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Der in großem Maßstab begonnene Ausbau der Kemperschen Schokoladenfabrik ist das Tagesgespräch nicht nur in Lörnach. Noch haben die sichtbaren Vorarbeiten nicht begonnen, und schon spürt Toni, wie das Leben sie und ihre ganze Umgebung in einen neuen Strudel reißt. All ihre täglichen kleinen Sorgen werden überspült von den starken Wellen einer fieberhaften Tätigkeit, in die sich ihr Mann und ihre Schwester gestürzt haben.

Gleich am nächsten Tage nach Gabrielens Ankunft hat er sie in die Fabrik abgeholt. Er führt sie durch alle Räume, angefangen mit der Kammer, wo die Vorräte an Kakao in Säcken liegen, vorbei an den großen Kesseln mit der heißen Schokoladenmasse, an der Schüttelmaschine für die Pralinen, durch den Saal, in dem die Packerinnen sitzen, durch das Etikettierzimmer und die Expeditionsstuben. Seine Augen blicken ein wenig unruhig. Mutzmann kommt auf ihn zu und meldet, die Theres' hätte einen Krankheitszettel geschickt. Dr. Kemper winkt ab. Eigentlich ist er erleichtert, daß die Theres' nicht in der Fabrik ist. Er fürchtet immer ihre spähenden, schnell erfassenden Blicke.

Gabriele steht gerade bei den Kartonfüllerinnen und spricht mit einem der Mädchen:

»Darf ich dir eine Schachtel Pralinen mitgeben? Übrigens bin ich dir ja noch immer eine ›Packung‹ schuldig – weißt du: die ›Gabrielepackung‹ ...?«

»So? Ich erinnere mich nicht.«

Das ärgert ihn. Seine stets wache männliche Eitelkeit ist leicht verletzt.

»Du weißt wirklich nicht, wie du dir als zwölfjähriges Mädel von mir hast eine ›Gabrielepackung‹ versprechen lassen?«

»Mag sein. Aber Versprechungen, deren Einlösung man nicht erwartet, vergißt man leicht.«

Kurt Kemper hat keine Ahnung, wie ungeschickt sein Zurückgreifen in die Kindheit war. Ihr leicht verändertes Aussehn schreibt er der süßlich-warmen, schokoladegetränkten Luft zu. Er nimmt rasch von einem Stapel eine obenauf liegende Packung und sagt:

»Wenn du willst, gehen wir gleich hier über die Wendeltreppe zu mir ins Büro hinauf.«

Er geht als Erster voran. Auf der vierten Stufe stutzt er, stellt sich mit dem Rücken breit vor Gabriele.

»Nanu, Theres' ...? Mutzmann sagte doch, Sie wären krank?«

»Ich habe mich grad' wieder gesund gemeldet.«

Wohl oder übel muß Kurt Kemper beiseite treten, muß die Theres' an sich vorbeilassen, die ganz langsam und mit weit geöffneten Augen, grußlos, an Gabriele vorüber die Stufen hinabsteigt. Die Theres' hört noch, wie Gabriele fragt: »Ist denn das hier bei euch üblich, daß die Fabrikleute über die Wendeltreppe in die Büros kommen?« Kurt Kemper schlägt mit der Schachtel ärgerlich auf das Treppengeländer:

»Nein. Üblich ist es durchaus nicht. Aber die Theres' nimmt sich so manches heraus. Die Person ist sonst tüchtig, weiß es und pocht darauf. Als wir im vorigen Jahr hier eine schwere Grippeepidemie hatten und viele Arbeiterinnen fehlten, griff sie überall ein, so daß wir keine Hilfe einzustellen brauchten. Sie ist sonst Vorarbeiterin.«

Im Büro rückt er Gabriele einen bequemen Lehnsessel zurecht. Es ist ein behaglich ausgestattetes Arbeitszimmer. Auf einem Mitteltisch liegen Tages- und Fachzeitungen. Längs der Wand steht ein kurzes Ruhebett. Eine niedere Tür führt zu einem kleinen Nebenraum mit Waschgelegenheit und Kleiderablage. Von den zwei Fenstern aus, zwischen denen der Schreibtisch steht, überblickt man den Hof mit dem langgestreckten Bau des Verwalterhauses, in dem das Mutzmannsche Ehepaar und auch die Theres' im Erdgeschoß wohnen, während das ganze obere Stockwerk dem Verwalter eingeräumt ist.

»Weißt du, Gabriele, daß die Fenster meines Büros und deiner Wohnung einander gegenüberliegen? ... Und wenn du abends durch den Glasgang gehst, kann ich dich von hier aus sehn.«

»So?« wirft sie gleichgültig hin.

Kurt Kemper ist leicht irritiert, da er fühlt, wie Gabriele alles Persönliche zwischen ihm und ihr auszuschalten versucht.

»Willst du jetzt die Bücher sehen?« fragte er.

»Nein, davon verstehe ich nichts. Aber ich denke, wir lassen uns vor allem mal ein paar tüchtige Fachingenieure kommen und den Vertreter einer großen Baufirma, damit wir uns ein Bild machen können von dem, was wir noch zukaufen müssen und welche Mittel für Bauten und Neuanschaffungen nötig sind. Und was nun die Bücher betrifft, so möchte ich einen Bücherrevisor beauftragen, eine Bilanz zu machen und den ganzen Status festzustellen.«

Kurt Kemper wurde unwillkürlich an Herrn Schorneder erinnert. Ja, war denn Gabriele kein Weib? ... Und ohne jeden Übergang fragt er:

»Warum hast du eigentlich nicht geheiratet?«

»Warum hätte ich denn heiraten sollen?« gibt sie zurück. »Eine männliche Stütze, wenn ich ihrer bedurfte, hatte ich an meinem Vater. Weshalb also sollte ich meine Selbständigkeit aufgeben?«

»Na erlaube, es gibt doch noch andere Gesichtspunkte!«

»Für mich nicht.«

Ihr Ton ist fast schneidend.

