Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Lisbeth Glümer und Dr. Else Hauf hatten gemeinschaftlich ein Theater besucht, als sie um zehn Uhr auf die Straße hinaustraten.

»Was fangen wir mit dem angebrochenen Tage an?« wandte sich die gutgelaunte junge Ärztin an ihre Kusine.

Die Gefragte antwortete verwundert: »Was sollen wir beiden Mädchen jetzt am späten Abend noch beginnen? Nach Hause, schlafen gehen!«

Doch die andere schüttelte entschieden mit dem Kopfe.

»In dem einsamen nüchternen Stübchen allein seine Abendbrotstulle hinunterwürgen? Fällt mir gar nicht ein, mir meine schöne, angeregte Stimmung so zu verderben! Nein, jetzt wollen wir in einem in hellem, elektrischem Licht strahlenden eleganten Raume bei einem Glase Wein uns eine kleine Nachfeier nach dem herrlichen künstlerischen Genuß gönnen und unsere Eindrücke austauschen!«

Die Aufsichtsdame sah die Kusine ganz erschrocken an.

»Wir beide allein? In einem Weinrestaurant?«

Die andere lachte.

»Allein? Das heißt: ohne den Schutz eines Mannes? Herrgott, Mädel bist du rückständig! Dabei lebst du schon ein halbes Dutzend Jahre in Berlin. Da habe ich mich schneller aklimatisiert. Also los!«

»Aber ist es dir nicht peinlich? Was werden denn die Menschen von uns denken?«

Das Fräulein Doktor ironisierte.

»Was werden die Leute sagen! Der alberne Spruch aller ängstlichen, spießbürgerlichen Menschen. Du irrst, wenn du denkst, daß wir auffallen werden. Vor ein paar Tagen war ich eines Abends in der Familie einer Kollegin zu Besuch gewesen. Nach elf Uhr ging ich. Ich hatte noch Hunger. Da suchte ich ein Weinrestaurant auf, aß etwas und trank eine halbe Flasche Wein dazu.«

Sie lachte vergnügt.

»Es hat mich niemand gebissen. Ganz unversehrt bin ich davongekommen.«

Die andere drückte sich schaudernd an die ihr neckisch ins Gesicht Schauende.

»Ich hätte es mich nicht getraut, und wenn ich am Verhungern gewesen wäre!«

Als sie das Restaurant betraten, hatte Lisbeth Glümer das Gefühl, als richteten sich alle Blicke auf sie. Furchtbar unbehaglich war ihr; sie heftete ihre Augen fest auf den Boden. Die Kusine führte sie zu einem Tisch neben dem Mittelgang. Auch als sie nun Platz genommen hatten, brachte es die Zaghafte noch immer nicht über sich, ihre Blicke über die Umgebung schweifen zu lassen.

Das Fräulein Doktor verhandelte mit dem Kellner, wählte eine Rheinweinmarke und bestellte auch eine Fleischspeise für sich.

»Nun, was wählst du, Lisbeth!« forderte sie auf und reichte der Kusine die Speisekarte.

Aber die noch immer mit ihrer Befangenheit Ringende lehnte ab.

»Wähle du nur für mich!«

»Also Fisch oder vielleicht ein Schnitzel mit Spargel?«

»Schnitzel, wenn ich bitten darf.«

»Na, wie gefällt's dir?« erkundigte sich die Kusine, als der Kellner gegangen war. »Ist es nicht herrlich hier?«

Lisbeth Glümer starrte noch immer auf das Tischtuch. Die andere lachte.

»Ich glaube, du hast dich noch gar nicht einmal umgesehen. Wir sind nicht die einzigen Frauen, die das kühne Wagnis unternommen haben, ohne männlichen Schutz das Restaurant zu besuchen.«

Erst jetzt wagte es die Schüchterne, aufzublicken. Es war ein hoher, langgestreckter Raum. Lisbeth Glümer staunte nicht wenig. Das war ja wie – wie in einem fürstlichen Palast. Ein Lichtmeer verbreitete von der Decke her Tageshelle. Hohe Pfeiler aus glänzendem Polisanderholz strebten zur Höhe. Dicke Teppiche lagen im Mittelgang, der den Saal in zwei Hälften schied. Von einem etwas höher gelegenen Nebenraume ertönte diskrete Musik. Fast alle Tische ringsum waren besetzt. Und da – die Kusine hatte nicht geflunkert – wahrhaftig, da an dem einen Tische saßen drei junge Damen, noch jünger als sie beide, im lebhaften Gespräch. Auf dem Tische stand schon eine leere Rotweinflasche, und nun tranken die Vergnügten aus hohen Kelchgläsern schäumenden Sekt. Dabei schmauchten sie Zigaretten und schienen sich köstlich zu amüsieren, denn sie kicherten in einem fort und fanden offenbar an allen Menschen ringsum Komisches. Ihre Gesichter glühten; ihre Augen sprühten in animierter Weinlaune.

»Sie feiern wahrscheinlich eine Gehaltserhöhung oder Geburtstag«, bemerkte Else Hauf. Dann richtete sie ihre Blicke auf einen runden Tisch jenseits des breiten Mittelganges. »Donnerwetter, die gehen aber ins Zeug!«

Schaudernd sah Lisbeth Glümer, wie zwei auffallend herausgeputzte Mädchen, nicht mehr in blühender Jugend, im tiefen Ausschnitt offenherzig die üppige Büste bietend, mit zwei an einem Nachbartisch sitzenden Herren kokettierten. Behaglich zurückgelehnt, aus langen Spitzen Zigaretten rauchend, schlugen sie ungeniert die Beine übereinander.

»Sieh mal«, flüsterte das Fräulein Doktor, »eine freche Bande!«

Die eine der beiden Koketten hob ihr Glas und trank, nicht einmal besonders diskret, den Herren zu.

