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VI

»Du bist so merkwürdig einsilbig und zerstreut, Kurt«, sagte Frau Ulrici, als ihr Sohn ihr beim Mittagessen gegenübersaß. »Und warum langst du denn gar nicht zu? Schmeckt es dir denn nicht?«

»Verzeihung, Mama!« Der Assessor bemühte sich mit gewaltiger innerer Anstrengung ruhige Gelassenheit zu heucheln. »Die Trennung von Nataly –«

»Trennung? Ist deine Braut plötzlich verreist?«

»Ja. Ihre Tante in Berlin ist schwer erkrankt und verlangte nach ihr.«

»Und da sagt sie mir nicht einmal Adieu?«

»Sie läßt sich entschuldigen, Mama. Die Abreise fand so plötzlich statt – heute in aller Frühe. Da mochte sie dich nicht stören ...«

Auch während der nächsten Tage und Wochen mußte Kurt Ulrici noch oft zu einer Notlüge seine Zuflucht nehmen, um seiner Mutter den wahren Stand der Dinge zu verbergen und ihr Aufregungen und seelische Erschütterungen zu ersparen. Trotz aller Bemühungen wäre ihm das wohl kaum in vollem Umfange gelungen, wenn ihn nicht der Umstand begünstigt hätte, daß seine Mutter ihrer zarten Gesundheit wegen ein außerordentlich zurückgezogenes Leben führte. Die wenigen Personen, mit denen sie gelegentlich in Berührung kam, hatten entweder kein Interesse oder kein Empfinden für die stille, einem oberflächlichen Beobachter kaum sichtbare Veränderung in dem äußeren und inneren Leben des jungen Mannes, oder sie hüteten sich taktvoll, die alte Dame in Mitleidenschaft zu ziehen.

Desto empfindlicher machte sich dem Assessor selbst der Umschwung von einst und jetzt fühlbar, und er litt mehr darunter, als er sich selbst eingestehen wollte. Gerichtlich zwar war Leutnant von Minkwitz der Verurteilte. Ein scharfer Verweis seitens des Regimentskommandeurs und ein Stubenarrest von vierzehn Tagen war für den Leutnant die Folge von Kurt Ulricis gerichtlicher Klage gewesen. Aber gesellschaftlich war nicht der Beleidiger, sondern der Beleidigte der Verurteilte. Das Nächste war, daß von seiten des Landwehrbezirkskommandeurs das ehrengerichtliche Verfahren gegen ihn eröffnet wurde. Von den Kameraden der Reserve und Landwehroffizierskorps seines Bezirks wurde ein Ehrengericht abgehalten, und der Spruch desselben entzog ihm seine militärische Charge und das Recht des Tragens der Reserveoffiziersuniform.

Und dieser offiziellen Verurteilung seines Verhaltens folgte die private, stille Ächtung, die zwar meist nur durch Mienen und Gesten, durch Schweigen und Unterlassungen zum Ausdruck kam, die aber um so empfindlicher war, als er sich ihren Äußerungen fast täglich ausgesetzt sah, und als es kein Mittel gab, sich ihnen zu entziehen. Es waren kleine Nadelstiche, die scheinbar nur oberflächlich die Haut ritzten, die aber doch empfindlich schmerzten, die seine Nerven irritierten und seine Widerstandskraft und Ausdauer aus eine harte Probe stellten.

Auch in seine amtlichen Beziehungen griff der doch ganz private Vorfall ein. Bisher hatte Kurt Ulrici mit allen seinen Kollegen auf dem besten Fuße gestanden; jetzt sprach niemand in den Büros der Regierung mehr ein freundliches Wort mit ihm; die unumgänglichen amtlichen Mitteilungen wurden in kurzer, knapper, rein dienstlicher Form gegeben. Auch seine Vorgesetzten, die den fleißigen und begabten Gehilfen bisher durch ihr besonderes Wohlwollen ausgezeichnet hatten, begegneten ihm jetzt mit kühler Zurückhaltung und mit strenger amtlicher Miene. Ja, selbst seine Untergebenen sahen ihn verstohlen, mit lauernden, fragenden Blicken an, in denen sich eine Nuance von Geringschätzung ausdrückte, und sie legten seinen amtlichen Anweisungen und Befehlen gegenüber eine Lässigkeit und Gleichgültigkeit an den Tag, die scharf abstach gegen den ihm früher stets entgegengebrachten Respekt und Diensteifer.

