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XI

In des Obersten Mienen stritten Schmerz und Kummer mit zorniger Entrüstung, als er an demselben Nachmittag dem Verlobten seiner Tochter gegenübertrat.

»Mit diesem Makel aus Ihrer Vergangenheit«, sagte er herb, »wäre es Ihre Pflicht gewesen, den Umgang aller derer zu meiden, von denen Sie voraussetzen mußten, daß Sie gesellschaftliche Beziehungen mit Ihnen nicht aufrechterhalten können.«

Ein bitteres Lächeln zuckte um Kurt Ulricis Lippen.

»Sie werden mir zugeben,« entgegnete er, »daß ich mir alle Mühe gegeben, ja, daß ich selbst vor offener Unhöflichkeit nicht zurückschreckte, um allen unerwünschten gesellschaftlichen Beziehungen aus dem Wege zu gehen.«

Über des Obersten Gesicht huschte ein momentaner Ausdruck von Verlegenheit.

»Allerdings« – gab er zu. »Ich will nicht ungerecht sein. In dieser Hinsicht war allerdings Ihr Verhalten einwandfrei. Aber ich kann Ihnen doch den Vorwurf nicht ersparen, daß Sie Ihre Zurückhaltung nicht genügend gewahrt haben. Sie durften meiner Tochter, der Tochter eines Offiziers, nicht von Liebe sprechen. Sie durften, als es dennoch geschehen war, mir, dem Vater, vollen Ausschluß über Ihre Vergangenheit nicht vorenthalten.«

Kurt Ulricis schlanke Gestalt erzitterte unter der tiefen Gemütsbewegung, die ihn ergriff. Eine heiße Blutwelle stieg ihm vom Herzen empor und färbte sein bleiches Gesicht bis zur Stirn hinaus.

»Als ich Gertrud in meine Arme schloß,« rief er leidenschaftlich, »handelte ich unter dem Antrieb einer höheren, unwiderstehlichen Macht, die stärker war als mein Wille und mein Vorsatz. Und nun, nachdem ich erkannt hatte, daß Gertrud meine Liebe erwiderte, nun sollte ich das Göttergeschenk ihrer Liebe mit eigener Hand von mir weisen? Nein, das konnte niemand von mir verlangen, Herr Oberst! Das ging einfach über Menschenkräfte. Ja, wenn ich den Makel, den mir meine Standesgenossen anhaften wollen, als berechtigt anerkennen müßte, wenn ich mich nach dem Urteil aller Menschen von Ehre, nicht bloß nach dem einer bestimmten Kaste, für ehrlos betrachten müßte, dann freilich wäre es ein Verbrechen, jemals an eine Verbindung zwischen Gertrud und mir zu denken. Mein Glück, und das des geliebten Mädchens freiwillig aber einem Vorurteil zum Opfer zu bringen, einem eingebildeten Gefühl, über das auch Ihre Standesgenossen nach zwanzig oder fünfzig Jahren lachen werden, dagegen sträubt sich jeder Gedanke, jede Fiber in mir.«

In dem faltigen Gesicht des alten Offiziers vibrierte es lebhaft und in dem Blick, der jetzt aus seinen Augen zu dem jungen Mann hinüberflog, malte sich eher Wehmut und Bedauern, als ein anderes Gefühl. Er machte eine unwillkürliche Bewegung mit der Hand, als wollte er den Eindruck, den die Worte und die ganze Persönlichkeit des Sprechenden auch in diesem Augenblick auf ihn hervorbrachten, von sich abwehren.

»Wir leben noch nicht in den Anschauungen,« erwiderte er, »die vielleicht in zwanzig Jahren oder noch später Geltung haben werden. Und wir müssen mit den Ansichten rechnen, die noch heute die herrschenden sind. All mein Empfinden aber sträubt sich dagegen, meine Tochter, mein einziges Kind einem Manne zu geben, der nicht imstande sein wird, seine Frau zu schützen in der Weise, wie es unter Ehrenmännern Brauch ist. Mein Ehrgefühl läßt nicht zu, einen Mann meinen Sohn zu nennen, der sich nicht verteidigen kann, wenn man seine Ehre angreift. Ich kann, ich will mich nicht der Eventualität aussetzen, über meinen Schwiegersohn erröten und mich still hinwegschleichen zu müssen, wenn man über ihn die Achseln zuckt und seinen Mut in Frage stellt.«

»Aber Sie glauben es verantworten zu können, das Glück Ihres Kindes aus Rücksicht auf eingebildete Empfindungen preiszugeben, die für Sie nicht mehr bestehen, sobald Sie nur ernstlich wollen.«

Oberst Hammer fuhr sich mit den Händen durch sein silberweißes Haar, das noch in stattlicher Fülle Scheitel und Stirn bedeckte.

