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Na Toni, wird's bald?«

Es ist die Stimme ihres Mannes, liebenswürdiger als sonst. Aber doch mit dem ungeduldigen Unterton, den er ihr gegenüber nie ablegen kann.

Alles fliegt an ihr, ihre Finger gehorchen ihr nicht. Da schließt ein Haken nicht, dort guckt ein Band hervor. Sie fürchtet wie immer seinen kritischen Blick, weiß, daß er nie zufrieden mit ihr ist.

Aber heute ist der Ausnahmetag. Ihr Hochzeitstag. Ihrer. Er hat viele Hochzeitstage – wenn Hochzeitstag der Gedenktag ist erster körperlicher Vereinigung. Aber nein, daran will sie heute nicht denken. Sie zählt nur rasch: sieben, acht – nein, zehn Jahre sind es. Und immer ist es ihr wie ein Wunder, daß noch ein Jahr hinzugekommen ist. Freilich hat sie sich geduckt – hat alles in den Kauf genommen, nur daß er nicht fortging, und daß sie, von allen geachtet und geehrt, die Frau Fabrikbesitzer Doktor Antonie Kemper blieb.

Es lag ihr im Blut, das Bürgerliche, Stabile. Und sie mußte es aufrechthalten, um jeden Preis ... Zehn Jahre.

»Also wie ist es? Ich muß gleich 'rüber in die Fabrik!«

Sie denkt so rasch, daß sie die Worte innerlich nicht formt, sondern nur das Bild sieht: warum drückt er nicht auf die Klinke und kommt herein? ... Aber er kam ja nie herein, wenn sie noch bei der Toilette war. Auch am Abend selten, wenn sie schon im Bett lag und mit groß geöffneten Augen lauschte, ob die Haustür unten zuschlug und seine Schritte leicht und eilig über die Treppe flogen, um dann in einem der entfernten Zimmer zu verhallen.

Sie hat sich zu dem heutigen Tage ein hübsches, elegantes Morgenkleid machen lassen, malvenfarbig, weil es seine Lieblingsfarbe ist, und sie glaubt, daß es gut paßt zum verblichenen Braun ihres Haares und der etwas fahlen Blässe ihrer Wangen.

»Na endlich, Toni! ... Gut geschlafen? Habe schon die erste Tasse ohne dich getrunken – macht nichts.«

Mitten auf dem runden Tisch ein großer Rosenstrauß, davor ein gelber Briefumschlag mit unwahrscheinlich großen Schriftzügen.

»Von Gabriele ... Ja, Kleine, du wirst staunen!«

»Staunen? Warum? Sie hat ja immer zu allen Festtagen geschrieben.«

Kurt Kemper lachte.

»Verzeih', Toni. Aber der Brief war an uns beide, und ich habe ihn vorher geöffnet. Eine Anweisung auf zehntausend Mark – wie findest du das?«

Toni wechselt die Farbe:

»Für mich?!«

Wieder lacht er, das Lachen, das sie so sehr an ihm liebt.

»Für dich, für mich, für die Fabrik – es kommt uns höllisch zu paß! Nun hab' ich doch 'n bißchen Luft.«

Das flüchtig freudige Aufblitzen in Tonis Augen ist erloschen. Wie konnte sie auch nur einen Augenblick glauben, daß das ganze Geld für sie sei? ... Sie weiß ja, wie schwer es geht. Wenn ihr Mann etwas Geschäftliches spricht, so hört sie immer nur die Sorge um die nächste Woche heraus: Lohnerhöhungen, Steuern, Streikversuche, Drohungen – –

Sie bemüht sich, all das nicht ernst zu nehmen. Denn wenn sie darauf eingeht, fegt er mit der flachen Hand über den Tisch und sagt mit der ihr sattsam bekannten Ungeduld: »Ach, Kleine, das verstehst du ja doch nicht. Laß das. Wir müssen uns eben einschränken.«

Sie weiß nicht, wieweit er sich einschränkt: er ladet leicht ein, verlangt seine Lieblingsgerichte, jeden Tag eine Flasche Wein auf den Tisch. Seine Anzüge stammen von einem ersten Schneider und sind auf Seide gearbeitet. Sie weiß, er muß repräsentieren. Auch die Reisen, die er macht, kosten viel Geld. Diese Reisen sind Geschäftsunkosten, und er bringt ihr auch jedesmal etwas von solch einer Reise mit. Etwas Billiges und Hübsches, aber was sie gar nicht brauchen kann. Zu Weihnachten könnte sie all ihren Bekannten nette kleine Aufmerksamkeiten damit erweisen, aber sie trennt sich nicht vom kleinsten Gegenstand, den sie von ihm erhalten. Er ist doch verknüpft mit einem, wenn auch noch so flüchtigen Gedanken an sie. Ihr Haushaltungs- und Toilettengeld ist meist karg bemessen, und sie muß, wie sie oft sagt, jeden Groschen zehnmal umdrehen.

»Das muß jede tüchtige Hausfrau heutzutage. Nur merken darf es keiner!«

Sie rechnet: wieviel wird ihr Mann ihr jetzt wohl von den zehntausend Mark zur unkontrollierten Verfügung überlassen? Auch sie versucht zu lachen.

»Nun mußt du aber einen tüchtigen Haufen bei mir abladen! ... Denn ich habe allerlei zu zahlen – Reparaturen an Möbeln und im Hause. Auch die Köchin verlangt Zulage, und meine Schneiderin hat mich um die letzten fünfzig Mark, die ich ihr schulde, gemahnt.«

»Geschieht dir ganz recht. Man macht keine Schulden bei der Schneiderin. Alle Frauen schränken sich ein! ... Aber das wird nun wohl künftig nicht mehr so nötig sein. Gabriele will zu uns ziehen.«

Tonis Augen blicken starr, fast erschreckt:

»Zu uns? ... Gabriele – ganz zu uns ziehn ...?«

»Na, ist das nicht herrlich – ist das nicht wie ein vom Himmel gefallenes Geschenk? ... Während du dich, kleines Schaf, mit deiner Schneiderin herumbalgst und dich über jedes wacklige Stuhlbein aufregst, geh' ich seit Wochen in der Angst herum, die Fabrik schließen zu müssen! ... Wirst zugeben, daß ich dir damit den Kopf nicht warm gemacht habe! ... Und daß ernstere Interessen im Spiel waren als deine kleinen Nöte und Sorgen! ... Nana, nur nicht geheult! Ein schöneres Hochzeitsgeschenk konntest du nicht haben als die Gewißheit, daß von jetzt ab alles in ruhigen Bahnen und in aufsteigender Linie weitergeht!«

Toni ist der Hals wie zugeschnürt.

»Ja, aber Gabriele ...«

»Willst du deiner Stiefschwester vielleicht ein Heim vorenthalten?«

Wortlos schüttelt Toni den Kopf, und stockend kommt es von ihren Lippen:

»Aber sie paßt ja gar nicht hierher! ...«

Da schallt auch schon das frohe, unbekümmerte Lachen ihres Mannes:

»Das laß nur meine Sorge sein.«

Tonis Gedanken wirbeln durcheinander. Sie sucht nach etwas Greifbarem, woran sie sich halten könnte. Am überzeugendsten scheint ihr der Einwand: »Wir können sie ja nirgends unterbringen!«

»Nirgends unterbringen? ... Ich lasse sofort den westlichen Flügel des Hauses – vier große, helle Zimmer, bitte sehr – für sie einrichten. Sie hat zwar nicht die schöne Vorderfront mit der Gartenaussicht wie du, aber den weiten Hof der Fabrik, für die sie sicherlich mehr Interesse bekunden wird als du. So – und nun mach kein trübetümpeliches Gesicht. Denke daran, daß wir heute abend unsere Gäste nett bewirten, und sorge dafür, daß durch die Frauen die Aussicht auf den Zustrom der neuen Goldader in weite Kreise dringt. Das ist nötig für unsere Zukunft! ... Ich kalkuliere so: die Fabrik behalten wir natürlich. Aber es ist klar, daß, wenn Gabriele bei uns wohnt, ich binnen kurzem Generaldirektor der ihr gehörigen, vom Vater geerbten Industriewerke werde! ...«

Krampfhaft ballen sich Tonis kleine Hände unter dem Tisch zusammen. Sie möchte es am liebsten hinausschreien: ich zweifle gar nicht, daß du Gabriele zu allem bringst, was du willst – zu allem! Aber sie wagt es nicht.

Flüchtig berühren die Lippen ihres Mannes ihre Schläfe.