»Ich denke, die Besichtigung ist jetzt zu Ende«, fährt sie fort, »und wir können hinübergehn. Wir haben dann noch Zeit genug, im Laufe des Tages zu besprechen, wie wir die Sache nun zunächst anpacken wollen.«

Toni gibt sich jetzt immer sehr viel Mühe mit der Zusammenstellung der Speisenfolge. Aber niemals war ihr Mann so gleichgültig gegen das, was auf den Tisch kam, und Gabriele konnte sogar eine leichte Ungeduld nicht unterdrücken, wenn sich die Mahlzeit länger hinzog. Der schwarze Kaffee wird immer in Gabrielens Zimmer genommen. Toni hat sich ein- für allemal dabei entschuldigen lassen. Denn sie fühlt, wie gezwungen die Unterhaltung in ihrer Gegenwart ist.

Sie hat jetzt viel weniger noch von ihrem Manne als früher, und nur ihr freiwilliger Verzicht auf das Zusammensein mit ihm und Gabriele erleichtert ihr die Lage. Aber als eines Morgens Kurt Kemper ihr erklärt: »Du, Kleine, ich fahre heute nach Tisch mit Gabriele nach Mannheim, auf zwei, drei Tage, wegen der neuen Maschinen, weißt du«, fühlt sie plötzlich, wie alle ihre Gedanken wild durcheinanderwirbeln.

»Ja wie denn ... du mit Gabriele allein ...?«

»Willst du etwa mitkommen, Toni – bitte. Aber ich mache dich gleich darauf aufmerksam, es ist keine Vergnügungsreise. Wir haben Laufereien, Besprechungen – in der Zeit mußt du allein im Hotelzimmer sitzen. Wenn dir das Spaß macht –?«

Sie möchte fragen: Und abends? Was macht ihr denn abends? – Sie traut sich nicht. Vielleicht erzählt er das alles Gabriele ... Und dann lachen sie beide über sie ...

Sie müht sich krampfhaft, nichts von ihrer Unruhe zu zeigen. Setzt das Essen sogar um eine halbe Stunde früher an, »damit ihr euch nicht so abzuhetzen braucht«. Ist gesprächiger als sonst bei Tisch.

»Für den Kaffee in der Bibliothek wird es wohl zu spät, Gabriele, nicht wahr?«

»Ich denke, wir nehmen den Kaffee im Speisewagen, Kurt?«

Toni denkt: ich hätte doch mitfahren sollen, und gleich darauf: nein, Gabriele würde mich erdrücken – vielleicht sähe ich neben ihr aus wie ihre Kammerjungfer – zwischen Kurt und Gabriele verliere ich mich selbst.

Gabriele ahnt nicht, welchen Sturm Toni innerlich niederkämpft. Sie ist heiterer und unbekümmerter als sonst.

»Du bist ja so vergnügt«, sagt Toni.

»Ja, weißt du, Kleine, ich bin immer vergnügt vor und während einer Reise. So richtig wohl fühle ich mich eigentlich nur, wenn ich unterwegs bin. Ich weiß nicht, ist es das Geratter der Wagen, das Vorbeifliegen an all diesen seßhaften Menschen und unverrückbaren Dingen ... an all den Schicksalen, die ich nicht kenne und auch nicht kennen will, an allem, was so im Leben an einem hängt und klebt, und was man nicht abschütteln kann ... Aber wenn ich in der Bahn sitze oder auf einem Schiff, dann ist es mir, als ginge ich ein in eine ganz neue große Welt, wo Erlebnisse nicht gleich zu Schicksalen werden.«

Toni versteht sie nicht ganz. Toni versteht nie etwas, was über das Greifbare ihres engen Lebenszuschnittes hinausgeht. Zudem horcht sie auf die Stimme ihres Mannes, die jetzt von seinem Zimmer aus herüberdringt. Auch tritt Elise ein, um sich noch einige Weisungen von Gabriele zu holen. Es scheint Toni alles so unordentlich und zerfahren. Das Mädchen kommt herein und fragt, ob der Chauffeur vor dem Fabriktor oder der vorderen Haustür halten soll.

Kurt Kemper hat die Frage gehört und befiehlt merkwürdig hastig und schroff: »Natürlich vorne!«

»Das ist aber doch unbequemer für Gabriele«, wirft Toni ein.

»Es bleibt dabei«, entscheidet Kurt Kemper. »Sie bringen die Sachen meiner Schwägerin wohl herüber, Elise.«

Und Toni, wie immer unbewußt hilfsbereit, sagt:

»Ich helfe Ihnen, Elise.«

»Aber laß doch, Kleine.«

Gabriele schenkt sich noch ein halbes Glas von dem schweren Rotwein ein. Sie trinkt sonst eigentlich immer nur am Abend, aber die leichte Vorfreude am bevorstehenden Ortswechsel gibt ihr festliche Stimmung:

»Es ist doch ulkig – wenn ich von Schottland nach Paris reiste oder von Paris nach Holland, so löste es in mir kaum einen größeren Reiz aus als der Katzensprung hier nach Mannheim.«

Ihre Wangen sind leicht gerötet, und sie fühlt, stärker als sonst, wie der heiße Wein ihr wohlig durch die Adern das Blut treibt.

Kurt Kemper tritt an den Tisch und rafft eine Handvoll Zigaretten aus der großen Blechschachtel, um sie in sein Etui zu stecken. Während er seinen Rock zurückschlägt, dringt ein ganz leiser, herber Duft, ein Gemisch von Rauchkraut und starker russischer Eau de Cologne zu Gabriele hinüber. Sie tritt ein paar Schritte zurück. Das Blut läuft ihr aus den Wangen. Sie ist wie ernüchtert.

