Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III

Es war in der siebenten Abendstunde desselben Tages. Kurt Ulrici begab sich in die Wohnung des Staatsanwalts Böhl, seines Schwagers, in dessen Familie seine Braut, Nataly Böhl seit dem Tode ihrer Eltern lebte. Gerade an diesem Tage, der vielleicht für sein ganzes künftiges Leben von einschneidender Bedeutung war, fühlte er das Bedürfnis, dem geliebten Mädchen ins Auge zu sehen und ihren liebevollen Händedruck zu fühlen. Und dennoch war ihm das Herz bang und schwer, als er jetzt den oft gegangenen Weg zurücklegte. Wußte sie bereits? Und wie nahm sie es aus?

Aber als er oben eintrat und Nataly ihm mit einem Ausruf der Freude entgegenkam, wich es wie eine Zentnerlast von seiner Brust. Sie war ihm nie so schön und nie so lieb erschienen, wie in diesem Augenblick, und er hatte es nie so beglückt empfunden, daß er stolz sein durfte, die Liebe dieses strahlend schönen und anmutvollen Geschöpfes zu besitzen.

Nataly Böhl konnte zu den sogenannten stolzen Schönheiten gerechnet werden. Imponierend war ihre hohe, schlanke Figur, und imponierend war ihr ruhiges, sicheres Wesen, das ebensosehr in der völligen Beherrschung der Formen der guten Gesellschaft wie in einem sorgfältig durchgebildeten und natürlich beanlagten Verstande wurzelte. Imponierend war die Schönheit ihres regelmäßig geformten seinen Gesichts und der klare Blick ihres braunen Auges, des Spiegels einer stolzen, reinen Seele.

Die beiden Verlobten befanden sich allein. Natalys Schwägerin war bei ihren Kleinen im Kinderzimmer, und der Staatsanwalt war ausgegangen.

»Weißt du, womit ich mich eben beschäftigt habe?« eröffnete Nataly das Gespräch, nachdem Kurt Ulrici auf ihre Frage nach dem Befinden seiner Mutter Bescheid gegeben.

Er sah sie fragend an. Sie lächelte.

»Studiert habe ich – Moden studiert.«

Sie deutete auf den Tisch, auf dem einige Nummern der Modenwelt mit ihren großen kolorierten Modetafeln lagen.

»In vier Wochen«, erklärte sie, »findet das große Ballfest im Offizierkasino statt. Da heißt es, sich beizeiten rüsten. Du weißt, daß bei uns Damen die Kostümfrage eine große Rolle spielt.«

Kurt Ulrici zuckte innerlich zusammen; seine Stirn legte sich in unwillkürliche Falten. Er biß sich aus die Lippen und erwiderte nichts.

Nataly Böhl blätterte in den vor ihr liegenden Blättern, lebhaft weiter plaudernd.

»Ich freue mich auf keinen Ball so sehr, wie auf den Kasinoball. Du nicht auch, Kurt? Ich finde, es ist ein so angenehmes, stolzes Bewußtsein, sich sagen zu können, daß man zu den Auserlesenen, Bevorzugten gehört. Das ist das Schöne, daß zum Kasino nur die allerbeste Gesellschaft Zutritt hat. Was gäbe zum Beispiel Marie Falisch darum, wenn sie einmal einen Kasinoball mitmachen könnte. Aber was hast du denn, Kurt?«

Sie sah ihrem Verlobten erstaunt in das düstere Gesicht und legte ihre zarten, schlanken Finger auf seine nervös auf den Tisch trommelnde Hand.

»Ich?« Er bemühte sich, eine unbefangene Miene zu zeigen, während es ihn innerlich fröstelte. Sicherlich würde auch er diesmal zu den Ausgeschlossenen gehören, denen der Zutritt zu den heiligen Pforten des Kasino verwehrt blieb.

»Entschuldige!« fuhr er rasch fort: »Mamas Befinden beunruhigt mich noch immer. Und ich weiß nicht, ob –«

Er stockte und senkte unwillkürlich seinen Blick vor dem ihren, in dem sich lebhaftester Schrecken spiegelte.

