nein, bestreiten Sie es nicht! Das ist Ihrer nicht würdig, und Sie haben sich deshalb nicht zu schämen. Wir als wissenschaftlich denkende Leute müssen den Mut und die Aufrichtigkeit haben, den wirklichen Dingen ins Gesicht zu sehen und uns damit in natürlicher Weise abzufinden.«

Wieder entstand eine sichtbare Bewegung unter den Klubgenossinnen um den großen Tisch.

»Solch ein Halunke«, rief die Lehrerin entrüstet.

Die Schauspielerin lachte laut, und die beiden Krankenschwestern kicherten. Lisbeth Glümers Interesse war aufs höchste gespannt. Die ersten heißen Kämpfe, mit denen sie in ihrem Verkehr mit Kurt Vollbrecht gerungen, wurden in ihr lebendig. So ähnlich hatte er damals auch zu ihr gesprochen, als er sie seinen Gelüsten gefügig machen wollte.

»Bitte weiter!« nahm eine der beiden Ärztinnen das Wort. »Das scheint ja höchst interessant zu werden. Eine Verführung auf wissenschaftlichem Wege.«

Else Hauf nickte.

»Ja, so kann man es nennen. ›Ich irre wohl nicht, liebes Fräulein‹, fuhr der Kommilitone fort, ›wenn ich annehme, daß Sie ebenso schlechte Nächte haben wie ich und ebenso mangelhaften Appetit, und daß die Arbeit nicht ordentlich vonstatten geht, sondern von der Unruhe im Blut beeinträchtigt und zeitweise unmöglich gemacht wird. Die Natur meldet sich in Ihnen und – mir. Es ist eben eine körperliche Funktion, die ausgeübt werden will. Wenn Sie nicht essen oder verfälschte, unbekömmliche Nahrung zu sich nehmen, stockt die Verdauung, und Sie fühlen sich elend und werden schließlich krank. Man hat nur die Wahl: entweder man zieht sich von allen Menschen zurück, kasteit sich, leidet darunter, ist nur halber Mensch oder – man tut eben, was die Natur verlangt, und lebt als normaler Mensch.‹ Dabei rückte er an mich, die in grenzenlosem Staunen zuhörte und nicht wußte, wie mir geschah, näher heran und legte seine Arme um meine Taille. Ich aber sprang empört auf und sah ihn mit entrüsteten Blicken an. ›Verzeihen Sie!‹ sagte er, ohne im geringsten verlegen zu werden. ›Es war nicht meine Absicht, Ihre Empfindlichkeit zu verletzen oder gar Zwang Ihnen gegenüber anzuwenden. Davon bin ich selbstverständlich weit entfernt. Es riß mich hin, gegen meine Absicht, gegen meinen Willen. Sie verstehen das noch nicht; die Natur ist stark in uns und läßt sich nicht spotten. Aber Sie können ganz ruhig sein; es ist jetzt vorüber. Nicht mit Überredung, noch weniger mit Gewalt, nur mit wissenschaftlichen Gründen ziemt es sich für unsereinen zu kämpfen. Sehen Sie hier!‹ Er deutete auf den Tisch, auf dem ich eine Anzahl Bücher aufgeschlagen liegen sah. ›Ich habe mich für die heutige Unterredung mit Ihnen präpariert.‹ Er trat an den Tisch. ›Kant, unser aller Meister, schrieb: Womit füllt er nun – der junge Mensch – diese lange Zeit (zwischen Geschlechtsreife nämlich und Ehe), diese Zwischenzeit aus, welche notgedrungen unnatürliche Enthaltsamkeit bedeutet? Kaum anders als mit Lastern. Hören Sie wohl, liebes Fräulein‹, fügte der Lesende diesem Zitat hinzu: ›mit Lastern. Dahin kommen doch schließlich alle, welche ein geschlechtlich unvollkommenes Leben führen. Meinen Sie, liebe Kommilitonin, daß es besser ist, sich unnatürlichen Lastern, die uns körperlich und geistig elend machen, zu ergeben, als die natürliche Befriedigung zu suchen? Eduard von Hartmann war derselben Ansicht, und er betont, daß es eine Ausnahme sei, wenn der junge Mensch nicht dem Laster verfiele, und dieser Fall trete nur dann ein, wenn er‹ – der Student blickte in eines der aufgeschlagenen Bücher – ›wenn er mit allen Anstrengungen der Vernunft durch einen dauernden Kampf die Qualen zu überwinden vermag, welche die erwachte Sinnlichkeit erzeugt.