Toni, die Elise gefolgt war, wirft einen Blick durch den Glasgang auf den Fabrikhof. Es ist Sonntag. Der Hof ist leer, aber zu einem der geöffneten Fenster schallt eine brüchige, keifende Frauenstimme herein. Unwillkürlich hemmt Toni den Schritt, und gleich darauf sieht sie Mutzmann die zwei Stufen des Verwalterhauses herunterkommen und die Tür krachend hinter sich zuschlagen. Dann stellt er sich breitbeinig vor das Haus, beide Hände in den Hosentaschen. Sein Haar flattert ihm ungeordnet um den Kopf, und der breite gerötete Hals droht den Schluß des schmalen Hemdbundes zu sprengen.

Seine Frau hat ihn wohl aus der Mittagsruhe aufgescheucht, denkt Toni. Aber plötzlich sieht sie ihn lachen und kopfschüttelnd auf etwas zugehen. Noch kann Toni nicht erkennen, was es ist. Aber dann sieht sie, wie sich eine Gestalt vom braunen Tor löst, sieht, wie ein aschgraues, junges Gesicht aus großen dunklen Augen zum Glasgang heraufstarrt. Es ist die Theres'. Sie rührt sich nicht – auch als Mutzmann mit dem Handrücken leicht gegen ihre Schulter schlägt. Wie aus Holz geschnitzt steht sie da, in ihrem braunen, losen Kittel, der notdürftig die beginnende Unförmigkeit ihres Leibes verbirgt.

Es ist eine gewisse Gutmütigkeit in Mutzmanns Bewegung, mit der er die Theres' von ihrem Platz wegschiebt. Er scheint auf sie einzureden. Sie hat den Kopf gesenkt und die Schultern hochgezogen. Sie bleibt plötzlich wieder stehn, stellt sich ihm gegenüber auf und schlägt ihm mit der flachen Hand gegen die Stirn. Dann läuft sie unbeholfen an der Seitenfront des Verwalterhauses vorbei.

Toni weiß bestimmt, daß sie jetzt zum vorderen, großen Fabriktor hinaus auf die Straße will, in der Richtung des wartenden, ratternden Autos, das vor dem Hause hält. Mutzmann zuckt die Achseln und läßt sich schwerfällig, mit gespreizten Beinen, auf die Bank vor dem Verwalterhaus fallen.

Das alles hat sich so rasch abgespielt, daß Toni nur der Eindruck geblieben ist von zwei nicht miteinander verknüpften, aber gleich schweren Schicksalstragödien, und eine sinnlose Angst packt sie plötzlich, daß eine dritte Tragödie sich vorbereiten könnte – hier oben, in ihrer nächsten Umgebung.

Elise kommt mit Gabrielens elegantem Reisenecessaire aus rotem Juchten, dem Handkoffer, Mantel und Hut ihrer Herrin Toni entgegen.

»Geben Sie her«, sagt Toni und nimmt ihr das Necessaire aus der Hand.

»Na, wo bleibst du denn, Toni?« ruft Kurt Kemper ihr ein bißchen ungeduldig entgegen. Er hat noch ein paar Aufträge zu erteilen. Sie soll zweimal täglich hinüber ins Büro gehen und die Korrespondenz holen. Der Verwalter wird ihr mitgeben, was an ihn persönlich gerichtet ist, damit sie's ihm nachschickt: »Du weißt doch, ins Hotel, wo ich immer absteige. Ach ja ... und dann schreibe doch auch gleich mal unserem Weinlieferanten, er möchte von dem letzten Burgunder, der uns so gut geschmeckt hat, dreißig Flaschen schicken – nicht wahr, Gabriele?«

Gabriele knöpft ihren seidenen Staubmantel zu:

»Sage lieber gleich fünfzig. Denn nachher kommen die Herren von außerhalb, und da muß ja etwas Wein da sein.«

Sie beugt sich über Toni, fast mütterlich:

»Was soll ich meiner kleinen Toni mitbringen?«

Toni lacht gezwungen:

»Bring' mir nur meinen Mann mit –«

»Kleines Schaf ...«, und zwei Finger von Gabrielens Hand schlagen leicht, fast zärtlich gegen Tonis Wange.

Dann drückt Kurt Kemper den Kopf seiner Frau an sich, küßt sie auf die Schläfe.

»Mach's gut, Tonichen. Auf Wiedersehn in ein paar Tagen. Und wenn was Besonderes ist, dann telegraphierst du.«

Dieser Satz ist immer der letzte, den er sagt vor einer Reise. Aber Toni hat noch nie telegraphiert, denn noch nie hat sich was Besonderes ereignet.

Elise ist schon unten mit den Sachen. Der Chauffeur hat den Handkoffer von Dr. Kemper geholt.

»Na was denn, Tonichen, willst du mit bis zum Wagen kommen?«

»Ja«, sagt sie.

Es ist das sonst nicht ihre Art, aber ihr ist die Theres' eingefallen, die da vielleicht irgendwo lauernd steht.

Der Wagen setzt sich in Bewegung, und im Augenblick ertönt ein geller Schrei.

»Um Gottes willen, das Robertle! Um ein Haar wär' es in den Wagen hineingelaufen!« ruft Elise entsetzt.

»Verdammter Lausbub!« schreit der Chauffeur im Abfahren.

Toni fängt den Kleinen in den Armen auf:

»Du schlimmer Bub, du!«

Sie sieht sich um nach der Mutter. Die schwarze Theres' lehnt aschfahl, mit wankenden Knien, am Gitter. Toni führt ihr das Kind zu.

