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Am Nachmittag begegneten sich die beiden Paare auf dem Konzertplatz bei der Strandkonditorei. Else Hauf und Lisbeth Glümer saßen an einem Tisch beim Kaffee. Die beiden Herren traten heran, um sich zu erkundigen, wie den Damen das kleine Seeabenteuer bekommen sei.

Ihr Aussehen war die beste Antwort. Beider von der Seelust und dem Sonnenschein bereits leichtgebräunten Wangen zeigten den rosigen Schein der Gesundheit, und ihre Augen strahlten heiter und freundlich. Die Ältere lud die Herren ein, Platz zu nehmen, und bald geriet man in ein munteres Plaudern. Unter Scherzen und Lachen erging man sich in Erinnerungen an den gemeinsamen Ausflug zur See. Dann sprach man von den Sehenswürdigkeiten der Umgegend, die zu Ausflügen zu Fuß oder Wagen einluden. Nach dem Konzert machte man eine gemeinsame Strandpromenade. Das Fräulein Doktor ging mit dem Chemiker voraus; in einiger Entfernung folgten die beiden Jüngeren.

Dr. Moeller brachte das Gespräch wieder auf die Seekrankheit. Ihn, als Chemiker, der in einer Fabrik für Arzneipräparate angestellt war, interessierte das Thema.

»Merkwürdig, daß man noch kein irgendwie wirksames Mittel zur Bekämpfung dieses doch gewiß recht quälenden Übels hat erfinden können.«

»Meines Wissens«, erwiderte die Ärztin, »hat man noch nicht einmal festzustellen vermocht, ob es eine Nervensache ist oder eine Indisposition des Magens. Ich bin mehr für die letztere Ansicht, denn sonst wäre ich wohl heute vormittag nicht so schmählich unterlegen. Meine Nerven sind im besten Zustand.«

»Eine Seltenheit bei einer Dame«, bemerkte ihr Begleiter.

Sie lächelte.

»Ja, in dieser Hinsicht bin ich ganz unmodern. Ich meine aber, daß hier viel der Wille tun kann. Die Damen lassen sich meist allzusehr gehen, man muß sich in der Gewalt haben und nervöse Anwandlungen energisch bekämpfen. Bei uns Frauen, die wir im Berufsleben stehen, erscheint mir das als erstes Erfordernis.«

Er sah ihr bewundernd in das Gesicht, das trotz frauenhafter Feinheit der Züge doch starke geistige und seelische Disziplin verriet.

»Ja, ich glaube, Sie besitzen viel Energie.«

»Die habe ich mir in meinem Beruf und in der Vorbereitung dazu anerziehen müssen«, fuhr es ihr heraus, »sonst wäre ich wohl schon im Anfang gescheitert.«

Er sah sie prüfend an und schüttelte dann, uneins mit sich, mit dem Kopf.

»Ich dachte zuerst an den Lehrerinnenberuf. Aber nein, Lehrerin sind Sie nicht. Diese Damen markieren gewöhnlich Überlegenheit und prätentiöse Würde.«

»Gut beobachtet«, sagte sie scherzend. »Nein, davon bin ich frei. Aber ich bin in meinem Beruf verpflichtet, Ruhe, Sicherheit und in den schwierigsten Lagen des menschlichen Lebens unerschütterliche Standhaftigkeit zu bewahren.«

»Sie machen mich neugierig. – Ah, ich hab's: Sie sind Krankenpflegerin.«

»Getroffen«, bestätigte sie, im stillen ein Lachen verbeißend. »Ich bewundere Ihren Scharfblick.«

»Nun, das war doch leicht zu erraten«, lehnte er bescheiden das Lob ab. »Ich wüßte keinen anderen weiblichen Beruf, in dem die von Ihnen genannten Eigenschaften so unbedingt nötig wären. Darf ich fragen, ob Sie in einem Spezialfach tätig sind?«

»Zur Zeit ja, ich bin in einem Sanatorium für Nervenkranke, Frauenabteilung, angestellt.«

In den Augen des Chemikers leuchtete ein starkes Interesse.