»Vergnügt sein, Toni! ... Die Not hat jetzt ein Ende!«

Die Tür fällt hinter ihm zu. Tonis Augen starren ihm nach, und kaum weiß sie es, daß sich aus ihrem Munde die Worte ringen:

»Deine Not! Nur deine Not! ...«

*

Der warme Märzwind wirbelt Toni Kemper den Rosenduft ins Gesicht, weckt sie aus brütendem Sinnen. Noch immer ungelesen liegt der Brief der Stiefschwester. Anders nennt sie sie nicht, auch in ihren Gedanken. Nicht feindlich soll es sein, aber fremd – so fremd, wie ihrer Mutter zweiter Mann ihr war. Ein großer Herr, der Herr Schorneder: hart, herrisch, verschlossen.

Zehn Jahre alt war sie damals gewesen. Kam aus der Pension, in kurzem schwarzen Kleid, das schwarze Krepprüschchen um den dürftigen Hals. Erste Ferien seit ihres Vaters Tode! Ein Tod, über dessen Ursache sie nächtelang ihr Kinderhirn zermartert hatte. Bis dann rücksichtslos oder unbedacht Worte an ihr Ohr schlugen. Der Herr Schorneder hatte der – Witwe seines Direktors Gerber eine ungewöhnlich hohe Pension ausgesetzt. Der Herr Schorneder bestimmte, was Tonis Mutter zu tun und zu lassen hatte. Der Herr Schorneder verfügte, daß sowohl Toni wie ihre Mutter nach kaum einem Jahr die Trauerkleidung ablegten. Herr Schorneder kam erst alle vierzehn Tage, später jede Woche und dann täglich in das kleine Haus, das eine halbstündige Wagenfahrt entfernt vom Büro lag. Tonis Mutter hatte keinen Verkehr, aber Herr Schorneder sorgte für eine diplomierte Hauslehrerin. Toni lernte nicht viel bei ihr, denn sie war mittelmäßig begabt. Lieber ging sie der Mutter zur Hand in allen wirtschaftlich häuslichen Dingen und graulte durch ihre passive Lernresistenz die Diplomierte bald zum Hause hinaus. Herr Schorneder schickte eine englische Gouvernante, deren jedes zehnte Wort » shoking« war. Dies shoking fiel auf fruchtbaren Boden, und Toni lernte bald, Fragen zurückdrängen und Haltung wahren. Es war die Zeit, da Herr Schorneder bereits täglich kam und sich zwischen ihr und der Mutter eine nur durch seltene Zärtlichkeit gemilderte Distanz bildete.

Eines Tages nahm ihre Mutter sie mit auf den Friedhof. Sie hatten beide die Arme voll Blumen, und als der Grabhügel von ihnen bedeckt war, sah man kaum noch die Tafel mit der Inschrift: Hier ruht in Gott Direktor Albert Gerber, betrauert von seinen Hinterbliebenen. Die nüchternste Grabschrift von allen.

Das Auto des Herrn Schorneder, das die beiden hergebracht, wartete am Ausgang. Die Mutter war schweigsam, und Toni bereits zu wohlerzogen, um dies Schweigen zu unterbrechen. Erst in der Stadt, da die Worte durch den Straßenlärm nur gedämpft zu ihr drangen, sagte die Mutter:

»Ich hoffe, Toni, daß du die treue Fürsorge des Herrn Schorneder zu schätzen gelernt hast, und erwarte von dir, daß du ihm bald nicht nur mit Achtung, sondern auch mit kindlicher Liebe entgegenkommen wirst. Herr Schorneder wird dir ein treuer und liebender Vater sein.«

Nüchtern wie der Abschied von dem Toten war der Hinweis auf das neue Eheglück.

In diesem Augenblick warf Toni den Panzer englischer Zurückhaltung zum ersten Male ab und fragte, brutal und unkindlich:

»Woran ist mein Vater eigentlich gestorben?«

Sie sah, wie die Mutter bleich wurde bis in die Lippen. Und sie schämte sich für sie. Kaum noch daß sie es empfand, als die Mutter hart und abweisend antwortete:

»Das verstehst du nicht.«

Acht Tage später kam sie abermals in eine Pension. Und als sie nach fünf Jahren zum ersten Male wieder »heim« kam, empfing sie die Mutter in einer schloßartigen Villa, umgeben von allem Luxus, den sich ihre wildeste Kleinmädchenphantasie nur träumen ließ, und neben Herrn Schorneder stand ein etwa vierjähriges, schlankes Mädelchen mit einem großen Blumenstrauß, den es ihr mit den Worten entgegenstreckte: »Willkommen, Schwester Toni!« Das war Gabriele. Gabriele Schorneder.

Tonis Leiden begannen.

Der verweichlichende, fast übergroße Luxus des Hauses, der in zierlicher Abstufung Tonis zwei Zimmer schmückte, machte halt vor den weiten, luftigen Räumen, die der kleinen Gabriele zugewiesen waren, und die sie mit einer Engländerin – halb nurse, halb Turnlehrerin – und zwei Sprachlehrerinnen teilte. Das erste Frühstück wurde nicht gemeinsam eingenommen. Tonis Mutter frühstückte mit ihrem Mann im Wintergarten. Nur Gabriele hatte Zutritt. Die Kleine schien sich dieser Bevorzugung durchaus bewußt zu sein, es wäre ihr nicht eingefallen, Toni aufzufordern, mitzukommen. Ja, als Toni einmal zufällig die Kleine vor der Tür des Wintergartens traf, nickte diese ihr nur zu wie eine große Dame, die unbequemen Besuch abfallen lassen will, und ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen. Nie hatte Toni das verwunden!

Allwöchentlich fand in den Sommermonaten große Kindergesellschaft im ausgedehnten Garten statt. Kein übermäßiger Luxus der Bewirtung, aber klug ersonnene Spiele, lustige Turnübungen an den verschiedensten Geräten, und vor dem Auseinandergehen die Vorlesung einer lehrreichen Geschichte, zu der Herr Schorneder manchmal selbst kam, um einige Erklärungen zu geben.

»Spiel doch mit!« sagte Tonis Mutter öfter zu ihr.

Und Toni kam sich dann vor – nicht anders als eine noch hinzugezogene jüngere nurse. Sie litt unter dem Aufbau um das derbknochige, schöne und doch harte, kleine Mädchen, das sich, bewußt oder unbewußt, so merkwürdig fern von ihr hielt, als gehöre sie nicht zur Familie. Auch zur Mutter schien ihr der Weg schwer gangbar. Die großen gesellschaftlichen Verpflichtungen nahmen die Mutter völlig in Anspruch, und Toni spürte genau, wie die Geselligkeit des Hauses nur dazu da war, den Nimbus des großen Reichtums zu erhöhen, und daß sie selbst nur daran teilnahm, weil sie eben Mitglied dieses Hauses war. Toilettenfragen wurden hastig, aber völlig gleichgültig, von der Mutter entschieden. Der Preis spielte keine Rolle. Jeden Ersten fand sie unter ihrer Serviette einen verschlossenen Briefumschlag, der die von Herrn Schorneder persönlich geschriebene Aufschrift zeigte: Fräulein Antonie Gerber. Es war ihr reichlich bemessenes Taschengeld. Sie erhob sich dann immer halb von ihrem Platz und streckte Herrn Schorneder die Hand hin, die er freundlich und bestimmt auf den Tisch niederdrückte und leicht abklopfte.

Von Zeit zu Zeit durfte Gabriele ohne ihre Gefolgschaft am » lunch« teilnehmen. Dann fand auch sie irgendeine Überraschung unter ihrem Mundtuch. Und dann sprang sie auf, hüpfte dem Vater auf den Schoß, rittlings wie ein Junge, warf ihre Arme um beider Eltern Hals, drückte ihre Köpfe aneinander und küßte ihre Gesichter mit zärtlicher Tolpatschigkeit ab.

Toni hielt die Augen gesenkt, konnte sich nicht überwinden, aufzublicken. Ganz allein fühlte sie sich, wie auf einem schmalen Steg zwischen zwei Abgründen. Mutter, Vater, Schwester – Worte waren das alles für sie. In der Pension unter fremden Schülerinnen und Lehrern hatte sie mehr Wärme empfunden, mehr Zugehörigkeit. Hier fühlte sie nur Duldung, Fügung ins Unvermeidliche. Sie suchte um sich und in sich nach etwas, woran sie ihr Herz hängen konnte. Ihre Empfindungen zerflatterten wie Nebelfetzen, und wenn sie Briefe bekam von Pensionsfreundinnen, so wußte sie nicht darauf zu antworten, denn niemand hätte wohl verstanden, wieso »das reiche und verwöhnte Mädchen« sich so armselig finden konnte.

Armselig in ihren zwei zierlichen Zimmern. Armselig vor dem geöffneten Kleiderschrank, in dem ihr stets erneuerter Garderobenreichtum hing. Armselig inmitten der gut abgerichteten Dienerschaft, die korrekt und teilnahmslos nach ihren Wünschen fragte. Armselig in den prunkvollen Kissen des Autos, in dem sie an der Seite ihrer Mutter Besuche oder Einkäufe machte. Nichts von allem, was sie umgab, gehörte ja ihr – nicht einmal ihre Mutter.

