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X

Die halbe Nacht saß Kurt Ulrici in seinem Zimmer auf und ging mit sich zu Rate. Was nun tun? Die Stimmung des Augenblicks hatte ihn mit sich fortgerissen und stärker als der überlegende Verstand hatte sich der Zug des Herzens erwiesen. Die Natur selbst hatte die elementare Leidenschaft in ihnen beiden entfesselt und über alle kleinlichen Bedenken und konventionellen Rücksichten hatte das wahre Gefühl gesiegt.

Nun würde sie erwarten, daß er ihr Herz, das er im Sturm genommen, auch festhielt, daß er sich auch offen vor ihrem Vater, vor aller Welt zu den Empfindungen bekannte, die ihn im einsamen Kahn getrieben hatten, sie an seine Brust zu ziehen.

Aber durfte er um ihre Hand werben? War sie nicht die Tochter eines Offiziers? Und war er diesem nicht volle Offenheit, rückhaltslosen Aufschluß über sich und den dunklen Punkt in seinem Leben schuldig?

Alle Qualen und Kämpfe der Vergangenheit lebten noch einmal in Kurt Ulrici auf. Das wußte er – trügerischen Täuschungen durfte er sich hinsichtlich dieses Punktes nicht hingeben – entdeckte er dem Oberst alles, so mußte er die Hoffnung, Gertrud Hammer mit Zustimmung ihres Vaters heimzuführen, ein für allemal aufgeben.

Auf der anderen Seite aber sagte er sich, daß es unmöglich sei, zu schweigen und sich nun plötzlich zurückzuziehen. Durfte er ihre Hoffnung, ihr Vertrauen so bitter täuschen? War es nicht seine heiligste Pflicht, ihr sein Leben zu weihen, nachdem er sie in seinen Armen gehalten und sie mit den süßen Namen der Liebe genannt hatte? Sollte er ihr junges Leben vergiften und Mißtrauen, Haß, Verzweiflung in ihr argloses, schwärmerische junges Herz säen? Und war nicht in ihm selbst ein übermächtiger, unüberwindlicher Drang nach dem Glück? Glühte ihm nicht in allen Fibern das Sehnen nach ihrer Liebe?

Unter Zweifeln und Kämpfen schlief er ein. Am anderen Morgen faßte er seinen Entschluß. Nur ihr wollte er alles bekennen, ihr allein. Sie sollte dann über die Zukunft entscheiden. Sie allein konnte es ja wissen, ob ihr Gefühl stärker war, als die Furcht vor dem Vorurteil der Gesellschaft, die seinerzeit Nataly Böhl abgehalten hatte, ihm ihre Liebe und Treue zu bewahren. War ihre Liebe die echte starke Leidenschaft des Weibes, das selbst dem Tode trotzt, um dem geliebten Mann anzugehören, so würde sie die Gesellschaft zu ihrem Glücke nicht brauchen, so würde seine Liebe ihr genügen.

Als er nach der Villa in der Strandstraße kam, war es der Oberst, dem er zuerst begegnete. Der alte Herr saß an seinem Lieblingsplatz im Vorgarten des Hauses, aber als er den Rechtsanwalt erblickte, sprang er aus und eilte ihm mit fast jugendlichem Ungestüm entgegen. Sein Gesicht strahlte und seine Augen blickten voll Rührung und Freude auf den sich ihm erstaunt Nähernden.

»Ich weiß alles!« rief er Kurt Ulrici zu. »O Sie böser Mensch! Mir das Herz meines Kindes zu stehlen – auf des Meeres und der Liebe Wellen!« Er schob seinen Arm herzlich unter den des sprachlos Dastehenden. »Kommen Sie! Wir überraschen sie. Das liebe Kind! Sie konnte es ja nicht in sich verschließen. Unter Weinen und Lachen hat sie sich mir an die Brust geworfen und mir alles gestanden.«

Dem alten Herrn zitterte die Stimme, und dem feuchten Glanz seiner Augen sah man an, wie tief ihn das Glück seines Kindes ergriff. Arm in Arm betraten sie den Salon. Gertrud saß am Klavier. Als sie die Tür gehen hörte, sprang sie mit einem Freudenschrei aus und stürzte ihnen entgegen. Und mit schämig erglühenden Wangen sank sie in Kurt Ulricis Arme.

Es wurde eine kleine Verlobungsfeier improvisiert. Am aufgeräumtesten war der Oberst.