»Das trifft sich ja famos. Kennen Sie die neuen Nerventabletten aus der chemischen Fabrik von Blocher und Kompanie?«

»Ja, ich habe sie schon verschiedentlich in Anwendung gebracht.«

»Das interessiert mich sehr. Wie finden Sie die Wirkung?«

»Auf einige meiner Kranken wirkten sie ausgezeichnet, bei anderen aber konnte ich nur eine geringe Wirkung beobachten. Die Menschen sind eben verschieden, auch wenn sie das gleiche Leiden haben. Solche Massenfabrikate, die den individuellen Krankheitszustand nicht berücksichtigen können, wirken naturgemäß immer nur auf einen Prozentsatz der Kranken. Die Bestandteile müßten aber je nach dem Organismus und dem Grad der Erkrankung verschieden dosiert sein.«

Der Chemiker sah erstaunt und nachdenklich in die geistig belebten Züge der neben ihm Schreitenden.

»Die Tabletten enthalten wohl in der Hauptsache Glyco Phosphat und Salia Bromata, auch ein wenig Menthol zur Aromatisierung«, bemerkte sie, von ihrem wissenschaftlichen Eifer fortgerissen.

Seine Verwunderung wuchs.

»Sie haben ja Kenntnisse wie ein Arzt.«

»Sie scherzen. Ach nein, eigene Weisheit ist das nicht. Man schnappt doch so mancherlei aus den Gesprächen der Ärzte auf. Sie sind wohl in der Fabrik von Blocher tätig?«

»Ja, und die neuen Tabletten sind von mir zusammengestellt. Sie haben mich da auf eine gute Idee gebracht, ich werde zwei verschieden starke Präparate anfertigen, eins und zwei –«

Während der Chemiker und die junge Ärztin angeregt fachsimpelten und sich zwischen ihnen zunächst geistige Beziehungen ansponnen, schwärmten die beiden Jüngeren in höheren Regionen.

»Haben Sie Ihre Ballade schon angefangen?« fragte Lisbeth Glümer.

Der junge Dichter nickte wichtig.

»Sie ist schon fertig. Das ist bei uns Dichtern so, wenn uns einmal eine Idee gepackt hat, dann läßt sie uns nicht los, bis wir sie gestaltet und uns so davon befreit haben.«

»Aber fanden Sie denn genug Muße und Stimmung in Ihrem Hotel?«

»Bewahre! Wär' mir ganz unmöglich, da auch nur einen annehmbaren Vers zu drechseln. Und sie ist ziemlich lang geworden, die Ballade. Heute in aller Frühe, schon um fünf Uhr, bin ich aufgestanden und zum Strand geeilt. Da herrschte eine stimmungsvolle Einsamkeit, fast eine heilige Stille. Nur die Natur und ich. Im Strandkorb sitzend, die herrliche See vor mir, da stellte sich die Inspiration ein.«

Das junge Mädchen schaute mit Interesse in das leicht emporgereckte Antlitz, das von dem Schimmer eines stillen Enthusiasmus verklärt wurde. Träumerischer Glanz lag in den blauen Augen. Warme Sympathie und naive, ehrfürchtige Bewunderung regten sich in dem empfänglichen Mädchenherzen.

»Da bin ich aber gespannt!« sagte sie lebhaft. »Darf man das Gedicht kennenlernen?«

Er kehrte ihr sein Gesicht zu, das jetzt fast einen erschrockenen Ausdruck trug.

»Um Himmels willen! Ich habe es nur flüchtig, in der ersten Eingebung hingeworfen. Morgen früh kommt erst die Durcharbeitung, das technische Feilen.«

»Dann darf man also morgen darauf rechnen?«

»Wenn es Sie interessiert?« gab er geschmeichelt zurück.

»Aber selbstverständlich. Sie haben mir doch gesagt, daß ich –« Sie hielt verschämt inne.