Eines Tages, als sie sich, um Bewegung zu machen, im Grunewald dem ihr von der Engländerin angeratenen footing ergab, lief ihr ein Hund zu – kein schöner, rasseechter. Irgendein Köter, dem noch ein häßliches Strickende um den Hals baumelte. Angstvoll klemmte er die Rute zwischen die abgemagerten Beine. Seine Augen hatten etwas erschütternd Menschliches. Als sie ihm über den Kopf strich, preßte er seinen Schädel an sie, und eine ihr fremde Wärmewelle stieg ihr zu Herzen. Sie nahm ihn mit sich. Sie ließ ihn baden, gab ihm eigenhändig sein Futter – und als er gesättigt, noch schwach, aber dankbar wedelnd ihr entgegenkroch, setzte sie sich zu ihm auf den Teppich, nahm seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände und merkte es gar nicht, daß schwere Tropfen aus ihren Augen fielen. Sie nannte ihn »Flums«, weil ihr im Augenblick kein anderer Name einfiel.

Herr Schorneder fragte, was sich denn da für ein gräulicher Köter im Park herumtriebe. Wenn Toni durchaus einen Hund haben wolle, so würde er dem Tierarzt Auftrag geben, einen rassereinen, modernen Hund auszusuchen. Toni erschrak. Sie bat – obwohl sie sich nie aufs Bitten verlegte –, gerade Flums behalten zu dürfen. Denn eben weil er nicht gekauft wäre, sondern den Weg selbst zu ihr gefunden hätte, sei er ihr lieb und nicht ersetzbar. Herr Schorneder zuckte die Achseln: »Bitte, bitte, wenn es eine Herzensangelegenheit ist –«

Toni kaufte Flums ein wunderschönes Halsband, verschiedene Decken für kalte und wärmere Tage, eine große, elegant ausgestattete Hundehütte, die Flums aber immer nur als zu bewachendes Haus betrachtete. Flums hatte seine große Ecke in ihrem Wohnzimmer, bekam seinen Futternapf nur aus ihren Händen, wurde zugedeckt, wenn es Toni schien, als sei es kühl im Zimmer. Kurz Flums war der Inhalt ihrer Tage und all ihrer Sorgen.

Flums wurde stark. Sein gepflegtes Fell glänzte seidig, er wurde beinahe schön. Er ließ sich auch allerlei kleine Kunststücke beibringen, und Toni merkte in ihrer Verzückung gar nicht, daß er anfing, launisch zu werden, und sie den Teppich vor seiner Hütte immer häufiger leer fand. Wo war Flums? Auch seinen Futternapf fraß er oft nicht einmal halbleer, ließ sogar manchmal alles stehn – wo fraß sich denn Flums satt?

Als es eines Tages wieder große Kindergesellschaft im Park gab, befürchtete Toni, Flums könnte durch sein plötzliches Erscheinen die Kinder erschrecken. Sie war noch nicht die große Gartenterrasse hinuntergeschritten, als lautes Lachen und Kreischen an ihr Ohr drang. Alles übertönend die Stimme Gabrielens, die mit Flums um die Wette lief, um sich dann, als sich Flums auf ihren Befehl niederlegte, auf seinen Rücken zu setzen. Leise knurrend wehrte Flums die Annäherung anderer Kinder ab, lief aber gleich wieder in vergnügten Sprüngen mit Gabriele davon. Toni sah dem Treiben eine Weile wie entgeistert zu. Dann rief sie: »Flums! Komm spazieren!« Aber Flums wendete kaum den Kopf nach ihr und blinzelte flüchtig zu ihr hinüber. »Flums! Flums!« rief jetzt Gabriele. Und es schien Toni wie ein Hohn, daß der Hund seinen Kopf mit den schönen glänzenden Augen nun ganz fest an Gabrielens nackte, kräftige Arme preßte, ohne sich um den Ruf seiner Herrin auch nur im geringsten zu kümmern. Gabriele aber schrie über den breiten Gartenweg herüber:

»Laß doch den Flums hier! Der verfettet ja nur oben bei dir! ... Gelt, Flums, du bleibst bei mir?«

Nicht der Tod des Vaters, nicht die Heirat der Mutter hatten Toni so tief erschüttert wie diese Gleichgültigkeit des aufgelesenen und gehegten Tieres. Nicht mal einen Hund konnte sie halten! Nicht mal ein Hund wollte ihr allein gehören! Ihre Stimme klang schrill, als sie zurückrief:

»Du kannst ihn behalten, den Flums!!«

Am selben Tage noch ließ sie die Hundehütte aus ihrem Zimmer tragen und schickte alle seine Decken und Halsbänder zu Gabriele hinunter. Erst tagelang später erfuhr sie, daß Flums im Stall übernachtete, weil die Erzieherin es unhygienisch fand, einen Hund dauernd in den Zimmern zu halten.

Als aber eines Abends leises Kratzen an ihrer Tür hörbar war, da öffnete sie nur einen Spalt und rief mit unkenntlicher, halb erstickter Stimme: »Marsch fort! Infamer Köter!« schlug die Tür zu und weinte in bitterstem Haß und tiefster Verzweiflung.

Wie lange Flums noch im Hause war, wußte sie nicht. Wenn der Hund sie von weitem erblickte, kniff er die Rute ein und schlich davon. Nur flüchtig konnte sie sehen, daß er ungepflegt war und nur selten mit Halsband herumlief. Dann hörte sie – es mochte wohl ein Jahr oder mehr vergangen sein –, Flums wäre von dem Hufschlag eines Pferdes getroffen worden, und Herr Schorneder hätte ihm den Gnadenschuß gegeben.

Gabriele wünschte sich zum Geburtstag einen drahthaarigen Terrier. Sie wußte genau Bescheid über den Stammbaum des Tieres. Das Dokument hing gerahmt über ihrem Schreibpult.

– – Zweimal jährlich gaben Schorneders einen großen Musikabend. Die Mitwirkenden waren Künstler mit ersten Namen. Als der Klaviervirtuose, der auch den Klavierpart in einem Quintett von Brahms hielt, plötzlich erkrankte, wurde ein Meisterschüler der Hochschule als Ersatz geschickt. Ein junger Mensch, der in seinem sicherlich alt gekauften Smoking recht dürftig aussah. Aber sein Spiel bezauberte alle. Sogar Toni trat aus ihrer Zurückhaltung heraus und bat, indem sie sich an den Flügel lehnte, ob er nicht etwas für sie spielen wolle – etwas Einfaches, zu Herzen Gehendes. Denn sie sei im Grunde unmusikalisch, wie es hieß, und verstünde gar nichts von moderner Musik. Der junge Mann lächelte ein bißchen ironisch, aber gleich darauf phantasierte er auf das Thema eines alten Volksliedes: »Ach, wie ist's möglich dann, daß ich dich lassen kann.« Die Gäste hatten sich jetzt fast alle um die in den Nebenräumen aufgestellten Büfetts gruppiert, so daß Toni mit dem jungen Musiker lange Zeit allein blieb. Während seine Finger leise über die Tasten strichen und schließlich aus einem Thema in das andere übergingen, plauderten sie leise über alle möglichen Dinge. Ohne Mitleid erwecken zu wollen, erzählte der Musiker von seiner harten Jugend, den schweren Entbehrungen und daß er Stipendiat sei. Solch ein Abend wie der heutige wäre ein Glücksfall in seinem Leben, denn schon hatten ihn zwei reiche Häuser aufgefordert, auch bei ihnen zu spielen. »Das macht immerhin einige hundert Mark monatlich aus. Ich kann mir eine anständige Kluft kaufen und mich sattessen in einem anständigen Lokal! Denn verflucht viel Nerven- und Muskelkraft verbraucht man doch bei dem Beruf!« Sie sagte: »Aber wenn Sie dann große Konzerte geben und berühmt werden? ...« – »Durch die Klavierklimperei berühmt werden? ... Nee, danach geht mein Ehrgeiz nicht. Selbst schaffen muß ich können! Die neuen Wege ausbahnen oder vielleicht sogar neue Wege finden! ... Dieses alte Gedudel ist ja kaum noch zu ertragen.« Sie erschrak ein bißchen und bat: »Spielen Sie doch etwas, was Sie mögen.« Und sie hörte angestrengt zu. Aber sie verstand gar nichts. Nur daß seine Augen dabei so leuchteten, gefiel ihr, und daß er sich scheinbar gar nicht um sie kümmerte.

Sie selbst forderte ihn dann auf, ans Büfett zu gehen, und füllte seinen Teller mit den erlesensten Leckerbissen. Die Lohndiener mußten ihm den köstlichsten Wein bringen und Sekt. Er vertilgte unheimlich viel, und wurde freundlicher, als er gesättigt war.

»Sie dürften keine Sorgen haben«, sagte sie.