»Es ist ihm nichts geschehen. Aber besser wär's, Sie ließen das Kind nicht alleine auf der Straße spielen!«

Die Mundwinkel der Theres' zucken, sie hat Mühe, ein Wort zu formen. Nur » merci« sagt sie, » merci«. Beugt sich über den Jungen – und in ihrer Erregung küßt sie sein Gesicht ab und pelzt ihm gleichzeitig mit der Hand ein paar kräftige Hiebe auf das Höschen. Dann reißt sie ihn mit sich fort, ohne sich noch einmal nach Toni umzuwenden.

Toni ist wieder oben. In ihr zittert noch die Gefahr nach, in der das Kind geschwebt hat ... So ein bildhübscher kleiner Bengel! ... Er hat das dunkle, etwas lockige Haar der Mutter, mit rötlichem Schein, der es rostbraun aufflammen läßt, und die lichtbraunen Augen, die Toni so gut kennt ... wenn sie sich spöttisch oder zärtlich, zornig oder gleichgültig auf sie richten ... Und diese Anmut des kleinen Körpers, in dem groben blauen Leinwandkittel ...!

Sie denkt an diesem Nachmittag soviel an das Kind, daß sie jetzt die zwei im Wagen ganz vergessen hat. Und merkwürdig – wie sie jetzt durch die Wohnung schreitet, ist ihr, als atme es sich leichter und freier in ihr.

*

In Mannheim angekommen, sagt Gabriele:

»Du machst vielleicht noch einen Bummel, Kurt ...? Ich bin müde und ziehe mich in mein Zimmer zurück.«

Kurt hat Mühe, seine Enttäuschung nicht zu zeigen: – ist ja alles sehr nett mit der Kompanieschaft und Kameradschaft und den geschäftlichen Besprechungen, den Ausbauplänen und den weitgehendsten materiellen Möglichkeiten. Aber Gabriele ist ein Weib, zum Donnerwetter! Ein schönes, gepflegtes Weib! Nie im Leben ist es ihm vorgekommen, daß er als Mann so gänzlich erfolglos blieb – Noch nie hatte eine Frau so kalt an ihm vorbeigesehen – Das reizt ihn. Und vielleicht gibt das seinen Gedanken eine Richtung, die sie sonst nicht so rasch genommen hätten. Nicht einmal zu einem harmlosen Wortflirt will sie sich verstehen – Und er muß sich sagen, daß er ihr als Mann nicht mehr bedeutet als der Fabrikverwalter, der Mutzmann oder der Chauffeur – –

Das ist ihm geradezu ungemütlich. Und dabei fühlt er instinktiv, daß sie gar nicht maskulin veranlagt ist – trotz ihrer Vorliebe für den Burgunder, die sie von Herrn Schorneder geerbt hat, und die starken Zigaretten, die selbst ihm zu schwer sind.

»Schon müde ...? Na – angenehme Ruhe, Gabriele.«

»Danke, danke. Morgen um neun bin ich unten beim Frühstück. Wir wollen dann gleich losfahren, nicht wahr?«

Sie reicht ihm die Hand, den Handkuß hat sie sich ein- für allemal verbeten.

Aber diesmal versucht er es doch, ihre Hand an seine Lippen zu ziehen.

»Na na, was soll das, Kurt?«

Brüsk läßt er ihre Hand fallen:

»Hast du solche Angst? ...«

»Red' keine Dummheiten.«

Sie macht ihm die Tür vor der Nase zu, und er hört, wie sie den Schlüssel umdreht. Durch die geschlossene Tür aber dringt sein Pfeifen an ihr Ohr: »Mädchen, mein Mädchen – wie liebst du mich ...«

Der Abend ist noch lang. Gabriele bestellt eine halbe Flasche Rotwein und eine Flasche Selters. Das Selters gießt sie in die Waschtoilette und läßt es abfließen. Dann streckt sie sich auf dem Ruhebett aus, raucht nachdenklich und trinkt von Zeit zu Zeit einen großen Schluck aus dem Glas. Dabei lösen sich langsam und grell allerlei Bilder aus der Vergangenheit – – –

Kaum sechzehn war sie, als sie den ersten Heiratsantrag durch Vermittlung ihrer Mutter erhielt. Sie nahm ihn so wenig ernst, wie es im Grunde die Eltern taten. Aber als sie dem abgewiesenen Freier, der ausgangs der Dreißiger war und im Ministerium eine große Karriere vor sich hatte, nach Wochen auf irgendeinem Fest begegnete, empfand sie es fast als körperliche Beleidigung, daß er es gewagt hatte, sich in seinen Gedanken mit ihr als seiner Frau zu beschäftigen. Und wenn ihr Blick auf ihn fiel, so erwachte augenblicklich die Vorstellung in ihr von einem gemeinsamen Schlafzimmer mit zwei Ehebetten, von zu erduldenden und verlangten Zärtlichkeiten, von Liebesspielen, die nur darum nicht schamlos waren, weil sie von einem Standesbeamten vorher schriftlich sanktioniert waren.

Und schamlos erschien ihr alles, was an männlicher Körperlichkeit den Weg zu ihr suchte. Schamlos erschien sie sich selbst, wenn ein plötzliches unbewußtes Wohlgefallen sie äußerste Zurückhaltung vergessen ließ. Ihr war, als müsse der Mann in jedem wärmeren Ton ihrer Stimme, in jedem Lächeln eine Herausforderung zur Anknüpfung sehen. Und so züchtete sie in sich eine stets wache Abwehr. So fest umpanzert hatte sie sich, daß selbst die leidenschaftlichsten Anträge spurlos an ihr abglitten. Vielleicht war es ihr persönliches Schicksal, daß jeder immer nur das Weib und nicht den Kameraden in ihr sah. Es war ihr fast lieber, sie konnte eine Annäherung zurückführen auf den lockenden Reiz ihres Reichtums, als auf den ihrer Person.