»Daß Sie mir den Stoff dazu gegeben haben. Ganz recht. Während der Meeresgott mit seinem Dreizack die Wellen so ungestüm aufrührte und der Wogenprall Sie –« er suchte nach einer schonenden Wendung – »Sie gewaltsam an meine Seite drängte, tauchte es wie eine Vision in meiner Seele auf. Ich will es Ihnen mit ein paar Strichen skizzieren, wie es sich in mir poetisch gestaltete: Der Jüngling fährt im schwanken Boot auf das weite Meer hinaus. Träumerisch schaut er in die Wogen; alte Sagen verkörpern sich in seiner Phantasie. Nereiden, Sie wissen, Wassernymphen, tauchen aus den Wellen empor und hängen sich an das Boot, um es mit sich in die Tiefe zu ziehen. Aber die eine, die schönste – sie trägt ein goldenes Krönlein in dem blonden Haar – wehrt ihnen. Eine plötzliche Leidenschaft erfaßt sie für den blonden Jüngling, und auch er sieht ihr voll Bewunderung, wie gebannt, in die meergrünen, verführerischen Nixenaugen. Komm mit mir! flüstert er ihr zu, beugt sich zu ihr hinab und schlingt den Arm um den schönen Frauenleib. Sie blickt zu ihm empor, sehnsüchtig, verlangend und doch zögernd: Du wirst mich nicht mögen, du wirst mich verabscheuen, wenn ich zu dir ins Boot steige und du mich in meiner vollen Gestalt erblickst. Doch er läßt sich nicht abschrecken; mit beiden Armen zieht er sie, die nur schwach widerstrebt, zu sich auf seinen Schoß. Nun freilich, als er ihren Unterkörper sieht, der aus Fischflossen gebildet ist, graust es ihn im stillen. Aber er wehrt sich gegen diese Regung und hebt rasch den Blick zu ihrem Antlitz und versenkt sich ganz in die berückend schönen Augen, in deren Tiefe lockende, sinnbetörende Lichter strahlen. Als sie sich dem Ufer genähert haben, packt ihn noch einmal ein Widerwille, während er ihren kalten Fischleib mit seinen Armen umfaßt. Doch er überwindet es auch diesmal und springt auf den Strand. Doch kaum hat er den festen Boden mit seiner unheimlich holden Last berührt, als sich der schuppige Nereidenleib in einen herrlichen wohlgestalteten Frauenkörper verwandelt. Vom Kopf bis zu den kleinen Füßchen das entzückendste Weib, das seine Augen je bewundert haben. Triumphierend führt er sie in sein Heim, und im ungetrübten Liebesglück verfliegen die Wochen. Aber dem Rausch folgt die Ernüchterung. Die Glut ist verraucht, und die Sehnsucht nach dem ihr natürlichen feuchten Element, nach den Gespielinnen, erfaßt die Meernixe und läßt sie nicht los. Eines Nachts stiehlt sie sich von ihrem Lager. Als die Tür hinter ihr ins Schloß fällt, erwacht der Schläfer. Er erschrickt, denn ihr geheimes Sehnen ist ihm nicht verborgen geblieben. Er aber liebt das schöne bestrickende Geschöpf noch immer. Eilig springt er auf und stürmt ihr nach. Voll Entsetzten sieht er sie nach dem Meere fliehen. Er weiß, sobald sie ihre wogende Heimat erreicht hat, ist sie ihm verloren. Dicht vor den Fluten der stürmischen See hat er sie eingeholt. Schon streckt er die Arme nach ihr aus. Aber sobald ihr Körper das Wasser berührt, wachsen ihr Schuppen und Fischschwanz, und im Schwimmen ist sie ihm überlegen. Trotzdem teilt er mit starken Armen die Wogen, immer die Blicke starr, sehnsüchtig nach ihr gerichtet, die den Kopf nach ihm wendet und ihn mit verführerischem Lächeln, mit ihren meergrünen Augen unwiderstehlich lockt. Weit hinaus in das Meer schwimmt er ihr nach, bis die rechts und links auftauchenden Nereiden ihn mit sich in die Tiefe ziehen –«

Mit leiser, etwas befangen einsetzender Stimme hatte der junge Dichter begonnen, allmählich berauschte er sich an seinen eigenen Worten. Entzückt, begeistert hängt Lisbeth Glümer an seinen sich bewegenden Mienen.

»Das ist schön! Das ist wunderschön!« sagt sie, als er seinen Vortrag beendet hat. Sie streckt ihm impulsiv ihre Rechte entgegen:

»Sie werden mir die Ballade morgen vorlesen?«

Er legt seine Hand in die ihre und sieht ihr, von ihrem Eifer, ihrem Interesse geschmeichelt, freudig in die strahlenden Augen, die deutlich den bezwingenden Eindruck verraten, den sein Vortrag auf ihre enthusiastische Mädchenseele hervorgebracht hat.