Eines Tages ließ ihn der Herr Präsident in sein Dienstzimmer rufen und legte ihm die Frage vor, ob er nicht wünsche, in eine andere Verwaltung überzugehen.

Als Kurt Ulrici mit ruhiger Miene verneinte, bemerkte er, den ihm Gegenüberstehenden mit unwilligem Erstaunen betrachtend:

»Ich dachte, einem Wunsche von Ihnen entgegenzukommen, indem ich annahm, daß Ihnen das längere Verweilen auf Ihrem hiesigen Posten unbequem und peinlich sein müßte. Nun, wie Sie wollen.«

Und der hohe Beamte entließ ihn mit mißbilligendem Stirnrunzeln und einem höchst ungnädigen kurzen Kopfnicken.

Kurt Ulrici wappnete sich mit dem Trotz und der Widerstandskraft seines guten Gewissens gegen die Wirkungen, die die gesellschaftliche Verfemung auf ihn ausüben wollte. Er steckte eine unbekümmerte, geringschätzig lächelnde Miene aus, wenn bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße seine Kollegen und Bekannten ein eisiges, hochmütiges Gesicht machten, starr geradeaussahen und an ihm vorübergingen, ohne die geringste Notiz von ihm zu nehmen. Er tat, als bemerkte er nicht, wenn Dr. Stamm, sein ehemaliger intimster Freund, einen großen Bogen um ihn beschrieb, um ihm nicht begegnen zu müssen.

Seine Besuche im Hotel zum Kronprinzen und im Restaurant Heckenthal gab er auf; seine Spaziergänge machte er allein oder in Begleitung seiner Mutter; seine ganze übrige freie Zeit brachte er zu Hause zu. Um nicht den Argwohn der ahnungslosen alten Dame zu erregen, zwang er sich in ihrer Gegenwart zu einem heiteren, aufgeräumten Wesen, das zu seinem Gemütszustand im grellen Kontrast stand.

Dennoch fragte ihn seine Mutter eines Tages besorgt, warum er sich denn plötzlich von allem Verkehr zurückzöge. Für einen jungen Mann in seinen Jahren und von seiner sozialen Stellung seien gesellige Zerstreuungen geradezu eine Notwendigkeit.

»Wie, Mama,« antwortete er in heiterem Scherzton, während er innerlich zuckte, wie unter der Berührung einer schmerzhaften Wunde, »du beklagst dich, daß ich deine Gesellschaft dem Wirtshausbesuch vorziehe? Übrigens rechne ich mich nicht mehr zu den jungen Leuten, die ihre Zeit vertändeln dürfen. Es ist Zeit, daß man einmal mit der Jugend abschließt. Ich habe eine wissenschaftliche Arbeit vor – ja, ja, Mama! Und Gesellschaften zu besuchen, widerstrebt mir, solange Nataly abwesend ist.«

Freilich, er hätte kaum Gelegenheit gehabt gesellschaftlichen Verkehr zu pflegen. Denn zu dem Kasinoball erhielt er zum ersten Male seit Jahren keine Einladung, und seine sämtlichen verheirateten Kollegen und Vorgesetzten übergingen ihn wie auf Verabredung, so oft sie zu einer Gesellschaft Einladungen ausschickten. Nur zum Logenball – derselbe fand vier Wochen nach der Kasinofestlichkeit statt – ging ihm das übliche Einladungsschreiben zu. Der Vereinsamte, Geächtete fühlte sich wie von einem Sonnenblick berührt. Gottlob, es gab doch noch Menschen, die sich einem sinnlosen Vorurteil nicht unterordneten und die Unabhängigkeitsgefühl und geistige Selbständigkeit genug besaßen, um sich offen zu ihrer Überzeugung zu bekennen und sich von kleinlichen Bedenken nicht unterjochen zu lassen.

