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IV

Kurt Ulrici schlug mechanisch den Weg nach seiner Wohnung ein. Aber auf halbem Wege machte er plötzlich eine Schwenkung. Es glühte und stürmte noch zu sehr in ihm, als daß er seiner noch immer leidenden Mutter hätte unter die Augen treten dürfen. Für sie mußte die Affäre Minkwitz abgeschlossen sein; sie durfte er nicht ahnen lassen, daß er wieder wankend geworden, daß die Unterredung mit seinem Schwager noch einmal einen Kampf in seiner Brust entfesselt hatte.

Mit beflügelten Schritten eilte er durch die Straßen unter dem Drange, allein zu sein. Als er die Landstraße erreicht hatte, atmete er wie befreit auf. Mit einer instinktiven Geste lüftete er seinen Hut, um die frische, kühlende Brise des Herbstwindes um seine heiße, schmerzende Stirn wehen zu lassen. Und nun versenkte er sich mit emsigem Grübeln noch einmal in die Betrachtung seiner Situation. Noch einmal wiederholte er bei sich alle Ausführungen seiner Freunde von Süßmilch und Dr. Stamm, alle Gründe seines Schwagers Egon Böhl.

Plötzlich lieh der Vorwärtsstürmende ein lautes, schneidendes, grelles Lachen hören.

War es nicht eine Tragikomödie? War es nicht die reine Satire? Die Seele des modernen gebildeten Menschen schien in zwei einander widerstreitende Teile gespalten. Als Vertreter der staatlichen Gerechtigkeit, als Hüter und Wächter des öffentlichen Rechtes verdammten und bestraften sie eine Handlung, die sie selbst als Privatmenschen ihm dringend und als unumgänglich anrieten! Sie hatten gleichsam eine offizielle Meinung und eine andere private Meinung, die der ersteren schnurstracks widersprach. Und aus diesen Kreisen, denen die Süßmilch, Stamm und Böhl angehörten, gingen zum großen Teil die Gesetzgeber des Landes hervor. Seit alten Zeiten erklärte das Gesetz das Duell für eine strafbare, ungesetzmäßige Handlung und belegte jeden Duellanten mit gesetzlicher Strafe. Warum verpönten und verfolgten sie als offizielle Persönlichkeiten eine Einrichtung, die sie doch im Privatleben hochhielten und als unerläßlich bezeichneten? Offiziell brandmarkten sie das Duell mit Strafen, inoffiziell erklärten sie es als eine heilige Pflicht des Ehrenmanns, in gewissen Fällen dem Duell zu huldigen. Warum traten sie nicht auf und verlangten öffentlich volle Straffreiheit für das Duell, das sie doch für eine auch dem modernen Kulturmenschen unentbehrliche Einrichtung hielten? Warum stimmten sie öffentlich für ein Gesetz und sanktionierten es, wenn sie sich vorbehielten, es gegebenenfalles selbst übertreten zu wollen? Warum erhoben sie sich nicht öffentlich alle wie ein Mann gegen ein Gesetz, dessen Übertretung sie doch als Privatpersonen für eine Pflicht des Ehrenmanns erklärten? Ja, verfolgten sie nicht jeden, der Bedenken trug, das öffentliche Recht, das sie doch selbst geschaffen hatten, mit Füßen zu treten? Verachteten sie ihn nicht, stießen sie ihn nicht aus ihren Reihen, schlossen sie ihn nicht aus von dem Kreise der anständigen Männer?

Zorn, Erbitterung, Trotz und Verachtung siedeten in der Brust des einsam Grübelnden. Solchen Widersinn, solch unwürdiges, ja, heuchlerisches und frivoles Gebühren sollte er mitmachen? Den Gründen der Leute, die eine Moral mit doppeltem Boden hatten, sollte er Respekt entgegenbringen, sollte er sich fügen? Ins Gesicht lachen wollte er allen denen, die ihm sagen würden, daß er unrecht getan, weil er das Gesetz, das er als Staatsbeamter hochzuhalten verpflichtet war, als Privatperson nicht übertreten hatte. Hatte er darum als Student logisch und juristisch denken gelernt, um nun als erwachsener Mann und Staatsbeamter der Logik und dem Recht ins Gesicht zu schlagen? Er wollte doch sehen, ob sie es wagen würden, ihm ihre Achtung zu versagen, weil er logischer und ehrlicher handelte wie sie.

Einem plötzlich in ihm erwachenden und ihn ganz erfüllenden inneren Antrieb folgend, lenkte er seine Schritte nach der Stadt zurück. Um diese Stunde pflegten immer ein paar jüngere Juristen, Ärzte und Offiziere in dem mit einer Weinhandlung verbundenen eleganten Restaurant Heckenthal am Markt versammelt zu sein, um bei einem Glase Wein, Berufs- und politische Fragen zu erörtern und daneben ein bißchen gesellschaftlichen Klatsch zu treiben. Oft war er an dem großen, meist dichtbesetzten reservierten Tisch erschienen, an dem nicht selten bis spät in die Nacht gezecht wurde bei fröhlicher Unterhaltung. Er wollte doch sehen, was für Gesichter die Herren machen würden, wenn er auch heute unter ihnen erschien.