Nach dem Tode ihres Vaters wurden die Bewerbungen zahlreicher und stürmischer, ein jeder hoffte, als Beschützer willkommen zu sein, und die wenigsten glaubten ihren Worten, wenn sie sagte: »Ich will überhaupt nicht heiraten.«

Kein Zufall war es, daß sie sich dem Kemperschen Hause angeschlossen. Für Kurt Kemper, den nächsten Verwandten, den Gatten ihrer Schwester, konnte sie als Weib ja gar nicht in Frage kommen. Auch hatte sie ihn als einen von Sorgen Zermürbten zu sehen erwartet, dem sie als helfender Kamerad das Ende aller Nöte und große Lebensmöglichkeiten bringen würde.

Sie erschrak, als er auf dem Bahnsteig vor ihr stand. Das war kein Zermürbter, kein unter der Last des Lebens Stöhnender – das war der sieghafte, spöttisch lachende, selbstsichere, von Frauengunst getragene Dr. Kurt Kemper, dem ihr zwölfjähriges Kinderherz in frühreifer, leidenschaftlicher Aufwallung entgegengeflogen war. Das war der Kurt Kemper, den sie mit kindlicher Wollust »du« und beim Vornamen nannte. Das war derselbe Mann, der ihr damals an der Seite ihrer blassen, schmächtigen Schwester wie ein berückender Romanheld erschien, und mit dem sie in schwelgerisch kindlichen Phantasien alle sinnliche Romantik einer jungen Ehe durchkostete. Der Mann, von dem sie in die Arme genommen zu werden träumte, und dessen Lippen sie in kindlich-lüsterner Verwegenheit gesucht hatte.

Es war aber auch der Mann, der ihr eine erste körperliche Züchtigung eingetragen hatte – der Mann, um dessentwillen sie »schamloses Ding« genannt worden war ... schamlos!

Als wäre es gestern gewesen, so lebhaft steht jetzt Toni vor ihr in ihrem bräutlichen Staat. Und ihr ist, als fühle sie noch jetzt den Backenstreich, der ihr damals das Blut fast zum Erstarren gebracht.

Nicht fast – wirklich zum Erstarren.

Schamlos ... Das Wort hatte sich in sie hineingefressen wie ätzendes Gift. Und später, da sie es zu ihrem eigenen gemacht hatte, verschwand der Groll gegen die Schwester, und nur das Schuldbewußtsein – größer als es ihr kindlicher Überschwang verdiente – blieb übrig.

Gabriele leert den Wein bis auf die Neige. Sie kann sich nicht entschließen, ihr Bett aufzusuchen. Aber doch werden ihr die Lider schwer, und im Halbschlaf hört sie, wie im Zimmer nebenan die Tür zum Gang ins Schloß fällt.

Im Hotel waren nur noch diese zwei nebeneinanderliegenden Zimmer frei.

Sie leidet unter der Nähe, die sie fühlt. Denn gerade seine Rücksicht, seine leisen Bewegungen beweisen ihr, daß er jetzt an sie denkt. Er soll, er darf nicht an sie denken!

Sie hätten doch Toni mitnehmen sollen – – Aber wenn sie darauf bestanden hätte, dann hätte sie wieder sein spöttisches Lächeln gesehn und hätte schon in ihrem Bibliothekzimmer sein impertinentes »Hast du solche Angst ...?« gehört.

Ihre Nacht ist unruhig und voll quälender, häßlicher Träume. Aber am nächsten Morgen um neun ist sie die erste unten am Frühstückstisch, und ihre ersten Worte nach der Begrüßung gelten den geschäftlichen Besuchen, die sie zu machen haben.

*

Tagsüber ist es heiß und staubig in Lörnach. Nach Fabrikschluß klopft Elise bei Toni an:

»Ich möchte gern noch ein bißchen ausgehn. Gnädige Frau hat wohl nichts dagegen?«

Es ist nur Höflichkeit, denn Elise untersteht in keiner Weise Tonis Befehl. Toni nickt, ohne Elise anzusehen. Auch diesem großen und starken Mädchen gegenüber fühlt sie sich ohne jede Autorität. Manchmal möchte sie warnen. Die Geschichte mit Mutzmann geht ein bißchen weit. Die Dienstboten sprechen schon darüber, und da Toni jetzt allein ist, dringt mehr zu ihr als sonst. Wie kann Elise nur so unbedacht sein. Die Kräche im Mutzmannschen Hause mehren sich.

Als Toni heute die Post aus dem Büro holte, meinte der Verwalter: »Könnten Frau Doktor der Jungfer von Fräulein Schorneder nicht sagen, daß sie sich den Mutzmann ein bißchen fernhält? ... Seine Frau hat heute nacht wieder zwei Stunden getobt. Es ist eben eine einfache, ungebildete, eifersüchtige Person, aber immerhin der Mann treibt es a bißle weit ... Ist ihm vielleicht net zu verdenke bei der kranken Frau ... nur a bißle vorsehn müßt' sich halt das Fräulein Elis'. Na, Frau Doktor, Sie wissen ja – die Weiber sind immer die, wo anfangen, und sind dann doller als wir ... gelle?«

Toni fühlt sich geradezu verpflichtet, Elise zu warnen, und wagt es doch nicht. Fast zaghaft sagt sie nur:

»Kommen Sie nicht zu spät zurück. Mutzmanns Frau macht sich unnütze Gedanken, wenn ihr Mann spät heimkommt.«

Toni stickt gerade an einem Goldtäschchen und sucht angelegentlich ein paar Perlen auf die Nadel zu spießen.

