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Zwei Stunden steht schon das jungvermählte Paar unter dem für solche Gelegenheiten errichteten tiefblauen Baldachin, der das Wappen des Hauses Carwell trägt. Fünfhundert Händedrücke der defilierenden Gäste, mit den üblichen Glückwünschen. Tausend neugierige Augen, deren Blick liebenswürdig erwidert werden muß. An Carwells Ohr schlagen die letzten bewundernden Worte, die seiner Frau gelten: Charming! Beautiful! Wonderful! Sweet! Lovely! ... Und dazwischen immer wieder: She is really a lady! Das sind die Huldigungen, die man ihm darbringt.

Der kleine Viscount von Rockshire ist der letzte Gratulant.

Und während Gabriele von den nächsten Freunden umringt und in die Mitte des Saales gezogen wird, wo die Diener Erfrischungen reichen, klopft der Viscount Carwell auf die Schulter:

»Ich habe die Wette verloren ... Dein Hochzeitstag, mein Lieber, kostet mich ein Zehntel meines Vermögens.«

»Mich wird er mehr kosten – – ich habe ein Ehrenwort gegeben! ...«

Verständnislos blickt der Viscount Carwell nach. Schüttelt den Kopf: ein komischer Kauz, dieser Carwell ...! Dann geht er auf die große Geschenktafel zu, die von ein paar Geheimdetektiven in der Carwellschen Hauslivree bewacht wird, und legt einen versiegelten Briefumschlag aus starkem Bütten, der den Scheck über die verlorene Wettsumme enthält, auf eine freie Stelle zwischen den Hochzeitsgaben. Es wird sofort von den Detektiven notiert.

Jetzt läßt sich auch die alte Lady an den Geschenktisch heranrollen. Sie nickt befriedigt. Selbst bei ihrer Hochzeit ging es nicht prächtiger zu. Sie sieht im Geiste eine neue Belebung der glanzvollsten Tage des Schlosses, und sie zweifelt nicht daran, daß ihr Neffe unter dem Einfluß Gabrielens zu einer würdigeren Auffassung der Verpflichtungen kommt, die ihm sein Rang auferlegt.

Im großen Schloßhof werden die Wagen der abfahrenden Herrschaften aufgerufen. Die zum Dinner geladenen Gäste sondern sich ab und begeben sich in die kleineren Salons. Und eine Stunde später kündet der Haushofmeister den Beginn des Mahles an.

Eine leichte Abspannung hat sich Gabrielens bemächtigt. Eine stumpfe Gleichgültigkeit gegen alle diese Menschen, denen diese ganze Hochzeit nur eine Sensation mehr in den gesellschaftlichen Ereignissen ist ... eine Sensation, deren Reiz noch erhöht wird durch die im Carwellschen Hause aus dem 17. Jahrhundert beibehaltene Zeremonie im Brautgemach.

Niemand ahnt, daß Lord Carwell an diese Zeremonie mit Grauen denkt. Unbemerkt streckt er öfters mit nervöser Bewegung die Hand aus und blickt auf seine Armbanduhr. Je mehr der Zeiger vorrückt, desto unsinniger scheint ihm das Ehrenwort, das er Gabriele gegeben. Der kleine Viscount pflegte immer zu sagen: »Wenn man alle Ehrenworte hielte, die einem die Frauen abverlangen – man brächte sich an den Galgen oder ins Narrenhaus!« Aber die Rockshires sind erst seit vier Generationen geadelt –! Seine Großmutter war Tänzerin am Kaiserlich russischen Ballett und die Geliebte eines englischen königlichen Prinzen gewesen. Die Carwells aber waren, obwohl Gewaltmenschen, von so hoher Auffassung des Ehrbegriffes, daß es ihre Devise wurde: Mein Ehrenwort gilt nicht dem Menschen, dem ich es gebe, sondern mir selbst! Im Versprechen allerdings waren die Carwells groß und noch größer fast im Nichthalten – das unendlich selten gegebene Ehrenwort aber hielt fester als die Mauern des Tower.

»Ich glaube, Carwell wünscht uns alle zur Hölle«, flüstert die Counteß Osterfield ihrem Tischnachbar zu. »Seine Blicke, mit denen er auf seine Frau starrt, sind geradezu indezent ... finden Sie nicht?«

Der Haushofmeister fängt eine leise Handbewegung der alten Lady auf: sie bedeutet, er möge ihrem Neffen den Wein nur sparsam nachschenken. Sie ruht ihm gegenüber in ihrem Sessel und sieht mit immer wachsender Beängstigung, wie hastig und durcheinandermischend der Lord die Getränke herabstürzt. Einmal begegnet sie seinem schwimmenden Blick und ruft in das Stimmengewirr » Take care« hinein. Aber er versteht nicht – oder will sie nicht verstehn, hebt sein Glas und trinkt ihr zu, indem er es auf einen Zug leert. Sie scherzt mit blassen Lippen: » Naughty boy!« Zu einer anderen Zeit hätte er wohl Angst und ungewohnte Zärtlichkeit aus ihrer Stimme herausgehört, jetzt aber ist er blind und taub für alles, was um ihn her vorgeht. Er fühlt nur Gabrielens Nähe, die sein Blut zum Sieden bringt und ihm doch Todesschauer einjagt.

Zwei Diener rollen einen Glastisch mit einem riesenhaften Baumkuchen in die Innenseite der hufeisenförmig aufgestellten Tafel. Während der Haushofmeister auf Gabriele zuschreitet, hört sie eine leise Stimme neben sich fragen:

»Darf ich Ihre Hand küssen, Lady Carwell?«

Es ist die Stimme des Mannes, der ihr Gatte ist.