»Sie können nicht von mir verlangen,« rief er, »niemand kann von mir erwarten, daß ich nun plötzlich aus meiner Haut hinausspringe. Anschauungen, Gefühle, denen ich ein ganzes Menschenalter nachgelebt habe, die tief in mir wurzeln und ein Teil meines Selbst sind, die kann ich nicht plötzlich von mir tun, weil Sie sagen, sie seien falsch, sie seien nur eingebildet. Für mich und alle die, die auf meinem Standpunkt stehen, sind diese Empfindungen eine reale Macht, an der Glück und Leben zerschellen, wenn man sie nicht respektiert. Und Sie selbst, was hat Ihnen all Ihr stolzes Selbstgefühl, die Überzeugung von Ihrem Recht, geholfen? Haben Sie sich nicht verbittert, menschenscheu, ängstlich vor jeder Berührung mit Menschen Ihres sozialen Standes zurückgezogen?«

Kurt Ulricis Stirn zog sich in düstere Falten, seine Stimme klang dumpf grollend, während er erwiderte: »Das habe ich freilich getan – ich habe es tun müssen, weil meine nächsten Freunde und Angehörigen, die, von denen ich erwarten konnte, daß sie mir Glauben schenken, daß sie meine Gründe, meine Überzeugung achten würden, mich schmählich im Stich ließen.«

»Nun ja – sehen Sie! Und auch ich kann nicht anders, auch zwischen Sie und mich tritt nun der unglückliche Vorgang in Ihrer Vergangenheit. Und wenn Sie auch sagen, es war nicht Mangel an Mut, es waren andere Gründe, die Sie abhielten, die unter Ehrenmännern übliche Genugtuung zu fordern, wie wollen Sie den Beweis dafür erbringen, wie wollen Sie den Zweifel abwehren, der Ihnen immer – immer wieder entgegentreten wird? Ich aber, ich kann nicht einen Mann in meinem Hause und in meiner Familie aufnehmen, dem jeder Bube das Recht hat, den Vorwurf der Feigheit ins Gesicht zu schleudern. Und so sehr ich auch mein Kind beklage, ich kann nicht anders, ich kann nicht gegen meine Natur. Ich kann nicht aus mir heraus, ich kann nicht mit Füßen treten, was mir immer heilig und teuer war.«

Der Oberst ging. Kurt Ulrici hielt ihn nicht zurück. Er fühlte, daß hier das bloße Wort ohnmächtig war. Eines Mannes heilige Überzeugung stieß man nicht mit leeren Reden über den Haufen.

In einer frühen Abendstunde desselben Tages saß Kurt Ulrici einsam in seinem Zimmer, als plötzlich die Tür aufging und hastige leichte Schritte über seine Schwelle huschten.

»Kurt!« rief eine unter ungestüm hervorstürzenden Tränen erstickte Stimme. Im nächsten Moment kniete vor dem verstört sich umschauenden Manne die zarte Mädchengestalt Gertrud Hammers. Von dem lieblichen Gesichtchen war jede Spur von Frohsinn und Lebensfreude verschwunden. Bleich, mit einem fremden Zug tiefen seelischen Leidens in ihren Zügen, blickte Gertrud zu ihm empor.

Erschreckt und ergriffen zugleich sprang Kurt Ulrici auf und zog die Kniende mit einer instinktiven Bewegung zu sich empor.

»Wie – du, Gertrud!« stammelte er. »Du verabscheust mich nicht, du bebst nicht zurück vor der Berührung des Geächteten, Entehrten?« Sie machte eine Bewegung, als wollte sie sich aufs neue zu seinen Füßen niederwerfen, aber er hielt sie mit seinen Armen umschlungen.