»Was denn, Kurt? Du meinst doch nicht etwa, daß du den Ball nicht wirst besuchen können.«

Er zuckte mit den Achseln.

»Aber vier Wochen ist doch eine lange Zeit«, fiel sie eifrig ein. »Bis dahin wird Mama doch längst völlig wiederhergestellt sein. Ach Kurt, das wäre ein furchtbarer Schlag für mich, müßte ich auf den Kasinoball verzichten. Kein anderer Ball ist auch nur halb so schick, und ich gebe gern drei Logenbälle für einen Kasinoball.«

Der Regierungsassessor stöhnte in sich hinein. Sie wußte noch nichts. Ob er's ihr sagte? Aber sie ließ ihn den Gedanken nicht ausdenken.

»Rate einmal, Kurt,« nahm sie von neuem das Wort, »wer heute bei mir war!«

»Nun?«

»Lucie von Kranach, die Tochter des Obersts. Ach, Kurt, ich wünschte nur, daß du nicht versetzt wirst, wenn du zum Rat ausrückst. Wer weiß, ob ich anderswo einen so netten Umgangskreis finde. Lucie von Kranach, Frau Hauptmann Krönig und Frau Leutnant von Westernhagen sind mir wahrhaft ans Herz gewachsen, und es würde mir sehr schmerzlich sein, ihren Verkehr zu missen. Überhaupt, ich finde, mit den Offiziersdamen verkehrt sich's am nettsten.«

»Ich finde sie hochmütig.«

»Hochmütig? Du bist ungerecht, Kurt. Ich kann es nicht hochmütig nennen, wenn man sich gegen sozial Tieferstehende eine gewisse Reserve und Zurückhaltung auferlegt. Das ist einfach eine natürliche Folge des Selbstgefühls, des Bewußtseins der bevorzugten Stellung, die man einnimmt. Aber unter sich sind gerade die Offiziersdamen von hinreißender Liebenswürdigkeit.«

Kurt Ulrici, der auf einem Fauteuil neben seiner Braut gesessen, erhob sich und machte einen Gang durchs Zimmer.

»Weißt du nicht, wo Egon steckt?« fragte er, um von dem peinlichen Thema abzubrechen.

»Er ist im Hotel zum Kronprinzen. Du pflegst ja doch sonst auch um diese Zeit nicht am juristischen Stammtisch zu fehlen.«

Ihre braunen Augen blitzten ihn schelmisch an.

»Heute trieb mich die Sehnsucht zu dir«, sagte er herzlich, mit weichem Gefühl und trat an sie heran.

Sie nickte ihm freundlich zu und streckte ihm ihre Hand entgegen. Er beugte sich hernieder und küßte die seinen, mit liebevoller Sorgfalt gepflegten Finger.

An allzu stürmische Zärtlichkeiten hatte ihn seine Braut nicht gewöhnt. Auch ihre Empfindungen hatten ein schönes, vornehmes Gleichmaß. Und er hatte von jeher seinem heftigeren Temperament Zügel anlegen müssen.

»Das viele Küssen von Brautpaaren«, hatte sie einmal geäußert, »finde ich furchtbar unfein und undelikat.«

Daß sie ihn aufrichtig liebte, davon freilich hatte er einen untrüglichen Beweis. Denn würde sie sonst seine Bewerbung erhört haben, sie, die strahlende Schönheit, die viel Umschmeichelte, die aus vornehmer Familie stammte und von ihren Eltern ein Kapital ererbt hatte, dessen Zinsen allein zur Bestreitung eines vornehmen Haushaltes hinreichten?

Heute freilich, wo alles in ihm noch in gärender Bewegung war, konnte er seinem Gefühl einen lebhafteren Ausbruch nicht versagen. Auch nach dem Kuß behielt er ihre Hand noch eine Weile in der seinen und preßte sie innig. Dann legte sich sein Arm mit einer impulsiven Bewegung um ihren Nacken und zog ihr Gesicht dem seinen entgegen; sein heißer Kuß brannte aus ihrer Wange.

»Nataly,« flüsterte er zärtlich, »meine liebe, liebe Nataly!« Berührte sein hervorbrechendes Gefühl eine gleichgestimmte Saite in ihrer Brust, riß seine Leidenschaftlichkeit sie hin? Von selbst bot sie ihm die zarten, schwellenden, frischen Lippen, die er glutvoll küßte wieder und wieder.