»Unerhört«!« gab Lisbeth Glümer entsetzt zurück.

Peinliche Unbehaglichkeit kam über sie. Sie fühlte sich durch das schamlose Gebaren der beiden in ihrem Geschlecht bloßgestellt und blinzelte beschämt, ängstlich nach den anderen Tischen in der Nachbarschaft. Aber es schien niemand darauf zu achten und Anstoß zu nehmen. Die beiden Koketten aber setzten ihr Spiel ungeniert fort; allerlei Zeichen eines sich anbahnenden Einverständnisses flogen zwischen den beiden Tischen hin und her. Jetzt drehte die eine den Kopf nach dem Saalausgang und sah dann wieder nach den beiden Herren mit herausfordernder Miene.

»Das ist deutlich!« sagte Else Hauf. »Paß mal auf, jetzt werden sie gleich gehen.«

Und richtig: Die eine winkte dem Kellner, und sie zahlten. Dann erhoben sie sich, lächelten noch einmal nach dem Herrentisch hinüber und schritten mit wiegenden Hüftbewegungen den Gang hinunter. Fünf Minuten später folgten die beiden Herren.

»Meinst du, daß sie sich draußen treffen?« wisperte Lisbeth Glümer aufgeregt.

»Was denn sonst? Natürlich! Siehst du, das sind auch zwei Junggesellinnen, freilich leichtfertigster Sorte. Nicht eben sehr wählerisch; eine kurze pantomimische Bekanntschaft von einem Stündchen genügt ihnen schon zur Anknüpfung. Na, wohl bekomm's!«

Die andere überlief ein Schauder. Es war ihr, als sei mit einemmal alle strahlende Pracht und der Glanz des prunkvollen Saales ausgelöscht; am liebsten wäre sie aufgesprungen und davongeeilt.

Da wurde ihnen Speise und Trank serviert. Die Kusine hob ihr Glas, nachdem der Kellner eingeschenkt hatte.

»Worauf trinken wir?«

»Ach, Else!« sagte die andere trübselig und nahm mechanisch ihr Glas mit dem funkelnden Rheinwein in die Hand.

»Na, na! Das soll uns die Laune nicht verderben. Mißbrauch und Ausartung kommen überall vor. Dadurch wollen wir uns unsere goldene Mädchenfreiheit nicht verekeln lassen. Auf eine frohe, interessante Junggesellinnenschaft!«

*

Die Übersiedlung ihrer Kusine nach Berlin bot Lisbeth Glümer eine erwünschte Veranlassung, ihrer Wirtin zu kündigen, ohne deren Empfindlichkeit herauszufordern. Es leuchtete Frau Winkler ein, und sie fand es ganz selbstverständlich, daß ihre Mieterin den Wunsch hatte, mit ihrer Verwandten zusammenzuziehen. In Wahrheit aber lag das gar nicht in der Absicht der beiden Kusinen, denn erstens wohnte die junge Ärztin im fernen Westen, allzu weit ab von dem Geschäft, in dem die andere angestellt war, und zweitens hatte das Fräulein Doktor gemeint: »Ich würde dich nur stören, denn ich komme, wenn ich Nachtdienst habe, erst beim Morgengrauen nach Hause und sitze am anderen Tage oft bis spät in die Nacht hinein bei der Arbeit. Wozu sich also gegenseitig genieren und unser freundschaftliches Einverständnis und Zusammenhalten gefährden?«

Ein paar Tage, nachdem sie gekündigt hatte, trat des Abends beim Nachhausekommen Frau Winkler mit wichtiger Miene in Lisbeths Zimmer.

»Herr Pietschmann ist da!«

»Herr Pietschmann?« fragte das junge Mädchen erstaunt.

Die Frau zwinkerte; es lag etwas wie Bewunderung und eine besondere Hochachtung in ihrem Gesichtsausdruck.

»Jawohl, er möchte mit Ihnen sprechen, Fräulein. Ich kann's Ihnen ja sagen: er ist in großer Aufregung. Herrgott, die Männer! Ordentlich 'n Fieber hat er, gerade wie meiner damals. Und ich wartete doch schon darauf: Spricht er denn noch nicht? Aber wenn sie lieben, die Männer, ehrlich lieben und es reell meinen, dann sind sie ganz klein. Seien Sie nur ruhig, Herr Pietschmann, habe ich ihm gesagt, was regen Sie sich denn auf! Warum soll sie denn nicht wollen? Sie sind doch ein ansehnlicher und vermögender Mann!«

Die Geschwätzige, nach Frauenart Wortreiche, streckte ihre Rechte der unter dem Wortschwall wie betäubt Dastehenden entgegen.

»Na, ich gratuliere, Fräulein! Besser können Sie's ja nicht treffen. Und dann bleiben Sie nun doch im Hause, und wir werden auch künftig gute Nachbarschaft halten.«

Dann beugte sie sich mit verschmitztem Lächeln zu der Überraschten hinüber.

»Auf meine Verschwiegenheit können Sie rechnen, Fräulein. Das braucht er ja nicht zu wissen. Wozu denn?«

Sie puffte dem jungen Mädchen, dem allmählich das Verständnis aufging, mit dem Ellenbogen vertraulich in die Seite.

»Ich war ja auch nicht mehr – mein Gott, wer hält sich denn heutzutage so lange? Überhaupt in Berlin! Aber denken Sie, daß er etwas gemerkt hat? I wo!«

Glühende Röte schoß der peinlich Berührten ins Gesicht, während sich die andere wieder zur Tür wandte.

»Ich schicke ihn Ihnen. Machen Sie's jut!«

Sie nickte noch einmal und verschwand.