Ein bißchen zynisch fragte er:

»Können Sie mir eine junge Dame empfehlen, die mir die Sorge abnimmt?«

»Wie das?« meinte sie betreten.

Dieser Ton war neu im Schornederschen Hause. Aber er schuf gleich eine seltsame Intimität zwischen ihr und ihm. Als hätte eine Welle ihr Strandgut zugespült, und die Gedanken wirbelten ihr toll durch das Hirn. Konnte sie nicht diejenige sein, die ihm seine Sorgen abnahm? Dann konnte er doch schaffen, ohne Rücksicht und wie es ihm sein Genie eingab! Denn sicherlich war er ein Genie.

»Wir müssen noch über all das sprechen«, sagte sie ein bißchen zaghaft und sah sich dabei um.

Dem jungen Musiker schien in dem satten Behagen, das ihn augenblicklich erfüllte, wohl nichts unmöglich: »Gibt's hier nichts zu rauchen?« fragte er, als fühle er sich hier schon ganz zu Hause.

Sie selbst holte ihm Zigaretten, Feuer, hielt den Aschenbecher, während er sich genüßlich in irgendeinen Klubsessel drückte.

Aber dann stand plötzlich Herr Schorneder auf der Schwelle und mahnte mit seiner scharfen, ein wenig tenoralen Stimme:

»Nun, lieber Freund, wollen Sie nicht unsere verehrte Frau Salvini begleiten? Sie will die Tosca-Arie singen.«

Die neu angerauchte Zigarette flog in den Aschenbecher. Toni fand Herrn Schorneder zum ersten Male plebejisch. Anders würde er einen Lohndiener nicht heranrufen! Er pfiff – und das Genie mußte gehorchen! ... Sie nahm ein paar schwere rote Nelken aus einer der Vasen und legte sie vor die aufgeschlagenen Noten von »Tosca«. Aber der junge Musiker schob sie achtlos beiseite. Während des Beifalls aber sagte er: »Galten die Blumen mir oder der Salvini?« Und ohne die Antwort abzuwarten, brach er den Stengel einer Nelke kurz und steckte sich die Blume ins Knopfloch:

»Zufrieden?«

Wie eine Beglückung war diese erste leise Heimlichkeit mit ihm. Innerlich verwünschte sie ihre Talentlosigkeit. Vielleicht hätte er sich herabgelassen, ihr Unterricht zu geben, wenn sie etwas weiter vorgeschritten gewesen wäre. Aber die Klavierstunden waren für sie von jeher eine Marter gewesen, und sie hatte sie aufgegeben.

Sie sah ihn wieder in den Häusern, die ihn zu sich gebeten hatten. Und sie sah ihn wieder – außerhalb der Häuser. Sie wußte bereits, wann er die Hochschule aufsuchte, und hatte kurz vor dieser Zeit öfters in der Nähe Besorgungen zu machen. Einmal lud er sie zu einer Tasse Kaffee. Sie zitterte vor Angst, es könnte ein Bekannter ihrer Eltern kommen und sie mit ihm sehen. Aber das Glück, eine halbe Stunde mit ihm allein zu sein, überwog alles. Und wenn er auch noch so nachlässig dürftig gekleidet war, so stand er ihr doch als Herr gegenüber, der für sie zahlte, ihr den Pelz abnahm und wieder umlegte. Er erzählte ihr, daß er schweres Geld verdienen könnte, wenn er eine Kapelle zusammenstellte und mit ihr in einem großen Café konzertierte.

»Um Gottes willen, Sie werden doch so etwas nicht tun!« rief sie entsetzt.

Er schüttelte den Kopf: »Solange ich Stipendiat der Hochschule bin, ist so etwas natürlich unmöglich.«

– – Bei einem kleinen Tee, den ihre Mutter gab, sagte eine Dame: »Dieser junge Musiker, den Sie mir empfahlen, ist wirklich ein patentes Kerlchen. Ich glaube, es wäre eine gute Tat, wenn wir ihm zu einer ständigen kleinen Einnahme verhülfen.«

Gabriele, die Zutritt hatte zu diesen mütterlichen Tees und die sich merkwürdig erwachsen benahm, sagte in ihrer brüsken Art:

»Das ist wohl der Klavierspieler, von dem mir mein Fräulein soviel erzählt hat? ... Weißt du, Mutti, wir haben schon lange vor, dich zu bitten, uns einen Klavierspieler zu besorgen, der uns zu unseren gymnastischen Tänzen begleitet. Denn den ollen Geiger, den wir jetzt haben, den mögen wir nicht. Fräulein sagt auch, Klavier wäre viel besser für sowas, und wir könnten es hier gerade so gut haben wie die Kinder in der Wichmannschule!«

Die Dame stimmte bei: »Das wollte ich eben vorschlagen. Es wären so ziemlich zwölf Kinder beisammen. Ich sorge für die Tanzlehrerin ›Schule Wichman‹ und Sie vielleicht für den Klavierspieler. Da hätten wir ja den jungen Mann untergebracht. Die Kinder könnten auch zugleich die neuen Gesellschaftstänze lernen. Einen Saxophonmann bringt ja der Klavierspieler eventuell mit.«

Tonis Lippen zitterten: »Ich glaube kaum, daß Herr ... daß er dieses entwürdigende Anerbieten annimmt!«

Frau Schorneder sah erstaunt zu ihrer Tochter hinüber:

»Das wäre sehr unklug von dem Manne. Übrigens woher weißt du so genau ...«

»Ich weiß nicht. Aber ich denke mir, ein großer Künstler ...«

Die Damen lachten nachsichtig und spöttisch:

»Heutzutage gibt es keine großen und kleinen Künstler. Nur große und kleine Einnahmen.«

Und Gabriele fügte mit der drängenden Ungeduld, die ihr eigen war, hinzu:

»Du schreibst also gleich dem Klavierspieler, hörst du, Mutti! Und zweimal die Woche, nicht wahr? ... Und am Schluß einen großen Kinderball mit Vorführungen, nicht?!«

Toni hoffte nur noch darauf, daß er absagen würde, und als doch die Zusage kam, dachte sie einen Augenblick, er nähme das Anerbieten nur an, um öfters Gelegenheit zu haben, mit ihr zusammenzukommen.

Und diese Gelegenheiten ergaben sich wirklich. Sie bat ihn, es so einzurichten, daß er früher als zur angesetzten Stunde kam. Sie wollte ihn dann am Eingang erwarten und noch einen Rundgang mit ihm im Park machen.

Es war Vorfrühling, und die Luft schien Toni wie erfüllt von ungeahntem Glücksempfinden. Ihre beschwingte Freudigkeit verließ sie den ganzen Tag nicht. Sie lebte eigentlich nur in Erwartung der kurzen Viertelstunde, die sie an seiner Seite die Parkwege entlang ging. Sie erzählte ihm das kleinste Vorkommnis aus ihrem gleichartig dahinfließenden Leben. Sie stützte seinen Künstlerstolz und machte seine kleinen Freuden, seine Erwartungen, Enttäuschungen und Hoffnungen zu den ihrigen. Sie wußte nicht, wie sie ihm den Lebenskampf erleichtern könnte, aber sie eröffnete ihm vorsichtig einen Ausblick auf künftige Zeiten, da sie frei sein würde, über sich zu verfügen. Sie fragte sich gar nicht, ob er ihre Neigung erwidere. Es schien ihr nur selbstverständlich, daß sie dazu berufen war, die Freuden des Lebens über ihn auszuschütten. Sie ließ in den sie immer stärker umnebelnden Empfindungen jede Vorsicht außer acht, vergaß, daß der Gärtner mit seinen zwei Gehilfen im Park arbeitete, sah nicht das spöttisch gutmütige Lächeln um seinen Mund, vergaß auch die Zeit des Stundenanfangs oder setzte sich darüber hinweg mit einem lachenden: »Die Kinder können ein paar Minuten warten!« ... Bis dann eines Tages Gabriele laut rufend in den Park stürmte, ihr flatterndes blaues Tuch dem jungen Musiker um den Hals warf und mit ihrer weit tönenden, hellen Stimme trompete: »Jetzt sind Sie aber genug mit meiner Schwester spazieren gegangen! Mutti ist unten im Tanzsaal und will mal sehen, was wir schon können. Also kommen Sie mal schnell!«

Gabriele gab ihm nicht Zeit, sich zu verabschieden, zerrte ihn mit sich und schlug in kindischem Übermut mit den Tuchenden auf ihn ein, als »spiele sie Pferdchen«. Er aber, sonst so empfindlich und rücksichtslos, ließ sich zerren und schlagen und lachte dazu, als hätte dieses überquellende, lebensstrotzende Ding mit seinem unbekümmerten Willen jeden Widerstand in ihm besiegt. Toni sah, wie sie beide um die Wette liefen. Wie er zum Kinde wurde an Gabriele. Und sie sah auch Flums vor sich, wie er, ohne sich nach ihr umzuwenden, mit Gabriele herumtollte und um die Wette lief. Toni mußte sich an einen Baum lehnen. Dann wieder hatte sie das Gefühl, ganz allein zu stehen zwischen zwei tiefen Abgründen. Ganz allein! Es war nicht nötig, daß Tonis Mutter eine Stunde später zu ihr aufs Zimmer kam und von unpassendem Benehmen sprach. Ja, daß noch schärfere Worte fielen: vom Kompromittieren mit einem Musikanten, dessen Existenz man aus Gutmütigkeit stützte. Noch einmal »solche sentimentale Promenaden«, und der junge Mann wäre entlassen!