Da sprang sie plötzlich auf, und als er sie ungestüm an sich ziehen wollte, machte sie sich heftig los.

»Aber Kurt!« stieß sie zürnend, eilends hervor.

»Es kommt jemand!«

Ihre Bewegung war nicht eine so tief innerliche gewesen wie die seine und hatte sie nicht so unempfindlich gemacht für die Äußerungen der Außenwelt, daß sie die elastischen, schnellen Schritte, welche aus dem Vorflur laut wurden, überhört hätte.

Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür, und ihr Bruder Egon stand auf der Schwelle. Der Staatsanwalt war ungewöhnlich früh heimgekehrt. Aus den ersten Blick erkannte er die Situation. Die stürmisch gehenden Atemzüge seines Schwagers, seine blitzenden Augen und erhitzten Wangen – die verlegene Haltung seiner Schwester – etwas bei ihr ganz Ungewöhnliches – der ungemein peinliche Ausdruck ihrer Mienen verrieten ihm, daß sein plötzlicher Eintritt sehr störend eine zärtliche Szene unterbrochen hatte. Aber während er vielleicht sonst sich und den anderen mit einer humoristischen Bemerkung über die etwas unbequeme Situation hinweggeholfen hätte, stutzte er heute schweigend. Das Furchen seiner Stirn und das nervöse Nagen seiner Zähne an der Unterlippe bekundeten, daß er sich von dem, was er erblickte, nicht eben angenehm berührt fühlte.

»Wo ist Eugenie?« fragte er seine Schwester.

»Bei den Kindern.«

»Bitte sage ihr, daß ich nach Hause gekommen bin und daß wir bald speisen können.«

Nataly nickte und schritt gehorsam zur Tür. Das kluge Mädchen verstand sogleich, daß er mit Kurt etwas unter vier Augen zu besprechen hatte. Was war es nur? Egon sah so merkwürdig mißgestimmt und ernst aus. Sie kannte dieses Zucken seiner Mundwinkel sehr wohl. Das war bei ihm immer ein Zeichen, daß ihn irgendeine verdrießliche Sache innerlich lebhaft beschäftigte. An der Schwelle drehte sich Nataly noch einmal nach ihrem Bräutigam um.

»Du bleibst doch zum Abendbrot, Kurt?« fragte sie.

»Wenn du und Eugenie erlauben?«

Sie nickte und verschwand.

Der Staatsanwalt war eine stattliche, echt männliche Erscheinung. Das Imponierende schien in der Familie zu liegen. Der lange bis zur Brust hinabfließende Bart verstärkte noch den imposanten Eindruck, den seine weit über Mittelgröße gehende breitschulterige Gestalt mit den gemessenen, würdevollen Bewegungen zu machen pflegte. Seine Augen, die wie die seiner Schwester braun waren, blickten ernst und achtunggebietend hinter einem goldberänderten Pincenez, das er ohne Schnur trug.

Sein Händedruck fiel heute etwas kürzer, hastiger und weniger kräftig aus als sonst.

»Weißt du,« redete er seinen Schwager an, »wovon heute am Stammtisch in erster Linie die Rede war?«

Kurt Ulrici antwortete nicht. Er raffte sich innerlich zusammen, und auch äußerlich reckte er sich entschlossen. Er wußte, daß er alle seine Energie, seine ganze moralische Kraft würde aufbieten müssen in der Auseinandersetzung, die ihm bevorstand.