»Eigentlich sollte ich Ihnen ja zürnen,« sagte er scherzend zu Kurt, »daß Sie mir das Mädel da gekapert haben wie ein echter, rechter Seeräuber. Aber was soll ich tun? Kämpfe einmal einer gegen fertige Tatsachen! Übrigens eine gewisse Schneidigkeit liegt doch in Ihrem Vorgehen. Das imponiert mir. Nehmen das Mädel einfach in Ihre Arme und küssen es und der Racker sträubt sich nicht einmal –«

»Aber Papa!« unterbrach Gertrud errötend die Neckereien des übermütigen alten Herrn.

»Nun, nun, mein Kind, Spaß muß sein. Im Ernst gesprochen, lieber Ulrici, ich gebe Ihnen mein Kind gern. Sie haben immer auf mich den Eindruck eines ganzen Mannes gemacht und ich lege das Geschick meines Lieblings vertrauensvoll in Ihre Hände. Ich weiß Gertrud bei Ihnen gut aufgehoben, und nun kann ich alter Krauter mich einmal in aller Ruhe zur großen Armee versammeln ...«

Kurt Ulrici war verlobt. Die Tatsache hatte sich schneller vollzogen als er geahnt hatte. Das alles war so überraschend schnell gekommen und auch die nächsten Tage über lebte er wie im Rausche. Keine Sorge, kein Bedenken trübten sein Glück. Im Sonnenschein lag die Welt vor ihm und das Leben enthielt so unendlich viel Schönes und Süßes. War er nicht beneidenswert, der Glücklichste aller Menschen im Besitz der Liebe eines so bewundernswerten Geschöpfes, das alle weiblichen Tugenden besaß: Schönheit, Anmut, Reinheit und dessen Wesen von so köstlicher Frische war, daß es ihn selbst wieder jung und frisch machte und ihm die beinahe verlorengegangene Fähigkeit, sich am Leben zu erfreuen, wieder verlieh? Erst als er Heringsdorf verlassen hatte, überdachte er seine Lage ruhiger. Dem Oberst jetzt noch Mitteilung über die Vorgänge zu machen, die einst so schwer in sein Leben gegriffen, wäre die reine Selbstvernichtung gewesen. Der Oberst selbst würde dadurch in einen schweren, kaum lösbaren Konflikt gestellt. Von ererbten, langgehegten Anschauungen sagt sich keiner los, ohne sich erst durch schmerzende seelische Kämpfe hindurchzuringen und ohne blutenden Herzens dabei ein Stück von sich selbst aufzugeben. Andererseits liebte der Oberst sein Kind so innig und er selbst war so sehr über Gertruds Glück erfreut, als daß er die Hand dagegen hätte erheben können, ohne sich selbst eine tiefe Wunde zu schlagen. Und er – Kurt Ulrici – hing auch er nicht bereits mit allen Fasern seines Wesens an Gertrud? Sollte er nun sein Glück aufs Spiel setzen, sollte er vor den Oberst hintreten und ihm sagen: Ich bin der Hand deines Kindes nicht wert! Ja, war er denn ihrer nicht wert? Erkannte er denn das Verdikt der Gesellschaft als berechtigt an, das ihn für ehrlos erklärt und von allen ihm liebgewordenen Beziehungen losgelöst hatte? Nein, tausendmal nein! Er hielt sich für vollauf berechtigt und würdig, um die Hand des geliebtes Mädchens zu werben und er traute sich die Kraft zu, Gertrud glücklich zu machen.

Freilich, seine volle Seelenruhe vermochte ihm diese stille Selbstentschuldigung nicht zu verschaffen. Oft zitterte er heimlich bei dem Gedanken, daß sich irgendein Zwischenfall, irgend etwas Unvorhergesehenes ereignen könnte, das die Ereignisse der Vergangenheit wieder heraufbeschwor. Zuweilen wenn der Blick des Obersts zufällig aus ihm ruhte, zuckte er innerlich zusammen und er mußte seine ganze moralische Kraft aufbieten, um sich gegen das Gefühl zu wehren, daß er sich gegen Gertruds Vater etwas habe zu schulden kommen lassen.