Die Zurückbleibende preßte die Rechte gegen die Stirn. Das war so plötzlich und so ungeahnt über sie gekommen, daß sie ganz bestürzt, ganz verwirrt dastand. Sie hatte des Hausbesitzer galantes Wesen niemals ernst genommen und es nur für eine Angewohnheit des alten Junggesellen gehalten, der wohl jedem hübschen Mädchen ein paar Artigkeiten sagte. Und nun schien er in allem Ernst um ihre Hand anhalten zu wollen.

Was sollte sie tun? Ein quälender Zwiespalt war in ihr. Das, wonach sie sich immer so heiß gesehnt: die Ehe, eine eigene Häuslichkeit, die Befreiung aus demütigender Abhängigkeit war ihr plötzlich in greifbare Nähe gerückt. Sie brauchte nur zuzugreifen, und in kürzester Frist war sie die beneidete Gattin eines angesehenen, wohlhabenden Mannes, der sie offenbar liebte und ehrte. Vorbei waren dann alle Kämpfe des Lebens, alle Widerwärtigkeiten im Geschäft mit den täglichen Erniedrigungen und Schamlosigkeiten. Ruhe, Sicherheit, Selbständigkeit und Ansehen tauschte sie dafür ein. Ein guter Mann, der sie ehrlich liebte – sonst würde er sie ja nicht begehren – nahm ihr für immer die Sorge um das tägliche Brot ab.

Sie schloß die Augen; die schmächtige, schmalbrüstige, etwas knickbeinige Gestalt des Rentiers mit dem mageren, gelblichen Gesicht und den kleinen, tiefliegenden Augen, die sie verliebt anblinzelten, stand vor ihr. Ihre erregte Phantasie malte ihr, wie er sich ihr näherte, seine dürren, knochigen Arme um sie schlang und seine begehrlichen Lippen den ihren näherte.

Ein Schauder erfaßte sie; schwer, quälend ging ihr Atem. Da schrak sie heftig zusammen; ein lautes Pochen an der Tür erweckte sie aus ihrer Träumerei. Herr Pietschmann trat ins Zimmer. Die Vermieterin hatte ihm offenbar Mut gemacht; ein siegessicheres, vergnügtes Lächeln verbreiterte seinen ohnehin breiten Mund mit den schmalen Lippen. In wohlgesetzter Rede, die er offenbar vorher präpariert hatte, brachte er seinen Antrag vor, aber das junge Mädchen ließ ihn nicht ganz bis zu Ende kommen.

»Ich danke Ihnen, Herr Pietschmann«, sagte sie, »für die Ehre, die Sie mir erweisen, und für das Vertrauen, das Sie mir schenken, aber ich – zu meinem Bedauern – ich kann Ihre Frau nicht werden«, stieß sie mit krampfhafter Entschlossenheit hervor, als sie sah, daß er stutzte und ein sehr enttäuschtes Gesicht machte.

»Sie wollen nicht, Fräulein Glümer, Sie wollen wirklich nicht – ?«

Er schien das Unerwartete gar nicht glauben zu wollen, gar nicht fassen zu können. Die gekränkte Eigenliebe des wohlhabenden Hausbesitzers kam im Ton seiner Stimme und in seinem ärgerlichen, entrüsteten Blick zum Ausdruck.

»Was haben Sie denn an mir auszusetzen, wenn ich fragen darf?«

»Nichts, Herr Pietschmann, nichts!« sagte sie beschwichtigend. Und dann nahm sie zu einer Notlüge ihre Zuflucht, um sich und ihn leichter über die peinliche Situation hinwegzubringen. »Aber ich bin schon gebunden.«

»Ge – bunden?« wiederholte er mechanisch, und dann glomm in seinen Augen ein Funke neuer Hoffnung.

»Aber doch noch nicht verlobt?«

»Nein, öffentlich noch nicht.«

»Na, dann, Fräulein, dann können Sie es doch noch rückgängig machen.«

Sie zog ihre Stirn kraus. Die plumpe Hartnäckigkeit des Hausbesitzers, der den Gedanken, daß ein armes Mädchen seine Hand ausschlug, gar nicht begreifen zu können schien, begann sie zu ärgern.

»Ich liebe ihn«, erklärte sie kurz.

»Lieben? Herrgott, Fräulein, das ist ja ganz schön, aber die Hauptsache ist doch immer bei der Ehe, daß der Mann auch ordentlich was einzubrocken hat.«

Er sah lauernd zu ihr hinüber, ob seine Worte auch den erwarteten Eindruck machten. Als er aber ihre unwillige Miene bemerkte, fügte er höhnisch hinzu: »Aber vielleicht hat er mehr als ich?«

Die Verletzte biß sich ärgerlich auf die Lippen. Dann entgegnete sie sehr entschieden: »Ich sagte Ihnen schon, Herr Pietschmann, daß ich mich bereits gebunden habe. Eine weitere Erklärung bin ich Ihnen wohl nicht schuldig.«

Der Hausbesitzer zog sich langsam zur Tür zurück.

»Na, dann entschuldigen Sie nur«, sagte er.

Als die Tür sich hinter dem mit einem gezwungenen, hämischen Lachen sich Entfernenden geschlossen hatte, tat Lisbeth Glümer einen tiefen befreienden Atemzug wie jemand, der einer großen Gefahr entronnen war. Nein, nur nicht sich verkaufen, lieber ledig bleiben, auf sich selber gestellt! Wer weiß, in welche demütigende, noch viel schlimmere Abhängigkeit sie sich in der Ehe mit diesem Geldprotzen begeben hätte!

*

Eine Gehaltserhöhung, die der Aufsichtsdame zugebilligt worden war, ermöglichte ihr, in einer besseren Gegend, näher am Geschäft Wohnung zu nehmen. Fast alle Sonntage und auch an vielen Abenden sahen sich die Kusinen. Zuweilen besuchte die eine die andere, oder sie gingen gemeinschaftlich in ein Theater, um Anregung für Geist und Gemüt zu suchen oder ihrem Erholungs- und Zerstreuungsbedürfnis zu genügen.