»Dein Renkontre mit Leutnant von Minkwitz bildete das Hauptthema unserer Unterhaltung«, fuhr der Staatsanwalt fort. »Wir waren ja alle darüber einig, daß das aggressive Verhalten des Leutnants ein höchst ungehöriges und unverantwortliches war, um so mehr, als der junge Herr nicht viel mehr als achtzehn Jahre zählt und die Epaulettes erst ein paar Monate trägt. Übrigens sollen ihm seine älteren Kameraden ihre Ansicht ziemlich unverblümt zu erkennen gegeben haben, und ein ganz gehöriger Wischer steht ihm vom Oberst in sicherer Aussicht. Überhaupt, ich bin der Ansicht, daß diese Herren viel zu früh die Epaulettes erhalten. Man wird ja auch nicht mit achtzehn Jahren Staatsanwalt oder Amtsrichter, nicht einmal Assessor oder Referendar. Ich sehe nicht ein, warum nicht schon längst das Abiturientenexamen obligatorisch gemacht ist und warum die Herren nicht drei oder vier Jahre Fähnrich bleiben und nur dann zum Offizier avancieren, wenn sie ihre sittliche Reise erwiesen haben. Man sollte eine so verantwortungsvolle Stellung, die so viel seines Takt- und Ehrgefühl erfordert und die im öffentlichen und im privaten Leben soviel Prestige verleiht, nicht flaumbärtigen Knaben anvertrauen. Aber nun sage mal, Kurt« – der Staatsanwalt fuhr mit seiner Rechten durch den Bart und drückte sein Kinn zurück, eine Bewegung, die er immer zu machen pflegte, sobald er sich zu einer Anklage anschickte – »ist es wirklich wahr, daß du den Leutnant noch nicht gefordert hast?«

»Es ist wahr.«

»Aber Unglückseliger! Weißt du denn nicht, daß bei Ehrenhändeln das prompteste Handeln üblich ist? Zug um Zug, heißt es da. Vierundzwanzig Stunden nach der Beleidigung die Forderung, spätestens achtundvierzig Stunden nach der Forderung das Duell. Das müßte dir doch bekannt sein.« Der Staatsanwalt griff in seine Westentasche.

»Wieviel Uhr haben wir denn? Viertel acht! Für heute ist es zu spät. Der Leutnant wird ohnedies nicht zu Hause sein. Also morgen in aller Frühe! Um neun etwa. Abgesehen von meiner Stellung hindern mich ja meine nahen Beziehungen zu dir, in diesem Falle persönlich für dich einzutreten. Aber du hast ja unter deinen Kollegen die Auswahl. Die Krankheit deiner Mutter, der plötzliche besorgniserregende Anfall bietet dir ja eine plausible Entschuldigung für die ungehörige Verzögerung. Du seist eben so benommen und in Anspruch genommen gewesen, daß du die andere Sache nicht mit dem nötigen Eifer hättest betreiben können. Na, das wird sich schon arrangieren lassen. Bei der Schwere der Beleidigung und dem allgemeinen Unwillen seiner Kameraden kann Minkwitz nicht anders, als deine Gründe anzuerkennen und dir die übliche Satisfaktion zu geben, trotz der ungewöhnlichen Verzögerung der Forderung.«

»Ich werde den Leutnant nicht bemühen.«

Die Augen des Staatsanwalts blitzten unwillig.

»Was soll das heißen?« sagte er scharf, fast drohend. »Willst du dich nicht deutlicher erklären.«

»Ich werde den Leutnant nicht fordern, und werde mich nicht schlagen.«

Dem Staatsanwalt gab es einen Ruck.

»Fürchtest du dich etwa?« rief er heftig.

Dem anderen schoß die helle Glut ins Gesicht. Seine ganze Gestalt erbebte, und seine Fäuste ballten sich. Zwischen den aufeinandergebissenen Zähnen zischelte er verächtlich, bitter hindurch: »Eine große Heldentat, sich hinzustellen und ein paar Schüsse aus der einem in die Hand gedrückten Waffe abzugeben! Ich bin kein Freund von theatralischen Aktionen und habe nicht den Ehrgeiz, mir das Renommee eines Bramarbas und blutgierigen Raufboldes zu erwerben.«

Der Staatsanwalt strich sich mit der Hand über die Stirn.