Zum erstenmal verliert sie die Fassung. Sie denkt an die Szene im Aufzug, Angstgefühl schnürt ihr den Hals zusammen. Carwell sieht nicht, wie bleich sie wird, spürt nur ihre zitternden Finger in seiner Hand.

»Nur keine Angst, Mylady!« sagt er scharf und kalt. »Sie wissen sich ja zu schützen.«

Tief verneigt er sich vor ihr und mischt sich unter die Gäste, die jetzt aufstehen und sich mit ihren kleinen goldenen Tellern in der Innenseite der Tafel um den Hochzeitskuchen scharen, den Gabriele mit einem kurzen Schwert anschneidet.

Die alte Lady hat sich in den Paradesaal rollen lassen. Auf einem Vorbau der Galerie hat ein Tanzorchester Aufstellung genommen. Die Paare ordnen sich bereits im Speisesaal, um im Tanzsaal das Brautpaar zur Polonäse zu erwarten.

Gabriele steht noch immer an der Innenseite der Tafel. Elise, in hochgeschlossenem schwarzem Atlaskleid, ohne Schürze, naht raschen Schrittes, einen Spiegel und eine Quaste mit rosa Puder in der Hand.

»Miß Schorneder müssen sofort Rot auflegen. So blaß dürfen Miß Schorneder nicht erscheinen, sonst glaubt man wunder was ...«

Sie nestelt inzwischen an dem Schleier und der Schleppe, denen sie einen effektvolleren Faltenwurf gibt.

»Miß Schorneder – ach Verzeihung – Mylady, es ist mir noch so ungewohnt – haben wundervoll ausgesehen bei der Tafel. Nur so blaß, so schrecklich blaß.«

»Das macht wohl das viele Weiß des Kleides ... Geben Sie mir mal rasch einen Tropfen Wein. Rotwein.«

Ihre Hand zittert, als sie Elise das Glas abnimmt.

»Nicht wahr, es ist so drückend hier, Mylady? Das kommt wohl von den Kerzen. Das ganze Schloß riecht ja nach Wachskerzen und Blumen ...«

Sie legt plötzlich Spiegel und Puderquaste auf den Tisch: sie hat ein Zeichen des Haushofmeisters aufgefangen. Gabriele spürt eine gewisse Unruhe um sich, es scheint ihr, als ob die Diener hin und her liefen ... als ob auch der alte Haushofmeister bestürzt wäre. Und jetzt – ja wahrhaftig ... jetzt muß sich Elise an der Kredenz festhalten!

»Ruhe, Miß Ellis ... kein Aufsehn machen.«

Das Stimmen des Orchesters dringt herein. Gabriele tritt aus der Innenseite der Tafel heraus:

»Was ist Ihnen, Elise?« Und zum Haushofmeister gewendet: »Wo ist Lord Carwell?«

»Mylord ist nicht zu finden. Ich habe schon die Diener im Schloß überall herumgeschickt ... Vielleicht ist er im Garten und raucht eine Zigarette ...«

Gabriele sieht ihm fest in die Augen:

»Lord Carwell ist nicht im Garten! Er raucht keine Zigarette! Mister Johnsen, ich befehle Ihnen, mir zu sagen, wo sich der Lord befindet!«

Der Haushofmeister preßt die Lippen aneinander, als wolle er gewaltsam jeden Laut zurückhalten.

Elise flüstert tonlos:

»Oben ... im Brautgemach.«

Gabriele stürzt hinaus.

»Nicht doch, Mylady! Nicht doch! ...«

Wie eine Riesenschlange windet sich die weiße, silbergestickte Schleppe über den blutroten Teppich. Der kostbare Schleier bleibt an einer Zacke des Geländers hängen und reißt durch.

Elise ruft, stürzt ihr nach: »Miß Schorneder! Miß Schorneder!!«

Gabriele hört nicht. Die breiten Flügeltüren des Brautgemaches stehen weit auseinander. Im leichten Zugwind flackern die Kerzen der Girandolen und werfen verschwommene Schatten.

Quer auf der weißseidenen Decke des Prunkbettes liegt etwas Dunkles.

»Nicht hinsehn, Fräulein Schorneder! Nicht hinsehn!« schreit Elise.

Aber Gabriele ist schon auf der obersten Stufe zum Bett angelangt. Sie steht da wie zur Bildsäule erstarrt.

Quer auf der weißseidenen Decke des Prunkbettes liegt Lord Carwell mit durchschossener Schläfe.

*

»Wo bleibt denn das Brautpaar?« fragt Lady Carwell-Payne ihre erste Kammerfrau. »Mir scheint, Mister Johnsen wird ein bißchen alt ... es ist das erstemal, daß etwas nicht klappt!«

Das Stimmen des Orchesters hört plötzlich auf. Ihre Kammerfrauen und Mädchen haben sich um ihr Ruhebett geschart und entziehen ihr die Aussicht auf den Saal. Die schon zur Polonäse geordneten Paare lösen sich. Namenlose Bestürzung liegt auf allen Gesichtern.

Der Haushofmeister schickt überallhin Diener, die die Herrschaften bitten sollen, sich leise zu entfernen – Lord Carwell hätte einen Schlaganfall erlitten.

Counteß Osterfield greift nach dem Arm des Viscount von Rockshire:

»Einen gefälligeren Gatten können Sie sich nicht wünschen, Viscount ...!«

Ausweichend sagt er:

»Er hat ja auch unsinnig getrunken.«

Die alte Lady wird unruhig:

»Was geht denn hier vor? ... Wo ist meine Nichte? ... Mein Neffe soll sofort herkommen! Was steht ihr noch da alle? Ich befehle euch doch! ...«

Ihre rauhe Stimme überschlägt sich. Ihr sonst regloser Körper zuckt unter der schweren Decke. Ihre Hände flattern hilflos in der Luft.