‹ – Mein erster Impuls war eigentlich gewesen, davonzulaufen, aber nun stand ich wie gebannt. Das war mir alles so neu und ungeahnt. Noch nie hatte ich mit irgend jemand über diese Dinge gesprochen und auch noch nichts darüber gelesen oder auch nur je in meinen Gedanken mich damit beschäftigt. Mein Interesse war aufs höchste erregt, und so stand ich, unfähig, mich den weiteren wissenschaftlichen Aufklärungen zu entziehen. Mein Blick richtete sich nach den meistens dickleibigen Werken, von denen etwa ein halbes Dutzend aufgeschlagen vor dem Kommilitonen lag. Gar zu gern hätte ich ihm über die Schulter geblickt, aber ich wagte es nicht. Wahrscheinlich erriet er mein Verlangen, denn er sagte zu mir: ›Ich will Ihnen die Bücher gern leihen, die für Sie als zukünftige Ärztin von großem Wert sind. Sie müssen sich ja doch einmal mit diesem für Leben und Gesundheit des Menschen so sehr wichtigen Gegenstand gründlich befassen. Man sollte es nicht glauben, aber man findet Unkenntnis und ganz irrige Anschauungen. Eine Stelle möchte ich Ihnen noch vorlesen. Es ist ein ehemaliger katholischer Geistlicher, ein bekannter geistvoller Schriftsteller Karl Jentsch, der u. a. schreibt: An und für sich haben die Sexualfunktionen mit der Moralität so wenig zu schaffen wie die Funktionen des Ernährungsprozesses. Daraus folgt, daß weder eine solche Funktion, noch das damit verbundene Vergnügen und die Vorstellung desselben Sünde sein kann. Es verhält sich damit ganz ebenso wie mit Essen und Trinken. Beides ist keine Sünde, sondern vielmehr Pflicht, und ebensowenig ist das Lustgefühl Sünde. Mäßige Befriedigung desselben ist nicht bloß unschädlich, sondern, was sich bei jedem von der Natur geforderten Akte von selbst versteht, eine Bedingung der Gesundheit.‹ So schloß er, ›so äußert sich ein ehemaliger katholischer Pfarrer, der das aus eigener Erfahrung ja wissen muß. Lassen wir es genug sein, liebe Kommilitonin. Ich sehe, Sie sind überrascht, verwirrt.‹ Er ergriff drei der Bücher. ›Hier, nehmen Sie diese Werke mit! Das eine, es rührt von einem ausländischen Gelehrten her, der zugleich als Arzt langjährige praktische Erfahrungen hinter sich hat, kann ich Ihnen besonders empfehlen. Allein mit sich, nach eingehendem Studium, werden Sie mit sich ins klare kommen.‹ Ich nahm die Bücher und ging wie betäubt. Noch an demselben Abend vertiefte ich mich in das mir besonders angepriesene Werk. Es packte und fesselte mich, daß ich bis weit in die Nacht hinein las. Es wirkte wie eine Offenbarung auf mich, mit großer Überzeugungskraft. Der Autor belegte alles, was er ausführte – und das war immer ganz im Sinne der von dem ehemaligen katholischen Geistlichen geäußerten Ansichten – mit eindrucksvollen Beispielen aus seiner ärztlichen Praxis. Eine große Anzahl nicht nur von Männern, auch von Frauen und Mädchen, die seinen ärztlichen Rat nachgesucht, hatten schwer unter der ihnen durch Erziehung und durch die Verhältnisse aufgezwungenen Enthaltsamkeit gelitten. In mir richtete das Buch eine förmliche Revolution an. Es war eine furchtbare Zeit. Wie ein Fieber war es beständig in mir. Er hat recht, sagte ich mir, das, was man dich gelehrt hat, war Irrlehre, und doch war ein Gefühl in mir, das sich gegen diese freien Anschauungen sträubte. In diesem inneren Zwiespalt war es mir natürlich unmöglich, meinem Flurnachbarn unter die Augen zu treten. Wenn ich zu ihm ging, mußte er es nicht so auffassen, als ob ich bereit sei, auf seine Zumutungen einzugehen, die er mir indirekt gemacht hatte? Halbe Nächte lag ich schlaflos, eine Beute der mir listig, mit kühler Berechnung geweckten und bis zum äußersten geschürten Gefühlte, die mich mit heißem Glühen erfüllten und vor denen es meine Jungfräulichkeit doch schauderte. So verstrichen acht Tage. Da pochte es an einem Abend an meine Tür. Ich sprang ahnungsvoll, erschreckt auf. Er war es. Ganz unbefangen, wie es seine Art war, trat er mir gegenüber. ›Aber liebe Kommilitonin, warum verstecken Sie sich denn so vor mir? Sie haben doch nicht etwa Furcht vor mir? Ich werde selbstverständlich nie etwas von Ihnen verlangen, wozu Sie sich nicht aus eigenem Empfinden und Verlangen gedrängt fühlen. Mir zu Gefallen brauchen Sie sich zu nichts zu zwingen. Fällt mir natürlich nicht ein, das zu begehren. Ist auch nicht nötig in meinem Interesse; es gibt ja Mädchen und Frauen genug, die freier als Sie in dieser Beziehung denken, und die aus Überzeugung ihres Rechtes ihren natürlichen Trieben folgen, anstatt sie gewaltsam zu unterdrücken. Aber ich schätze Sie doch in erster Linie als die geistig regsame Kommilitonin, und wenn wir uns auch weiter nichts sein können, wir können doch wie bisher unsere Gedanken austauschen, und es wird mir immer Freude und Genugtuung gewähren, Sie in Ihrem geistigen Streben fördern zu helfen.‹«