»Ich verspreche es Ihnen.«

*

Nicht nur die Ballade von der Nereide, auch andere Gedichte, zu denen ihn das Meer, die ganze Umgebung und der tägliche Verkehr mit dem in Kunstsachen naiven, empfangsfreudigen jungen Mädchen inspirierten, las Ortwin Ladenburg vor. Indes unterhielten sich Dr. Moeller und Else Hauf eifrig, mit nicht geringerer Hingabe an den zwischen ihnen behandelten Gegenstand, über alle möglichen Fragen des Lebens. Ihr Hauptinteresse und die bewegteste Diskussion nahm die Frauenfrage in Anspruch. Sie konstatierten, daß sie hier ganz entgegengesetzten Ansichten huldigten. So freie und fortschrittliche Anschauungen der Chemiker auch in anderen Kulturfragen an den Tag legte, in der Frauenfrage stand er noch auf dem alten Standpunkt: Die Frau gehört ins Haus. In der Liebe und Ehe fände sie die ihr von der Natur bestimmten Aufgaben. Else Hauf aber verfocht mit Eifer, mit scharfer Dialektik und beißender Satire die Theorien der Frauenrechtlerinnen. Die Frau sei kein Mensch zweiter Klasse, wie die Männer überhebend sich einredeten. Wenn sie bisher einen Vorrang behauptet hatten, so hätten sie dies nur vermittels ihrer größeren Körperkraft vermocht. Aber die rohen Zeiten, in denen die körperliche Überlegenheit den Ausschlag gegeben, seien für immer dahin. Der Geist habe seine Herrschaft angetreten, und hierin stände die Frau in keiner Weise dem Manne nach, wie sie sich zu zeigen begänne. Die Liebe dürfe und werde im Frauenleben der Zukunft keine größere Bedeutung einnehmen als in dem Leben der Männer. Als Mutter freilich würde die Frau mehr in Anspruch genommen als der Vater, aber das erstrecke sich in der Regel doch nur auf wenige Jahre und sei auch zum großen Teil eine geistige Leistung und von Wert für die Allgemeinheit, für Staat und Menschheit. Außerhalb dieser Jahre, die das Gebären und die Aufzucht und Erziehung der Kinder beanspruche, seien die Frauen ebenso befähigt, sich im Berufsleben wie in der Erfüllung öffentlicher, staatsbürgerlicher Pflichten zu betätigen.

Wenn auch die Meinungen oft heftig aufeinanderplatzen, sie gewannen doch ein von Tag zu Tag sich steigerndes Interesse an ihrem Verkehr und lernten sich gegenseitig schätzen und achten und fanden ein menschliches Gefallen aneinander.

Drei Wochen verstrichen den vier jungen Leuten schnell. Das tägliche Zusammensein und die Ungezwungenheit, die das wohlige körperliche Befinden, die Freiheit vom gesellschaftlichen Zwang und die frische Laune der Ferienzeit mit sich brachten, näherte die vier jungen Leute einander schnell, und mit Bedauern sahen sie der nahen Trennung entgegen.

Der letzte Abend war gekommen. Die beiden jungen Damen mußten am nächsten Morgen nach Berlin, zu ihren Pflichten zurückkehren. Sie gingen langsam am Strande entlang, wie immer Else Hauf und Dr. Moeller als die lebhafteren voraus, während die beiden anderen langsamer folgten. Die einen wie die anderen waren heute auffallend wortkarg; etwas Unausgesprochenes lag zwischen den Paaren. Auf den Männern sowie auf den beiden jungen Mädchen lastete das Gefühl des Bedauerns. Sollte es nun wirklich das letztemal sein, daß sie nebeneinanderschritten, daß sie ihre Gedanken austauschten und einander in die vom Gespräch bewegten Gesichter blickten? Es dünkte beiden Teilen unmöglich, und doch hatte noch keiner sich entschließen können, den Wunsch nach einem Wiedersehen in Berlin auszusprechen.