»So geht doch. Lauft!«

Der Haushofmeister hat die Kerzen von zwei Kronleuchtern im Saal löschen lassen, um den Aufbruch der Gäste zu beschleunigen.

»Johnsen!« ruft Lady Carwell-Payne. »Johnsen!!«

Es ist das erstemal, daß ihre Stimme nicht gehört wird. Sie drückt auf den Klingelknopf ihres Lagers, hat völlig vergessen, daß er im Paradesaal nicht angeschlossen wird. Immer rauher, immer heiserer wird ihre Stimme vom Rufen – sie reicht nicht mehr bis an die gegenüberliegende Wand.

Der Saal ist leer und liegt zur Hälfte im Dunkel.

Nur noch leise Wimmertöne kommen von den Lippen der alten Frau: – – ist denn niemand da, der sich ihrer annimmt ... Niemand da, der ihr den Angstschweiß von der Stirn wischt ...? Hat niemand Mitleid mit ihr – –? So furchtbar war es nicht vor vielen, vielen Jahren, als sie die Nacht im Schnee lag – – und ihr Stöhnen ungehört verklang unter den Fenstern ihres Zimmers – – –!

*

Ein Jahr ist vergangen. Finster und abwehrend erheben sich die düsteren Mauern des Schlosses. Der Nachklang der tragischen Hochzeitsnacht ist fast grausiger noch, als die Nacht selbst es war:

Zwei Frauen sitzen einander gegenüber Abend für Abend – und trinken. Angst und Schuld ketten sie aneinander.

»Wohin gehen Sie?« fragt jedesmal die alte Frau, wenn Gabriele sich aus ihrem Sessel erhebt. Und Gabriele antwortet:

»Ich hole mir nur einen Strohhalm aus der Schale«, oder: »Ich will ein paar Tropfen Kölnischwasser vom Kamin holen.«

»Ach ja ... mir auch ... es ist so drückend hier.«

Lady Carwell-Payne schüttet sich die hohle Hand voll und schlürft die starke Essenz, während sie anscheinend ihr Gesicht netzt.

Gabriele hat es aufgegeben, dagegen anzukämpfen, seit die Kranke mit einem Glas nach ihr geworfen. Sie selbst ist ja auch so müde, und ihre Widerstandskraft wird geringer mit jedem Tage. Sie findet nur Vergessen, wenn der Alkohol sich schwer um ihre Sinne legt, und fast könnte man jetzt schon von ihr das gleiche sagen wie einst von Lord Carwell: Niemals betrunken und niemals nüchtern!

Sie turnt nicht mehr und bleibt oft tagelang im Bett, ohne krank zu sein, nur aus Grauen davor, einen neuen Tag zu beginnen.

Elise muß sie zur Pflege ihres Körpers anhalten wie ein kleines Kind. Manchmal gibt sie selbständig den Befehl, das Auto möge vorfahren, und sie setzt sich Gabriele gegenüber in den Wagen und jagt den Chauffeur zwei Stunden in das Land hinein.

Wenn die Abendschatten sich über das Schloß senken, schickt Lady Carwell-Payne einen Boten nach dem anderen zu ihr, ob sich Mylady nicht ins Gobelinzimmer begeben möchte. Und wenn dann Gabriele in ihren schweren schwarzen Kreppschleiern erscheint, findet sie die alte Frau in höchster Erregung, vor ihr den kleinen goldenen Wecker, auf den sie mit dem Zeigefinger tippt.

»Wie schrecklich, meine Liebe, daß Sie mich vergessen! ... Seit einer Stunde warte ich auf Sie! Man sagte mir, Sie seien ausgefahren! Die Frauen des Carwellschen Hauses haben stets eine strenge zweijährige Trauer um ihren Gatten eingehalten und sind während dieser Zeit nie aus dem Bereich des Parkes herausgekommen! ... Setzen Sie sich, bitte. Stehen Sie nicht so da, als wollten Sie gleich wieder fortgehen! ... Trinken Sie ein Glas Rotwein ... Sie sind so blaß ... Ich hoffe nur, daß Sie keine Besuche gemacht haben ... nein, nicht wahr? ... Sie müssen vorsichtig sein – jetzt, wo Sie nicht mehr unter dem Schutz Ihres Gatten stehn! Die Männer unserer Gesellschaft sind rücksichtslos! Und die Frauen machen sich ein Vergnügen daraus, Intrigen zu spinnen und Liebesverhältnisse anzubahnen! Ich bin es dem Namen, den ich trage, und der Ehre meines Neffen schuldig, darüber zu wachen, daß Sie – wenn auch unbewußt – keinen Anlaß geben zu Klatsch! Ich glaube, man ist in dieser Beziehung bei Ihnen in Deutschland nicht so streng. Wir aber halten hier noch eine alte Tradition aufrecht! Und solche Damen wie zum Beispiel die Counteß Osterfield sind imstande, durch boshafte Nachrede die ehrbarste Frau zu kompromittieren! ... Ich hoffe sehr, daß Sie, auch wenn das Trauerjahr vorbei ist, niemanden empfangen, ohne mich vorher um Rat zu fragen.«

Die alte Frau findet hundert Varianten auf das gleiche Thema. Gabriele unterbricht sie mit keinem Wort. Nur ab und zu ein trockenes »Ja. Gewiß«. Bis die alte Lady vor Erschöpfung die Lider schließt, bis auch Gabriele in Halbschlummer verfällt. Es ist vielleicht die einzige Zeit, da sie beide Ruhe finden und schlafen. Wachen sie auf, ist ihr erster Griff nach dem Glas, der erste Ruf der Kranken nach dem Kölnischwasser. Und dann oft zänkische Vorwürfe:

»Warum lassen Sie den Flakon nicht stehn? ... Warum zwingen Sie mich, Sie immer zu bemühn?«

Als aber Gabriele eines Abends das Fläschchen wirklich stehen läßt, wird sie aus ihrem Halbschlummer geweckt durch rauhe Töne, von denen sie nicht weiß, ob sie Gesang bedeuten sollen oder Stöhnen sind. Und als sie sich dem Ruhebett nähert, schlagen die kraftlosen Hände nach ihr, während sich das Gesicht zu grinsendem Lachen verzieht: Lady Carwell-Payne ist sinnlos betrunken. Ununterbrochen holpert ein Schwall kaum verständlicher Worte über ihre Lippen:

»Warum hab' ich sie aufgenommen ...? Nein, hätt' ich sagen sollen ... nein! ... Hätte ein Bauernmädchen ... die letzte Kuhmagd ... und ihr den Reitknecht zuführen müssen ... da hätte es Kinder gegeben ... zwei ... drei ... vier Kinder ... voll Kraft und Gesundheit ... aber nein ... der Rockshire sollte es sein ... das ... das hat mir die Osterfield eingeredet ... einer Lady kann man keinen Reitknecht zuführen ... nein ... das kann man nicht ... dann erfriert man ... in all der Kälte ... und kann liegen ... liegen, das ganze Leben ... Warum hab' ich's erlaubt ... aber natürlich ... eine Wette ... Er hat mir's ja gesagt ... er hat gewettet ... daß er sie doch noch zur Frau kriegt ... zur Frau ...« Ein gräßliches Lachen erfüllt den Raum: »... zur Frau ... poor fellow ... daran glaubte er wohl selbst nicht ... und ich weiß ... ich fühl' es ... die Deutsche hat's ihm befohlen ... hat ihm die Waffe in die Hand gedrückt ... hat mir alles genommen ... alles ... alle Hoffnung ... alle Zukunft ... War ein guter Junge ... hat keinem was zuleid getan ... nur sich ... immer nur sich selbst ... gemordet hat sie ihn ... Mörderin ... Mörderin ... ja ... die letzte Lady Carwell hat ihren Mann ermordet ...«

An allen Gliedern zitternd, spritzt Gabriele der irr lallenden Frau den Inhalt einer Siphonflasche ins Gesicht.

»Kommen Sie zu sich! Ich bitte Sie, kommen Sie zu sich!«

In Todesangst klammern sich die Hände der Lady Carwell-Payne an Gabriele:

»Nicht mich ins Wasser werfen!! ... Nicht mich ertränken!! ... Ich hab' ja keinem was getan! Nicht mich morden ...! Nicht mich auch ...«

Gabriele stürzt an die Wand, sucht mit fliegenden Fingern nach dem Klingelknopf, der die Verbindung mit Elise herstellt.

– – – Nur Elise darf jetzt hereinkommen! Nur sie!

Und Elise kommt. Auch sie ist in tiefer Trauer. Über ihrem Gesicht und ihrer ganzen Gestalt liegt die Härte niedergedrückter Weiblichkeit. Sie zwingt Gabriele in einen Sessel und wendet ihn so, daß ihre Herrin das Ruhebett mit der Kranken nicht sehen kann.

»Rühren Sie sich nicht, Miß Schorneder – ich hole nur Handtücher von uns. Die Leute brauchen nicht zu wissen, was hier gewesen ist ...«

Und sie denkt dabei, daß ihre Herrin auch nicht zu wissen braucht, wie furchtbar es unter der Decke der Lady Carwell-Payne aussieht ... wie schrecklich der Anblick dieses Körpers ist, der so eingeschrumpft ist, daß er einem zehnjährigen Kinde gehören könnte.

Gabriele ist so erschöpft, daß sie auch ohne diese Mahnung sich nicht umgewendet hätte. Für den Augenblick faßt ihr Hirn nur zwei Gedanken: Lord Carwell hat sie geheiratet, um eine Wette zu gewinnen –, Lord Carwell hat sich erschossen, um ihr gegenüber sein Ehrenwort zu halten! Um dieses gehaltenen Ehrenwortes willen bleibt sie bei der Frau, die in ihr seine Mörderin sieht. Bleibt aus Mitleid, aus Angst vor dem, was noch geschehen könnte, wenn sie kein Erbarmen hätte.

Und ob Elise auch mit allem Willensaufgebot darauf dringt, Gabriele möge das Schloß verlassen – sie bleibt.

Sie liest die Briefe nicht, die aus Lörnach kommen und sich zu einem Berg auf ihrem Schreibtisch häufen. Will nichts wissen von dem, was sich in dem Kreise begibt, wo das, was stolz und aufrecht in ihr war, dem unerbittlichen Gesetz der Natur unterlag – –! Londoner, Berliner und Pariser Blätter liegen bei ihr herum. Selten kommt es vor, daß sie das eine oder andere aufschlägt. Zu tief hat sie hinter die Kulissen der großen Welt geblickt, zu peinvoll sind ihr die Erinnerungen an Berlin. Und doch geschieht es, daß ihre Augen lange haften bleiben an dem Inserat eines der vielen Amüsierlokale, kommt es vor, daß ihr wieder, wie damals, eine Blutwelle in die Schläfen steigt, wenn sie an ihren Besuch beim Direktor der »Villa Borgia« denkt ... da sie sich auf die gleiche Stufe gestellt mit all den hysterischen Weibern, die vor keiner Geschmacklosigkeit zurückschrecken und keine Aufdringlichkeit scheuen, um ihre Lustgefühle an den Mann zu bringen ...