In seiner verdüsterten, krankhaft empfindlichen, gereizten Seelenstimmung empfand er die Einladung des Vorstandes der Loge wie eine Art Rehabilitierung und in dem freudigen Hochgefühl, das ihn angesichts der elegant ausgestatteten Einladungskarte durchströmte, beantwortete er das übliche U. A. w. g. mit einem herzlich bejahenden Schreiben. Freilich, ein paar Tage später, als er seinen Entschluß noch einmal in ruhiger Gemütsverfassung überlegte, wollte ihm bedünken, als ob er voreilig gehandelt habe. An Stelle des ersten seelischen Ausschwunges und der freudig gehobenen Stimmung war lähmendes Bedenken und ein niederziehender Kleinmut getreten. Wie wenn die Einladung nur der formellen Höflichkeit wegen an ihn gerichtet war und man seine Absage als selbstverständlich erwartet hatte? Vielleicht lag auch nur ein Versehen des Sekretariats vor, und er hatte lediglich einer Vergeßlichkeit zu danken, daß er nicht von der Liste gestrichen war. Würde er nicht dem Vorstande peinliche Verlegenheiten bereiten und sich selbst neuen bitteren Erfahrungen und Demütigungen aussetzen? Aber auch diese Stimmung hielt nicht vor und wurde wieder von einer trotzigen Kampfeslust abgelöst. Sollte er sich selbst desavouieren und durch sein Nichterscheinen gleichsam erklären, daß er sich nicht für würdig halte, der an ihn ergangenen Einladung Folge zu leisten? Sollte er selbst gleichsam das Verdikt seiner Standesgenossen bestätigen, das ihn für ehrlos erklärte, für einen Menschen, der nicht das Recht hatte, sich unter Ehrenmännern zu zeigen? Sollte er sich den Anschein eines schlechten Gewissens geben?

Nein, tausendmal nein! Er war nicht der Mann, der sich mutlos selbst aufgab. Er erkannte nicht an, daß er Grund habe, sich scheu vor der Berührung mit seinen Mitbürgern zurückzuziehen. Stolz, mit erhobenem Haupte wollte er unter sie treten und dem lächerlichen Hochmut seiner Gegner trotzig die Stirn bieten. Dennoch klopfte ihm das Herz nichts weniger als freudig, als er, eine gelassene Miene heuchelnd, den Logenball betrat. Das bürgerliche Element war bei weitem vorherrschend, und nur etwa ein halbes Dutzend Uniformen unterbrachen die Eintönigkeit der schmucklosen, einfachen schwarzen Fracks.

Das Erscheinen des gesellschaftlich geächteten Assessors wirkte auf einen Teil der Gäste wie ein Alarmsignal. Die Offiziere traten zugleich zusammen und hielten eine kurze Beratung ab. Dann begab sich der Älteste von ihnen zu dem dem Logenvorstand angehörenden Leiter des Balles und richtete leise einige wenige Worte an den bestürzt aufhorchenden Herrn. Die übrigen Offiziere machten ihre Verbeugung, und demonstrativ verließen alle sechs in Korpore den Saal.

Das war ein Flüstern und Staunen, ein unruhiges, ängstliches Aufblicken der jungen Damen, die bereits den einen oder anderen Namen der Offiziere auf ihrer Tanzkarte hatten. Gerade die Herren Offiziere waren die schneidigsten und ausdauerndsten und deshalb beliebtesten Tänzer.

