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V

Was Kurt Ulrici ursprünglich nur mit Rücksicht auf seine Mutter, die er über alles liebte und verehrte, unter dem Druck des durch die Erkrankung der Teuren geschaffenen Zwanges gelobt, war in den seelischen Kämpfen und den herben Erfahrungen des letzten Tages bei ihm zur heiligen Überzeugung geworden. Während des anhaltenden Nachdenkens und Grübelns über die Frage, vor die er durch den Vorfall im Gesellschaftshaus plötzlich gestellt worden war, hatte er sich immer klarer und entschiedener zu der Ansicht durchgerungen, daß sein Standpunkt, von dem aus er das Duell verwarf, der seiner amtlichen Stellung und seiner Pflicht als Staatsbürger, Sohn und wissenschaftlich gebildeter Mensch allein angemessen und würdig sei. Gerade die schroffe, unduldsame Haltung der Angehörigen seines Umgangskreises, die eine blinde, unbedingte Unterwerfung unter das alte, überlebte Vorurteil von ihm verlangten, bewirkten das Gegenteil von dem, was beabsichtigt war und veranlaßten ihn nur zu einem um so schärferen, leidenschaftlicheren Widerstand. Sollte er sich von ihrem blinden Fanatismus schrecken lassen und sich zum Sklaven der starren, sinnlosen Formen einer veralteten, in die moderne Zeit nicht mehr hineinpassenden Standessitte machen, die für die Kaste der oberen Zehntausend eine andere Ehre und ein anderes Gesetz vorschrieb, als es für den übrigen Teil der Bevölkerung maßgebend war? Ihr Standpunkt, von dem aus sie in Ehrenhändeln das bürgerliche Gericht verachteten und die gesetzliche Sühne nicht für ausreichend erklärten, sollte ihm nicht imponieren. Er verschmähte es als seiner unwürdig, das von ihm verlangte »Opfer des Intellekts« zu bringen. Er wollte doch sehen, ob man ihm ernstlich etwas anhaben konnte, wenn er sich weigerte, eine Handlung zu begehen, die das Gesetz verbot und wenn er aus dem vom Gesetz vorgeschriebenen Wege seine Genugtuung suchte. Nataly aber – von dieser Überzeugung war er innig durchdrungen – würde sich trotz aller Gegenreden ihres Bruders nicht von ihm abwendig machen lassen) ihr Herz würde ihm ebenso wie ihr Verstand recht geben. Sein Leben war ihr ja teuer, und sie würde es um kleinlicher gesellschaftlicher Rücksichten willen nicht in Gefahr bringen wollen.

In sichererer, entschiedenerer Haltung als gestern trat er am nächsten Morgen seinem Schwager entgegen, der ihn in seinem Arbeitszimmer empfing.

»Nun, Kurt,« rief der Staatsanwalt, von seinem Stuhl aufspringend und ihm voll Spannung ins Gesicht blickend, »hast du die nötigen Schritte getan?«

»Ich bin auf dem Wege«, antwortete der Assessor mit der Ruhe und Kraft eines festen, unumstößlichen Entschlusses. »Von dir begebe ich mich direkt zum Rechtsanwalt, um ihn mit der Anstrengung der Klage gegen Leutnant von Minkwitz zu beauftragen.«

Der Staatsanwalt zuckte zurück. Sein erwartungsvoll vornübergeneigter Körper reckte sich wieder straff und steif empor.

»Mit der gerichtlichen Klage?«

»Jawohl, mit der gerichtlichen –«

Der Staatsanwalt strich nach seiner Gewohnheit mit seiner Rechten durch den prächtigen über die Brust wogenden Bart. Seine Gesichtsfarbe wurde um eine sichtbare Nuance blasser: seine Augen blickten streng hinter dem goldberänderten Pincenez, und seine Stimme nahm einen harten, scharfen Klang an.

»Nun denn,« sagte er, »so zwingst du mich, dir zu erklären, daß das Band zwischen uns zerrissen ist. So nahe wir uns auch bisher standen, als Gentleman und als Offizier kann ich zu dir fortan keine Beziehungen mehr haben.«

Auch die kleinere, schlankere Gestalt des Assessors rückte sich in eine straffe, stolze Haltung.