Die Sonne tauchte glühend in das kühle Meer. Der Dichter und seine Begleiterin blieben unwillkürlich stehen, wie schon häufig in den vorangegangenen Tagen, um dem immer reizvollen Schauspiel zuzusehen, wie der rote Glutball langsam versank, plötzlich erlosch.

»Morgen werde ich es nicht mehr sehen«, sagte Lisbeth Glümer schwermütig. »Ach, Berlin!«

Sie schauderte sichtbar.

»Ja, Berlin!« erklang es von den Lippen des Dichters wie ein Echo. »Dieses schauderhafte, prosaische Berlin! Schnürt es einem nicht die Brust zusammen, hemmt es nicht den Herzschlag, erstickt es einem nicht die Frische der Empfindung, die Freude an der Natur, den Schwung der Phantasie, wenn man nur daran denkt!«

Sie seufzte anstatt einer Antwort. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie empfand ganz wie er, und schwer bedrückte der Gedanke ihre Seele, daß bald die anregenden Stunden des Verkehrs mit dem jungen Dichter vorüber sein würden. Schmerzend kam ihr zum Bewußtsein, wieviel sie mit ihm verlor. Eine Welt voll Schönheit und zartem Duft, voll strahlendem Glanz hatte er ihr erschlossen. Alle Prosa des Lebens, alles materielle Denken und Sorgen schwand in seiner Gegenwart, und ihre Seele schwang sich ihm entzückt in jene Regionen, wo nur die Ideale lebten, das Reine, Hohe, Schöne.

Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander, ganz in Schwermut versunken, ganz den Empfindungen hingegeben, die sich scheu versteckten, die unbestimmt in ihnen wogten, die sie sich selbst nicht einzugestehen wagten.

Langsam begannen sie weiterzuschreiten. Die Voraufgehenden waren ihren Blicken entschwunden. In ihrem unbewußten Sehnen hielten sie bald wieder ihre Schritte an. Der Dichter atmete schwer, die Brust war ihm beengt. Auch sie hatte das Gefühl der Unlust, der Schwere in allen Gliedern.

»Wollen wir nicht ein wenig ruhen?« fragte der Dichter mit merkwürdig belegter, klangloser Stimme.

Sie nickte bejahend; sie gingen eine Strecke weiter hinauf und lagerten sich auf dem trockenen, weißen Sande. Ebenso stumm wie vorher verharrten sie. Über banale Dinge zu sprechen, erschien ihnen heute, am letzten Abend, als etwas Unwürdiges, Unmögliches. Und für das, was sie beherrschte, fanden sie keine Worte. Von ihrer Wehmut überwältigt, den Kopf gesenkt, griff sie in den Sand, hob die Hand und ließ die winzigen, im Mondschein leuchtenden Körner herniederrieseln. Auch er wußte nichts Besseres zu tun, als gleich ihr im Sande zu wühlen.

Da begegneten sich ihre Finger; einen Herzschlag lang lagen sie still, reglos nebeneinander. Dann faßte er ihre Hand, im Bann der unwiderstehlichen Anziehungskraft der ihren, die wie magnetisch auf die seine wirkte. Sie fühlte den Druck seiner Finger in allen ihren Nerven und Fibern, und im selben Moment wie unter einer geheimnisvollen, sympathischen Kraft in ihnen hoben sie die Augen zueinander.

Ein so schwermütiger Ausdruck lag in ihren Blicken, daß es ihn tief ergriff, daß es heiß in ihm aufstieg. Und jetzt tropften ein paar Tränen auf die blaß gewordenen Wangen nieder.

Da riß ihn das Mitgefühl, das Verlangen, sie zu trösten, hin; er zog sie an sich und küßte ihr die Augen und küßte ihr den Mund. Sie lag an seiner Schulter, unter Tränen zu ihm emporlächelnd.

Und er küßte sie wieder und wieder.

*

Zur selben Zeit saßen Dr. Moeller und die junge Ärztin im Strandkorbe. Auch ihnen floß heute das Gespräch nicht so flott und geläufig wie sonst; auch auf ihnen schien die Nähe der Trennungsstunde hemmend zu lasten. Beide empfanden das unwillkürliche Schweigen als unbehaglich, und so begann der Chemiker zu sprechen: »Also übermorgen geht es wieder in das Arbeitsjoch. Es wird Sie zuerst schwer ankommen.«

Sie machte eine verneinende Bewegung.