Der Tanz, der in diesem kritischen Moment aufgespielt wurde, machte vorläufig weiteren Störungen ein Ende. Kurt Ulrici biß die Zähne aufeinander, während es ihn innerlich kalt und heiß durchschauerte, als sich plötzlich so viele unwillig erstaunte, ärgerliche Blicke auf ihn richteten. Er gab sich den Anschein, als bemerke er nichts, und mit verbindlich lächelndem Gesicht schritt er auf eine der erwartungsvoll nach Tänzern ausschauenden jungen Damen zu. Er stieg ein paar Stufen der sozialen Leiter herab, um ganz sicher zu sein, keinen Korb zu erhalten. Es war die Tochter eines bescheidenen Materialwarenhändlers, die er zum Tanz aufforderte, und das Fräulein folgte vor Stolz und Freude errötend der Aufforderung des Negierungsassessors.

Auch die nächsten zwei Tänze durchtanzte Kurt Ulrici mit einem Eifer und einer Hingabe, als hielte er das Tanzen für eine der wichtigsten Angelegenheiten des Lebens. Es war, als wenn er sich betäuben wollte, als wenn er von dem, was um ihn vorging, nichts sehen und nichts hören wollte. Doch die ganz ungewöhnliche Unruhe, die sich im Saale und in den anstoßenden Räumen bemerkbar machte, konnte ihm trotzdem auf die Dauer nicht verborgen bleiben, und es entging ihm nicht, daß etwas gegen ihn im Werke war. Eine sich stetig vergrößernde Schar von Herren gruppierte sich um Kurt Ulricis Kollegen von der Regierung, die eifrig auf die sie Umringenden einsprachen und offenbar die Unentschlossenen zu irgendeiner Kundgebung aufzustacheln sich bemühten. Ja, sogar die jungen Damen begannen Gruppen zu bilden und sich lebhaft miteinander zu besprechen. Er bemerkte allenthalben erhitzte Gesichter, zornige und ärgerliche Mienen.

Kurt Ulrici verließ den Tanzsaal und zog sich nach dem Restaurationszimmer zurück. Hier nahm er an einem leeren Tisch Platz und bestellte sich eine Flasche Wein. Am liebsten freilich hätte er dem ganzen Logenball den Rücken gekehrt, aber er zwang sich zum Aushalten. Sollte er sich von der lächerlichen Entrüstung seiner Gegner imponieren oder gar in die Flucht schlagen lassen? Er wollte doch sehen, wie die Sache sich weiter entwickeln würde.

Die Wirkung des Weines, von dem er schnell hintereinander zwei, drei Gläser leerte, half ihm sein Unbehagen zu überwinden und sich in eine humoristisch angehauchte Stimmung zu versetzen, in der er das ganze wie einen Karnevalsulk, wie eine Tragikomödie, die mehr komisch als tragisch war, ansah.

Da kam plötzlich, gerade als Kurt beim vierten Glase war, ein würdiger, älterer Herr auf ihn zugeschritten, den das Abzeichen auf seinem Frackaufschlag als einen der Herren des Vergnügungsausschusses legitimierte. Kurt Ulrici kannte den Herrn sehr wohl; es war der Apothekenbesitzer Fahlisch, der eines der Ehrenämter in der Loge bekleidete.

Mit der liebenswürdigsten Miene der Welt trat Herr Fahlisch an Kurts Tisch heran und streckte ihm mit verbindlicher Gebärde die Hand entgegen.

»'n Abend, Herr Assessor! Ist's erlaubt?«

»Bitte! Sehr angenehm!« entgegnete der andere höflich, während das Ball-Komiteemitglied einen Stuhl heranzog und sich an dem Tisch niederließ.

»Na, wie amüsieren Sie sich, Herr Assessor?« setzte der Apotheker zu einer Unterhaltung an.

»Ich danke – sehr gut.«

»So – hm! Aber Sie tanzen ja gar nicht, Herr Assessor.«

In Kurt Ulrici regte sich eine leise Unruhe! Was mochte das Komiteemitglied von ihm wollen? Handelte es sich nur um eine einfache kurze Höflichkeitsunterhaltung oder hing sein plötzliches Erscheinen mit der gegen ihn herrschenden Gärung zusammen?