»Gut!« erwiderte er, blaß zwar, aber doch mit kaltem, ruhigem Gesichtsausdruck. »Wie du willst. Meine Überzeugung gebietet mir, so und nicht anders zu handeln. Ich kann dich nicht hindern, die Konsequenzen deines von dem meinigen abweichenden Standpunktes zu ziehen.«

Er sah zu seinem Schwager hinüber, der in demselben Moment seine Augen mit einem halb unwilligen, halb lauernden Ausdruck auf ihm ruhen lieh. Die Blicke der beiden Männer, die sich so nahegestanden und deren Wege sich nun für immer trennen sollten, begegneten sich und hingen einen Augenblick lang ineinander.

Der Staatsanwalt war es, der zunächst wieder das Wort nahm.

»Das, was noch zwischen uns zu erledigen sein wird,« sagte er, kühle, stolze Gelassenheit heuchelnd, »machen wir wohl am besten schriftlich ab oder durch die Vermittlung unserer beiderseitigen Rechtsanwälte.«

»Einverstanden. Nur noch für ein Viertelstündchen bitte ich um deine Gastfreundschaft. Da es ja wohl nicht deinem Wunsche entsprechen würde, wenn ich je wieder dein Haus beträte, so hätte ich noch mit Nataly zu besprechen, wie wir künftig –«

»Nataly ist verreist«, unterbrach der Staatsanwalt kurz.

»Ver – verreist?«

Der Assessor fuhr in tiefstem Erschrecken zurück.

»Heute morgen – ja,« bestätigte Egon Böhl – »in aller Frühe. Sie wird ein paar Wochen oder Monate bei unseren Verwandten in Berlin zubringen.«

Ein heftiger Schmerz malte sich in den zuckenden Gesichtszügen des jungen Mannes, und mit leidenschaftlicher Bitterkeit rief er: »Du hältst sie von mir fern, du willst sie mir entfremden – ich verstehe.«

Der Staatsanwalt zuckte unempfindlich mit den Schultern.

»Du irrst«, gab er ruhig zurück. »Das würde gar nicht in meiner Macht liegen. Nataly ist alt und verständig genug, um selbst zu wissen, was sie zu tun hat, und sie ist gar nicht die Natur, sich in einer so wichtigen Frage ihres Lebens dem Verlangen eines anderen blindlings zu unterwerfen. Freilich, ich habe ihr der Wahrheit gemäß dargestellt, welche Folgen sich aus deiner Handlung oder richtiger deiner Unterlassung auch für deine Braut, beziehungsweise für deine Frau ergeben würden. Das war einfach meine Pflicht als Bruder. Im übrigen möge sie selbst entscheiden.«

Kurt Ulrici preßte seine Rechte gegen Stirn und Augen.

»Sie konnte gehen,« stöhnte er, »ohne mir ein Wort des Abschieds zu sagen.«

»Sie hat einen Brief für dich zurückgelassen«, sagte der Staatsanwalt und trat zu seinem Schreibtisch.

Kurt Ulrici nahm hastig das ihm gereichte geschlossene Kuvert und öffnete es mit zitternden Fingern. Aber seine Gemütsbewegung war eine so tiefgehende, ungestüme, daß es ihm vor den Augen flirrte und die Buchstaben vor seinen Blicken ineinanderverschwammen, als er den geöffneten Brief nun zu seinem Gesicht erhob.

Ein Geräusch bewog ihn, verstört aufzublicken. Der Staatsanwalt verschwand eben in das Nebenzimmer. Der Assessor biß sich heftig auf die Lippen, so daß ein dünner Blutstrom unter seinen Zähnen hervorrieselte. Das war deutlich! Man wies ihm indirekt die Tür. Mit einer schnellen Bewegung schob er den Brief in die Tasche und verließ in fluchtähnlicher Eile das Haus, in dem er so unvergeßlich schöne Stunden verlebt hatte, und das ihm nun mit einem Male verschlossen sein sollte, für immer.

Erst zu Hause, in der Stille seines Studierzimmers, las er Natalys Brief. Er lautete:

»Lieber Kurt!