Dazu kam, daß ihm seine Verlobung gesellschaftliche Pflichten auferlegte, deren er sich ganz entwöhnt hatte. Mit Rücksicht auf Gertrud und den Oberst konnte er sich dem gesellschaftlichen Zwang nicht entziehen, in dem ganzen Bekanntenkreise der Hammerschen Familie Besuche zu machen. Eine Weigerung wäre zu auffällig gewesen, und welchen Grund hatte er dafür angeben sollen? Es war eine Folter für ihn, Unbefangenheit zu heucheln und allen denen mit sicherer Haltung gegenüberzutreten, die ihm verachtungsvoll den Rücken gedreht hätten, würden sie seine Vergangenheit gekannt haben. In einem Zustande beständiger innerer Unruhe sehnte er seine Hochzeit herbei. Wenn ihm Gertrud erst angetraut, wenn sie erst seine Frau war, dann mochte kommen, was das wollte, dann hatte ihr Vater keine Macht mehr über sie, dann konnte sie ihm niemand mehr abwendig machen, niemand als sie selbst.

Das Verhängnis, das gefürchtete, in dumpfem Bangen erwartete, kam. Eines Abends während einer Gesellschaft bei einem der intimsten Freunde des Oberst, trat ihm ein Bekannter aus der Vergangenheit gegenüber.

»Gestatten Sie,« redete ihn der Gastgeber an, mit einem fremden Herrn an ihn herantretend, »gestatten Sie, daß ich Sie mit Herrn Regierungsassessor von Kappenberg bekannt mache. Herr von Kappenberg ist der Stellvertreter unseres erkrankten Landrats ... Herr Rechtsanwalt Ulrici.«

Herr von Kappenberg stand einen Moment unschlüssig, wie erstarrt. Dann aber machte er, anstatt sich höflich zu verbeugen, eine höhnische, geringschätzige Grimasse.

»Pardon!« sagte er zu dem Gastgeber gewandt drehte sich auf dem Absatz herum und ließ die Herren stehen.

Bleich, sich heftig aus die Lippen beißend, stand Kurt Ulrici da. Endlich ermannte er sich dem Gastgeber gegenüber zu einer kurzen Erklärung.

»Ich kenne Herrn von Kappenberg. Der Herr hat einmal eine unliebsame Rolle gespielt bei einer Affäre in meiner Vergangenheit. Ich werde den Herrn morgen zur Rechenschaft ziehen.«

Damit war der Zwischenfall vorläufig erledigt. Zum Glück hatte außer den Beteiligten niemand von dem Vorgang, der sich sekundenschnell abgespielt, etwas bemerkt. Auch der heißblütige Regierungsassessor von Kappenberg hatte inzwischen die Besonnenheit und Selbstbeherrschung so weit zurückgewonnen, daß er jede weitere Auffälligkeit vermied. Er unterhielt sich noch eine Zeitlang mit verschiedenen Gästen unbefangen, als sei nichts geschehen. Bevor er sich verabschiedete, nahm er den Gastgeber beiseite und entschuldigte sich, für den anderen Tag volle Aufklärung versprechend.

Kurt Ulrici befand sich in fiebernder Empörung. Kaum war es ihm möglich, seine Haltung vor Gertrud und ihrem Vater zu bewahren. Glühender Haß, wie er ihn noch nie empfunden, siedete in ihm und eine heiße Rachsucht loderte in ihm empor. In allen Adern pochte ihm das Verlangen, diesen dünkelhaften Menschen zu züchtigen, der da glaubte, ihn wie einen Ehrlosen behandeln zu dürfen, dem man keinerlei Rücksichten mehr schuldete. Den Unverschämten, dessen knabenhaft ungezogenes Auftreten ihm das Glück seiner Zukunft zu rauben drohte, zu vernichten, erschien ihm als ein Gebot der Selbsterhaltung.

So sehr beherrschte ihn dieses Verlangen und so stark gärten Entrüstung und Zorn in ihm, daß er auch am nächsten Morgen keinen anderen Gedanken hatte, als seinen Beleidiger zur Rechenschaft zu ziehen. Daß er im Begriff war, eine grobe Inkonsequenz zu begehen, sich selbst und seine frühere Handlungsweise ins Unrecht zu setzen, daran dachte er nicht. Er war so sehr aus seinem seelischen Gleichgewicht gebracht, daß er überhaupt nicht kaltblütig zu denken vermochte. Er fühlte nur, daß er in der ewigen Unruhe der letzten Wochen nicht weiter leben könnte, daß er endlich einmal einem jener prahlerisch sich überhebenden Herren, die da glaubten, ihm Mangel an Mut vorwerfen zu dürfen, den Mund stopfen müsse. Er wollte endlich einmal den Beweis liefern, daß es nicht Feigheit gewesen, die ihn ehemals vom Duell zurückgehalten. Jetzt band ihn ja nicht mehr die Rücksicht auf seine Mutter und heiliger als das dem Verstorbenen gegebene Versprechen war ihm seine Pflicht gegen Gertrud. Für ihr Glück galt es zu kämpfen, für ihre und seine Zukunft.