Äußerlich zeigte der Assessor eine unbekümmerte, lächelnde Miene, und humoristisch entgegnete er: »Ich gönne mir nur eine kleine Pause, Herr Fahlisch. Dann soll's wieder losgehen – mit neugestärkten Kräften.«

Das Komiteemitglied schien nichts weniger als erfreut von dieser Erklärung. Von seinem Gesicht schwand mit einem Male das verbindliche Lächeln; er reckte und zog an seiner Halsbinde, als würde ihm der Atem knapp; er besah sich angelegentlich die Nähte seiner schönen weißen Ballhandschuhe, räusperte sich einige Male und ging dann plötzlich auf ein anderes Thema über. »Unsere jungen Damen sind ganz rabiat, Herr Assessor.«

»Was Sie sagen!«

»Ja. Sie können sich ja denken – die Herren Offiziere haben doch nun einmal bei unseren Tänzerinnen einen Stein im Brett. Fräulein Brausendorf, die Tochter des Amtsgerichtsrats, hat einen Nervenanfall bekommen.«

»O, das tut mir sehr leid.«

»Ja, und nun droht eine Anzahl von Herren, und noch dazu gerade die schätzenswertesten Tänzer und Gesellschafter, den Ball zu verlassen. Nun stellen Sie sich meine Lage vor, Herr Assessor! Machen die Herren ihre Drohung wahr, so können wir mit dem Konter und Kotillon getrost einpacken. Ein Ball ohne Kotillon – ich bitte Sie, das ist ja geradezu unerhört. Eine Blamage ersten Ranges! Es kommt uns ja künftig keine Dame mehr zu unseren Bällen.«

Der Apotheker zog sein Taschentuch und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich spreche Ihnen mein tiefstes Bedauern aus, Herr Fahlisch«, bemerkte Kurt Ulrici ironisch. »Ich begreife voll und ganz den Ernst der Situation.«

Sogleich klärte sich das Gesicht des Komiteemitglieds aus; ein Hoffnungsleuchten ging über seine erhitzten Züge.

»Ich danke – danke Ihnen, Herr Assessor«, rief der Apotheker ekstatisch, und es schien ihm ein Stein vom Herzen zu fallen.

»Ich hab's ja gleich gesagt: der Herr Assessor ist ein rücksichtsvoller, vernünftiger Mann. Sehen Sie, Herr Assessor –« der Sprechende dämpfte seine Stimme vorsichtig, während er sich zugleich in die Brust warf und mit seiner Rechten beteuernd aus den steif geplätteten Brusteinsatz seines Vorhemdes pochte: »Keine Macht der Erde würde uns bewegen können, eine Einladung, die wir einmal haben ergehen lassen, zurückzunehmen. Keine Macht der Welt! Und solange Sie unser Gast sind, Herr Assessor, soll Ihnen niemand zu nahe treten, niemand! Es fällt uns ja gar nicht ein, irgendeinen Zwang auf Sie ausüben zu wollen, mein verehrtester Herr Assessor, um so weniger als wir ja –« das Komiteemitglied beugte sich noch weiter hinüber und sprach in noch leiserem Flüsterton weiter – »als wir ja ganz aus Ihrem Standpunkt stehen und als Sie nach wie vor unsere vollste Hochachtung besitzen. Natürlich, einen unliebsamen Eklat würden wir gern vermieden sehen, und deshalb würden Sie uns zu aufrichtigem Dank verpflichten, wenn Sie freiwillig – aus eigner Entschließung –« Der Assessor machte eine Bewegung, um sich zu erheben. Der Apotheker aber packte ihn eifrig am Unterarm und hielt ihn zurück.

»Nicht doch, Herr Assessor! Jetzt nicht! Das könnte ja so aussehen, als ob ich Sie ? – Man beobachtet uns und ich möchte um keinen Preis der Welt, daß man glaubt, daß Sie unter irgendeinem Druck – nein! Beileibe nicht! Das wollen wir nicht! ...«

Herr Fahlisch sah sich um, rief einen Kellner herbei und ließ sich ein leeres Weinglas geben, während Kurt Ulrici wie erstarrt dasaß und mechanisch zusah.