»Du hast recht,« sagte er ruhiger, »eine besondere Leistung ist das gerade nicht, und mancher hat sie schon zustande gebracht, der nichts weniger als ein Held war. Verzeihe! Es fuhr mir nur so in der ersten Aufregung heraus. Jedenfalls gehört ein größerer Mut dazu, den Anschauungen der Gesellschaft ins Gesicht zu schlagen und sich dem Achselzucken und der Verachtung seiner Freunde und Standesgenossen auszusetzen. Und deshalb beschwöre ich dich, Kurt, sei kein starrer Prinzipienreiter! Tue, was in deiner Lage doch nun einmal unumgänglich ist: fordere deinen Beleidiger!«

»Das rätst du mir, du, der Staatsanwalt, der Hüter des Gesetzes!«

Egon Böhl ließ sich durch diese bittere, satirische Bemerkung nicht einen Augenblick in seiner sicheren, würdevollen Haltung beirren.

»Mein Lieber,« sagte er, dem Schwager seine Hand aus die Schulter legend, »ich spreche hier nicht zu dir als Beamter. Ich werde als Staatsanwalt meine Pflicht zu tun wissen und nicht einen Augenblick zögern, sobald die Straftat offiziell zu meiner Kenntnis gelangt, die Anklage gegen dich zu erheben. Aber ich bin nicht nur Staatsanwalt, ich bin nebenbei auch Gentleman und Hauptmann der Reserve. Und als solcher rufe ich dir zu: Füge dich dem Gebot der Ehre, das von dir verlangt, den Beleidiger mit der Waffe in der Hand zur Rechenschaft zu ziehen. Das bist du dir selbst, das bist du auch deinen Freunden und Angehörigen schuldig.«

»Du irrst,« entgegnete der andere düster, »gerade die Rücksicht auf die, die mir am nächsten stehen, die Rücksicht auf meine Mutter und auf meinen verstorbenen Vater gebieten mir, mich nicht zu schlagen.«

Kurt Ulrici berichtete in kurzen Worten das, was sich zwischen ihm und seiner Mutter zugetragen. Zugleich gab er dem Staatsanwalt Ausklärung über das Ende seines Vaters. Egon Böhl hörte den Erzählenden aufmerksam an. Als dieser mit seinem Bericht zu Ende war, erklärte der Staatsanwalt mit derselben unerschütterlichen Entschiedenheit wie zuvor: »Über den Fall deines Vaters habe ich kein Urteil, weil ich die näheren Umstände nicht kenne. Möglich, daß dein Vater das Duell hätte vermeiden können, ohne seiner Ehre etwas zu vergeben. Bei dir aber liegt die Sache so: Du kannst nicht anders, du mußt dich schlagen, du mußt! Mag die Sache ausgehen, wie sie wolle, dich trifft keine Schuld, und du hast keinen Grund, dir Vorwürfe zu machen. Du kannst eben nicht anders, die Pflicht der Selbsterhebung zwingt dir die Waffe in die Hand. Was den Eid betrifft, den dein Vater von dir, als du ein unerfahrener Knabe warst, erzwungen hat, so bin ich der Ansicht, daß dich derselbe nicht bindet. Ja, dein Vater würde sicherlich, wäre er noch am Leben, selbst dich deines Versprechens entbinden. Und ebensowenig kann deine Mutter das Unmögliche von dir verlangen. Sie kann nicht wollen, daß du ein Schicksal auf dich hinaufbeschwörst, das viel, viel härter wäre als der körperliche Tod. Wie viele haben vor dir Frau und Kind im Stich lassen müssen, als es galt, ihre Ehre zu verteidigen! Ich will nicht untersuchen, ob unsere Anschauungen, die in einem Fall wie dein deinigen dem Ehrenmann das Duell aufzwingen, die richtigen sind. Ich begnüge mich zu konstatieren, daß für dich, wenn du deine Ehre verloren hast, innerhalb der Gesellschaft kein Platz mehr ist. Ebenso wie Licht und Luft hast du zu deiner Existenz die gesellschaftliche Achtung nötig. Besitzest du diese nicht mehr, so bist du gesellschaftlich ein toter Mann. Und das Leben, das du dann zu führen gezwungen bist, ist nicht mehr des Lebens wert.«

Der Staatsanwalt hatte mit Eifer und Wärme, mit der Kraft und Eindringlichkeit der Überzeugung und ehrlicher Anteilnahme gesprochen. Seine Blicke strahlten an Stelle ihres gewohnten kalten, amtlich strengen Ausdrucks ehrliches Wohlwollen und eine tiefe innerliche Gemütsbewegung.