»Für mich, Kurt,« rief sie, »bist du und bleibst du der beste, edelste, liebste Mann auf Erden!«

Über sein Gesicht breitete sich ein frohes Leuchten und aus seinen sich umflorenden Augen brach ein Strahl innigster Genugtuung. Seine Arme legten sich fester um sie und seine Gestalt reckte sich in stolzem Selbstgefühl in die Höhe.

Nun mochte ihn verachten, wer wollte, nun mochten sie ihn schmähen, verdächtigen, begeifern.

Ein Geräusch draußen auf dem Flur riß ihn plötzlich aus seiner gehobenen Stimmung. Er blickte sich ernüchtert um und das Bewußtsein der schwierigen, außergewöhnlichen Situation, in die sich Gertrud begeben, legte sich ihm beklemmend auf die Seele. Zugleich aber drückte er sie noch einmal innig an seine Brust und hauchte einen hastigen, keuschen Kuß auf ihre Stirn. Dann ließ er seine Arme sinken und ergriff sie an der Hand.

»Komm!« forderte er sie auf. »Du mußt sogleich wieder fort. Wenn dich nur niemand gesehen hat!«

Sie aber zuckte unbekümmert mit den Achseln und widerstrebte dem Druck seiner Hand, die sie fort, nach der Tür zu, ziehen wollte.

»Papa erklärte mir,« sagte sie, »daß wir die Stadt verlassen werden – schon sehr bald! Und nun komme ich, um dich zu fragen, Kurt, was nun aus uns werden soll.«

Sie heftete einen Blick auf ihn, aus dem schrankenlose Hingebung, unerschütterliche Liebe strahlte.

Kurt Ulrici antwortete nicht. Er blickte düster zu Boden und zuckte mit den Achseln.

»Kurt!« rief sie mit einem Ausdruck voll Angst und Schrecken.

»Armes Kind!« sagte er erschüttert, selbst von brennendem Schmerz ergriffen. »Gegen den Willen deines Vaters sind wir ohnmächtig. Wir müssen uns ihm fügen oder warten – lange Jahre!«

Er sah, wie sie erschauerte. Und nun flammte plötzlich dunkle Glut in ihrem bleichen Antlitz auf und ein unendlich lieblicher Ausdruck von zitternder Verschämtheit verschönte die schmerzdurchwühlten Züge.

»Ich habe gehört,« sprach sie flüsternd, stammelnd, ihren Blick vor dem seinen senkend, »daß Brautpaare nach England flüchten, um sich heimlich trauen zu lassen.«

Ein Schrei des Entzückens brach sich über seine Lippen Bahn. Mit einer heftigen, impulsiven Bewegung riß er sie an sich und hielt sie innig, fest umschlungen, als wollte er sie nie wieder von sich lassen. Und tief sah er ihr in die ergeben, unter Tränen zu ihm emporschauenden Augen. So verstrichen ein paar stille Sekunden, bis er plötzlich aus tiefster Brust aufstöhnte.

»Nein, nein!« rief er laut, heftig, als gelte es eine Versuchung von sich abzuwehren, gegen die er seine ganze moralische Kraft aufbieten mußte. »Das dürfen wir nicht, in unserer – in meiner Lage unmöglich! Das kann ich nicht!«

Und als sie nun fassungslos schluchzend zusammenbrach, da nahm er sie mit zarter Liebe in seine Arme und tröstete und schmeichelte und bettete ihren Kopf an seine Brust und ließ sie sich an seinem Herzen ausweinen. Dann ergriff er sie an der Hand und verließ mit ihr seine Wohnung.

»Ich will dich selbst zu deinem Vater zurückbringen«, sagte er. »Offen und ehrlich wollen wir vor ihn hintreten und ihm erklären, was wir zu tun beabsichtigen. In fünf Jahren erlangst du nach dem Gesetz die freie Verfügung über dich und kannst dich mit dem Mann deiner Liebe verheiraten auch ohne Einwilligung deines Vaters. Bis dahin laß uns warten, du bei deinem Vater – ich allein!«

* * *

Es war acht Tage später. Kurt Ulrici kam ermüdet vom Gericht, wo er drei Stunden plädiert hatte. Als er aus dem dumpfen, überwarmen Gerichtszimmer auf die Straße hinaustrat, fröstelte es ihn unwillkürlich. Schon war der Herbst gekommen und ein kühler Wind riß die gelben Blätter von den Bäumen, die den Marktplatz umsäumten, den Kurt Ulrici, seine Aktenrolle unter dem Arm, eben durchkreuzte. Er beflügelte seine Schritte. Hinter ihm lärmte die ausgelassene Jugend, froh der langweiligen Schule wieder einmal entronnen zu sein.