Elisens Hand fällt schwer auf die Türklinke:

»Ist aber auch schrecklich für so einen gesunden, kräftigen Mann, mit einer verheiratet zu sein, die ihm nicht Frau sein kann. Und was so in Lörnach herumläuft – ist ihm auch nicht zuzumuten ... so ein Mann ist doch froh, jemanden zu haben, mit dem er reden kann. Er hat ja schließlich das Technikum besucht ... Ist ja nur gut, daß der Betrieb hier größer wird – da hat er wenigstens mehr Freude an der Arbeit. Wäre die kranke Frau nicht, mit der ganzen Verwandtschaft ringsherum – er wär' vielleicht schon längst woanders.«

Toni nickte, ohne zu antworten. Dagegen läßt sich nichts sagen. Und sympathisch ist die ewig jammernde und keifende Frau Mutzmann ihr selbst nicht. Sie schickt ihr manchmal Essen hinüber oder eine Flasche Wein, aber nur selten entschließt sie sich, zu ihr hinüberzugehn – schon aus Angst, sie könnte der schwarzen Theres' begegnen, deren Wohnung gerade gegenüber auf dem gleichen Flur liegt. Und meist macht sich irgendeine Base oder alte Tante in der Mutzmannschen Wohnung zu schaffen, die darum doch vernachlässigt aussieht und in der die Luft immer stickig und schlecht ist.

Über der Kommode hängt das Bild der Frau Mutzmann im Brautschleier: sie hält sich fast krampfhaft fest an dem Arm ihres eben angetrauten großen und noch schlanken Mannes, mit dem Myrthezweiglein im Knopfloch des gut sitzenden Fracks. Ganz niedlich, die kleine Frau, die dem Mann eine für die Verhältnisse ganz ansehnliche Mitgift zugebracht hatte. Aber schon nach den ersten zwei Ehejahren verschwand das kleine Vermögen in der Inflation. Zwei Fehlgeburten untergruben die Gesundheit der Frau, und so mußte Mutzmann auf seine ehrgeizigen Zukunftspläne verzichten und Ehe und untergeordnete Stellung wie eine schwere Last ertragen.

Da trat nun Elise in seinen Weg, von Kraft und Gesundheit strotzend, gescheit und weit gereist ... War es ihm zu verdenken?

Freundlicher sagt Toni:

»Gehen Sie nur, Elise. Es ist ein so schöner Abend.«

Während des Nachtessens, das Toni auf der kleinen Veranda einnimmt, die auf den Garten hinausführt, läutet Kurt Kemper an. Seine Stimme ist frisch und angeregt. Die Verhandlungen gehen alle gut vorwärts: »Kunststück, wenn man mit dem Gelde nicht zu knausern braucht!« Gabriele sekundiere übrigens prachtvoll. Heute abend gingen sie ins Theater und träfen sich nachher mit einem Oberingenieur und einem Rechtsanwalt. Und in der Fabrik wäre alles im Lot? ... Die Post hätte er richtig bekommen. Toni solle doch ein bißchen nach Basel fahren und ein paar bekannte Damen zum Tee ins Kasino einladen. Oder die eine oder andere auf einen Autoausflug mitnehmen – »nur nicht in den Stuben hocken und sich die Augen mit zwecklosen Handarbeiten verderben!« Sie würden dann auch aus Mannheim einen Diener mitbringen, denn sie bekämen in der nächsten Zeit viel auswärtigen Geschäftsbesuch. Küche und Keller müßten jetzt für unvermutete Gäste immer gerüstet sein.

»Warte, Tonichen, Gabriele will dir auch noch ein paar Worte sagen!«

Fast schwer und bedächtig klingt Gabrielens Stimme nach Kurt Kempers leicht sprudelnder Art, aber es sind nur einige ganz belanglose Sätze. Und zum Schluß in kurzem, gutmütigem Lachen:

»Na also, in drei, vier Tagen sehen wir uns ja, Toni, und ich bringe dir deinen Mann unversehrt zurück.«

*

Auch in Lörnach geht alles mit Riesenschritten vorwärts. Die Fabrik soll nach dem Nebengrundstück hin erweitert werden. Dieses Grundstück zu erwerben, war leicht, dem Besitzer war schon mit Zwangsversteigerung gedroht worden. Bauarbeiter, in so großer Zahl, wie sie Lörnach kaum bei einem Bau gesehen, schafften den ganzen Tag auf dem Gelände. Ein neues Maschinenhaus wird vor allem errichtet. Bei Dunkelwerden flammen große Scheinwerfer auf: Nachtschicht.

Gabriele findet keine Ruhe. Sie kann stundenlang im dunklen Glasgang stehen und hinausstarren auf den von Menschen wimmelnden Bauplatz. Jeder Hammerschlag gibt ihr ein Frohgefühl. Es geht etwas vorwärts! Ihr ist, als würde ihr jede Bangigkeit aus Hirn und Herzen herausgehämmert.

Toni klagt über Kopfschmerzen und über den Staub auf allen Möbeln. Es ist eine Unruhe um sie herum, die ihr jeden Winkel ihres Hauses verleidet.

In ganz Lörnach spricht man nur von dem großartigen Erweiterungsbau der Kemperschen Fabrik. Im »Blauen Stern« wird Kurt immer mit Halloh und hochgehobenen Biergläsern empfangen. Er hat dort zwei Zimmer fest gemietet, für die Bauleiter. Das entlastet Toni wenigstens am Abend. Aber es kommt auch oft vor, daß die Herren abends bei Gabriele sitzen. Dann wird viel Wein getrunken, und Elise geht am nächsten Tage mit müden, schlaffen Zügen herum.

Elise scheint überhaupt verändert.

»Fehlt Ihnen was?« fragt sie Toni einmal.

Elise schüttelt den Kopf.