Kurt Ulrici atmete tief. Mit seiner ganzen moralischen Kraft wehrte er sich gegen den Eindruck, den die Worte seines Schwagers und der bewegliche Ton seiner Stimme aus ihn hervorbrachten.

»Ich glaube nicht an das düstere Bild, das du da von mir entwirfst«, stieß er mit finsterem Trotz hervor. – »Und wenn – Gut! Ich werde auch ohne die Achtung einer Gesellschaft zu leben wissen, die meine Gründe nicht respektiert und die von mir verlangt, ich solle das Leben meiner Mutter aufs Spiel setzen und gewissenlos meine Pflicht gegen sie außer acht lassen, eines – nun ja, eines Phantoms wegen. Ich sehe nicht ein, daß meine Ehre einen Vorteil davon haben soll, wenn ich meinen Beleidiger zum Krüppel schieße oder mich von ihm über den Haufen schießen lasse. Ich sehe nicht ein, daß meine persönliche Ehre abhängig sein soll von dem Belieben eines jeden jungen Mannes, der sich – vielleicht mit Unrecht – ein Gentleman nennt und der an Jahren und an geistiger und sittlicher Qualität weit unter mir steht. Ich sehe nicht ein, daß ich meine Ehre verloren haben soll, weil ein junger Mann in seinem Rausch oder seinem Übermut ein Schimpfwort gegen mich ausgestoßen hat.«

Der Staatsanwalt zuckte mit den Achseln.

»Ich habe nicht die Macht und habe nicht den Beruf, die Anschauungen der Gesellschaft zu reformieren. Und wenn ich persönlich auch vielleicht deine Gründe und deinen Standpunkt zu würdigen wissen würde, was wäre dir damit geholfen? Nichts! Du kannst nicht vor jedem einzelnen Mitglieds der Gesellschaft, auf deren Wohlwollen und Achtung du durch deine berufliche und gesellschaftliche Stellung doch nun einmal angewiesen bist, dein Verhalten rechtfertigen und kannst nicht jedem die Überzeugung einflößen, daß es höhere sittliche Motive waren, die dich abhielten, die unter Gentlemen übliche Satisfaktion zu fordern. Man wird sich nicht lange damit aufhalten, nach Gründen deines ungewöhnlichen Verhaltens zu forschen, man wird dir einfach das nächstliegende Motiv, das der Feigheit, unterschieben und dir das Ehrgefühl absprechen. Deshalb, lieber Kurt, rate ich dir: gehe mit dir noch einmal sorgfältig zu Rate! Überlege und bedenke alle Folgen wohl! Schon die Rücksicht aus deine amtliche Stellung –«

»Auf meine amtliche Stellung?« unterbrach Kurt Ulrici erregt. »Was hat meine amtliche Stellung mit der Duellfrage zu tun –?«

»Ja, bist du dir denn darüber nicht klar,« erwiderte der Staatsanwalt und strich wieder mit seiner Rechten durch den langen, stattlichen Bart, »bist du dir denn darüber nicht klar, daß du in deiner Karriere elend Schiffbruch erleidest, sobald du deine gesellschaftliche Ehre verloren hast? Heute besitzest du noch die volle Achtung, das ganze fördernde Wohlwollen deiner Vorgesetzten. Morgen bist du für sie eine unsympathische, unbequeme Persönlichkeit, die man je eher je besser loszuwerden trachtet.«

»Niemand kann mir mein Amt nehmen.«

»Direkt allerdings nicht. Aber sie können dich kaltstellen, auf einen verlorenen Posten, sie können dir deinen Beruf verleiden und dir dein Amt zur Hölle machen.«

Die Augen des Assessors leuchteten in unbeugsamer Energie. Zu schwer hatte er seelisch bereits gekämpft, zu fest war sein Entschluß, als daß ihn die Argumente seines Schwagers, die er ohnedies zum Teil schon selbst bei sich erwogen hatte, wankend hätten machen können.