»Das Ausspannen und Faulenzen war ganz schön, aber nun freue ich mich doch wieder auf die Arbeit.«

Er schüttelte mit dem Kopfe, als begriffe er das nicht.

»Empfinden Sie wirklich eine so tiefe Befriedigung in Ihrer Berufsarbeit?«

»Aber gewiß«, versetzte sie sehr bestimmt und sah ihn mit einem etwas ironischen Blick an. »Ebenso wie Sie. Oder möchten Sie lieber Rentner sein und faulenzen?«

Er lachte.

»Noch nicht. Aber ich kann mir nun einmal gar nicht vorstellen, daß eine Frau in einem solchen Berufe etwas anderes als einen Notbehelf erblickt, immer mit dem Sehnen in der Brust nach etwas anderem, Schönerem, ihrer Natur Angemessenerem. Auch für Sie wird die Stunde kommen, wo Ihr Herz sprechen wird, wo Sie dem geliebten Manne folgen werden, wo ein anderer Ehrgeiz, ein anderes Verlangen in Ihnen erwachen wird.«

»Ich bin achtundzwanzig Jahre alt; damit dürfte es wohl vorbei sein.«

Er beugte sich vor und sah ihr bei dem klaren Mondlichte in das ernste, feine Gesicht.

»Soll ich Ihnen eine Schmeichelei sagen, Fräulein Hauf?«

Seine Stimme klang warm, herzlich; in seine Blicke trat ein Leuchten.

Aber sie sah ihn nicht an; sie reckte sich stolz, selbstbewußt und entgegnete ruhig, ganz frei von der üblichen weiblichen Koketterie, als konstatiere sie eine schlichte Wahrheit:

»Nach Schmeichelei bin ich nicht lüstern. Ich bezweifle auch ohnedies nicht, daß ich wohl noch das Begehren eines Mannes erregen könnte, aber das würde noch nicht den Wunsch zur Ehe bedeuten, auch nicht auf meiner Seite«, fügte sie nach kurzer Pause, die Worte scharf betonend, hinzu.

»Sie perhorreszieren also die Ehe grundsätzlich?«

»Unsere moderne Ehe, die Ehe, wie man sie ringsum in der Gesellschaft beobachten kann – ja!«

»Sie meinen die Interessen-Ehe?«

Sie nickte.

»Nicht allein das. Auch die Ehe in jeder anderen Hinsicht.«

»In jeder anderen Hinsicht? Ich verstehe Sie nicht recht.«

»Nun, das liegt doch auf der Hand. Sie wissen doch, daß auch in der Ehe die Frau dem Manne noch nicht gleichberechtigt ist. Im Bürgerlichen Gesetzbuch steht nichts von einer solchen Gleichberechtigung. Der Mann hat allein das Recht in den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens. Er bestimmt Wohnort und Wohnung. Er entscheidet über die Erziehung der Kinder, er allein übt die elterliche Gewalt aus und vertritt die Kinder gesetzlich. Er hat sogar immer noch ein weitgehendes Verfügungsrecht über Hab und Gut der Frau.« Sie lächelte. »Die letztere Bestimmung hätte ja in meinem Falle nichts zu besagen. Aber auch abgesehen von dieser durch das Gesetz festgelegten Benachteiligung und Zurückhaltung der Frau, es geht in diesem Zusammenleben zweier Menschen, in dieser Verflechtung der beiderseitigen Interessen nicht anders: einer muß den Ton angeben, einer muß doch schließlich bei Meinungsverschiedenheiten entscheiden. Und es gilt bei uns nun einmal als selbstverständlich, daß der Mann der ausschlaggebende Teil ist.«

»Mit Ausnahme, bitte!« schaltete Dr. Moeller lächelnd ein.

»Eine solche Ausnahme, ein Mann, der so willensschwach wäre, daß er sich das ihm von Gesetz und Herkommen nun einmal eingeräumte Recht von seiner Frau nehmen ließe, wäre nicht nach meinem Geschmack.«

»Das glaube ich Ihnen«, bemerkte er mit einem bewundernden Blick in die energischen Züge der neben ihm Sitzenden.