Mir blutet das Herz, und der Kopf ist mir noch so benommen, daß ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Ich soll fort, ohne Dich noch einmal sehen, noch einmal sprechen zu können. Aber Egon hat recht: es ist das beste, wenn ich vorläufig den Ort verlasse, an dem ich ja in der nächsten Zeit doch nur schmerzliche Aufregungen und bittere Demütigungen erleben würde. In der Ferne werde ich eher zur ruhigen Überlegung und zu einem klaren Urteil kommen. Wie lange ich fortbleiben werde? Ja, das kann ich heute noch nicht bestimmen, wie ich überhaupt im Augenblick nicht zu denken imstande bin. Ich fühle nur, daß ich sehr unglücklich bin und daß mein Herz in namenlosem Schmerz zusammenzuckt. Als mir Egon von Deinem Renkontre mit Leutnant von Minkwitz Mitteilung machte und von Deiner Weigerung, den Leutnant zu fordern, da jubelte ich im ersten Moment auf. Gottlob, daß Du Dich nicht der Gefahr aussetztest! Gottlob, daß ich nicht um Dein mir teures Leben zu bangen brauchte! Aber als Egon dann die Folgen vor mir besprach, die Deine Weigerung, Satisfaktion zu fordern, nach sich ziehen würde, da war es freilich mit meinem Frohlocken vorbei, und ich erschauerte bis ins innerste Mark. O Kurt, welch einen entsetzlichen seelischen Konflikt hast Du über mich heraufbeschworen! Mein Gefühl kämpft gegen meinen Verstand einen verzweifelten Kampf. Kann ich mich noch freuen, daß Du Dein Leben nicht in Gefahr bringen willst, wenn ich mir doch sagen muß, daß Deine Weigerung auf Dein ganzes zukünftiges Leben einen finsteren Schatten wirft?! Ich habe keinen Grund, Egon zu mißtrauen, auch habe ich ja selbst so viel Urteil, um einzusehen, daß er nicht übertrieben hat. Ja, das höchste Gut des Gentleman ist seine Ehre. O Kurt, wie furchtbar tragisch ist meine Lage. Ich liebe Dich. Dein Leben und Deine Gesundheit sind mir unendlich wertvoll, und doch zwingt mich gerade mein Interesse an Deinem Wohlergehen, Dir zuzurufen: O Kurt, wenn es noch nicht zu spät ist, fordere Deinen Beleidiger vor Deine Waffe! Um Deines und um meines Glückes willen tue es! Wie furchtbar grausam ist doch das Leben, und wie schwer müssen wir uns unser bißchen Glück erkämpfen. O Kurt, ich bin ja immer so stolz auf Deine Liebe gewesen. Egon hat mir immer gesagt, daß Deine Begabung, Deine Tüchtigkeit und Dein sittlich ernstes Streben Dir eine glänzende Karriere verbürgen, daß Du sicherlich einmal eine der höchsten Stellen im Staatsdienst erreichen würdest. O Kurt, wie oft klopfte mein Herz nicht hoch auf, wenn ich mir ausmalte, welche glänzende Stellung ich einmal an Deiner Seite einnehmen würde! Und nun soll sich diese stolze Hoffnung als trügerisch erweisen, nun willst Du Dich gleichsam in Schatten und Dunkelheit stellen! Wenn ich denke, daß sie Dich über die Achsel ansehen, Dich ausschließen und nicht mehr als vollberechtigt anerkennen werden, dann stockt mir das Blut, dann zittert mir das Herz. Lucie von Kranach, die Tochter des Oberst, wird mich nicht mehr kennen, Frau Hauptmann Krönig und Frau Leutnant von Westernhagen werden mich nicht mehr zu ihren Freundinnen zählen. Der Kreis der Offiziersgesellschaft und des höheren Beamtentums, der einzige, in dem ich verkehren könnte, wird uns hermetisch verschlossen sein. Ja, Kurt, mein eigner Bruder hat mir erklärt, daß ich zwischen ihm und Dir zu wählen haben werde, denn er könne keine Gemeinschaft mehr haben mit Dir und Deiner Familie, sobald Du Deine gesellschaftliche Ehre verloren habest. O Kurt, werde ich alles das ertragen können? Verfehmt, in Acht und Bann getan, abgeschlossen von allem, was mir lieb und teuer, ja, unentbehrlich ist, werde ich mich da anders als entsetzlich elend und unglücklich fühlen, ja, werde ich in solchen Verhältnissen überhaupt existieren können? Ich bin jetzt noch zu aufgeregt, um zu einem klaren Urteil und zu einem bestimmten Entschluß kommen zu können. Darum gehe ich fort und warte ab. Egon wird mir telegraphisch Nachricht geben und mich im übrigen aus dem Laufenden erhalten. Ich werde ja sehen, wie sich Deine Zukunft gestaltet und werde erwägen, was die Pflicht gegen mich selbst mir zu tun gebietet. Bis dahin lebe wohl, lieber Kurt! Welch ein schweres Verhängnis! Daß ich, gerade ich in einen so furchtbaren Zwiespalt des Gefühls und des Verstandes geraten mußte! Mit Zittern und Zagen erwarte ich die nächste Nachricht. Was werde ich erfahren? In Verzweiflung