Einmal, ein einziges Mal hat sie in ihrer Verlobungszeit den Mut gefunden, den Namen Harry Milton auszusprechen. Und gerade der Counteß Osterfield gegenüber. Es war anläßlich eines großen Balles, den die Counteß gab. Sie war in Verlegenheit wegen eines Ballarrangeurs und Vortänzers – die ersten dieser Gilde waren zufällig gerade besetzt.

»Sie sollten Harry Milton kommen lassen«, meinte damals Gabriele.

»Aber das habe ich ja versucht, meine Liebe. Habe an alle Agenten nach Berlin und Paris telegraphiert! Der Mensch ist unauffindbar. Vielleicht ist er in Neuyork ... man reißt sich ja überall in der Gesellschaft um ihn ... Er ist ja auch fabelhaft! Aber – ich glaube fast, daß er nicht mehr in London tanzen will ... es soll da eine Geschichte gewesen sein ... mit einer Herzogin ... mein Gott, der Vater hat mit Petroleum gehandelt ... wie heißt er doch? ... Aber sie war ja nicht die einzige ... es war wie ein run auf ihn! ... Haben Sie mal irgendwo mit ihm getanzt, meine Liebe?«

»Ja, in Berlin.«

»Na und –?«

»Mein Gott ... wenn Sie's durchaus wissen wollen ... ich habe nachher kein großes Vergnügen mehr daran gehabt, mit anderen zu tanzen ...!«

Nie mehr seitdem ist der Name Harry Milton über Gabrielens Lippen gekommen. Aber sein Bild steigt immer wieder zeitweilig vor ihr auf, und sie sieht ihn dann so lebhaft vor sich, daß sie glaubt, ihn greifen zu können, wenn der Alkohol ihren Sinn trübt und Grabesstille sich über das Gobelinzimmer senkt. Und – vielleicht sind das die einzigen Augenblicke, in denen sie lebt und sich leben fühlt ...

Der Haushofmeister klagt Elise sein Leid: Nur die erste Kammerfrau hält es noch bei der alten Lady aus! Die jungen Mädchen haben ihre Posten verlassen, und die zweite Kammerfrau hat gekündigt. Der Zustand ist in ein böses Stadium getreten. Nur die Unbeweglichkeit des Körpers verhindert eine Katastrophe. Täglich fast müssen Scherben zusammengefegt werden, von Gläsern, die sie nach den Bediensteten wirft. Erst gestern hat sie ihre kleine goldene Weckuhr ihm selbst an die Schulter geworfen, weil er den Arzt gemeldet hatte. Sie wolle keinen Arzt sehen, sie wäre gesund. Und dann wieder schickte sie den Wagen, den Doktor zu holen. Aber nicht für sich, sondern für die junge Lady Carwell. Und er konstatierte Herzneurose, Herzmuskelaffektion, eine Gefährdung der Nieren ... Sie dürfe keinen Wein mehr trinken. Da aber hatte ihn die alte Lady unterbrochen, zornig – und fast wäre auch dem alten Arzt etwas an den Kopf geflogen!

»Die junge Lady soll sich nur vorsehen. Es müßte von jetzt ab stets jemand von der Dienerschaft in der Nähe des Gobelinzimmers sein. Denn mir hat es der Doktor ja anvertraut – lange dauert's nicht mehr mit der alten Lady! Alle Kräfte sind verbraucht. Wenn ich raten könnte, Miß Ellis: es wäre an der Zeit, daß Ihre Lady die Tante an das Testament erinnert. Denn wenn sie kein neues Testament macht, fällt das Schloß, der Familienschmuck und das ganze Vermögen, bis auf den Pflichtteil, an die Linie Payne-Russel ... und wir würden doch das alles gern der jungen Lady gönnen.«

In Elise erwacht plötzlich der Schornedersche Stolz:

»Wie ich meine Lady kenne, wird sie keinen Finger rühren, um sich einen Vorteil zu verschaffen! Übrigens ist sie selbst reich genug.«

Dennoch fühlt sich Elise verpflichtet, die Worte des Haushofmeisters Gabriele wiederzugeben. Aber sie zuckt nur die Achseln ... nicht mal den Pflichtteil würde sie annehmen – nicht einmal den. Nicht den einfachsten Ring vom Carwellschen Schmuck – das solle sie nur ruhig dem Mister Johnsen sagen.

Mister Johnsen aber schüttelt bekümmert den Kopf und versucht, auf eigene Faust, Lady Carwell-Payne zur Abfassung eines für Gabriele günstigen Testamentes zu bestimmen. Fast erschrickt er vor der freundlichen Aufnahme, die seine Worte finden:

»So ... Sie meinen wirklich, lieber Johnsen? ... Wieviel Pfund soll ich denn meiner Nichte hinterlassen? ... Eine Million? ... Oder zwei? ... Was meinen Sie, Johnsen, auf wieviel kann sie Anspruch machen? ... Sie wird doch auch mal – heiraten wollen, nicht wahr? ... Eine Carwell muß doch ihrem Mann etwas mitbringen, nicht? ... Es ist nett von Ihnen, Johnsen, daß Sie mich an meine Pflicht erinnern. Wir werden nächste Woche den Notar kommen lassen müssen ... Vielleicht früher ...? Oder was meinen Sie, Johnsen ...«, wiederholt sie zögernd und lauernd: »Vielleicht früher ...?«

Er tritt rücklings zurück vom Ruhebett. Kennt jetzt schon den aufglimmenden stechenden Blick.

»Ich erwarte die Befehle von Mylady«, sagt er und atmet auf, als er die Tür hinter sich zugezogen hat.