Sie sah eine Weile schweigend über das Meer; die im Mondlichte silbern glänzenden Wellen schienen ihr Interesse zu erregen. Plötzlich wandte sie sich wieder ihrem Begleiter zu:

»Was bedeutet denn unsere moderne Ehe? Was bringt sie denn den Eheleuten?« Sie sah den erstaunt Aufblickenden spöttisch, herausfordernd an. »Wollen Sie behaupten, daß sie die Menschen glücklich macht?«

»Nicht immer. Aber doch häufig. In zahlreichen Fällen ist sie doch die Vollendung, der Höhepunkt; das harmonische Zusammenleben von Mann und Frau verleiht ihnen doch erst die Ruhe, die Stetigkeit, das Fundament und die Möglichkeit zur Entwicklung aller Kräfte, zur fleißigen, pflichtbewußten Arbeit.«

Ein kurzes, spöttisches Lachen kam von ihren Lippen.

»Das klingt sehr schön, aber es ist doch nur – verzeihen Sie meine Offenheit – eine inhaltlose Phrase, gut zur Deklamation. Das tägliche Leben lehrt anderes. Eine alte erfahrene Ärztin, die nicht nur lange Jahre einer großen Praxis hinter sich hat, die auch Verfasserin einiger anerkannter Werke über die Frauenfrage ist, hat einmal zu mir gesagt: ›Mindestens neunzig Prozent der Ehen sind unharmonisch und eine Demütigung für die Frau. Sie müssen oft in Verhältnissen ausharren, die für sie eine Qual, eine Marter sind.‹ Ich meine, diese Ärztin, die selbst verheiratet ist – ob glücklich oder nicht, weiß ich nicht, ihr Ausspruch scheint aber nicht ein großes Eheglück zu verraten – , ich meine, diese Ärztin hätte richtiger sagen sollen, neunundneunzig Prozent der Ehen sind glücklos. Nur Frauen, die in der Ehe Schutz und Versorgung suchen, weil sie nicht die Kraft haben, sich auf sich selbst zu stellen, können sich auf ein solches Risiko einlassen. Ich meinerseits liebe mein Selbstbestimmungsrecht, meine Menschenwürde, meine Freiheit viel zu sehr, als daß ich sie auf eine so unsichere Chance hin aufgeben würde.«

Dr. Moeller schüttelte wieder mißbilligend mit dem Kopf.

»Aber was sollte denn werden, wenn alle so dächten wie Sie?«

»Das scheint mir ganz klar. Dann würde man freiere Verhältnisse zwischen Mann und Frau knüpfen, die gegründet wären allein auf gegenseitige Liebe, auf nichts als die natürliche Anziehungskraft zueinander. Wäre das nicht viel würdiger, viel schöner, viel segenbringender für das gegenwärtige und das künftige Menschengeschlecht?«

»Aber da man sich ja doch erst beim Zusammenleben richtig kennenlernt, wären auch in diesem Falle Irrtümer in der Wahl nicht ausgeschlossen.«

»Freilich nicht.«

»Und was dann?«

»Dann geht man eben auseinander. Auch heute gibt es ja Scheidungen in Menge, nur daß man erst durch ein Meer von Gehässigkeiten, Niedrigkeiten, Leid und Jammer hindurch muß, ehe man die gesetzliche Trennung erreicht. Wir würden dann nicht mehr das traurige und besonders für die Frau entwürdigende Schauspiel erleben, daß zwei Menschen aneinander gefesselt sind, die sich hassen und verabscheuen. Gleichviel, welche äußeren Formen man mit dem Zusammenleben zweier Menschen künftig verbinden wird; das, was wir Ehe nennen, muß auf eine gesündere Basis gestellt werden, ehe sich eine Frau von Selbstgefühl und Selbständigkeitsdrang damit befreunden könnte.«

»Gewiß, Sie haben nicht ganz unrecht. Unsere Eheinstitution mag recht reformbedürftig sein, aber man darf doch das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und die heutige Form der Ehe einfach negieren und verwerfen.«

»Das ist Ihre Theorie«, versetzte sie sarkastisch, »wie die vieler Junggesellen. Merkwürdig, daß diese Herren sich in der Praxis anders betätigen.«

Es zuckte in seinem Gesicht; ein Schatten senkte sich auf seine klaren Züge.

