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IX

Es kamen Tage und Wochen, wie sie Kurt Ulrici nie vorausgeahnt und nie für möglich gehalten hätte. So viel Schatten und Düsterheit während der letzten Jahre auf seinem Leben gelegen, so viel Licht und Sonnenschein bestrahlte ihn jetzt, im wirklichen und im übertragenen Sinne des Wortes. Wie sollten Melancholie und Menschenscheu noch länger bestehen, wenn Tag für Tag das lieblichste Mädchenantlitz ihm freundlich zulächelte, wenn wieder und wieder das helle, lustige Lachen des reizendsten Mädchenmundes in sein Ohr tönte und alle seine Grillen sieghaft verscheuchte?

Da der alte Oberst schlecht zu Fuß war und am liebsten in seinem Lehnstuhl im Vorgarten der Villa oder in der Veranda des Kurhauses saß, so hatte Gertrud Hammer sich den Rechtsanwalt zum ständigen Begleiter erkoren. Ganze Nachmittage verbrachten die beiden miteinander, entweder Ausflüge in die herrliche Waldumgebung von Heringsdorf zu Fuß unternehmend, oder auf der See im Segel- oder Ruderboot, die Kurt Ulrici beide gut zu führen verstand. Es war ein Leben so sorglos, so heiter-schön, daß Kurt Ulrici sich oft wie im Traum vorkam. Er wunderte sich am meisten über sich selbst. War er nicht wieder jung, wieder froh, wieder glücklich geworden? Wo war der düstere, scheue Ausdruck in seinem Gesicht geblieben, wo seine Schwerfälligkeit, seine ewig schlechte Laune, seine Unlust, sich unter heitere Menschen zu mischen? Er hatte nicht nur lächeln, er hatte wieder lachen gelernt. Seine Bewegungen waren wieder frisch, elastisch geworden, und wenn er auf der Strandpromenade oder auf der langen, weit in die See hinausgebauten Kaiser-Wilhelm-Brücke an Gertruds Seite sich zwischen dem zahlreichen Publikum bewegte, so verursachte das Gewirr der auf und ab schreitenden Menge ihm weder Beklemmung noch quälende Mißstimmung. Er fand wieder Vergnügen an harmlosen Dingen und Belustigungen, die weit hinter ihm lagen. Er lachte, er ruderte, er lief sogar mit Gertrud um die Wette, als sie beide eines Tages einen mühsam erklommenen Berg nebeneinander wieder hinabeilten. Er spielte mit ihr Krocket und Lawn Tennis und konnte sich ehrlich freuen, wenn es ihm gelungen war, als Sieger aus dem Spiel hervorzugehen.

Einmal war Gertrud durch eine leichte Erkältung an das Zimmer gefesselt und Kurt Ulrici verlor für diesen einen Nachmittag die Gesellschaft seiner getreuen, liebenswürdigen Begleiterin. Er hatte sich für den Nachmittag eine Partie nach dem Langen Berg vorgenommen, und zwar wollte er den größten Teil des Weges zu Wasser zurücklegen. Aber das Segeln erfreute ihn heute nicht, das herrliche Seepanorama, in das er sich sonst bewundernd mit allen Sinnen zu versenken pflegte, kam ihm langweilig und monoton vor, und aus halbem Wege machte er wieder kehrt. Er brachte sein Boot an den Strand und die Strandpromenade kreuzend, die ihm mit ihrem Menschengewimmel heute unleidlich vorkam, drang er in den Wald. Hier warf er sich an einem einsamen Plätzchen der Länge nach auf die Erde, und in die luftige blaue Höhe über sich starrend, vertiefte er sich in ein emsiges Nachdenken über sich und seinen Zustand. Warum plötzlich wieder diese Unlust und Schwermut? Warum erschien ihm auf einmal wieder alles grau in grau? Warum diese siedende Unruhe in ihm? War es, weil ihm Gertrud fehlte? War sie ihm zu seinem Wohlbefinden notwendig?

Mit einem Ruck schnellte der Grübelnde in die Höhe, ein heißer Schauer durchrann ihn und seine Pulse pochten stürmisch. War er auf dem Wege, sich für das bewunderte, liebreizende Geschöpf wärmer zu interessieren, als für seine Ruhe gut war? Liebte er sie etwa?