Kein Wort erwiderte Toni. Nur ein Gedanke stützte sie: wenn sie alles aufgab, woran ihre Seele hing, so war es ein Opfer, das sie ihm brachte! Aber sie wurde das Bild nicht los von der ihn vor sich herjagenden Gabriele, die ihn lachend einfing wie eine ihr gehörige Beute.

Nur eine Angst quälte sie: Herr Schorneder möchte mit ihr über den »Fall« sprechen. Denn alles war für Herrn Schorneder ein »Fall«. Aber er tat es nicht. Nur eine Badereise besprach er, bei der Toni ihre Mutter begleiten sollte. Die sanfteste Form einer Entwöhnungskur.

Gabriele wurde für das Lyzeum vorbereitet. Herr Schorneder interessierte sich lebhaft für ihre Fortschritte und hörte immer mit größter Aufmerksamkeit zu, wenn Gabriele ihr junges Wissen vor ihm ausbreitete.

Die Geselligkeit bei Schorneders war groß in diesem Jahre. Die Mutter achtete viel auf Tonis äußere Erscheinung. Einmal sagte sie: »Gewöhne dir doch ein bißchen mehr Heiterkeit an. Es ist nicht zu glauben, wie du deinem verstorbenen Vater ähnlich bist. In seiner Nähe erfror auch jede Lebensfreude!«

Toni merkte wohl, man wollte sie verheiraten. Nichts in ihr sträubte sich gegen diesen Gedanken. Sie wünschte nur, es käme einer, der ihr gefiele. Und vor Angst, man könnte ungewöhnliche Freundlichkeit als erwachendes Interesse auffassen, verhielt sie sich den jungen Leuten gegenüber noch scheuer und zurückhaltender, als es sonst schon ihre Art war.

Bis dann Dr. Kemper kam.

Vielleicht hatten die Eltern gerade an den zuletzt gedacht. Denn es wurde für ihn weder ein Tee noch eine Gesellschaft gegeben, und Herr Schorneder unterhielt sich mit ihm rein geschäftlich über die Kakaopreise und die Möglichkeit, ihm neue Kredite zu verschaffen. Soviel Toni aus den Gesprächen entnehmen konnte, hatte Dr. Kemper seine an der Schweizer Grenze gelegene Schokoladenfabrik als ziemlich verwahrlostes Erbe übernommen. Die Zeiten waren für einen Verkauf nicht günstig und das Barvermögen nicht genügend, daß er seinen Neigungen und dem Ausbau einer seinen Studien entsprechenden Karriere hätte in Berlin nachgehen können.

Lachend erklärte er, daß er bis vor einem Jahr Schokolade nur gegessen, aber nie verkauft hätte.

»Fein, wenn man den ganzen Tag Schokolade essen kann, soviel man will!« sagte Gabriele.

»Man will nur nicht lange, kleines Fräulein!«

Am nächsten Tage wurde Dr. Kemper wieder zu Tisch gebeten, und er brachte Proben seiner Fabrikerzeugnisse mit. Toni, als der ältesten Tochter, überreichte er einen malvenfarbigen Seidensack, der mit Pralinen gefüllt war.

»Sie müßten immer malvenfarbige Kleider tragen, gnädiges Fräulein. Die passen so gut zu Ihren Augen!«

Es hatte ihr bisher noch kein Mensch etwas über ihre Augen gesagt oder über das, was sie tragen sollte. Und da merkte sie erst, wie völlig unbeachtet sie bisher eigentlich geblieben war. Wie Sekt stieg ihr diese erste, ihr so ganz persönlich geltende Bemerkung zu Kopf. Sie wurde fast gesprächig.

Sie konnte kaum den nächsten Abend erwarten, zu dem Herr Schorneder Dr. Kemper einlud, und sie hätte vor Freude fast wie ein Kind in die Hände geklatscht, als Kemper die Eltern und sie für den übernächsten Abend mit ihm in die Staatsoper zu kommen bat.

Die Mutter war ungewöhnlich liebenswürdig zu ihm. Herr Schorneder äußerte: »Ein fixes, tüchtiges Kerlchen, dieser Kemper.« Bis auf die Dienstboten, die ihn anmeldeten, schien alles entzückt von ihm. Er hatte so etwas Frisches, Lachendes, etwas so gänzlich Unbekümmertes. Er durchbrach, ohne es selbst zu wissen, die immer etwas steife Etikette des Schornederschen Hauses. Er sagte: »Wollen wir den schwarzen Kaffee nicht lieber draußen auf der Terrasse nehmen?« Er legte Frau Schorneder eine seidene Decke über die Knie und drohte lächelnd: »Nur immer vorsichtig sein in den ersten Frühlingstagen!« Er brachte Herrn Schorneder zwei Päckchen gepaschter Schweizer Stumpen mit, die ihn von den schweren Importen erholen sollten. Und als er mit dicken Empfehlungsschreiben des Herrn Schorneder nach Hamburg reiste und von dort zurückkehrte, noch strahlender und vergnügter als sonst, packte er aus einem großen Karton eine wundervolle Teepuppe aus, in malvenfarbigem, schwerem Seidenkleid. Die Puppe verehrte er Frau Schorneder, aber der Blick, den Toni auffing, sagte ihr, daß er beim Kauf an sie gedacht.

Kaum eine Woche war seit seinem Erscheinen verstrichen, als Frau Schorneder – wie dies nur selten und nur in großen Augenblicken geschah – in Tonis Wohnzimmer erschien. Tonis erstes Empfinden war nur ein großer Schreck: hatte sie sich wieder mal nicht richtig benommen? Sollte sie wieder die Peinlichkeit einer Rüge erleben? Zum geöffneten Fenster drang das laute Lachen Gabrielens herein, und sie sah sie eingehängt in Dr. Kempers Arm den Mittelweg des Gartens zur Terrasse heraufschlendern. Sie erzählte ihm dabei wohl irgendeinen drolligen Kinderstreich, denn er machte sich plötzlich los von ihr und zupfte sie lachend am Ohr. Tonis Herz hämmerte dabei so stark, daß sie die ersten Worte der Mutter überhörte. Bis ein scharfes: »Willst du so freundlich sein und jetzt zuhören!« sie aufmerken ließ.

»Setz' dich.«

Und nun saß Toni der Mutter gegenüber und mußte erst eine ihr endlos dünkende Erklärung ihrer Vermögensverhältnisse über sich ergehen lassen.

Tonis Vater war gestorben, ohne auch nur das geringste zu hinterlassen – vor dem Wort »gestorben« stockte Frau Schorneder ein wenig. Was Toni also an Luxus umgab, kam ihr von ihrem Stiefvater. Wenn sie dem Herzen Herrn Schorneders nicht nahe stand, so könnte sie dies nur sich selbst zuschreiben. Nie hatte Herr Schorneder das Gefühl haben können, von ihr als Vater geliebt zu werden. Aber Herr Schorneder war ein gerechter Mann. Von den Berliner Bewerbern um Toni hätte ihm keiner so recht zugesagt, und so hätte man ihre Ruhe nicht mit dem Erwägen von Für und Wider und allerlei Kombinationen gestört! Die Verhältnisse lägen in Berlin leider so, daß jede Kapitalseinlage eine weit darüber hinausgehende Gefährdung des Gesamtvermögens bedeutete. Nun war Herr Schorneder wohl ein sehr reicher Mann, aber da er seine Aufbauarbeit längst hinter sich hatte und als Mann vorgerückten Alters Gabriele vielleicht nicht allzu lange mehr schützen konnte, so betrachtete er sich nur als Verwalter eines seinem Kinde gehörigen Vermögens. Als »Verwalter« aber habe er nicht das Recht, dieses Vermögen zu schmälern zugunsten eines ihm blutsfremden und leider auch wesensfremden jungen Mädchens. Dennoch fühlte Herr Schorneder, schon mit Rücksicht auf seine Frau, die Verpflichtung, diesem Mädchen eine ihr entsprechende Lebensbasis zu schaffen. Herr Dr. Kemper hatte um Tonis Hand angehalten. Wenn Toni den Antrag annähme, so würde Herr Schorneder ein gewisses, ausreichendes Kapital in den Betrieb der Kemperschen Fabrik »investieren«. Toni müßte dann allerdings auf das glanzvolle Berliner Leben verzichten und sich mit dem Los einer Fabrikantengattin in einem kleinen Grenzstädtchen zufriedengeben. Auch würde Herr Schorneder für eine Renovierung des Wohnhauses und für eine durchaus angemessene Aussteuer sorgen. Ja, es wäre nicht ausgeschlossen, daß Herr Schorneder ihr das monatliche Taschengeld in doppelter Höhe als Nadelgeld weiter zukommen ließe. Kurz, Herr Schorneder erwiese sich, wie ja auch Toni nicht leugnen könne, als durchaus großzügig. Er verlange nur, um auch künftighin seiner Tochter Gabriele jeden Konflikt zu ersparen, einen notariellen, formellen Verzicht Tonis auf irgendwelche erblichen Ansprüche. Und zwar von seiner Seite, wie auch von seiten seiner Frau, Tonis Mutter.