»Nein, gnädige Frau. Nur die Hitze ... Und die vielen Menschen ... und der Föhn. Und nachts das Gehämmere.«

Die Dienstboten lachen heimlich über Mutzmann und Elise, die sich jetzt nicht mehr wie sonst über den dunklen Hof hinausstehlen können. Aber niemand spricht von der schwarzen Theres'. Niemand weiß, daß sie hinter den herabgelassenen Rolläden auf den Hof hinausspäht und wartet – – wartet – –

Wie lange ist es her, daß sie das letztemal abends oben im Büro war! Da hatte er ihr eine Pralinenschachtel mitgegeben, die auf seinem Schreibtisch lag. Das war bald nach der Ankunft von Fräulein Schorneder gewesen. Erst als sie nach Hause kam, sah die Theres', daß in der weißen Ecke der Schachtel oben der Name »Gabriele« stand. Sie warf die Schachtel in den Kehrichteimer und goß Wasser nach, damit nicht etwa das Robertle die » saleté« herausnahm. Aber am nächsten Morgen fand sie den Kleinen vor dem Eimer, wie er seinen Finger immer wieder in die schwarze Brühe tauchte und ableckte. Sie gab ihm eine Ohrfeige. Nun sitzt sie hinter dem Rolladen und wartet. Aber der Hof ist wohl zu hell – er kommt nicht.

Eines Abends sieht sie ihn mit Fräulein Schorneder langsam über den Hof schreiten, hinter die Fabrik, zum neuen Maschinenhaus. Sie gehen nicht sehr nahe nebeneinander, aber doch fühlt sie eine Nähe zwischen ihnen, die sie dem Wahnsinn nahebringt. Unflätige Schimpfworte murmelt sie leise vor sich hin, spuckt auf die immer so sauber gehaltene, weiß gescheuerte Diele.

»So ein Mensch ... quelle rosse ...! Betrügt die Schwester ...! Pauvre Madame!«

Ihr Herz ist voll Mitleid für Toni.

An ihre Stubentür wird hart geklopft.

» Entrez!«

Ihre schwarzen Augen glühen der Eintretenden entgegen. Es ist Frau Mutzmann. Sie hält sich kaum auf den Beinen, läßt sich auf dem Stuhl neben der Tür nieder.

»Ich kann nicht mehr, Theres'! Ich kann nicht mehr ...«

Die Theres' rührt sich nicht.

»So reden Sie doch, Theres' – sagen Sie ein Wort. Sagen Sie, er ist ein Lumpenkerl! Die dritte Nacht, daß er um eins noch nicht zu Hause ist! Heute brachte der Diener mir eine Flasche Rotwein von der Frau Doktor ... ich gab ihm ein Glas zu trinken ... aber so einem Kerl ist ja guter Wein nichts Rares – leert ja doch alle Flaschenrester drüben ... Ich frag', wo die Elis' ist ... Sagt er mir doch ins Gesicht: Na, das werden Sie ja wissen, Frau Mutzmann! So gemein zwinkert er mich dabei an. Und dann: ›Hätte geglaubt, die Elise wär' eine Frau für mich – aber nö, mit sowas gibt sich unsereins nicht ab! Rester-Essen, nö!‹ ... Die Flasche hätte ich ihm ins Gesicht werfen mögen! ... Na – so sagen Sie doch was, Theres'!«

Verbissen und verächtlich murmelt Theres':

» Les hommes ...«

Es ist ganz still in der dunklen Stube, in die nur durch die Ritzen des Rolladens das Licht der Scheinwerfer und schweres Hämmern dringt. Mühsam humpelt die Kranke bis zur Fensterbank.

Sie spricht ganz leise und aufgeregt:

»Wissen Sie noch, Theres', wie Sie herkamen ... Wir waren schon zwei Jahre da, und meine Krankheit fing an. Aber ich konnte noch schaffen im Hause, und es war sauber bei mir – gerade wie bei Ihnen, Theres'. Nur nachts, da brauchte ich mal dies oder das, und mein Mann war gut zu mir. Gab mir die Medizin ... brachte mir Wasser, murrte nie, wenn ich ihn weckte oder er selber aufwachte von meinem Herumgehn. Es gab auch noch Wochen, wo ich glaubte, ganz gesund zu sein, und er nahm mich mit am Samstag abend in den »Löwen«. Na ja – manchmal ging er ja auch alleine. So ein Mann will ja auch spüren, daß er frei ist ... Aber wenn er kam und ich nicht schlief, dann setzte er sich noch an mein Bett und erzählte mir was – zu klatschen hat's immer was gegeben in Lörnach. Schon über die Fabrikmädel, die unserem Herrn Doktor nachliefen ... Aber dann hat's geheißen, nur Sie hätten 'n Stein im Brett bei ihm – hübsch waren Sie ja ... und anders als die Mädchen hier ... Haben sich auch nichts herausgenommen! ... Und Dreyer, der Maschinist – Sie wissen ja – der war ja ganz verrückt nach Ihnen ... wollte Sie partout heiraten ... Na, und Sie gingen ja auch mit ihm – und als es dann soweit war mit Ihnen, da sprach man von Hochzeit. Aber dann verlangte er plötzlich sein Arbeitsbuch, und weg war er! Na, geschimpft haben alle mächtig über ihn ... und viele haben's gar nicht verstanden, daß Sie so ruhig geblieben sind ... Aber – ich dachte mir mein Teil ... um den Dreyer ... da hätten Sie keine Träne vergossen ... und waren vergnügter nach seinem Weggang als vorher ... Auch mein Mann sagte, daß Sie die beste Arbeiterin wären in der Fabrik ... Und als dann das Kind kommen sollte und Sie im Spital lagen ... da hat der Herr Doktor Ihnen die Wohnung hier anweisen lassen ...«

Theres' wirft den Kopf zurück, daß er hart an das Fensterkreuz anschlägt:

»Weiß schon, Frau Mutzmann ... War eine gute Zeit damals für mich ...! Aber dumm war's doch, daß ich hierher zurückgekommen bin vom Spital ... Und der Dreyer hat's eigentlich nicht verdient, daß man ihn im Verdacht hatte! ... Pauvre homme ... Er hat mir dann noch geschrieben. Aber ich wäre ihm keine gute Frau gewesen. War keine Liebe in mir für ihn. Hatte nur noch Liebe für mein Robertle und für ... für den Vater. Wäre hier geblieben, auch ohne die Wohnung und – – als letztes Fabrikmädel! ...«