Als er eintrat, schlug ihm lautes Stimmengewirr entgegen, und er sah an dem Tisch im Hintergrund des großen Zimmers erhitzte Gesichter und lebhafte Gestikulationen. Aber als er sich nun dem Tische näherte, an dem Kollege von Süßmilch, zwei Referendare der Regierung, Dr. Stamm, ein junger Arzt und zwei Offiziere saßen, verstummte plötzlich, wie auf ein Kommandowort, das allgemeine Gespräch. Die Mienen, die noch eben in der Hitze der Debatte gezuckt, glätteten sich und nahmen einen kalten, reservierten Ausdruck an. Ja, in Herrn von Süßmilchs reich mit Narben geschmücktem Gesicht spiegelte sich tiefstes Befremden, ehrliche Entrüstung, als Kurt Ulrici mit unbefangener Miene an den Tisch herantrat und die Tafelrunde mit einer Kollektivverbeugung und einem lauten »Guten Abend, meine Herren!« begrüßte.

Dann zog er einen Stuhl heran und schob ihn in die kleine Spalte zwischen Dr. Stamm und Assessor von Süßmilch, die notgedrungen ein wenig zur Seite rückten.

Es war, als wenn eine eisige Erstarrung sich plötzlich auf die Zechgenossen gelegt hätte. Wie Bilder aus Stein saßen sie da, starr, geradeaus blickend. Niemand erwiderte Kurt Ulricis Begrüßung; nur Dr. Stamm schwang sich zu einem stummen Kopfnicken aus. Der eine der Referendare, ein etwas heißblütig veranlagter Freiherr von Kappenberg, machte eine heftige, ungestüme Bewegung, als wollte er von seinem Stuhl ausspringen; aber er begnügte sich, wohl einsehend, daß ihm als einem der Jüngeren irgendwelche Initiative nicht anstehen würde, indigniert die Achseln zu zucken.

Auch die beiden Leutnants fanden, nachdem zwei oder drei peinliche Minuten verstrichen waren, ihre Aktionsfähigkeit wieder.

»Ich denke, wir brechen aus«, sagte der eine zu dem neben ihm sitzenden Kameraden.

»Ganz meine Ansicht« erwiderte jetzt der andere, sich gleichzeitig erhebend. »Ich schlage vor, wir trinken unseren Schoppen im Kasino.«

Sie ließen sich nicht einmal Zeit, den Kellner herbeizurufen. Sie warfen ihre Mäntel um die Schultern, ergriffen ihre Mützen und machten ostentativ jedem einzelnen am Tisch ihre Verbeugung – nur über Kurt Ulrici sahen sie hinweg, als wäre er Luft, als wäre er überhaupt nicht vorhanden.

Ein kurzes spöttisches Auflachen sandte der also Gemaßregelte den Davongehenden nach, die ihre Zeche am Büfett berichtigten.

»Es scheint beinahe,« sagte er laut, seine Tischgenossen der Reihe nach fixierend, »als ob meine Erscheinung die Herren in die Flucht getrieben hätte.«

Dr. Stamm sah in peinlicher Verlegenheit vor sich nieder. Herr von Süßmilch steckte seine eisigste Miene auf und hüllte sich ganz in verachtungsvolles Schweigen. Doch der heißblütige Referendar Freiherr von Kappenberg konnte sich nicht enthalten, mit herausfordernder Schärfe zu sagen: »Da könnten Sie wohl recht haben.«

»So?« Kurt Ulrici sah dem jungen Kollegen spöttisch ins Auge. »Und wie erklären Sie sich diese befremdende Wirkung meiner bescheidenen friedfertigen Persönlichkeit?«

»Ich dächte doch,« entgegnete der Referendar, »die Erklärung läge nahe genug.« Und mit spottender, malitiöser Betonung fügte er hinzu: »Allerdings, die Friedfertigkeit kann Ihnen niemand bestreiten, Herr Assessor.«

Ein Schaudern ging durch die Gesellschaft. Herr von Süßmilch bewegte mißbilligend das Haupt. Seiner gesellschaftlich feinfühligen, diskreten Natur war dieses laute Besprechen einer so peinlichen delikaten Affäre an öffentlicher Kneiptafel höchst zuwider. Auch Dr. Stamm räusperte sich verweisend und warf dem vorlauten jungen Herrn einen tadelnden, ärgerlichen Blick zu.

In Kurt Ulricis Augen züngelte eine zornige Flamme. Aber schon in der nächsten Sekunde wandte er sich mit der ruhigsten Miene an seinen Gegner.