»Das Opfer, das dein Stiefvater augenblicklich bringt, ist erheblich genug, um diesen Verzicht zu rechtfertigen. Aber er will keinen Druck auf dich ausüben! Wenn du den Antrag von Dr. Kemper ablehnst, so genießt du selbstverständlich nach wie vor Tochterrechte im Hause deiner Eltern. Also bitte – überleg' es dir.«

Was sollte Toni noch überlegen? ... In ihr jubelte es nur immer: Ja! Ja! Sie hätte vor der Mutter niederknien, ihren Kopf in ihrem Schoß bergen mögen, sie hätte ihre Mutter zum erstenmal in überströmender töchterlicher Liebe umarmen mögen und es hinhauchen, dieses Ja ja!, das ihr das Herz sprengte. Vielleicht wäre Frau Schorneder ebenfalls zum erstenmal gerührt gewesen, hätte Toni anders gesehen – nicht nur als eine unbewußte, aber dunkle Mahnerin an schwere eigene Verfehlung. Vielleicht hätten sich Mutter und Kind in diesem Augenblick gefunden. Aber es waren zu starke Hemmungen in Toni. So sagte sie nur:

»Warum sollte ich den Antrag von Dr. Kemper ablehnen?«

»Na ja, eben. Ich meine auch – es ist das vernünftigste, was du tun kannst.«

Ein leichter Kuß auf die Stirn, ein Tätscheln der Wangen, ein freundliches: »Mach' dich recht hübsch für heute abend!«

»Wenn dein Stiefvater mit Dr. Kemper ins reine gekommen ist, wollen wir auch gleich Verlobung feiern.«

Vielleicht war diese Nüchternheit gut. Toni hätte das Übermaß ihrer jubelnden Glückseligkeit kaum noch ertragen.

Zwei Tage blieb Dr. Kemper noch in Berlin. Sie waren für Toni ein ununterbrochener Rausch. Und nicht bloß wegen der lachenden und nicht unzärtlichen Art ihres Verlobten, sondern weil sie plötzlich erwacht war zum Bewußtsein ihrer eigenen kleinen Person. Ihr war, als drehte sich plötzlich das ganze Haus um sie. Von den Blumen, die sie jeden Morgen empfing, bis zu den gemeinsamen Ausfahrten im Auto, den Bestellungen in den Geschäften, den Besprechungen über die Einteilung im Kemperschen Wohnhaus, die Einsichtnahme in die flüchtig von ihm aufgezeichneten Pläne – all das versetzte sie in einen wahren Taumel, den sie nur mühsam unterdrückte. Beinahe war sie froh, als Kurt Kemper sich verabschiedete. Zuviel war auf sie eingestürmt, zu jäh hatte das Glück sie eingefangen.

Vor der Hochzeit kam er noch einige Male zu kurzem Aufenthalt. Er brachte ihr als Überraschung eine Packung »Antonie-Schokolade« mit, und Gabriele, die beim Lösen der feinen Goldschnur zugegen war, rief ungestüm: »Nicht wahr, Kurt, die nächste Packung heißt Gabriele?!«

»Ja, selbstverständlich!« gab er lachend zurück.

In Lörnach, dem künftigen Wohnsitz des jungen Paares, war alles zum Empfang bereit.

Die Trauung fand im September in der Villa Schorneder statt. Herr Schorneder hatte Wert darauf gelegt, die Hochzeit, wenn auch ohne Gepränge, so doch sehr festlich zu begehen. Es waren viele Gäste geladen, die alle bezeugen konnten, daß Herr Schorneder sich wirklich außerordentlich großzügig seiner Stieftochter gegenüber benommen.

Toni, noch ein bißchen farbloser als sonst in ihrem weißen Brautstaat, aber anmutig und von einer rührenden inneren Freudigkeit durchbebt, sah all die Gäste und alles, was sich um sie herum begab, nur wie durch einen Nebel. Ein Gefühl des Besitzes war in ihr, wie ihr es nur einmal ein häßlicher, verwahrloster Hund gegeben.

Diesmal aber gehörte ihr ein Mann, ein junger, eleganter, von allen Frauen ausgezeichneter. Ihr Mann, den ihr niemand entreißen durfte, an den nur sie allein Rechte hatte.

Vor dem Beginn des Hausballes eilte sie einen Augenblick hinauf in ihr Zimmer. Nicht um sentimentalen Abschied zu feiern von Dingen, die sie nie als zu ihrem Leben gehörig betrachtet hatte. Nur um sich noch einmal im Spiegel zu überprüfen und staunend vor ihrem Gegenbild zu stehn, in dem sie die kleine, blasse, stille Toni kaum noch erkannte.

Als sie sich wieder hinunter in die Gesellschaftsräume begab, waren die Diener gerade mit dem Abdecken der großen Tafel beschäftigt, auf die sie nun Silbertablette mit Gläsern und Eisschalen aufstellten. Das an den Eßsaal sich anschließende Herrenzimmer lag im Halbdunkel, ebenso wie das darauf folgende kleine Damenzimmer.

Sie hörte Gabrielens helle, kräftige Stimme: »Nun mußt du aber dein Wort halten, Kurt, und mich in den Ferien auf die Fabrik einladen!«

»Na selbstverständlich.«

Und Gabriele darauf:

»Sag' nicht so dumm: selbstverständlich! ... Oder doch, ja?«

»Du, Mädel – laß mich los.«

»Aha, siehst du, wie stark ich bin? Wenn du mich anlügst, drück' ich dir den Hals zusammen, daß dir die Puste ausgeht! ... Aber wenn du brav bist, dann will ich dir einen Kuß geben!«

Und Toni sah, wie Gabriele sich an den Hals des sie leicht abwehrenden Mannes festklammerte und ihren Mund zwei-, dreimal fest auf seine Lippen drückte.

»Bist du verrückt, Mädel?«

Gabriele lief lachend ins Herrenzimmer. Ihr breites, blaues Schopfband hatte sich verschoben, und eine Rüsche ihres Chiffonkleides war abgerissen.

»Wart' auf mich, Kurt! Ich muß mir nur was annähen lassen«, rief sie über die Schulter zurück. Und dann blieb sie plötzlich wie angenagelt stehen.

Toni kannte sich nicht. Ihre Zunge war wie gelähmt. Aber ihre kleine, schmale Hand hob sich plötzlich aus dem weißen Gewirr des Brautschleiers und fiel klatschend auf Gabrielens Wange nieder.

»Schamloses Ding! ... Schamloses ...«

Es war die erste körperliche Züchtigung, die Gabriele je zuteil geworden. Und sie duckte sich, als könne noch ein Hagel solcher Schläge auf sie niedersausen.

Toni war der Schleier eingerissen, und sinnlose Wut bemächtigte sich ihrer, da ihr der alte Aberglaube einfiel, ein zerrissener Brautschleier am Hochzeitstage bedeute Unheil in der Ehe. Aber im Übermaß ihrer Empörung fand sie nur immer wieder das eine Wort: »Schamlose! Schamlose!« Sie wiederholte es noch, als Gabriele längst nicht mehr im Zimmer war.

Aus dem Tanzsaal drangen die ersten Akkorde der Hochzeitspolonäse. Kurt Kemper stürzte herein:

»Na da bist du ja endlich, Toni! Alles sucht dich schon.«

Er zog sie mit sich fort. Nur die Erziehung half ihr, sich aufrecht halten an der Spitze des Zuges. – – –

– – – Sie hatte Gabriele nicht wiedergesehen. Und auch im ersten Austausch verliebter Bekenntnisse, wie sie die Flitterwochenzeit mit sich bringt, hatte sie ihrem Manne nichts von der Begebenheit an ihrem Hochzeitstage erzählt.