»Sie gestatten doch, Herr Assessor«, sagte Herr Fahlisch und schenkte sich aus Kurts Flasche das halbe Glas voll.

»Prost, Herr Assessor!«

Er ließ sein Glas an das des jungen Mannes anklingen, dessen Wangen die Glut der Scham und Entrüstung bis zur Stirn färbte und der dem diplomatischen Komiteemitglied am liebsten den Inhalt seines Glases ins Gesicht geschüttet hätte.

»So, Herr Assessor!« nahm Herr Fahlisch noch einmal das Wort. »Nun leeren Sie Ihre Flasche in aller Ruhe und ohne alle Überstürzung und dann ohne alles Aufsehen – na, besten Dank, Herr Assessor, und gestatten Sie mir noch einmal die Versicherung meiner vollen Hochachtung.«

Er dienerte und verschwand mit strahlendem, pfiffig lächelndem Gesicht, offenbar in dem erhebenden Bewußtsein, sich mit ebensoviel Geschick wie Würde aus einer der schwierigsten Situationen seines Lebens gezogen zu haben.

Kurt Ulrici aber sprang empört von seinem Stuhl auf, um, ohne die gewünschte Frist zur Markierung eines freiwilligen Entschlusses einzuhalten, den gastlichen Räumen der Loge den Rücken zu kehren. Er achtete nicht der neugierigen, schadenfrohen Blicke, die ihm folgten; wie ein Nebel lag es vor seinen Augen, und er handelte rein mechanisch, wie bewußtlos, als er nun in den Garderobenraum eilte, sich Hut und Mantel geben ließ und in wilder Aufregung in die Nacht hinausstürmte.

Kurz vor seiner Wohnung kam er zur Besinnung. Er blickte auf seine Ahr. Kaum elf! Seine Mutter war womöglich noch wach. Er würde ihren Argwohn, ihre Sorge erregen. Sie würde nach dem Grunde seiner so frühen Heimkehr in ihn dringen. Nein, nein! Nur jetzt nicht sprechen, jetzt nicht Rede stehen müssen!

Er schwenkte von der Straße ab und eilte weiter. Er befand sich in einer unbeschreiblichen Stimmung. Alles in ihm war in zitternder Bewegung. Das Herz schlug ihm zum Zerspringen, das Blut siedete und alle Fibern und Nerven in ihm vibrierten.

Er durchkreuzte den Stadtpark, durcheilte die Vorstadt und stürmte auf die Landstraße hinaus. Die kalte Nachtluft tat ihm wohl; seine wilde Erregung tobte sich in den weitausgreifenden Schritten aus.

Er mochte schon eine Stunde und länger marschiert sein, als ihn seine Ermüdung zwang, kehrtzumachen und in langsamerem Tempo nach Hause zurückzukehren.

Sein Schlafzimmer lag neben dem seiner Mutter. So behutsam er auch die Tür öffnete, so leise er auch eintrat, sie hatte ihn doch gehört und rief ihn an ihr Bett.

»Nun, Kurt, hast du dich gut amüsiert?«

Er ballte im Dunkeln seine Fäuste und nahm alle seine Selbstbeherrschung zusammen.

»Es war sehr schön, Mama!« antwortete er, und seine Stimme klang hell, wie unter der Wirkung einer freudigen Erinnerung.

»Soso! Hast du denn auch getanzt?«

»Ich habe keinen Tanz ausgelassen, Mama.«

»Oh, oh! Ich weiß nicht, ob Nataly nicht darüber mit dir schmollen wird, Kurt.«

Er biß sich auf die Lippen und brummte etwas Unverständliches vor sich hin.

»Wie meinst du, Kurt?«

Die Fragende konnte nicht sehen, daß es den jungen Mann wie ein Krampf schüttelte, bevor er ein kurzes Auslachen hören ließ, dem im Scherzton die Worte folgten: »Ich meinte nur, sie weiß es ja nicht, Mama. Und du wirst mich gewiß nicht verraten.«

Auch die alte Dame ließ ein leises, schmunzelndes Lachen hören.