»Wenn ich Sie recht verstehe, spielen Sie aus mein Renkontre mit Leutnant von Minkwitz an. Nun, der vorschnelle junge Herr wird seiner Bestrafung nicht entgehen. Ich werde morgen das gerichtliche Verfahren gegen ihn einleiten.«

Der Regierungsreferendar antwortete mit einem höhnischen Auflachen, während Assessor von Süßmilch eine unwillkürlich protestierende Bewegung machte, als wenn er sagen wollte: »Schweigen wir doch hier von diesen Dingen!«

Aber Kurt Ulrici war nicht gewillt, sich diesem stummen Gebot zu fügen. Zu heftig wogte und drängte es in ihm; er wollte sich wenigstens die Genugtuung gönnen, den Herren da, die sich in ihrer gesellschaftlichen Korrektheit so erhaben dünkten, einmal gehörig die Wahrheit zu sagen. Und so brachte er alles das, was ihm vorher während seines einsamen Spazierganges aus der Landstraße durch die Seele gezogen, in scharfer, satirischer Form zum Ausdruck.

In starrer Überraschung hörten die andern ihm zu; niemand wagte ihn zu unterbrechen. – Erst als er geendet, bemerkte Dr. Stamm achselzuckend: »Ja, das ist alles ganz schön und in gewissem Maße auch logisch. Aber was vermag der einzelne gegen die Macht der Gewohnheit der Tradition. Es mag ja ein Vorurteil sein, aber vorläufig herrscht es doch nun einmal; die Gebote der gesellschaftlichen Sitte lassen sich doch nicht so ohne weiteres hinwegdekretieren. Das Schwimmen gegen den Strom ist immer eine undankbare und meistens eine sehr gefährliche Sache.«

Herr von Süßmilch aber zog seine Augenbrauen in die Höhe, klemmte sein Einglas ein und wandte sich an Dr. Stamm, als seien seine Worte nur für diesen berechnet: »Mit der Logik und dem bloßen kühlen Verstande lassen sich solche Fragen überhaupt nicht erledigen. Das Gefühl entscheidet da, das Gefühl, das Produkt von Vererbung, Erziehung und Gewöhnung. ›Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen‹ – sagt schon der Dichter.«

Damit drehte er sich um und rief nach dem Büfett hin: »Kellner, zahlen!«

Seinem Beispiel folgten die übrigen. Alle bezahlten und erhoben sich. Dr. Stamm war der letzte, und er war der einzige, der sich wenigstens mit einem kurzen Kopfnicken von dem allein Zurückbleibenden verabschiedete.

Wie ein Ausgestoßener saß Kurt Ulrici an dem verlassenen Tisch. Die Gäste von den anderen Tischen sahen mit neugierigen, erstaunten Blicken herüber; der Wirt steckte eine verdrießliche, ärgerliche Miene aus. Die Kellner lächelten.

Scham, Zorn, Erbitterung siedeten in der Brust des Einsamen. Es kostete ihn keinen geringen Zwang, scheinbar unbefangen noch eine Weile dazusitzen und die halbe Flasche Wein, die er sich hatte geben lassen, zu leeren. Draußen stürmte er mit weitausgehenden Schritten dahin. Unweit seiner Wohnung trat eine hünenhafte Gestalt an ihn heran. Es war Dr. Stamm. Der Amtsrichter griff nach der Hand des überrascht Stehenbleibenden und drückte sie kräftig. Mit einem sonderbaren Gemisch von schamhafter Verlegenheit und ungestüm hervorbrechender Gutmütigkeit und Herzenswärme sagte er dabei: »Es tut mir in der Seele weh, lieber Ulrici, daß Sie sich nun in einen so häßlichen Konflikt mit uns allen gestellt haben und daß Sie es einem nun geradezu unmöglich machen, die freundschaftliche Gesinnung, die man Ihnen gegenüber immer empfunden hat, auch ferner zu betätigen. Aber ich wollte Ihnen doch sagen, Ulrici, daß ich Ihren Standpunkt wohl begreife und entschuldige. Freilich, den kürzeren werden Sie doch ziehen in diesem ungleichen Kampf; das Vorurteil ist eben noch allmächtig. Ich – ich persönlich freilich, das wollte ich Ihnen doch noch sagen, kann Ihnen innerlich trotz alledem meine Achtung nicht versagen.«

In Kurt Ulrici wallten Empörung und Erbitterung noch zu heftig, als daß er für den Gefühlston, der in des Sprechenden Stimme lag, empfänglich gewesen wäre. Kalt und mit schneidendem Sarkasmus erwiderte er: »Ich bedaure, Herr Doktor Stamm, daß Sie mir diese förmliche Ehrenerklärung nicht vorher an offener Kneiptafel in Gegenwart der anderen gegeben haben. Hier in der Einsamkeit und Dunkelheit der Nacht hat dieselbe wenig Wert für mich. Gute Nacht, Herr Dr. Stamm!«

Er lüftete seinen Hut mit ironischer Höflichkeit und eilte davon.


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