Kurt Ulrici wollte eben vom Marktplatz in die Hauptstraße einbiegen, als er plötzlich laute Rufe, angstvolles Schreien hörte. Menschen mit furchtverzerrten Gesichtern stürzten an ihm vorüber, ein polterndes, donnerndes Geräusch schallte die Straße herauf. Und nun erkannte er auch die Ursache des Tumultes. Ein schwerfälliger Arbeitswagen kam in rasendem Tempo heran. Dem Kutscher war die Leine entglitten; die wildgewordenen jungen Pferde stürmten in toller Karriere dahin.

Kurt Ulrici warf einen unwillkürlichen Blick hinter sich. Die fröhliche Schuljugend hinter ihm neckte und balgte sich noch immer und vor dem selbst verursachten Lärmen hörten und sahen sie nichts von der sich ihnen schnell nähernden Gefahr. Die nächste Minute mußte eine furchtbare Katastrophe bringen. Kurt Ulrici überlegte nicht. Ohne daß er selbst ein rechtes Bewußtsein hatte von dem, was er tat, sprang er mit einem Satz mitten auf den Fahrdamm; seine Aktenmappe ließ er zu Boden fallen und mit einem schnellen Ruck schob er seinen Hut von der Stirn ins Genick. Und nun den Oberkörper wie zum Sprung vornübergebeugt, die Arme und Hände wagerecht ausgestreckt.

Der Anprall zwischen dem mutigen Mann und den heranrasenden Tieren war heftig. Aber Kurt Ulrici griff mit beiden Händen fest zu und mit aller Kraft seines Körpers hängte er sich an die erfaßten Zügel und zerrte und riß, bis er fühlte, daß die Pferde zur Seite abschwenkten, wo die Häuserreihe ihren Lauf hemmen mußte. Wohl war die Kinderschar gerettet, wohl hatte niemand aus der Straße Schaden genommen, der mutige Retter aber fühlte plötzlich einen stechenden Schmerz am Hinterkopf und im nächsten Moment erhielt sein linker Arm einen furchtbaren Schlag. Seine Hände ließen los, bewußtlos sank Kurt Ulrici zu Boden.

* * *

Der bei dem kühnen Rettungswerk schwer zu Schaden Gekommene hatte langwierige Krankheit zu bestehen. Gefährlicher als die Kontusion am Kopf, die Kurt Ulrici bei dem Anprall an der Mauer eines Hauses davongetragen, erwies sich die Verletzung seines Armes. Die eisenbeschlagene schwere Deichsel hatte den Knochen des Unterarmes vollständig zersplittert und der Arm mußte amputiert werden. Wochenlang schwebte der Leidende zwischen Tod und Leben. Als endlich jede Gefahr vorüber und der Verletzte in die Rekonvaleszenz eintrat, konnte sich endlich die Bewunderung und Dankbarkeit, die die mutige Tat in der Stadt allgemein erregt hatte, Luft machen. Eine Deputation der städtischen Körperschaften erschien in der Wohnung des Genesenden, um ihm zu danken und ihm in herzlichen Worten die Anerkennung seiner Mitbürger zu übermitteln. Von seiten der Staatsbehörde erfolgte eine öffentliche Belobigung sowie die Verleihung der Rettungsmedaille.

Am meisten aber überraschte und erschütterte den Rekonvaleszenten der Besuch des Obersten Hammer.

»Gestatten Sie auch mir, lieber Ulrici,« sagte der alte Herr und drückte dem Rechtsanwalt warm die gesund gebliebene Rechte, »gestatten Sie auch mir, Ihnen meine Bewunderung und meine Hochachtung auszudrücken. Sie haben mit Einsetzung Ihrer Gesundheit und Ihres Lebens eine Anzahl blühender jungen Menschenleben gerettet und namenlosen Kummer von mehr als einer Familie ferngehalten. Mich aber haben Sie durch Ihre Tat seelisch tief erschüttert und Sie haben mich alten abgehärteten Soldaten um und um gekrempelt. Ja, mein lieber Ulrici –« der alte Offizier stand auf; die heftige Gemütsbewegung, die ihn ergriff, litt ihn nicht auf seinem Sitz – »ja, mein lieber Ulrici, Sie haben mich überwunden mit Ihrer Tat. Und wenn Sie meine Gertrud noch mögen, dann will und kann ich sie Ihnen nicht länger vorenthalten. Mag daraus entstehen, was da wolle!«

Kurt Ulrici fuhr überrascht in die Höhe.