»Wie spät ist es denn, Kurt?«

»Es geht stark auf zwei Uhr, Mama.«

»Schon? Da mußt du dich allerdings gut unterhalten haben. Na, du wirst müde sein. Schlaf wohl, mein lieber Sohn. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Mama!«

* * *

Es war einen Monat später, als Kurt Ulrici auf seinem Schreibtisch im Bureau ein amtliches Schreiben vorfand. Es kündigte ihm seine Versetzung nach Mogilno an, einem polnischen Kreisstädtchen, nahe der russischen Grenze. So war also eingetroffen, was ihm sein Schwager, Staatsanwalt Böhl, prophezeit hatte. Man stellte ihn kalt, schickte ihn auf einen Posten, der ihm seinen Beruf gründlich verleiden mußte. Was nun tun? Nun würde seine Mutter doch erfahren, welch schweres Geschick sie ihm auferlegt hatte, als sie das Versprechen von ihm erzwang, die ihm angetane Beleidigung nicht nach mittelalterlichem Brauch mit der Waffe in der Hand zu rächen.

In seiner verbitterten Stimmung setzte er sich hin und schrieb einen langen Brief an Nataly. Er teilte ihr alles rückhaltlos mit, was ihm in den Wochen ihrer Abwesenheit widerfahren war. Er verschwieg nichts und beschönigte nichts. Ja, ihr Bruder Egon hatte recht: er war verfehmt, in Acht und Bann getan, mit dem Makel der Ehrlosigkeit behaftet. Jeder Ehrenmann zuckte die Achseln über ihn und ging ihm voll Abscheu aus dem Wege. Nicht besser würbe das Los derjenigen sein, die ihr Geschick an das seine knüpfte. Von allen Demütigungen, von allen Zurücksetzungen und Enttäuschungen, die ihn trafen, würde ein vollgerütteltes Maß auch auf sie entfallen.

Zum Schluß seines Schreibens setzte er sie von seiner Versetzung nach dem polnischen Nest in Kenntnis und knüpfte daran die Erklärung, daß er es unter diesen Umständen für seine Pflicht halte, sie ihres Jawortes und aller Pflichten gegen ihn zu entbinden.

Kurt Ulrici sehnte sich nach einem Wort der Liebe und Treue. Von wem aber sollte ihm Trost kommen, ihm, dem Vereinsamten, dem Verlassenen, wenn nicht von ihr, die ihm nach seiner Mutter, der er sich ja nicht entdecken durfte, am nächsten stand? Auf dem Grunde seines Herzens lebte ja die Zuversicht, daß Nataly sein Opfer nicht annehmen, daß sie ihm herzlich erklären würde, ihre Liebe gehöre ihm jetzt und immerdar. Er hoffte, sein Brief würde die besseren Empfindungen in ihr aufrütteln und ihr Herz werde sie antreiben heimzukehren, um ihm in dieser schwersten Zeit nahe zu sein.

Nataly ließ nicht auf ihre Antwort warten. Umgehend traf ein Brief von ihr ein. Seine Mutter überreichte ihn ihm. Kurt nahm sich nicht die Zeit, in sein Zimmer zu gehen, um Natalys Brief in der Stille zu lesen. Zitternd vor mühsam beherrschter Aufregung riß er das Kuvert auf. Es waren nur wenige Zeilen, die er mit flirrenden Augen las. Sie lauteten:

»Lieber Kurt!

Ich danke Dir, daß Du selbst aus eigenem Antrieb das erlösende Wort sprichst, das ich von Dir erwartet hatte, um das ich Dich bitten wollte. Ja, Du hast recht, es ist für uns beide das Beste, aufeinander zu verzichten. Ein Leben, wie Deine Schilderung es mir in Aussicht stellt, wie ich es auch nach Egons Briefen mir ausmalen mußte, könnte ich nicht ertragen. Ich würde mich – ich kann ja nicht dafür, daß ich nun einmal so bin, ich habe mir ja meine Natur nicht selbst gegeben – ich würde mich tief unglücklich fühlen und könnte meine Aufgabe, Dich glücklich zu machen, unter diesen Verhältnissen nicht erfüllen. Darum nehme ich – mit blutendem Herzen – mein Dir gegebenes Wort zurück und entbinde Dich auch meinerseits jeder Verpflichtung mir gegenüber.