Als der Frühling gekommen war und die Lüfte lauer wehten, machten sie des Sonntags und zuweilen auch an einem Wochenabend gemeinsame Ausflüge nach dem Grunewald. Da sie beide hübsche, geschmackvoll gekleidete Erscheinungen waren, fehlte es nicht an gelegentlichen Versuchen galanter Herren, mit ihnen anzuknüpfen. Lisbeth aber litt immer noch seelisch unter der ihr widerfahrenen bitteren Enttäuschung und war so verschüchtert, verängstigt und herabgestimmt, daß sie bei jeder männlichen Annäherung zitterte und nervös wurde. Das Fräulein Doktor ihrerseits war sehr wählerisch, und die ungenierte dreiste Art der Berliner verletzte ihr Selbstgefühl, so daß sie stets kurz, von oben herab, die wenig geschmackvollen Bemerkungen abfertigte, mit denen eroberungslustige Herren anzubandeln sich bemühten.

»Weißt du«, sagte Else Hauf zu ihrer Kusine, als sie eines Abends in der Nähe der alten Fischerhütte an einem stillen Plätzchen im Walde ruhten, »das hätte ich mir auch nicht gedacht, daß es in Berlin so schwer fällt, eine nette Herrenbekanntschaft zu machen.«

Die Jüngere blickte erstaunt auf.

»In Berlin?«

Das Fräulein Doktor nickte bekräftigend.

»Ja gewiß, in einer mittleren Stadt und nun gar in einer kleineren findet man viel leichter passenden Anschluß. Erstensmal begegnen einem dort die Herren der Schöpfung nicht so dreist und anmaßend, von dem Bewußtsein durchdrungen, daß sie nur zu wählen brauchen, denn es sind ja genug nach Liebe und Vergnügen hungrige Weiber vorhanden, und zweitens weiß man hier ja meistens nie, mit wem man zu tun hat, während man in weniger großen Städten sich über diese Frage leicht Gewißheit verschaffen kann.«

»Das ist wahr. Daran habe ich noch nicht gedacht.« Die Sprechende sah die Kusine, die beide Arme unter dem Kopf verschränkt, gedankenvoll zu dem blauen Firmament emporstarrte und den Rauch ihrer Zigarette heftig gegen die Mücken blies, die die Köpfe der Ruhenden blutgierig umschwärmten, verwundert und mißtrauisch von der Seite an. »Hast du denn ein so dringendes Verlangen nach Männerbekanntschaft?«

»Na gewiß! Es ist ja eine Ewigkeit her, seit ich –«

Sie blickte wieder eine Weile sinnend in die Weite; ihre Nase wippte, ihre Lippen zuckten. Mit plötzlichem Ruck richtete sie sich mit dem Oberkörper in die Höhe und kehrte ihr Gesicht der neben ihr Liegenden zu.

»Wir wollen einander doch nichts vormachen, liebe Lisbeth!« sprudelte es aus ihr heraus. »Die unter uns Weibern übliche Heuchelei mache ich nicht mit. Über diese konventionelle Albernheit und Verlegenheit bin ich hinaus. Ich brauche das, wir alle brauchen es. Das Leben verliert einen großen Teil seines Reizes ohne diese süßen Erregungen: dieses schnelle Klopfen der Pulse, das stürmische Herzklopfen, diese Wallungen des Blutes. Dann fühlt man sich jung, dann hat man wieder Schwung, Phantasie, Gehobenheit, Glut in den Adern nach all der Trockenheit des theoretischen Studiums, nach allen Plagen und Verdrießlichkeiten des Berufes, nach allen Niedrigkeiten und allem abstoßenden Materialismus des täglichen Lebens. Dann ist man ganz Mensch, Vollmensch, ja, man dünkt sich ein Gott, wenn der andere Teil die Eigenschaft hat, die heiße, hochlodernde Flamme in einem zu entzünden. Solange man liebt, solange man noch Liebe wecken kann, hat das Leben einen unvergleichlichen Reiz. Und dann –« sie reckte die Arme rückwärts, dehnte die schwellende Brust und legte den Kopf hintenüber, »man braucht von Zeit zu Zeit die natürliche Entspannung, sonst nimmt die Nervosität überhand, die einen launisch, verdrießlich und unlustig macht, die einen beim ruhigen Denken, bei der Arbeit hindert und einen mit fortwährender Unruhe und einem immer stärker werdenden Sehnen und Drängen erfüllt.«

Sie beugte sich über die neben ihr Liegende und sah ihr mit forschenden, scharf in sie dringenden Blicken in die Augen: »Na, sei mal ehrlich, Lisbeth, geht's dir nicht ebenso? Fühlst du nicht auch diese hin- und hertreibende Rastlosigkeit, diese aufsteigenden Hitzwellen, dieses bohrende Sehnen in dir?«

»Nein«, erwiderte die andere heftig, während sich ihre Brauen zusammenzogen und ein paar Falten auf ihrer Stirn erschienen.

»Nein?« Ein ungläubiges spöttisches Lächeln flog über das Gesicht der jungen Ärztin. »Du, ich glaube, du gehörst auch zu denen, die so tief verstrickt sind in die uns anerzogene Unehrlichkeit und Prüderie, daß du dir dieser Regungen nicht einmal bewußt bist, daß du sie dir um keinen Preis eingestehen möchtest.«

Sie richtete sich wieder in die Höhe und reckte die Arme empor.