»Herr Oberst – das – das wollen Sie tun?« stammelte er glückselig.

Der alte Herr nickte.

»Es wäre grausam,« sagte er, »wenn ich Ihnen den Lohn Ihrer Tat vorenthielte. Sie haben Ihr Leben in die Schanze geschlagen und haben sich gesagt: entweder ich erringe mir das Mädchen meiner Liebe oder ich gehe zugrunde. Sie haben gesiegt. Für Gertrud und Ihre beiderseitige Liebe haben Sie es getan. Sie haben sich durch Ihre Tat rehabilitiert und niemand kann Ihnen künftig mehr vorwerfen, daß Sie über die Gebühr für Ihr Leben besorgt sind.«

In Kurt Ulricis Mienen spiegelte sich ein sonderbares Gemisch von Erstaunen, Befremdung und Enttäuschung. Als der Oberst nun schwieg, strich er sich mit der Hand über die Stirn, atmete ein paarmal tief und erklärte dann freimütig: »Sie irren, Herr Oberst, wenn Sie annehmen, daß ich an mich, an Gertrud und unser Glück dachte, als ich mich den Pferden in die Zügel warf. Ich dachte in diesem Augenblick überhaupt nicht. Ich fühlte nur – ich empfand eine schwere, unerträgliche Beklemmung bei dem Gedanken an das Unglück, das entstehen mußte, wenn die scheuen Tiere in die ahnungslose, wehrlose Kinderschar hineinrasen würden. Ich fühlte die Notwendigkeit, das drohende Unglück zu verhüten, und in diesem seelischen Zwange handelte ich, instinktiv, ohne Überlegung, ohne Bewußtsein. Was ich tat, tat ich nicht um eines Lohnes willen und ich verdiene keinen Lohn.«

Der Oberst blickte den Sprechenden mit weitgeöffneten Augen an. Und nun strahlte und leuchtete es über seine verwitterten, alten Züge.

»Dann, lieber Ulrici,« sagte er und schlang in einer impulsiven Bewegung seinen rechten Arm um des Jüngeren Schultern, »dann gebührt Ihrer Tat noch weit mehr Anerkennung und Bewunderung, als ich ahnte. Sie handelten nicht für sich, um einen Vorteil zu gewinnen, Sie handelten so, wie Sie aus Ihrer edlen, hochherzigen Natur heraus handeln mußten. Und nun soll mir noch einer kommen und soll die Achseln über Sie zucken! Niemand hat das Recht, über einen Mann, der moralisch so hoch steht wie Sie, sich das moralische Richteramt anzumaßen und den Verdacht der Furcht und Feigheit gegen Sie zu erheben. Den Beweis, daß es nicht Furcht war, die Sie einst vor Jahren zu Ihrer so heftig angegriffenen Handlungsweise bewog, haben Sie glänzend erbracht. Und ich meine, Sie haben jetzt das Recht zu fordern, daß man Ihre Motive wenigstens anerkennt und gelten läßt, wenn man auch Ihren Standpunkt nicht teilt. Und wenn es mich auch meinen Offiziersdegen, den ich nun seit über vierzig Jahren getragen habe, kosten sollte, ich will doch jedem, der es hören will, erklären, daß Sie in meinen Augen ein Ehrenmann sind vom Scheitel bis zur Sohle trotz des soldatischen Ehrengerichts, das Ihnen die Ehre abgesprochen hat. Zum Donnerwetter, leben wir nicht im Angesicht des zwanzigsten Jahrhunderts? Sollen wir nicht endlich aufhören, einander intolerant und kleinlich zu verketzern, weil der eine in einer politischen oder sozialen Frage anders denkt als der andere? Doch genug des Geschwätzes! Kommen Sie, begleiten Sie mich! Besser als meine schönsten Reden wird Sie Gertruds Kuß entschädigen für alles, was Sie durchlitten und durchkämpft haben. Kommen Sie! ...«


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