Deine unglückliche
Nataly Böhl.«

Wie betäubt saß Kurt Ulrici eine ganze Weile und starrte mit wirren Augen auf die Schriftzüge nieder, die wenig von ihrer gewohnten Regelmäßigkeit und Zierlichkeit eingebüßt hatten, trotz des aufgeregten Gemütszustandes, in dem sich die Schreiberin doch befunden haben mußte. Er hatte die Empfindung, als zerrisse etwas in seinem Innern, als erstarre ein Gefühl in ihm, das bis dahin seine Brust mit belebender Wärme erfüllt hatte. Er preßte seine Zähne fest auseinander, um nicht vor Schmerz laut aufschreien zu müssen.

Plötzlich fuhr er heftig auf von seinem Stuhl, packte den eleganten duftenden Briefbogen und warf ihn zerknüllt in das ungestüm herausgerissene Mittelschubfach seines Schreibtisches.

Er wühlte mit der Hand in seinem Haar, machte ein paar hastige Gänge durchs Zimmer und stellte sich endlich an den Ofen, seine Arme über die Brust verschränkend. Ein kurzes, grelles Auslachen brach sich über seine zuckenden Lippen Bahn, seine Gesichtszüge verzerrten sich, und sein erhitztes Gehirn brütete verzweifelte, bittere Gedanken.

War das nicht ein unverblümter Absagebrief? Anstatt sich ihm, ohne zu überlegen, ohne zu schwanken, in dieser schweren Krisis seines Lebens treu zur Seite zu stellen, anstatt ihn mit ihrer Liebe für das, was er vielleicht verlor, zu entschädigen, machte sie sich einfach kaltherzig aus dem Staube, um allem Peinlichen aus dem Wege zu gehen. War das nicht rücksichtsloser Egoismus, krasseste Lieblosigkeit? An ihn dachte sie nicht, nur an sich. Was er bei ihrer Flucht empfinden mußte, das kümmerte sie nicht. Konnte er nun noch glauben, daß sie ihn liebte, daß sie ihn je geliebt hätte? Gestand sie nicht selbst in ihrem Brief, daß es Stolz und nicht Liebe gewesen, der sie veranlaßt hatte, seine Werbung anzunehmen? Sie liebte ihn nicht, seine Persönlichkeit nicht, sie liebte seine gesellschaftlich bevorzugte Stellung, und was sie mit ihm erstrebte, war nicht das stille, trauliche Glück der Liebe, sondern ein Leben voll Luxus und äußerem Glanz. Und während es sich für ihn um eine heilige Überzeugung, um die Erfüllung seiner Pflicht als Sohn und als Bürger, um den Kampf des guten Rechts, der Vernunft und Gesittung gegen ein blindes, veraltetes Vorurteil handelte, jammerte sie um den eventuellen Verlust der Freundschaft des Fräulein von Kranach und der anderen Offiziersdamen. Ja, sie hatte kein Herz, kein Gemüt, und die Triebfeder ihrer Empfindungen und Handlungen war allein kleinliche Eitelkeit, erbärmlicher Stolz. Er als Persönlichkeit bedeutete ihr nichts, und sobald sie erkannt haben würde, daß sie an seiner Seite nicht das rauschende, glänzende Gesellschaftsleben würde führen können, das sie mit allen Fibern ihres Wesens ersehnte, würde sie auch kein Interesse mehr für ihn empfinden ...

Aber nach dem Paroxismus der ersten heißen Empörung kamen weichere Regungen über den einsam Grübelnden und über den Zorn und die Entrüstung gewann der Schmerz und die Wehmut die Oberhand. Und aus der Tiefe seines Herzens stieg die Sehnsucht empor und richtete sich die Hoffnung auf. Es war ja nicht möglich, daß es nun zwischen ihnen beiden für immer aus sein sollte. Sie, die so heiße Erinnerungen verbanden, die einander so nahegestanden, konnten doch nicht so einfach auseinandergehen. Gewiß es war nur die erste durch die Reden des Staatsanwalts geschürte Angst und Aufregung, denen sie in dem Briefe Ausdruck gegeben. Fern von dem Einfluß ihres Bruders würde ihre edlere Natur, ihre ruhige, verständige Denkweise sich wieder Geltung verschaffen, würde sie ihren Gleichmut wiederfinden und sich aus ihre Liebe und auf ihre Pflicht besinnen ...


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