Früher als sonst bescheidet Lady Carwell-Payne Gabriele zu sich ins Gobelinzimmer. Niemals war sie so liebenswürdig. Niemals strömte ein so starker Geruch von Kölnisch Wasser von ihr aus.

»Denken Sie sich, meine Liebe, ich fühlte mich heute ein bißchen schwach. Die Ärzte sind doch nur dazu da, einem Angst einzujagen. Sie dürfen nicht an sie glauben. Auch mein alter Johnsen läßt sich von ihnen den Kopf verdrehen ... Oder finden Sie, daß ich heute schlecht aussehe?«

»Nein. Nicht anders als sonst, denke ich.«

»So sehe ich also immer schlecht aus ...?«

Gabriele fühlt eine nahende Szene. Sie hat es gelernt, auf der Hut zu sein. Ist es auch, solange der Wein ihren Willen nicht umflort.

»Wir wollen trinken, meine Liebe, auf ein recht langes und frohes Leben. Froh – soweit es sein kann, ohne meinen geliebten Neffen. Sie hätten ihn sicherlich auch geliebt. Anders – geistiger, vornehmer, als die Frauen heutzutage den Mann lieben ... Nicht wahr? ... Antworten Sie mir doch.«

»Ja ... gewiß ...«, antwortet Gabriele ausdruckslos.

Die alte Frau fährt fort, und ihre Hände laufen dabei immer unruhiger über die Decke:

»Denn eine bloße Verstandesheirat kann es ja nicht gewesen sein von Ihrer Seite ...? Sie sind ja – reich von Hause aus ... Nein nein ... ich weiß, nicht nach unseren, aber nach Ihren deutschen Begriffen ... Und als Deckmantel brauchten Sie ja den Namen Carwell auch nicht ...? Sie waren doch ein reines, unschuldiges Mädchen ... als Sie in unsere Familie kamen ...«

»Oh, ich bitte, Mylady – das ist doch kein Gespräch zwischen uns ...«

Lady Carwell-Payne lacht ein flackerndes, rauhes, unwirkliches Lachen:

»Aber warum denn nicht, meine Liebe? ... Frauen unter sich können einander doch alles sagen ... und – besonders wenn die eine ... so nahe am Grabe steht ... Es wäre doch schrecklich ... nicht wahr ... wenn ich so davonginge und ... nicht für meine Nichte, ihrem Range angemessen, sorgte? ...«

»Sie täuschen sich, Mylady.«

»Wie meinen Sie das? ... Meinen Sie, ich hätte nicht mehr die Zeit, Bestimmungen zu treffen? ... Ich begreife ja Ihre Ungeduld. Begreife, daß Sie Ihr Leben leben wollen ... unbeschwert von mir ... wie Sie es unbeschwert von Ihrem Gatten leben wollten ...!«

Immer rascher schnellen die Worte von den verzerrten Lippen der alten Frau:

»Oh, glauben Sie nicht, daß ich Angst habe ... ich habe volles Vertrauen zu Ihnen. Ich könnte ja annehmen, daß ... daß in meinem Glase ein Pulver auf dem Grunde liegt ... ein kaum wahrnehmbares ... eines, das ich nicht sehe und mit hinuntertrinke, nicht wahr? ... Aber ich nehme das ja gar nicht an ... Ich trinke mit Ihnen gern die ganze Nacht hindurch ... die ganze Nacht ...«

»Lady Carwell, Sie mißbrauchen Ihr Recht als Kranke!«

»Finden Sie?«

Und plötzlich löst sich ein fast männerrauher Ton aus der Brust der alten Frau, und sie weist mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Gabrielens Sessel:

»Setzen Sie sich! Und lassen Sie sich sagen, was ich von Ihnen halte! Eine Dirne sind Sie! Und unser altes Schloß soll der Schauplatz werden Ihrer Ausschweifungen und Orgien! ... Setzen Sie sich! Ich befehle es Ihnen! Setzen Sie sich!«

Mit zitternder Hand führt Lady Carwell-Payne ihr Glas an die Lippen. Und in unbewußter Nachahmung und weil der Hals ihr ausgedörrt ist vor Entsetzen, tut Gabriele das gleiche.

Es war ein Anfall der alten Frau, ärger als die anderen. Aber doch nur ein Anfall ... sie wird sich beruhigen. Wird gar nicht wissen, was sie gesagt hat – – ist nicht verantwortlich zu machen – – Aber doch ist es kaum noch zu ertragen! ... Kaum noch! Und Gabriele stürzt hastig ein Glas nach dem anderen herunter – – – ruhen – – schlafen – – –

Die Tür geht leise auf. Es ist Elise, die es nicht versteht, daß ihre Herrin solange über die übliche Zeit im Gobelinzimmer weilt.

»Wollen Miß Schorneder nicht zu Bett gehn?«

Gabriele schlägt die Augen auf. Sie legt den Finger auf den Mund:

»Still, Elise ... sie schläft.«

Elise tritt ans Ruhebett heran und streicht die Decke glatt unter den verkrampften Fingern.

»Sie schläft – und wird nicht mehr aufwachen ...«

Einige Augenblicke später läuft das Dienstpersonal, durch die verschiedenen Klingeln alarmiert, im Sterbezimmer zusammen.

*

Sonntag nachmittag.

Toni und Kurt Kemper sitzen einander gegenüber, auf der kleinen Veranda, die nach dem Garten hinausgeht, wo Robby das ihm zugewiesene Beet bearbeitet. Kurt Kemper raucht einen Stumpen, Toni hat große Haufen illustrierter Blätter vor sich, die sie ordnet. Sie ist fast rundlich geworden, Frau Dr. Toni Kemper. Ihre Farben sind frisch, ihre Züge haben nichts mehr von dem gespannten oder dem resignierten Ausdruck, der ihnen etwas Ältliches gab.