Lebe wohl für immer! Nataly Böhl.«

Die schmerzliche Enttäuschung des Lesenden war eine so heftige, daß er alle Fassung verlor. Das, was er seit Monaten still in sich verschlossen, drängte an die Oberfläche. Der Brief entfiel seinen Händen, sein Gesicht verfärbte sich und verzerrte sich in wütendem Schmerz.

»Mein Gott, was hast du, Kurt?« schrie seine Mutter erschreckt.

»Ich? O – nichts Besonderes, Mama«, stieß er in überströmender Bitterkeit hervor. »Ich habe nur meine Braut verloren. –«

Die ahnungslose alte Dame sah ihren Sohn ungläubig an, als habe sie nicht recht gehört. Das Aussehen des Unglücklichen aber, der mit wirr in die Stirn hängendem Haar, mit wogender Brust, bleich wie der Tod vor ihr stand, überzeugte sie, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein mußte.

»Deine Braut« wiederholte sie. »Deine Braut hast du verloren – Nataly? Ja, warum denn in aller Welt?«

Kurt Ulrici antwortete nicht. Vorbei war es mit seinem Trotz, seiner Widerstandskraft, seinem Stolz. Wie zerschmettert von den Schlägen des Schicksals sank er aus den in seiner Nähe stehenden Sessel und bedeckte sein zuckendes Gesicht mit beiden Händen. Aus seiner röchelnden Brust drangen erschütternde Laute hervor, die das Blut in den Adern der alten Dame erstarren machten. Sie umschlang ihn mit einem Arm und strich ihm mit der anderen Hand liebevoll das Haar aus dem Gesicht.

»Was ist zwischen dir und Nataly?« fragte sie. »Willst du es mir nicht sagen, mir – deiner Mutter?«

Der Unglückliche erhob sein Gesicht. Aus den Augen seiner Mutter strahlte ihm ein so tiefes Gefühl, so innige Teilnahme entgegen, daß auch der letzte Nest seiner Widerstandskraft in nichts zerschmolz, daß das übermächtige Verlangen, der bedrückten Brust einmal Luft zu machen, sich nicht mehr zurückhalten ließ und alle anderen Regungen in ihm zurückdrängte. Und so berichtete er mit stammelnder Stimme, in kurzen, ungestüm hervorgestoßenen Sätzen von allen bitteren Erfahrungen, von allen brennenden Demütigungen, die ihm die letzten Wochen gebracht.

In atemloser, fieberhafter Spannung, bis ins innerste Mark erschauernd, hörte die Überraschte zu, bis plötzlich ein gellender, schauriger Ton von ihren Lippen kam und sie kraftlos, zuckend in den Armen ihres Sohnes zusammenbrach.

* * *

Acht Tage später stand Kurt Ulrici an dem Sarge seiner Mutter. Ihre schrecklichen Nervenanfälle hatten sich in kurzen Zwischenräumen wiederholt und ihre schwachen Kräfte ganz aufgezehrt. Ein Herzschlag erlöste sie von ihren Leiden.

Einsam geleitete Kurt Ulrici seine Mutter zu ihrer letzten Ruhestätte. Er konnte sich das Zeugnis ausstellen, ein guter Sohn gewesen zu sein. Das Gelöbnis, das er seinem Vater gegeben und das er seiner Mutter wiederholt, hatte er treu gehalten. Ja, ein guter Sohn und ein gehorsamer Staatsbürger war er gewesen und alles hatte er seinem Pflichtgefühl zum Opfer gebracht: die Achtung seiner Freunde, seine Karriere als Staatsbeamter, die Liebe seiner Braut, das Leben seiner Mutter und seine Ehre obendrein. Denn alle sagten und bewiesen es ihm ja, daß er ehrlos war – ehrlos!


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