Frau Dr. Toni Kemper galt allgemein als glückliche Frau. Die Fabrik, von Herrn Schorneder auf eine gesunde Basis gestellt, arbeitete »ordentlich«, wie es in der Gegend hieß. Dr. Kemper war eine gesellige Natur, und wenn er auch Gastlichkeit bei sich nicht in dem Maße pflegen konnte, wie es in der Schornederschen Villa in Berlin der Fall gewesen, so stand doch sein Haus jederzeit Besuchern aus dem südlichen Deutschland und der Schweiz offen.

Toni hatte viele hausfrauliche Verpflichtungen und wenig Zeit, über Stimmungswechsel bei ihrem Manne nachzudenken. Ihr leicht zur Melancholie neigendes Temperament richtete sich an seiner Lebenslust immer wieder auf.

Nur vor seinen Geschäftsreisen war sie immer in leiser Unruhe. Denn es war unvermeidlich, daß er ihre Eltern besuchte und dabei Gabriele wiedersah, die ihm vielleicht Mitteilung machen würde von dem, was sich zwischen ihr und der Schwester abgespielt hatte. Zu ihrem maßlosen Erstaunen erfuhr sie durch einen Brief ihrer Mutter, daß Gabriele über die ganzen Sommerferien auf einen Landsitz zu englischen Freunden geladen war.

Frau Schorneder schrieb noch, daß Gabriele dieser Erholung dringend bedurfte, da ihr Lerneifer in der letzten Zeit fast unheimlich geworden war. Überhaupt hätte sie sich sehr entwickelt – geistig und körperlich. Zu meiner Zeit, schrieb sie, hätte man Gabriele schon in lange Kleider stecken müssen. Aber heutzutage verwischt sich ja der Jahresunterschied durch die ausgleichende Mode. In England triebe Gabriele übrigens viel Sport, wie denn überhaupt das englische Leben ihr ganz besonders zusage.

So sah denn Kurt Kemper Tonis Stiefschwester nicht. Weder bei seiner ersten noch bei den folgenden Reisen nach Berlin. Toni war wesentlich beruhigt.

Eines Tages aber kam ein Karton mit der Etikette eines Hamburger Hotels. Als sie ihn öffnete, fand sie zwei frisch gewaschene Oberhemden ihres Mannes, sowie Unterwäsche, darunter aber zwei Paar seidene Damenstrümpfe und elegante, spitzenbesetzte Combinations. Dazu eine Rechnung über gewaschene Wäsche für das Zimmer Nr. 163 und einen Brief der Hoteldirektion mit der Mitteilung, die Wäsche wäre im Zimmer von Herrn und Frau Dr. Kemper vergessen und vom Hotel aus gewaschen worden.

Da ihr Mann in Geschäften nach Bern gereist war, hatte Toni Zeit gehabt, alle Möglichkeiten eines Selbstmordes durchzudenken. Sie war davon so erschöpft, daß, als ihr Mann zurückkam, sie nur mit der Gebärde einer Sterbenden auf den in einer Ecke ihres Schlafzimmers stehenden Karton zeigen konnte.

Vielleicht war er im ersten Augenblick betreten, im zweiten war er ärgerlich. Als aber Toni haltlos zu schluchzen anfing, brauste er auf:

»Wenn du eine vernünftige Frau wärst, würde ich dir alles erzählen, und du würdest mit mir lachen! Denn es liegt zum Heulen wirklich gar keine Veranlassung vor. Ich kann nichts dafür, wenn du unter einer Glasglocke auferzogen worden bist und aus den unwesentlichsten Zufälligkeiten des Lebens große Tragödien machst!«

Toni stammelte:

»Aber das ist doch Ehebruch ...! Ehebruch!«

Da höhnte er geradezu:

»Gefällt dir das Wort so gut? ... Ehebruch nenne ich, wenn ich von dir weggegangen wäre, um nicht mehr zurückzukommen! Solche kleine Abirrungen sind wirklich nicht des Tränenaufwandes wert! Es ist lächerlich in der heutigen Zeit! Es ist ja, als wollte ich dir Szenen machen, wenn du mit anderen Männern tanzst! Ich bitte dich, Antonie, verschone mich ein für allemal mit solchem albernen Getue.«

Und Toni wußte in diesem Augenblick, daß er fortan skrupellos sich jedes Recht nehmen und wahren würde, die Steigerung seiner Lebensfreuden zu suchen, wo und wann er sie fand.

Tagelang kämpfte Toni mit allerlei Entschlüssen: aus dem Hause gehn, sich scheiden lassen oder ihren Mann unter Tränen beschwören, ihr einen solchen Kummer nicht mehr anzutun. An der heiteren Gelassenheit Kempers prallten alle ihre Entschließungen ab. Sie fühlte, daß sie die Partie verloren hatte, und sah auch keine Möglichkeit, in Zukunft irgend etwas zu verändern.

Die starke Wirkung, die ihr Mann auf die Frauen ausübte, war für sie zugleich seine Entschuldigung. Manchmal erfüllte sie sogar leiser Stolz auf diesen ausstrahlenden Zauber, dem alle unterlagen, und um sich vor seelischen Leiden zu schützen, wußte sie kein anderes Mittel, als die Augen zu schließen, sich blind und taub zu stellen, wenn ein Flirt bedrohlichere Formen annahm.

Sie wußte, daß auch in der Fabrik die Arbeiterinnen vielfach für den »Chef« schwärmten und daß manche von ihnen Gnade vor seinen Augen gefunden. Aber das ging ihr nicht so nahe. Das lag wirklich abseits von dem, was ihre Ehe zerstören konnte. Selbst das Gemunkel über die schwarze Therese aus dem Elsaß vermochte sie nicht aus ihrem künstlich aufrechterhaltenen Gleichgewicht zu bringen.

Und es gab ja auch in den letzten Jahren so viele ernste Dinge zu besprechen. Nach dem anfänglichen Aufblühen der Fabrik kam ein starker Rückschlag. Herr Schorneder verhielt sich allen Bitten um Hilfe ablehnend gegenüber. Er hatte seine Villa im Grunewald verkauft und seinen Wohnsitz nach England verlegt. Von dort aus erhielt Toni auch die Nachricht vom plötzlichen Ableben ihrer Mutter.

Ein halbes Jahr später kehrte Herr Schorneder zur Regelung verschiedener Angelegenheiten nach Berlin zurück, und Tonis Mann versuchte, nun noch einmal den alten Herrn zu einer ausgiebigeren Hilfe zu bewegen. Ganz zermürbt kam Kemper nach Lörrach zurück. Der alte Geizkragen hatte sich nun wirklich bewogen gefühlt, eine größere Summe gegen bankmäßige Verzinsung Kemper zur Verfügung zu stellen. Auch hatte er ihm einige neue kleinere Kredite bei seinen Freunden verschafft für Rohstoffeinkäufe. Den größten Teil des – wie er immer wieder betonte – Gabriele gehörenden Vermögens hatte Schorneder in Chemie-Industriewerten angelegt.

»Er ist übrigens recht klapperig geworden, der alte Herr«, erzählte Kemper.

»Und Gabriele?«

»Ich habe sie nur einmal flüchtig gesehn und hätte sie nie erkannt.«

»Hübsch?«

»Nicht im landläufigen Sinne. Sehr groß. Sehr fertig. Sehr kultiviert. Ich glaube fast, daß es ihrem Einfluß zuzuschreiben ist, wenn Schorneder uns beigesprungen ist. Als alles Geschäftliche erledigt war und mich dein Stiefvater noch zu einer Flasche Wein zurückhielt, fragte ich ihn, ob er denn seine Tochter nicht verheiraten wolle.«

»Und was sagte er?«

»Ich will schon. Aber sie will nicht. Es haben sich schon die glänzendsten Partien für sie geboten. In London hat sogar ein Lord um ihre Hand angehalten, aber beharrlich verteilte sie ihre Körbe, ohne Ansehen der Person. Mir sehr unangenehm, weil ich sie gern in guter Hut gewußt hätte, bevor ich sterbe. Manchmal habe ich mir schon gedacht, daß sie einen Widerwillen gegen den Mann und die Ehe hat. Schade! Sie ist wie geschaffen zu einer kraftvollen Stammutter.«

»Vielleicht hat sie eine Jugendliebe ...?« meinte Toni ein bißchen lauernd. Und innerlich dachte sie: vielleicht ist es Kurt, in den sie sich verliebt hat und den sie nicht vergessen kann.

»I wo«, sagte ihr Mann leichthin. »Aber immerhin ein amüsantes Problem in unserer Zeit, so eine Brunhild! Schade um die ungeborenen Kinder!«

Es gab Toni jedesmal einen Stich, wenn er von Kindern sprach. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte die Kinderfrage manche Verstimmung heraufbeschworen. Nicht aus sentimentalen Gründen wünschte Kemper sich ein Kind – ihm lag an einem Erben für die Fabrik. Oder sollte er etwa für die Nachkommenschaft der reichen Gabriele »schuften«? Es gab wunde Punkte genug, an die nicht gerührt werden durfte. Lange Zeit hörten Kempers nichts von Gabriele. Dann kam ein Telegramm aus Dänemark: Vater soeben verschieden. Wird hier bestattet.