»Ich – ich schäme mich nicht, denn ich weiß, es ist die Natur, die in mir gärt, und daß ich keinen Grund habe, zu leugnen, daß ich mir meiner natürlichen Triebe bewußt bin und mich ihrer Befriedigung nicht entziehen will. Ich bin ein Weib und sehne mich nach dem Mann. Ein Königreich für einen Mann!«

Sie lachte laut – es war ein gezwungenes Lachen. Dann warf sie sich rücklings in das Gras und seufzte tief.

*

Im Juli machten die beiden Kusinen ihre Ferienreise nach einem Ostseebade. Den ganzen Tag verbrachten sie am Strande, schlürften in vollen Zügen die erfrischende salzige Luft, wanderten viel und hielten ihre Ruhepausen in einem Strandkorb, stumm den Blick über die nahe Meerfläche schweifen lassend oder in behaglicher Unterhaltung. Zusehends rundeten sich und bräunten sich die Wangen, strahlten die Augen immer heller und lebensfroher, wurde der Gang immer kraftvoller, elastischer.

»Ja, ja, so ein bißchen Nichtstun ist wunderschön«, sagte Else Hauf, als sie eines Vormittags nach dem üblichen Morgenbade im Sande lagen und sich sonnten. »Und wie es einem bekommt, dieses Leben des Naturmenschen, der nichts kennt als schlafen, essen und seine Glieder regen! Nur das eine fehlt an einem gesunden, natürlichen Leben – ach ja, das Eine, Schönste!«

»Fängst du schon wieder an?« Frohgelaunter als in der Berliner Tretmühle lächelte die andere nachsichtig zu diesem Ausbruch. »Übrigens, wenn du dich so sehr nach dem Verkehr mit einem dir sympathischen Mann sehnst, dann begreife ich nicht, warum du nicht unter deinen Kollegen –«

Die Ärztin unterbrach die Sprechende mit einer heftig abwehrenden Bewegung.

»Nein, meine Liebe, unter den Ärzten möchte ich mir einen Partner für die Bedürfnisse meines Herzens und – meiner Sinne nicht wählen. Ein bißchen Romantik braucht das Weib nun mal, den goldenen Schein poetischer Verklärung, auch wenn sie wie ich als Ärztin im übrigen nüchtern und verstandmäßig zu denken gewöhnt ist. Aber in der Liebe verlange auch ich Zartheit, Schwärmerei, auch seelisches Schwelgen neben dem körperlichen. Man ist doch kein Wilder, kein Tier. Aber wo findest du das bei einem Arzt? Die Männer werden bei diesem Beruf leicht so roh, so brutal, so ganz gefühllos. Nein, solch ein Mediziner soll mir drei Schritt vom Leibe bleiben. Überhaupt mit einem Kollegen gerät man so leicht ins Fachsimpeln; er würde mit mir das rein Körperliche an der Sache erörtern wollen. Ich danke! In der Liebe will ich Weib sein, nichts als schwaches, hingebungsvolles, schwärmendes Weib.«

Die Sprechende sprang ruhelos auf.

»Komm! Ein bißchen Bewegung machen, damit man auf andere Gedanken kommt und die überschüssigen Kräfte verbraucht!«

Unweit des Strandes lagen einige schmucke kleine Segelboote, und Männer in Matrosentracht animierten die Vorübergehenden zu einer Segelpartie.

»Was meinst du, wollen wir ein bißchen hinausfahren in die wogende See?« fragte die Ärztin.

Die andere war zaghaft.

»Ich fürchte mich, Else. Sieh mal!« Sie deutete auf die See hinaus, wo ein paar Boote halsbrecherisch auf den Wogen tanzten. »Wie leicht kann einem da ein Unglück passieren!«

Das Fräulein Doktor lachte.

»Du Angsthase! Ein Eisenbahnzug kann entgleisen, ein Ziegel vom Dach auf deinen Kopf fallen. Na und wenn! In der Blüte der Jugend, ohne Krankheit und Schmerzen plötzlich sterben, wär's nicht schön?«

Die Jüngere schauderte, ließ sich aber doch von der Kusine, die sie tatkräftig unter den Arm faßte, zum Wasser führen. Zwei Männer, ein alter Fischer und ein als Matrose gekleideter junger Bursche, offenbar der Sohn des alten, boten ihre Dienste an. Man wurde handelseins, und der Jüngere nahm die Ärztin in seine Arme, um sie zum Boot zu tragen, das etwa zwanzig Schritte vom Strand am Anker lag und in den Wellen schaukelte. Der Alte folgte mit Lisbeth Glümer, die erst ein wenig gezögert hatte, ehe sie sich von dem Fischer in die Arme nehmen ließ.

Da erschallte plötzlich eine kräftige Männerstimme vom Strande her: »Ist es erlaubt, mitzufahren, meine Damen?«

Das Fräulein Doktor war eben von dem Burschen ins Boot abgesetzt worden. Sie drehte sich herum, um eine kurz ablehnende Antwort zu geben. Aber unwillkürlich stockte ihr das Wort. Ein sympathisches Männerantlitz mit kurz gehaltenem Vollbart schaute ihr entgegen. Er mochte etwa dreißig bis dreiunddreißig Jahre alt sein. Seinen intelligenten Zügen sowie den klugen braunen Augen war der Stempel geistiger Interessen aufgedrückt. Neben dem Rufer stand ein jüngerer blonder Mann. Der Ältere zog jetzt artig seine Strandmütze.