»Sie übersehen, daß zur Ehe zwei gehören, und daß auch zuweilen ein Mädchen die Erwartungen des Mannes täuscht, das er ehrlich geliebt und das ihm selbst Gegenliebe bezeigt oder geheuchelt hat.«

Sie sah ihn überrascht an.

»Auch das kommt vor«, erwiderte sie nach einer Weile, »wenn es auch das Übliche ist, daß der Mann der Teil ist, der seine Versprechen, seine Eide vergißt, wenn sich anderswo günstigere Chancen bieten, oder wenn er dem ihm angeborenen Variationsbedürfnis unterliegt.«

Ein bitteres Zucken um ihre Mundwinkel, das ihr selbst vielleicht unbewußt war, entging ihm nicht. Impulsiv faßte er nach ihrer Hand.

»Vielleicht«, sagte er leise, zögernd, den Blick voll Spannung auf sie gerichtet, »vielleicht kann ich in Ihnen –« er suchte nach einem Ausdruck, der ihre Empfindlichkeit nicht reizte, ihr Selbstgefühl nicht verletzte – »ja, es ist unmöglich«, fuhr er, seinem Gefühl nachgebend, lebhaft fort, »daß Sie, eine Dame mit Ihrer Einstellung, mit Ihren Eigenschaften, nicht Liebe und Verehrung gefunden haben sollten. Dann also wären wir Leidensgefährten und –«

Sie erhob sich mit plötzlichem Ruck. Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, war ihr offenbar peinlich.

»Ich glaube, es ist Zeit, uns nach Ihrem Freunde und meiner Kusine umzusehen und an das Nachhausegehen zu denken. Morgen heißt es früh aus den Federn.«

Aber er hielt sie zurück und erfaßte ihre beiden Hände.

»Eins müssen Sie mir zuvor versprechen, Fräulein Hauf. Ich weiß nicht, ob Sie dasselbe Gefühl haben, aber ich kann mich mit dem Gedanken nicht befreunden, daß wir uns nun Lebewohl für immer sagen sollen. Wäre es nicht reizend, wenn wir unsere interessanten Diskussionen in Berlin fortsetzen würden?«

Es züngelte in ihren Augen – nur für einen kurzen Moment, aber er hatte es deutlich wahrgenommen.

»Liegt Ihnen wirklich daran?« warf sie, nicht ganz ohne Koketterie, ein.

»Wie können Sie noch fragen! Haben Sie es nicht bemerkt, wie ich mich freute, sooft ich das Glück hatte, Ihnen am Strande zu begegnen? Das Zusammensein mit Ihnen hat auf mich seelisch ebenso wohltuend gewirkt wie die frische Seeluft auf mein körperliches Befinden. Es würde in meinem Leben eine Lücke sein, wenn ich Sie nicht mehr sehen, wenn ich meine Gedanken nicht mehr mit den Ihren austauschen, wenn ich nicht mehr den Widerschein Ihres starken, originellen Geistes auf Ihren lieben, feinen Zügen beobachten könnte.«

Er hatte es stürmisch, in wachsender Leidenschaftlichkeit hervorgesprudelt. Jetzt führte er ihre beiden Hände, die er immer noch in den seinen hielt, an seine Lippen.

Während er sich zum Handkuß hinabbeugte, flog ein Leuchten über ihr Gesicht. Dann bemühte sie sich, ihm ihre Hände zu entziehen.

»Aber, Herr Doktor, was soll denn meine Kusine denken und Ihr Freund – !«

Sie deutete mit dem Kopfe nach dem breiten Laufbrett, das zur Bequemlichkeit der Badegäste über den Sand gelegt war. In der Tat, die beiden jungen Leute hatten sie erblickt und näherten sich ihnen.

»Sie werden denken, daß ich Sie verehre«, erwiderte der Chemiker, ganz beherrscht von den durch das Bewußtsein der nahen Trennung in ihm aufgewühlten Empfindungen, »daß ich Sie – Sie liebe –« fügte er flüsternd hinzu.

Sie tat, als ob sie den Nachsatz nicht mehr vernommen habe. Aber er fühlte den leisen Druck ihrer Rechten, bevor sie sich von seiner Hand gelöst hatte.

*


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