»Und Sie schlugen dem Kerl nicht ins Gesicht, Sie warfen ihn nicht hinaus?« unterbrach die alte Lehrerin temperamentvoll.

»Dazu war es wohl schon zu spät«, warf die eine der Ärztinnen ein.

Fräulein Dr. Hauf bejahte.

»Freilich. Ich war bereits innerlich zu aufgewühlt, zu sehr in seinem Bann, zu tief verstrickt in die Anschauungen und Meinungen, die in den mir geliehenen Büchern mit wissenschaftlichen und Erfahrungsgründen gelehrt wurden. Raffiniert berechnet war auch seine Bemerkung, daß er ja genug andere finden würde, die ihm zu willen sein möchten. Damit stachelte er mich aufs äußerste. Ein Gefühl brennender Eifersucht vereinigte sich mit dem Gedanken, daß ich, wenn ich seinem Verlangen nachgab, doch nur tun würde, was andere taten, die freier, natürlicher, zeitgemäßer dachten. Und ich wollte doch nicht kleinlich, nicht geistig beschränkt, nicht rückständig sein. Kurz, die Gedanken und Empfindungen stürmten und drängten sich in mir, daß ich nicht mehr klar zu urteilen wußte. Er war der Stärkere von uns beiden, und fast willenlos folgte ich ihm in sein Zimmer. Nach kurzem Kampf siegte er. Ich wurde seine Geliebte. Reue und Gewissensregungen, die sich noch manchmal bei mir einstellten, beschwichtigte er mit seinen Versprechungen. In ein paar Jahren würde er selbständig sein und ich mein Staatsexamen gemacht haben, und dann würden wir, als Mann und Frau, gemeinsam praktizieren. Ein herrliches, der Wissenschaft und der Liebe gewidmetes Leben würde es sein.«

»Natürlich hat der Schuft sein Wort nicht gehalten?« fragte eine der Zuhörerinnen.

»Nein, als er sein Examen gemacht hatte, übersiedelte er nach Berlin. Ich habe nie wieder von ihm gehört.«

Die Erzählung der jungen Ärztin hatte starken Eindruck auf die Klubgenossinnen gemacht. Sie hatten ja alle ihre Erfahrungen im Liebesleben hinter sich und hatten mancherlei Erotisches gesehen und gehört, aber ein Schicksal wie das der Klubvorsitzenden, die mit Hilfe der Wissenschaft von einem skrupellosen Manne betört und verführt worden, war ihnen allen etwas ganz Neues. Noch lange blieben sie beisammen, in eifriger Unterhaltung über diesen ersten, eigenartigen Beitrag zum neuen Dekameron.

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