»Du! Ma! ...« klingt es von unten herauf. »Ist der patron da?«

Kurt erhebt sich langsam, schaut hinunter.

»Ja, Bengel. Was willst du?«

»Kannst du mir dein Taschenmesser 'runterwerfen, patron? ... Hab' mir grad' den Nagel eingerissen mit dem sacré Holzpflock!«

Toni springt auf: »Tut's weh, Robby? ... Soll ich 'runterkommen?«

»Ja woher! ...«

Plumps – fällt das Taschenmesser herunter.

»Verpimpel' mir den Jungen nicht, Toni«, sagt Kurt Kemper und bückt sich, um seiner Frau ein Blatt aufzuheben, das heruntergefallen ist. Es ist ein illustriertes englisches Journal.

Die Innenseite ist aufgeschlagen: »Zu den Hochzeitsfeierlichkeiten im Hause Carwell« liest er und starrt dem Bild von Gabriele entgegen. Sie sitzt in tief ausgeschnittenem Kleid, mit über die Schulter herabgeglittenem Pelz in einem hochlehnigen Sessel, an dessen Seite Lord Carwell steht. Stocksteif, den langen Giraffenhals in einen hohen Kragen eingezwängt, die hagere Hand im Spiel mit dem Einglas.

»Das Bild kenn' ich ja noch gar nicht!« sagt Kurt Kemper.

Flüchtiges Rot huscht über Tonis Wangen:

»Ach, weißt du, Kurt ... Damals ... Elise schickte gerade so viele Zeitungen und ...«

»... und da hast du diese unterschlagen ... nicht wahr? ... Macht nichts.«

Er legt sich zurück in seinen bequemen Sessel und bläst dicke Rauchwolken vor sich hin: »Was machst du denn eigentlich mit all diesen Zeitungen, Toni?«

»Ich nehme die englischen Blätter heraus, die damals über die Hochzeit und später über die zwei Trauerfeierlichkeiten Bilder brachten. Sie gehören doch schließlich ein bißchen – ins Familienarchiv ...!«

Kurt Kemper lacht auf:

»Sage mal, kleine Frau Dr. Kemper, geborene Gerber ... imponiert dir das gar so sehr ... eine authentische Lady zur Schwester zu haben?«

»Imponieren – wieso imponieren? ... Aber immerhin – es ist ja doch etwas ganz Besonderes. Und denke dir – später ... für unseren Jungen –«

»Ja, das ist besonders wichtig!« spöttelt Kemper. »Vielleicht adoptiert ihn Gabriele – und er wird selber ein kleiner Lord Carwell!?«

Ganz erschreckt blickt Toni auf.

»Adoptieren? ... Gabriele unseren Jungen adoptieren! Nein. Das gebe ich nicht zu. Nie! ... Aber es kann nichts schaden, wenn man weiß, daß er einmal seine Ferien auf dem Schloß seiner Tante in England verbringt – – –!«

»Wenn du meinst, daß die Schokolade dadurch besser wird, die wir hier fabrizieren ...?«

»Du bist unausstehlich, Kurt.«

»Na komm mal her«, sagt er gutmütig. »Ich will dir helfen.«

Sie sieht ihn ein bißchen unsicher von der Seite an: Helfen? ... Ist es nicht vielmehr, weil er die Bilder sehen will von allem, was mit Gabriele zusammenhängt – –? Denn wenn er auch nie von ihr spricht – oder vielleicht gerade, weil er nie von ihr spricht, ist sie fest überzeugt, daß »die Geschichte« noch immer nicht ganz aus ist. Und sie selbst hat ängstlich vermieden, ihm mehr über Gabriele zu sagen als das Notwendigste.

Langsam blättert Kurt Kemper in den englischen Journalen. Er sieht die Reihe der Gemächer, die für das »junge Paar« im Carwellschen Schloß vorgesehen waren, kann sich Gabriele hineindenken in die vornehme Pracht dieser Räume, sieht sie ihre Empfänge abhalten, in den Toiletten, die in skizzenhaften Strichen von Künstlern wiedergegeben sind. Er kennt den Inhalt ihrer Garderobenschränke und vergegenwärtigt sie sich in all den Eleganzen der großen Welt, die ihn einst selbst so bezaubert hatten. Dann sieht er den Trauerzug des mit fürstlichem Gepränge zu Grabe geleiteten Lord Carwell und, in der oberen Ecke des Blattes, in Medaillonform, abermals Gabriele, in Witwenhaube und so tief verschleiert, daß man ihr Antlitz kaum erkennt.

Ein Briefbogen fällt zu Boden. Toni hebt ihn rasch auf. Er zeigt die festen, nicht ganz ungebildeten Schriftzüge Elisens.

»Ach, da ist er ja ...«, ruft Toni.

»Zeig' her.«

»Es ist der Antwortbrief von Elise, als ich ihr über Mutzmann schrieb.«

Sehr geehrte Frau Doktor!

Anbei wieder einige illustrierte Blätter, die Sie interessieren werden. Fräulein Schorneder ist sehr mitgenommen von diesem schrecklichen Tod, der in der Öffentlichkeit als Herzschlag bezeichnet wird. Aber der arme Lord hat sich selbst das Leben genommen! Weil er fürchtete, ein Ehrenwort nicht einhalten zu können, das er Fräulein Schorneder gegeben hat. Übrigens sagen die Ärzte hier, daß, wer einmal einen Selbstmordversuch macht, ihn sehr oft wiederholt. Was mir gnädige Frau von Mutzmann schreiben, hat mir furchtbar leid getan, aber er war ein schrecklich aufgeregter Mensch und keinem verständigen Zuspruch zugänglich. Ein Glück, daß er keine Familie hinterläßt! Das Leben hier wird jetzt wohl ziemlich einförmig sein, und Fräulein Schorneder wird sich wohl ganz der alten Lady widmen, die vor Kummer halb von Sinnen ist. Ich empfehle mich Herrn und Frau Doktor und zeichne als

Ihre dankbare
Elise.