Brennende Vorwürfe wurden in ihm laut. während er über diese Frage nachsann und über seine Empfindungen ins Klare mit sich zu kommen strebte. Wäre es nicht besser gewesen, zurückhaltender und vorsichtiger zu sein und sich nicht wie ein unüberlegter Jüngling von zwanzig Jahren in ein Abenteuer zu stürzen, das nimmermehr ein gutes Ende nehmen konnte?

Aber diesen ängstlichen Erwägungen des nüchternen Verstandes traten die heißen Wallungen des hochklopfenden Herzens entgegen. Um keinen Preis mochte er die letzten Wochen in seiner Erinnerung missen. War sein Leben nicht leer, trocken und schal genug gewesen? Schlummerte in ihm nicht auch noch ein Rest des Sehnens nach Poesie, nach Freude und Lust, ein Rest des Glückverlangens, das jedes Menschen Brust hob und dehnte?

Daß er an diese kurze Episode, die bald, ach, nur zu bald vorüberschwand, Hoffnungen und Wünsche knüpfte, die unerfüllbar waren, davon freilich konnte keine Rede sein. Denn wenn wirklich die Liebe noch einmal Triebe in seinem erstarrten Herzen zeitigen sollte, so durfte das Mädchen seiner Wahl nicht den Gesellschaftskreisen Oberst Hammers angehören. Nein, er war Mannes genug, sich nicht trügerischen Illusionen hinzugeben und unstatthafte Regungen energisch in sich niederzukämpfen und zu ersticken. Aber würde es nicht eine unnütze Grausamkeit gegen sich selbst sein, wenn er sich der paar Tage glücklichen Selbstvergessens, harmloser Daseinsfreude, die ihm noch blieben, unnötig selbst beraubte? Wenn er erst wieder in der Stadt war, verbot sich ein so zwangloser, reger Verkehr von selbst. Und dann würde es auch nicht schwierig sein, seine Beziehungen zu dem Obersten und seiner Tochter allmählich zu lockern und endlich wieder ganz abzubrechen.

Es war ein paar Tage später, als Kurt Ulrici und Gertrud Hammer ihre geplante Wasserpartie nach dem Langen Berg zur Ausführung brachten. Es war ein heißer Tag und die schwache Brise blähte die Segel so wenig, daß Kurt zu den Rudern greifen mußte. Gertrud saß am Steuer und kam sich sehr wichtig vor in ihrer Tätigkeit. Es wurde wenig gesprochen; das Herz des Ruderers klopfte bang und schnell, nicht nur unter der körperlichen Anstrengung. Es war der letzte größere Ausflug, den er mit dem lieben Mädchen unternehmen würde, denn schon in wenigen Tagen war seine Ferienfrist abgelaufen. Rudernd und segelnd brauchten sie mehr als eine Stunde, bis sie in den Kanal einfuhren, durch den sie in den Gothensee gelangten. Hier stellten sie das Boot ein und brachen von da zu Fuß nach dem Langen Berg aus, den sie in einer halben Stunde erreichten. Auf der Höhe bot sich ihnen ein wunderbarer Blick auf die See, deren Wellen im Sonnenschein wie flüssiges Silber glitzerten. Eingefaßt wurde das entzückende Panorama von dem jenseitigen Ufer des Haffes, Anklam, Wolgast, der Greifswalder Oie und den Inseln Rügen und Wollin.

»Wie schön! Wie schön!« flüsterte das junge Mädchen enthusiastisch, mit glänzenden Augen an dem wunderbaren Bilde hängend.

»Wie schön! Wie schön!« klang es wie ein Echo in des Mannes Brust, dessen Blicke sich verstohlen an den entzückten Mienen des holden blonden Geschöpfes an seiner Seite labten.

Da fuhr plötzlich ein heftiger Windstoß durch die Bäume des Buchenwaldes, der bis zur Höhe des Langen Berges hinaufreichte. Zugleich bemerkte Kurt Ulrici, daß graue Wolken am Horizont auftauchten.