»Ich dachte nur«, fügte er wie entschuldigend hinzu, »daß es dann für den einzelnen billiger kommt.«

Lisbeth Glümer hatte sich erschrocken umgedreht. Jetzt kehrte sie wieder ihr Gesicht der Kusine mit einer Grimasse des Unbehagens zu, die deutlich ihre Unlust verriet. Aber die andere sah es nicht oder tat, als ob sie nicht sah. Ohne zu überlegen, wie unter einem inneren Zwang, erwiderte sie:

»Wir haben nichts einzuwenden, wenn der Bootsbesitzer einverstanden ist.«

Worauf der Fischer sagte: »Warum denn nich? Denn bezahlen Se man bloß drei Mark for de Perschon statt fünfen.«

Als die beiden Herren in derselben Weise eingebootet waren, wurde der Anker gelichtet; der Fischer und sein Sohn sprangen schwerfällig mit ihren hohen plumpen Stiefeln in das Boot, und die Fahrt begann. Die Segel blähten sich straff, und das Boot schoß unter der steifen Nordostbrise wie ein Pfeil durch die Wellen.

Die beiden Herren hatten gegenüber den Damen auf der anderen Bank, die an dem Bootsrande entlang lief, Platz nehmen wollen, aber der Fischer hatte ihnen bedeutet, sich neben die Damen zu setzen, da der Wind stark von dieser Seite blies und das Boot drüben ganz seewärts drückte. Der ältere der beiden Herren kam nun also neben dem Fräulein Doktor zu sitzen, während der Blonde sich an Lisbeth Glümers Seite niederließ. Während dieser schweigend, offenbar ganz dem Reiz der Fahrt auf den schäumenden, spritzenden Wogen hingegeben, in die See blickte, blinzelte sein Gefährte verstohlen zu seiner Nachbarin hin. Das kleidsame weiße Barett, das auf die eine Seite gerückt war, gab dem ernsten Gesicht der jungen Ärztin etwas Keckes. Trotzdem lag in ihren Mienen nichts Herausforderndes. Aber es dünkte ihn tölpisch, so stumm neben ihr zu sitzen. Noch einmal sah er sie forschend von der Seite an, um möglichst ihre gesellschaftliche Stellung zu taxieren. Doch er konnte in dieser Hinsicht nicht recht ins klare kommen, und da ihm nichts Besseres einfiel, begann er:

»Ich würde sehr bedauern, wenn wir Sie gestört hätten, mein Fräulein.«

»Unbesorgt«, entgegnete sie, ohne ihm einen Blick zu schenken, »wir lassen uns nicht so leicht stören. Übrigens ist ja solch ein Fischerboot sozusagen ein öffentlicher Ort wie die Landungsbrücke, da, wie der Strand und die Promenade oben auf dem Damm.«

Er räusperte sich. Das war gerade nicht entgegenkommend.

»Sie sind gewiß schon oft hinausgesegelt?«

»In dieser Saison noch nicht. Aber ich liebe Wasserpartien sehr.«

»Nicht wahr«, fiel er lebhaft ein, »ist es nicht herrlich auf der See, je stürmischer, desto besser? Übrigens –« er lüftete höflich seine Mütze. »Gestatten: Doktor Moeller, Chemiker.«

Sie nickte.

»Fräulein Hauf.«

Sie unterließ es absichtlich, ihren Titel und ihren Beruf zu nennen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß sie damit das Urteil meist in die Richtung des herkömmlichen Vorurteils gegen die studierten Weiber sogleich festlegen und die Unbefangenheit ausschalten würde. Sie wollte aber hier in der Sommerfrische nicht als Berufsweib, sondern nur als Weib gelten.

»Seekrank waren Sie wohl noch nicht, gnädiges Fräulein?« fragte Dr. Moeller.

»Nein. Ich habe auch noch nie eine größere Seereise unternommen.«

Er lächelte.

»Oh, das kann man auch auf einer kurzen Bootsfahrt haben, wie die Beispiele lehren.«

Er deutete auf seinen Gefährten.

»Mein Freund Ladenburg hat erst vorgestern während eines solchen kleinen Ausfluges dem Meergott sein Opfer dargebracht.«

Die junge Ärztin beugte sich ein wenig vor und sah nach dem andern Herrn hin. Er kehrte ihr sein Profil zu; unter der Schirmmütze quoll leichtgelocktes goldblondes Haar; seine ansprechenden Züge trugen einen verträumten Ausdruck, aus seinen Augen strahlte helle Bewunderung.

»Da wundert es mich«, entgegnete sie, »daß er sich trotz dieser gewiß nicht angenehmen Erfahrung heute schon wieder hinauswagt.«

»Oh, er ist ein begeisterter Verehrer des Meeres.«

Wie um das Wort seines Freundes, obgleich er es nicht gehört hatte, zu bekräftigen, sprang der Blonde plötzlich auf, breitete beide Arme gegen das Meer aus und deklamierte mit voller Lungenkraft:

»Es wütet der Sturm,
und er peitscht die Wellen,
und die Wellen, wutschäumend und bäumend,
türmen sich auf, und es wogen lebendig
die weißen Wasserberge,
und das Schifflein erklimmt sie,
hastig, mühsam,
und plötzlich stürzt es hinab
in schwarze, weitgähnende Flutenabgründe –
O Meer!
Mutter der Schönheit, der Schaument–«

Der heftige Anprall einer besonders kräftigen Welle schnitt dem poetisch Angehauchten das Wort mitten durch. Er flog gegen die Bank zurück und kam dabei halb auf den Schoß der erschrocken aufkreischenden Lisbeth Glümer zu sitzen; mit seiner Hand umklammerte er instinktiv ihre Schulter.

Während die also Bedrängte dunkel erglühte vor Scham und Ärger, konnte das andere Paar sich nicht enthalten, laut aufzulachen. Auch die beiden Bootsleute schmunzelten und der Alte scherzte, den Priem von dem einen Mundwinkel in den andern schiebend: »So'n Boot is manch'n schlechter Platz for 'ne Predigt, Herr.«

Beschämt, sich von seinem ersten Schrecken erholend, rückte Herr Ladenburg rasch von seiner Nachbarin weg und zog zugleich seine Mütze: »Ich bitte – bitte sehr um Ent – Entschuldigung –« stammelte er verlegen.