Bevor er seinen fast täglichen Gang zum Gericht antrat, suchte er einen seiner Kollegen auf, der nur um wenige Jahre älter war als er selbst. Ohne den Kollegen in die dem Austreten des Herrn von Kappenberg zugrunde liegenden Vorgänge einzuweihen, berichtete er nur kurz die Tatsache des brüsken Benehmens des Regierungsassessors, durch das er sich beleidigt fühlte.

»Und Sie wünschen nun, daß ich dem Herrn Ihre Forderung überbringe?« fragte der Rechtsanwalt.

»Jawohl, darum wollte ich Sie bitten,« erwiderte Kurt Ulrici, ganz von dem Verlangen nach Rache beherrscht, »und ferner möchte ich Ihnen dringend ans Herz legen, mit dem Zeugen des Herrn von Kappenberg so scharfe Bestimmungen als nur irgend möglich zu verabreden.«

Der Rechtsanwalt aber zuckte lächelnd mit den Achseln und erklärte: »Ich bedauere, Ihnen nicht dienen zu können, Herr Kollege. Ich bin ein prinzipieller Gegner des Duells und kann als solcher natürlich nicht den Kartellträger spielen. Können Sie denn die Angelegenheit nicht in anderer Weise zum Austrag bringen?«

Kurt Ulrici verneinte, während er über sich selbst errötete. Aber das Gefühl der erlittenen Beschimpfung, der Gedanke an das Duell, nach dem er sich mit einem Male wie nach einer Erlösung von jahrelanger Schmach sehnte, beherrschte ihn noch zu sehr, als daß er dieser leisen Regung von Scham nachgegeben hätte. Die Folge der Ablehnung des einen Kollegen war nur, daß er sich an einen zweiten wandte, von dem er wußte, daß er Reserveoffizier war. Als solcher konnte er natürlich die Übernahme der Mission als Kartellträger nicht verweigern. Aber das Resultat war ein überraschendes, unerwartetes. Der Herr kam mit einem sehr erregten Gesicht zurück, aus dem sich Enttäuschung und Ärger sehr deutlich malten. Ja, in seinen Mienen und in seinem ganzen Wesen drückte sich eine kühle Gemessenheit aus, die sehr von dem sonst freundlich kollegialen Wesen des Herrn abstach.

»Herr von Kappenberg«, erklärte er, »weigert sich, Ihnen Satisfaktion zu geben.«

»Weigert – sich?« wiederholte Kurt Ulrici mechanisch, von einem unbestimmten Schrecken ergriffen.

»Ja. Er behauptet, daß Sie, Herr Kollege Ulrici nicht satisfaktionsfähig seien.«

Kurt Ulrici fuhr zusammen, als habe ihn ein Keulenschlag getroffen. Das hatte er nicht erwartet. Daran hatte er nicht gedacht. In ohnmächtiger Wut erkannte er, daß er kein Mittel besaß, Herrn von Kappenberg vor seine Pistole zu zwingen. Er konnte nur in stillem Grimm die Fäuste ballen und sich die Lippen blutig nagen. Den Schaden hatte er noch obendrein, daß er sich vor dem Kollegen da, der sich mit steifer Förmlichkeit empfahl, bloßgestellt hatte.

Wie vor den Kopf geschlagen, saß Kurt Ulrici eine ganze Weile da, nachdem ihn der andere verlassen hatte. Eine furchtbare Ernüchterung bemächtigte sich seiner. Das Rachegelüst war aus einmal in ihm verraucht und hatte einem vernichtenden Schamgefühl Platz gemacht. Recht war ihm geschehen, vollkommen recht. Herr von Kappenberg handelte von seinem Standpunkt aus durchaus logisch. Jedenfalls hatte der heißblütige Herr mehr Konsequenz bewiesen als er selbst.


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