Noch näher rückt Frau Mutzmann an Theres' heran, krampft ihre Hände um Theresens Knie:

»Weiß es, Theres'! Weiß es! Hab' drum auch keinen Stein auf Sie geworfen. Na ... und dem Herrn Doktor ... dem kann man ja doch nicht böse sein ... dem hat's der liebe Herrgott halt gegeben, daß ihm alles zufliegt ... Ist ja auch ein Herr und kann sich's leisten. Kann immer Pflaster auf 'ne offene Wunde legen ... Aber mein Mann –! Wo er doch Liebe gehabt hat und Geduld ...«

Die Hände der Kranken fallen von Theresens Knien herab:

»Zu lang' ... zu lange hat sie gedauert, meine Krankheit! ... Und immer schlimmer wurde sie ... und immer schwächer wurde ich ... Und in mir war nur Angst ... Angst hatte ich vor der Ungeduld meines Mannes, wenn ich Hilfe brauchte ... Und noch mehr Angst, wenn er auf seinem Recht als ... als mein Mann bestand. Eine Hölle war's, Theres'! ... Eine Hölle! Alles hat meine Krankheit mir weggefressen ... meine Jugend ... meine Schönheit ... Nur meine Liebe nicht. Die hat sie mir nicht wegfressen können! ... Und aus Liebe hab' ich ihn von mir fortgestoßen – wenn er mehr von mir verlangte, als ich geben konnte! ... Die Hölle, Theres' ... die Hölle ... Aber nichts gegen jetzt – – Vor ein paar Tagen war ich beim Kassenarzt. Bat ihn himmelhoch, mir doch zu sagen, wie lange es noch gehn kann mit mir ... Die Achseln hat er gezuckt: › ... liebe Frau, bei den einen geht's schnell, bei den anderen langsam ... ‹ Was ist schnell, Theres', was ist langsam? Sie können rechnen – neun Monate, und dann ist's fertig! Aber ich? Tage ... Wochen ... Monate ... Jahre ...?«

Ganz zusammengekrümmt sitzt Frau Mutzmann auf der schmalen Bank, die Füße hochgezogen, den Kopf in den Armen vergraben, die auf ihren Knien ruhen.

Schwerfällig erhebt sich Theres'.

»Kommen Sie, Frau Mutzmann, ich bring' Sie zu Bett – allons, allons ...«

»Aber ich habe doch auch Angst vor meinem Bett ...«, flüstert die Kranke mit dürren Lippen. »Gestern nacht wach' ich auf ... da steht mein Mann vor meinem Bett. Hätten Sie den Ausdruck seines Gesichts gesehn, Theres' ...! Gerechnet hat er ... auch er ... wie lange noch? ... Und – darüber sprechen sie, die zwei! Das fühl' ich! Das weiß ich! Seit die Schwester gekommen ist von unserer Frau Doktor ... seit der Zeit ist es so schlimm. Hat die Hände voll Geld, die Schorneder! Kann ja kosten, was es will – wird bezahlt ... Maschinen ... und Menschen ... Kauft ihnen die Kinder ab, wenn ihr der Sinn danach steht ... und der Schwester den Mann, wenn er ihr gefällt ...! Säuft das Herzblut der anderen wie ihren Wein, das Mensch! ...«

» Allons, allons, Frau Mutzmann! ...«

Aber die Theres' hält sich selbst nur mühsam aufrecht.

So wanken sie beide aus der Tür – keine weiß, wer die andere stützt. Über den Flur. Die Luft ist stickig in der Mutzmannschen Wohnung. Das Bett der Frau ist zerwühlt, und die Wäsche grau. Auf dem Nachttisch stehen Medizinflaschen.

»Warten Sie, Theres' ... ich will die Flaschen erst wegschließen. Vielleicht – passiert ihm was, meinem Mann ... Wer weiß, was die Elis' ihm noch sagt ...? Es dauert ihnen zu lange, den beiden ... Das weiß ich! Das fühl' ich! ...«

» Bêtises! ... Unsinn! ...«, stößt Theres' hervor, und während Frau Mutzmann die Flaschen in den hintersten Winkel des Waschtischschrankes verstaut, schüttelt sie die Kissen auf und das Federbett. Dann taucht sie den Zipfel eines Handtuchs in die Waschkanne und fährt damit leicht über Frau Mutzmanns schweiß- und tränenfeuchtes Gesicht.

Nun liegt die Kranke in ihrem Bett. Ein fast friedlicher Ausdruck ist über ihrem Gesicht ausgebreitet:

»Könnten Sie nicht reden mit ihm, Theres'?«

Theres' sagt ihr nicht, daß sie schon geredet hat ... daß er sie rauh abgewehrt hat ... daß er sie angefahren hat: »Kümmere du dich um deine Brut, du!«

Hätte früher auch nicht so zu ihr gesprochen, der Mutzmann! Aber was scherte sich der » patron« noch um sie? ... Mit der Schorneder geht er! – Sale rosse! ... Wie der Mutzmann mit der Elis'! ... Menscher sind das!

»Ja ja, Frau Mutzmann ... ich werd' schon noch mit ihm reden! ...«

Sie löscht das kleine elektrische Licht und geht hinüber zu sich, wo es nach guter Seife riecht. Zehn Stück hat ihr der »patron« davon geschenkt, und ... sie hat ihren Körper immer gepflegt, damit er Freude an ihm hatte. Mit heftiger Geberde schließt sie beide Arme um ihren Leib:

»Meine Kinder abkaufen – die Schorneder?! ... Merde!«

Aus dem Bett lallt eine Kinderstimme: »Mutti ... Mutti ...«

»Schlaf', mei Robertle. Schlaf'.«

* * *


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