Dr. Moeller lachte noch immer.

»Das kommt von deiner Schwärmerei für Heinrich Heine, lieber Ortwin, und für die von euch beiden so inbrünstig verehrte Thalatta. Wie heißt es doch gleich in seinem Meergruß: Thalatta, Thalatta!«

»Sei mir gegrüßt, du ewiges Meer!«

fiel der andere, trotz der ihm eben von der bewunderten See erteilten Warnung, sofort hingerissen, ein, riß die Mütze vom Haupt und schwenkte sie in der Luft:

»Sei mir gegrüßt zehntausendmal,
aus jauchzendem Herzen –«

»Genug!« unterbrach sein Freund. »Du tust gut, dem aufgeregten Meer mit mehr Ruhe zu begegnen, lieber Ortwin, um gewissen innerlichen Erregungen vorzubeugen.«

Der Verspottete schüttelte sein lockiges Haupt.

»Das passiert mir nur immer bei der ersten Fahrt in der Saison.«

Und dann wandte er sich an seine Nachbarin, um den nicht eben günstigen Eindruck, den sein Unfall auf sie hervorgebracht haben mußte, rasch zu verwischen: »Sie schwärmen gewiß auch für Heine gnädiges Fräulein?«

Sie nickte freundlich, rasch versöhnt, denn in dem Wesen des jungen Mannes und in seinem träumerischen Blick, in dem ein stiller, echt jugendlicher Enthusiasmus glühte, lag etwas Anheimelndes, Vertraueneinflößendes.

»Ich habe für sein Buch der Lieder geschwärmt wie für kein anderes deutsches Dichterwerk«, gestand sie, und das Herz wurde ihr unwillkürlich warm, und auch über ihr Gesicht breitete sich leuchtender Glanz in Erinnerung an sorglose, schwärmerische Backfischjahre.

»Nicht wahr?« stimmte er freudig zu. »Kann es etwas Zarteres, Feineres, Poetischeres geben als sein unsterbliches Gedicht:

Du bist wie eine Blume,
so hold, so schön und rein –

Auch ich sehe in Heinrich Heine einen Meister, mein Vorbild, das Ideal eines Lyrikers.«

Mit vor innerer Bewegung anschwellender Stimme hatte es der Blonde gerufen.

Else Hauf sah interessiert ihren Nachbar an.

»Ihr Freund scheint eine sehr poetisch gestimmte Seele.«

»Er ist Dichter, daneben des Erwerbs wegen Redakteur. Vor kurzem hat er ein Seitenstück zu Heines ›Nordsee‹ begonnen: ›Die Ostsee‹.«

Er erhob seine Stimme. »Du, Ortwin, wie fängt doch gleich der Prolog zu deinem Ostsee-Zyklus an?«

Der junge Dichter errötete ein wenig, ließ sich aber nicht nötigen und deklamierte:

»Vom schönen Ufer stoßen wir singend ab,
wo unsrer Kindheit selige Wiege stand,
und in die weite Welt voll Hoffnung
steuern wir fort in raschem Wagemut.
Und nieder tauchen ferne die Ufer bald,
und Dämmrung webt die Schleier am Horizont;
es bricht herein die Nacht, und einsam
treiben wir stumm auf wildem Meere.«

»Sie meinen das symbolisch«, bemerkte die junge Ärztin, »unter dieser Fahrt auf wildem Meere verstehen Sie das Leben?«

Während der Chemiker die Sprechende überrascht ansah, bestätigte der Dichter geschmeichelt:

»Ich freue mich, daß Sie mich so gut verstanden haben.«

»Sie scheinen sehr schwermütig veranlagt trotz Ihrer Jugend«, gab Else Häuf zurück.

Dr. Moeller lächelte.

»Nur als Dichter, als Mensch nicht. Da liebt er das Leben und freut sich seiner Gaben.«

Ein unterdrückter Schrei unterbrach die Unterhaltung. Es war die etwas nervenschwache Lisbeth Glümer, die erschrak, denn eben hatte sich unter einem Windstoß das Boot ganz auf die Seite geneigt. Der Wind hatte noch an Stärke zugenommen, und je weiter man auf die See hinauskam, desto höher gingen die Wellen.

»Wollen wir landwärts steuern?« fragte der Chemiker.

Aber seine Nachbarin verneinte.

»Ich finde, gerade dieses Segeln im Sturm, dieses Auf und Ab im Taumel der Wogen bildet den charakteristischen Reiz einer Bootsfahrt auf der See. Bei ruhigem Wetter ist es ja nicht viel anders als eine Fahrt auf der Spree oder dem Wannsee.«

»Also Landsmännin«, bemerkte Dr. Moeller mit einer leichten Verneigung. »Sehr angenehm!«

»Gefallen Ihnen die Berlinerinnen?«

»Natürlich. Ich bewundere ihre äußeren und inneren Vorzüge, ihre schlanke, graziöse Gestalt, ihre Munterkeit, frohe Lebenslust und ihre Schlagfertigkeit, ihren Sinn für Humor und ihren von Prüderie und Engherzigkeit freien Sinn.«

Das Fräulein Doktor lachte.

»Die letzten Komplimente sind sehr zweifelhafter Art. Man könnte auch statt dessen sagen: ihre Vergnügungssucht, ihr anzügliches Mundwerk und ihre geringe Zurückhaltung, ihr Mangel an feinerem weiblichen Empfinden.«

»Aber gnädiges Fräulein, Sie verleumden sich und Ihre liebenswürdigen Landsmänninnen.«

»Sie überschätzen mich«, lehnte Else Hauf schalkhaft ab, »ich war noch kurze Zeit in Berlin, um mich zu den von Ihnen so gepriesenen Berlinerinnen rechnen zu dürfen.«

»In Berlin akklimatisiert man sich rasch«, versetzte der Chemiker, »ich bin überzeugt, daß Sie nicht nötig haben, sich die Berlinerinnen irgendwie zum Muster zu nehmen.«

»Das ist auch nicht mein Ehrgeiz.«

Dr. Moeller verneigte sich auf seinem Sitz galant.