»Wir müssen uns beeilen,« mahnte er, »wenn wir noch trocken nach Hause kommen wollen!«

Sie stiegen eilends herab. Fischer aus dem nahen Dorfe Bansin, die ihre Boote fester verankerten, warnten vor der Fahrt. Aber Kurt Ulrici hoffte, bei dem kräftigen Winde, der sich erhoben hatte, in kürzester Zeit Heringsdorf zu erreichen, lange bevor noch das drohende Gewitter zum Ausbruch kommen könnte. Und in der Tat, das Boot flog unter den sich blähenden Segeln wie ein Pfeil dahin. Aber als man vom Kanal in die See einbog, zeigte sich, daß Kurts Berechnung falsch gewesen. Schon hatte sich das Bild am Firmament wesentlich geändert. Schwarze Wolken kamen mit rasender Eile herauf und vereinigten sich über der See zu turmhohen, drohenden Gebilden. Und nun zerriß plötzlich ein feuriger, bläulicher Strahl die Finsternis zu ihren Häupten, und ein dumpfer, grollender Donner folgte.

Gertrud Hammer, die wie vorher am Steuer saß, heftete einen fragenden, ängstlichen Blick auf ihren Begleiter. Ernste Besorgnis spiegelte sich in seinen Mienen.

»Nun hat uns das Gewitter doch überrascht!« sagte er, »und ich muß mir Vorwürfe machen, daß ich nicht auf die Warnung der Fischer hörte.«

»Ich fürchte mich nicht«, tröstete sie ihn und lächelte ihm zu.

Er warf einer dankenden und bewundernden Blick auf sie und erhob sich.

»Wir wollen die Segel einziehen,« sagte er, »und wenden. Im Kanal ist keine Gefahr.«

Aber da brauste plötzlich ein so rasender Windstoß über sie dahin, daß er sofort wieder zurücktaumelte. Dazwischen das Geknatter und Gefunkel der Blitze, das Rollen des Donners. Das kleine Boot tanzte aus den empörten Wellen, die immer höher gingen, wie eine Nußschale.

Noch einmal versuchte Kurt Ulrici, das Segel zu reffen. Aber seine Kraft reichte nicht aus. Der Wind hatte sich zu fest in das Stück Leinwand gesetzt. Blaß, aber ruhig schaute ihm Gertrud zu.

»Wir können nicht zurück«, rief Kurt Ulrici und setzte sich neben sie, um das Steuer zu ergreifen. Immer wütender tobte der Sturm, immer schneller hintereinander zuckten die Blitze.

»Halten Sie sich gut fest, Gertrud!« rief er ihr zu. »Armes Kind!« fügte er halblaut, wie zu sich selbst hinzu.

Totenbleich saß sie da, aber ihre Augen blickten ihn voll gläubigen Vertrauens an.

»Ich fürchte mich nicht«, murmelten ihre zitternden Lippen.

»Tapfres Kind!« sagte er und seine Linke legte sich schützend um sie, während er mit der Rechten das Steuer hielt.

In rasender Eile jagte das Boot vorwärts, jetzt hoch auf der Spitze der Wogen balancierend, jetzt wieder hinabgleitend mit den abstürzenden Wellen, so daß man glaubte, es könne nie wieder zum Vorschein kommen.

Es war ein Gefühl grimmigen Behagens, das Kurt Ulrici durchpulste. Nun war sie doch sein, nun ruhte sie ergeben an seinem Herzen und niemand hatte die Macht, sie ihm zu entreißen. Die Natur selbst hatte sie in seine Arme geführt. Unwillkürlich preßte sich sein Arm fester um sie; widerstandslos, Schutz suchend schmiegte sie sich an ihn und legte ihr Köpfchen an seine Schulter.

Er beugte sich herab und küßte sie auf die Stirn.

»Mein süßes, geliebtes Mädchen!« flüsterte er ihr zu.

Sie erwiderte nichts; aber ihr Blick ruhte innig fest in dem seinen und über ihre blassen Züge breitete sich ein glücklicher, verklärender Schimmer.

Wie ein Rausch erfaßte es ihn; trotz Sturm und Wetter glühte es heiß in seinen Adern; seine Lippen preßten sich für einen kurzen seligen Moment zuckend auf die ihren. Fast triumphierend klang seine Stimme, als er jetzt sagte: »Wenn wir sterben, so sterben wir miteinander, Gertrud – du und ich!«

Er fühlte, wie sie in seinem Arm zusammenschauderte und er sah, daß eine Träne an ihren Wimpern hing.

»Armer Papa!« hauchte sie schwach.