Kurt Kemper wirft den Brief auf den Tisch zurück:

»Armer Mutzmann – das ist nun ihre ganze Leichenrede!«

Toni rollt den Briefbogen nachdenklich um ihren Finger:

»Gabriele sagte mir einmal: wenn eine Frau mit einem Erlebnis fertig ist, dann ist sie es viel gründlicher als der Mann!«

Er kaut nervös an seinem Stumpen:

»Ja ... das mag schon sein – –« murmelt er.

Rasch senkt Toni den Blick, den sie zaghaft auf ihn geworfen hat. Vielleicht ist es doch nur das letzte Aufbäumen seiner männlichen Eitelkeit, die sie an ihm spürt.

»Und sonst hast du gar nichts gehört von ... von Elise?«

»Doch. Du weißt ja: nach dem Tod der alten Lady kamen ja nur Postkarten von ihr. Aus allen Ländern. Gabriele hat eben ihr Wanderleben wieder aufgenommen.«

»Wie lange gondelt sie denn nun schon in der Weltgeschichte herum ...?«

»Das ist ja leicht auszurechnen, Kurt«, gibt Toni zurück und zählt an den Fingern ab: »Zwei Jahre England im Schloß – ein Jahr im Sanatorium – ein Jahr auf Reisen ... Die letzte Karte von Gabriele – sie hatte ja selbst geschrieben – stammt aus Vichy, wo sie ihrer Nieren wegen eine Kur gebraucht. Sie will dann nach dem bayerischen Allgäu und – wer weiß, Kurt ... vielleicht macht sie es doch noch wahr und kommt dann wirklich her ...?! Ich glaube, Elise ist nicht sehr erbaut davon, nach Lörnach zu kommen – die strebt zurück nach England!«

Von unten schrillt Robbys Stimme herauf:

»He patron! Darf ich dir 's Messer wieder naufschmeiße? ...«

An der Art, wie der Junge wirft und der Vater auffängt, sieht man, daß sie dies Spiel schon oft getrieben.

»Hast du denn deine Aufgaben gemacht, Bengel?«

Breitspurig steht Robby vor seinem aufgewühlten Beet:

»Na, wege dem bißle Dreck brauch ich mich gar nit erst hinsetze.«

»Ganz der Papa«, sagt Toni lachend.

Kurt Kemper sieht seine Frau blinzelnd von der Seite an:

»... und wird wohl auch so ein großer Nichtsnutz werden, wie der Papa – das meinst du doch, wie?«

»Mag er nur den Frauen die Köpfe verdrehn!«

Kurt klopft ihr leicht auf die Wange:

»Na ja, Tonichen, die alte Geschichte: worunter man beim Manne leidet, darauf ist man beim Sohne stolz!«

»Jedenfalls muß er nach seinem Abitur zu Gabriele, um in die große Welt eingeführt zu werden ...«, sagt Toni eifrig.

Kurt Kemper hört nicht mehr zu.

»Kommst du mit, Junge? Ich hab' noch im Büro zu tun! ... Aber wasch' dir gefälligst die Hände vorher!«

Vom Glasgang aus sieht Toni, wie Vater und Sohn in eifrigem Gespräch Seite an Seite über den Fabrikhof gehen. Das Verwalterhaus ist gänzlich abgetragen. Längs des Zaunes zieht sich ein acht Meter breiter Rasenstreifen – die »tragische Ecke«, wie Toni sie nannte, ist aus der Welt geschafft. Jetzt erheben sich dort Robbys Turngeräte.

Nachdem die beiden um die Ecke verschwunden sind, kehrt Toni zurück zur Veranda und bündelt die englischen Journale, während sie die anderen in den Papierkorb wirft. Ihre Gedanken eilen jetzt immer der Gegenwart weit voraus, und sie schwelgt bereits in der Zeit, da sie »mit ihrem Sohn« als Gast einer englischen Lady, deren Schwester sie ist, in der Nähe Londons weilen wird. Denn die Linie Payne-Russel hat der Witwe des Lord Carwell das alte Schloß zu jederzeitiger Verfügung gestellt. In großen Zügen ist Toni ja immer durch Elisens Briefe und Karten über alles, was Gabriele betrifft, unterrichtet. Sie weiß, daß Johnsen Kastellan im Schloß Carwell ist, wußte, daß Gabriele in schwerer Lebensgefahr war, daß ihre Abneigung gegen Wiederaufnahme früherer Beziehungen einer an Schwermut grenzenden Lebensabkehr entsprach, weiß, daß ihr Wandertrieb einer durch nichts auszufüllenden Leere entspringt und daß sie fast Widerwillen empfindet gegen allen Zwang, den die Gesellschaft ihr solange auferlegt hat. Oft hat sich Elise beschwert, daß Fräulein Schorneder kaum noch Toilette macht, in Rock und Bluse oder im Pullover, in derben Stiefeln die ländliche Umgebung der Städte durchstreift, die eleganten Hotels meidet – am liebsten in Gasthäusern absteigt, wo sie abends ein ganz einfaches Mahl einnimmt.

Diese Gabriele wird ihrem Manne nie und nimmer mehr gefährlich werden – –! ...

* * *


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