»Meine Vorgesetzten können nicht von mir verlangen,« erklärte er fest, »daß ich auf ihre privaten Empfindungen und Wünsche mehr Rücksicht nehme als aus die meiner Mutter.«

»Und Nataly«, mahnte der Staatsanwalt, und seine Mienen nahmen einen sorgenvollen Ausdruck an. »Hast du auch an Nataly gedacht, Kurt?«

»An Nataly?« wiederholte der Assessor bestürzt. »An Nataly?«

»Nun ja. Hast du dir denn noch nicht gesagt, daß auch Nataly schwer unter den Folgen deines Entschlusses zu leiden haben würde? Nataly liebt dich, und du stellst sie nun in einen furchtbaren seelischen Konflikt?«

»In einen seelischen Konflikt?«

»Allerdings. Sie wird zu wählen haben zwischen einem einsamen freudlosen Leben voll bitterer, demütigender Erfahrungen und der Notwendigkeit, dir zu entsagen.«

Kurt Ulrici taumelte unwillkürlich einen Schritt zurück; aus seinem Gesicht wich alle Farbe, und seine Augen öffneten sich weit in starrem Schreck. Aber er überwand die Anwandlung rasch und rief heftig, während ihm das Blut wieder heiß in Wangen und Stirn zurückfloß: »Ich hoffe, daß Nataly die Empfindungen meiner Mutter teilen, daß sie sich auch nicht einen Augenblick lang von dem Vorurteil der anderen beeinflussen lassen wird.«

Der Staatsanwalt bewegte mißbilligend sein Haupt. »Du bist ungerecht, Kurt«, sagte er. »Zwischen deiner Mutter und Nataly besteht ein großer Unterschied der Jahre. Deine Mutter ist eine kränkliche alte Dame, die sich schon seit Jahren von allem geselligen Verkehr zurückgezogen hat. Nataly aber steht noch sozusagen an der Schwelle des Lebens. Ihr ist der gesellige Verkehr, die Anregung und Zerstreuung des geselligen Treibens noch Lebensbedürfnis. Und nun willst du sie der Eventualität aussetzen, daß sie sich plötzlich von allem lossagen soll, was ihr lieb und teuer ist, was zu ihrem Wohlbefinden, zu ihrer Zufriedenheit, ja, zu ihrem Glück unentbehrlich ist!«

Kurt Ulrici stöhnte in sich hinein.

Der Staatsanwalt trat wieder ganz dicht an ihn heran und legte ihm abermals beschwörend, dringlich die Hand aus die Schulter.

»Darum, Kurt, wenn du es schon in deinem eigenen Interesse und auch um meinetwillen nicht tun willst, tue es deiner Braut, tue es Nataly zuliebe. Und sollte es auch deiner innersten Überzeugung widerstreben, mein Gott, wie oft muß nicht der moderne Kulturmensch ein Opfer seines Intellektes bringen, um sich und die Seinen vor Schaden zu bewahren.«

Der Staatsanwalt versuchte, seinem Schwager in die Augen zu blicken, aber Kurt Ulrici hielt sein Gesicht zu Boden gekehrt; nur die heftigen Atemzüge, unter denen sich seine Brust hob und senkte, bekundeten, daß eine starke innere Bewegung in ihm vorging.

Nachdem Egon Böhl eine Weile vergebens auf eine Antwort gewartet hatte, nahm er noch einmal, mit einem schärferen Klange seines Organs, das Wort: »Ich kann und will dich heute zu keinem bindenden Versprechen drängen. Vergegenwärtige dir zu Hause in aller Ruhe noch einmal alle Konsequenzen! Morgen früh freilich wirst du handeln müssen. Ich bin bis elf Uhr vormittags zu Hause und erwarte bis dahin von dir Nachricht. Adieu!«

Er streckte mit einem Ruck dem Schwager seine Hand entgegen, in die der Assessor mechanisch die seine legte.

»Nataly« – sagte er zögernd. »Ich möchte ihr doch –«

»Ich werde dich den Damen empfehlen«, fiel der Staatsanwalt rasch ein. »Ich glaube, in deiner jetzigen Gemütsverfassung würde es nur eine Pein für dich sein –«

»Du hast recht«, stimmte der Assessor mit einem Seufzer bei. »Also grüße Nataly! Adieu!«


 << zurück weiter >>