Er reckte sich straff in die Höhe, als habe ihn eine Faust plötzlich am Genick gepackt und ausgerüttelt. Das Wort hatte ihn ernüchtert, der Taumel wich und er wurde sich wieder seiner Pflicht bewußt, um ihr Leben zu kämpfen.

»Mut!« raunte er ihr zu und faßte das Steuerruder fester. »Mut!«

Er sah forschend um sich. Da blickte der Kulm mit seinen Villen herüber und dort tauchte die Landungsbrücke von Heringsdorf aus. Gottlob, daß sie weit genug aus hoher See trieben, um nicht gegen den vor der Brücke aufgeführten steinernen Wogenbrecher geschleudert zu werden. Solange der Sturm toste, konnte an eine Landung nicht gedacht werden. Rettung konnte ihnen nur ein größeres Fahrzeug bringen, das sich ihrer erbarmte. Aber wer sollte die von den turmhohen Wogen verdeckte Nußschale sehen! Jeder Augenblick aber konnte ihnen Verderben bringen. Ihr Leben hing von der Gunst der Sekunde ab und es war fast ein Wunder, daß die tosende See sie mitsamt dem kleinen Nachen noch nicht verschlungen hatte.

Nun kamen sie aus die Höhe von Ahlbeck. Da öffneten sich mit einem Male die Schleusen des Himmels und ein furchtbarer Regen ging nieder. Es war wie eine Sündflut und im Nu waren die schutzlosen Insassen des kleinen Bootes naß bis auf die Haut. Gertrud hatte nur ein kurzes, dünnes Cape um ihre Schultern, das vor dem Anprall der sich auf sie ergießenden Regenmassen nicht mehr Schutz gewährte wie ein Blatt Papier.

Wieder zog Kurt Ulrici das geliebte blonde Mädchen an sich in dem unwillkürlichen Streben, sie zu schützen. Ihr Mut schien gebrochen. Schwer atmend, mit geschlossenen Augen, halb ohnmächtig, ruhte sie an seiner Brust.

Ein unendliches Weh durchzuckte sein Herz. Voll Verzweiflung blickte er nach Hilfe aus. Aber nichts – nichts! Er hatte nicht das Bewußtsein von dem, was er tat, als er nun in seiner Herzensnot süße, kosende, tröstende Schmeichelworte in ihr Ohr raunte und seine warmen Lippen wieder und wieder auf ihre bleichen, kalten Wangen drückte.

Ebenso plötzlich und heftig wie der Gewitterregen gekommen, ebenso plötzlich ließ er auch nach. Und auch die Kraft des Sturmes schien gebrochen, wenn auch die aufgepeitschten Wellen noch berghoch gingen.

Kurt Ulrici atmete auf und von neuer Hoffnung belebt, hielt er nach dem Strande zu. Vielleicht, daß die Fischer von Ahlbeck sein Boot bemerkten und ihm zu Hilfe kamen. Wohl ein halbes Dutzend kräftiger Gestalten sah er am Strande tätig und ihrer noch mehrere eilten zum Strand, um jetzt, wo das Unwetter sich ausgetobt hatte, nach ihren Booten zu sehen und den vom Sturm angerichteten Schaden sogleich auszubessern.

Und nun gewahrte sein aufleuchtender Blick, wie ein paar der wetterfesten Gestalten mit dem Südwester auf dem Kopf und den langen wasserdichten Stiefeln an den Beinen zusammentraten, auf die See hinausdeuteten und sich eifrig miteinander zu besprechen schienen. Tatkraft und Entschlossenheit belebte plötzlich die Männer. Vier stramme, wackere Gesellen wateten nach einem der am Strande schaukelnden Fischerboote, machten es vom Anker los und sprangen hinein. Und nun legten sie sich mit aller Kraft in die Ruder und das Boot schoß wie eine Möwe über die Wellen, den beiden Schiffbrüchigen entgegen.

»Gerettet!« jauchzte Kurt Ulrici dem geliebten Mädchen zu. »Sieh, dort kommen sie, uns zu holen! Meine liebe, süße Gertrud! Mein angebetetes, schönes Lieb!«

Im Überschwang seines Entzückens zog er sie fest an sich und küßte die sich ihm willig bietenden Lippen noch einmal mit dem Feuer seines ungestüm hervorbrechenden Gefühls.


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