Toni wußte nicht, warum ihr Mann von der Nachricht dieses immerhin im Bereiche der Wahrscheinlichkeit liegenden Ablebens des alten Herrn so tief betroffen war. Bis ihr dann nach Wochen die Erklärung dafür kam. Kurz vor Schorneders Tode hatte ihm Kurt Kemper, ohne Toni etwas davon zu sagen, eine verzweifelte Schilderung der augenblicklichen Lage der Fabrik gegeben: die derzeitige allgemeine wirtschaftliche Lage Deutschlands, der Zusammenbruch großer Rohstoffimportfirmen, die sich daraus ergebende Kündigung der ihm gewährten Kredite, die immer geringer werdende Absatzmöglichkeit der Fertigfabrikate an die mittlere und kleinere Bevölkerung, die auf die allgemeine Geldlosigkeit zurückzuführen sei, der immer fühlbarer werdende Druck machtvoller in- und ausländischer Konkurrenzfirmen, die sich zu Konzernen zusammenschlossen – das alles mache ihn zunichte, wenn nicht sehr bald durch Zuwendung erheblicher Geldmittel seine Produktion auf eine ganz neue und bedeutend erweiterte Basis gestellt würde. In diesem Falle erkläre er sich bereit, sein Besitzrecht Herrn Schorneder abzutreten und sich mit einer Anstellung als Direktor gegen festes Gehalt und Tantieme zu begnügen.

Toni starrte bei dieser Eröffnung ihren Mann fassungslos an. Die großen wirtschaftlichen Zusammenhänge entgingen ihr. Mit ihrem ungeschulten Frauenverstand sah sie nur eines: die Zeit war gekommen, da sie ihrem Mann als brave Ehefrau beistehen mußte. Sie durfte nicht mehr ihre Bekannten mit zahllosen Schokoladepaketen erfreuen, durfte nicht mehr mit ihrem Auto in die deutsche und schweizerische Umgebung Vergnügungsfahrten unternehmen, durfte sich nicht mehr Pariser Modellkleider aus Basel kommen lassen und offene Tafel halten für alle durchreisenden Geschäftsfreunde ihres Mannes. Sie entließ die teure Köchin, entließ den Diener, behalf sich mit billigen Dienstboten, einer billigen Hausschneiderin und war überzeugt, ihrerseits alles getan zu haben, um ihrem Mann den Kampf zu erleichtern.

Sie begriff sein ungeduldiges Abwehren nicht, wenn sie von den Einschränkungen sprach, die sie sich ihm zuliebe so gern auferlegte. Sie brachte es sogar über sich, kein Wort zu verlieren, als der ausgezeichnete Schneider die zwei neuen, auf Seide gefütterten Anzüge ablieferte, die ihr Mann übrigens schlankweg bezahlte.

Kurt Kemper vermied es, mit Toni weiter über seine Lage zu sprechen. Sie zitterte vor dem Augenblick, da er ihr erklären würde, er müsse die Fabrik verkaufen. Denn nach außen hin war sie noch immer die von allen achtungsvoll gegrüßte Frau Fabrikbesitzer Dr. Kemper. Und das schützte sie davor, die bemitleidenswerte Rolle der vernachlässigten Frau auf sich nehmen zu müssen.

Was geschah mit der schwarzen Therese, von der sie durch die neuen Dienstboten erfahren hatte, daß sie für den Herrn Doktor mehr bedeutete als bloß eine flüchtige Liebschaft? Im Laufe der letzten fünf Jahre war die »Theres'« zur ersten Vorarbeiterin aufgerückt und ihr hatte Kurt Kemper auf dem Fabrikgrundstück im Verwalterhaus eine besondere kleine Wohnung angewiesen. Toni hatte nie gefragt, von wem sie den hübschen Jungen hatte, mit dem goldbraunen Haar und den blauen Augen. Nie gefragt, und ihr Instinkt sagte ihr, daß sie auch ihren Mann nicht darum fragen dürfe.

Wenn Toni – was selten genug vorkam – über den Fabrikhof schritt, so lief ihr niemals der Junge in den Weg. Ja, wenn er sie von weitem erblickte, rannte er auf seinen schlanken, strammen Beinchen ins Haus, als wäre strenges Verbot an ihn ergangen, sich vor der Frau Doktor zu zeigen.

Toni glaubte nicht, daß dieses Verbot von ihrem Manne kam. Und wenn ihr im Fabrikgebäude selbst die »Theres'« in den Weg kam, so grüßte die Elsässerin fast demütig. Nein, »die Theres'« war nicht die schlimmste. Aber was geschah, wenn hier alles zu Ende war? –

– – – – Der Vorfrühlingswind schlägt heftig den einen Fensterflügel zu.

Toni fährt auf. Ihre Hand gerät an den harten Briefumschlag Gabrielens. Wie mit einem Pinsel sind die breiten, großen Buchstaben geführt.

Toni liest:

Liebe Toni, lieber Kurt!

Zu Eurem zehnten Hochzeitstag meine besten Glückwünsche.

Nun ist über ein Jahr seit dem Tode meines Vaters vergangen, aber erst jetzt, vor wenigen Wochen, fand ich den Mut, seinen persönlichen, schriftlichen Nachlaß durchzusehen. Ich fand dabei Deinen Brief, lieber Kurt, und machte mir Vorwürfe, daß ich Euch solange in Angst und Sorge gelassen habe. Nach Vaters Tod war ich wieder eine Zeitlang in England und bin dann weiter hinauf in die schottischen Berge gegangen. Es ist merkwürdig, wie klein und nichtig einem all die menschlichen Konflikte angesichts dieser gewaltigen Natur erscheinen, und wie lächerlich fast all die aneinander prallenden Leidenschaften derer, die sich Herren dieser Erde nennen und doch nichts anderes sind als lastenschleppende Ameisen. Vielleicht werdet Ihr verstehen, daß mich ein großes Mitleid mit der Menschheit erfaßte und zugleich ein Frohgefühl, daß ich nicht so unbeteiligt auf das Getriebe herabzusehen brauche wie die steinernen Giganten. In dieser Stimmung kehrte ich nach Kopenhagen zurück, um unseren Hausstand dort aufzulösen. Und dabei, wie gesagt, fiel mir Dein Brief in die Hände.

Ich reiste nach Berlin, um mir von Vaters Notar genauere Angaben über meine derzeitige Vermögenslage machen zu lassen. Obwohl mich mein Vater nie im Unklaren gelassen hat über meine zukünftigen wirtschaftlichen Verhältnisse, so übertraf doch, was ich vorfand, bei weitem meine Erwartungen. Ihr müßt mir glauben, wenn ich Euch sage, daß mein erster Gedanke Euch galt, denn in England hatte ich gelernt, Familienzusammengehörigkeit schätzen. Und wenn ich meinen Vater auch in allem verehrte, so war ich doch nicht immer einverstanden mit der Ausschließlichkeitspolitik, die er trieb. Doch gerade ich, die seine Hoffnung auf Gründung einer eigenen Familie immer wieder zerstörte, durfte ihm keine Vorwürfe machen.

Vielleicht werdet Ihr Euch jetzt nicht mehr wundern, daß ich als Bittende zu Euch komme. Daß ich Euch bitte, mit mir zusammen eine Familiengemeinschaft zu bilden. Daß ich nicht mit leeren Händen komme, ist selbstverständlich. Denn ich will ja Euer Leben nicht belasten, sondern erleichtern. Während meiner vielen Reisen und mit dem durch meinen Vater geschärften Blick für die wirtschaftlichen Verhältnisse verschiedenartigster Industrien haben sich in mir Ideen entwickelt, deren Verwirklichung ich gern im Verein mit Euch nähergetreten wäre. Denn mein Vater hat – trotz seiner Zurückhaltung Kurt gegenüber – ihn immer für tüchtig und arbeitsfreudig gehalten, so daß mein geschäftlicher Zusammenschluß mit ihm seinem Sinn durchaus nicht entgegen wäre.

Schreibt mir also, ob ich in Eurem Hause, in dem jetzt ja leerstehenden westlichen Flügel, Aufnahme finden kann. Ich würde dann einen Teil meiner Möbel vorausschicken und meine langjährige Zofe Elise mit der Einrichtung betrauen. Alles weitere könnten wir dann mündlich besprechen.

Anbei ein Verrechnungsscheck über Mk. 10 000. –, den Ihr als Hochzeitsgeschenk betrachten mögt, und der Euch für die lange Angst- und Wartezeit ein bißchen entschädigen soll.

Schreibt bald: ja oder nein und seid herzlich gegrüßt von

Eurer
Gabriele.

* * *


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