»Schlagfertig wie – eben wie eine Berlinerin.«

Die anderen beiden jungen Insassen des Bootes verhielten sich auffallend schweigsam. Lisbeth Glümer rückte unbehaglich auf ihrem Sitz; ihre Augen flackerten ruhelos, ihr Antlitz wechselte die Farbe.

»Ist Ihnen nicht wohl, gnädiges Fräulein?« erkundigte sich der junge Dichter besorgt.

»Ich habe doch solche Furcht«, gestand sie. Sie seufzte und preßte die Hand gegen die Magenseite. »Ich weiß nicht, mir ist so – furchtbar übel.«

»Dat is nich so slimm«, meinte der junge Bootsmann. »'n beeten Seekrankheit –«

»Aber Lisbeth«, rief die Kusine herüber, »sei doch nicht so furchtsam! Ich finde es wunderschön –«

Doch jetzt stieß sie selbst einen Angstschrei aus, denn eben spritzte eine kurze Welle über den schmalen Bord und netzte ihr Kleid.

»Wollen wir nicht doch lieber umlegen?« fragte ihr Nachbar.

»Warum denn?« wehrte sie ab. »So'n paar Spritzwellen gehören doch zu einer richtigen Bootsfahrt auf See.«

Ihr Mut und ihre Abenteuerlust wurden auf eine harte Probe gestellt. Die Segel flatterten immer heftiger, das Boot stampfte immer schwerfälliger und kämpfte immer schwankender gegen die höher steigenden Wellen. Mit beiden Händen hielt sich das Fräulein Doktor an der Bank fest, während Lisbeth Glümer sich schwach, hinfällig an den Arm schmiegte, den ihr Nachbar um die Schulter der Leidenden gelegt hatte.

Auch die Ärztin war bleich geworden. Mit Ärger und Ingrimm fühlte sie, wie auch sie von einem Schwächeanfall gepackt wurde. Sie biß die Zähne aufeinander und nahm alle ihre physische und moralische Kraft zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen.

»Wie fühlen Sie sich, gnädiges Fräulein?« fragte der Chemiker, dem ihre verzweifelten Anstrengungen nicht entgingen.

Sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen.

»O ganz – ganz wohl.«

Aber der erfahrene Mann ließ sich nicht täuschen.

»Umlegen!« befahl er dem Fischer.

Der nickte und winkte seinem Sohn.

»Nicht – nicht doch!« wehrte Else Hauf mit dem letzten Rest ihres Widerstandes ab.

Als aber die beiden Bootsleute die Segel umgelegt und den Kurs geändert hatten, enthielt sie sich jedes weiteren Widerspruchs. Es währte nur wenige Minuten, bis auch ihre Widerstandskraft völlig gebrochen war und sie dem Beispiel der Kusine folgen mußte, die den Kopf über den Bootsrand geneigt hatte und deren Körper sich unter krampfhaften Entladungen wand und schüttelte. Auch die auf ihre Selbständigkeit so stolze Ärztin mußte es zulassen, daß ihr Nachbar sie umfaßte und festhielt, damit sie nicht über Bord fiel.

Als das Boot endlich wieder auf seichtem Boden unweit des Strandes aufstieß, sprang Dr. Moeller ins Wasser, hob die noch Schwache aus dem Boot und trug sie an das nahe Ufer. Auch sein Freund bedachte sich nicht einen Augenblick, sondern tat es ihm gleich und nahm die noch ganz Benommene in seine Arme, um sie so zum sicheren Eilande zu befördern.

»Gräßlich – diese Seekrankheit«, sagte Else Hauf, während sie aus den Armen ihres Kavaliers verlegen, ärgerlich über sich selbst, auf den Erdboden glitt.

Dem Chemiker pochte das Herz stürmisch teils von der körperlichen Anstrengung, teils unter der elektrisierenden Wirkung, die die an seiner Brust ruhende Mädchengestalt auf ihn ausgeübt hatte.

»Sie hat auch ihre guten Seiten«, sagte er, ihr mit sprühenden Augen ins blasse Antlitz schauend, »denn sie verschaffte mir Gelegenheit, die süßeste Last in meinen Armen zu halten.«

Sie zog ihre Stirn kraus und wehrte mit stolzem Blick ab.

»Ich bedaure, daß Sie meinem schuldigen Dank die Herzlichkeit nehmen«, versetzte sie herb.

Er starrte sie entnüchtert an und sah ein, daß er sich von seiner Aufwallung hatte allzu weit hinreißen lassen.

»Habe ich Sie gekränkt? Verzeihen Sie!«

Seine ehrliche Bestürzung versöhnte sie rasch.

»O bitte, es hat nichts weiter auf sich«, versetzte sie lächelnd. »Sie haben nur vergessen, daß ich keine Berlinerin bin.«

Einige Schritte davon setzte Ortwin Ladenburg seine holde Bürde auf das Land.

»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte das junge Mädchen. »Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen soviel Beschwerde verursacht habe.«

»Aber ich bitte sehr«, versetzte der Dichter mit Überzeugung. »Ich freue mich, daß die stürmische Fahrt nun einen so poetischen Ausgang genommen hat. Nicht Sie, sondern ich habe Ihnen zu danken. Sie haben mir den schönsten Stoff zu einer kleinen Ballade gegeben.«

*


 << zurück weiter >>