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Toni hat kaum zwei Stunden geruht in dieser Nacht. Als der letzte Gast aus dem Hause war, strich Kurt Kemper ihr in seiner oberflächlich zärtlichen Art über die Wange: »Hast alles nett gemacht, Tonichen.«

Sie weiß nicht, wie sie es über sich gebracht, sich ihm wortlos zu entwinden. Noch jetzt vermeint sie das Brennen zu fühlen, das ihr von seinen Fingerspitzen auszugehen schien. Immer wieder muß sie sich über die Wange fahren, als gelte es, eine Unsauberkeit wegzuwischen. Alle Fenster stehen weit auf, um den letzten Menschendunst und Zigarrenrauch hinauszulassen. In der Anrichte neben der Küche im Erdgeschoß sitzen der Diener und Elise und putzen das Silber. Feindliches Schweigen ist zwischen ihnen. Gestern abend hat der Diener zum dritten Male Elise einen Heiratsantrag gemacht, und als sie ihn zum dritten Male – und diesmal noch schroffer als sonst – abwies, hatte er ihr roh zugeraunt: »Seien Sie doch froh, daß sich einer findet, der ihrem Kinde seinen Namen gibt!« Fast hätte das Wort sie umgeworfen, aber mit übermenschlicher Anstrengung hielt sie sich aufrecht wie immer und antwortete, als verstünde sie den Sinn seiner Worte nicht: »Sollte ich heiraten, so nehme ich einen Mann, dessen mein Kind sich als Vater nicht zu schämen braucht!« Die Obliegenheiten ihres Dienstes ließen keine weiteren Erörterungen zu. Aber nun mußten sie einander doch gegenübersitzen an dem langen schmalen Tisch und gemeinsam das Silber putzen.

Denn Gabriele hatte den Silberbestand des Hauses ganz wesentlich durch ihren eigenen vermehrt.

Sie stehen beide auf, als Toni in ihrem malvenfarbigen Morgenkleid auf der Schwelle erscheint. Sie hat ein Fläschchen in der Hand:

»Sagten Sie nicht, daß man Arnika aus der Apotheke holen müßte, für meine Schwester? Ich habe gerade noch ein halbes Fläschchen im Hause vorgefunden.«

Der Diener hebt ein mit Silber beladenes Tablett nach Kellnerart auf die flache Hand, so daß Toni sein zynisches Lächeln nicht sehen kann. Da geht die Tür auf, und eine dicke, untersetzte Frau in blauer Arbeitsschürze tritt herein:

»Ach Gott, die Frau Doktor – na, dann ist's ja gut.«

Es ist eine der Scheuerfrauen von der Fabrik. Sie streckt Toni einige Glieder der goldenen, brillantenbesetzten Kette von Gabriele entgegen: »Ich hab' das im Bürozimmer von Herrn Doktor gefunden ... gerade vor der Chaiselongue lag es unten am Boden.«

Toni hält das kalte Metall fest umschlossen in ihrer Hand.

»Ist gut, Frau Meller. Den Finderlohn wird Ihnen mein Mann geben.«

Im Umwenden sieht sie noch Elisens verstörtes Gesicht und wundert sich – daß sie es sieht. Sie muß sich fest an der Rampe halten, um die Treppenstufen hinaufzuklimmen. Oben in der Wohnung rückt das Hausmädchen die abgestaubten Möbel wieder an ihren alten Platz. Die Zimmer sehen aus wie früher: gemütlich, gefällig, mit Blumen und kleinen Tischen in allen Ecken. Die Sonne spielt auf den Kristallen und dem Silber der Kredenz, läßt das Gold der Bilderrahmen im Herrenzimmer aufleuchten, fegt in breitem Streifen über den peinlich geordneten Schreibtisch, auf dem in abgegriffenem Lederrahmen Tonis Bild steht. Tonis Bild aus dem ersten Jahr ihrer Ehe.

Es ist ihr kaum bewußt, daß sie das Bild nimmt, und sie betrachtet es jetzt, wie sie das Bild einer fremden, aber sie sehr interessierenden Frau betrachten würde. Was hat eigentlich dieses dürftig unbedeutende Ding auf dem Schreibtisch ihres Mannes zu suchen – – –? War es möglich, daß er sich in dieses nichtssagende Geschöpf verliebt hatte? ... Oder – hatte er mit Herrn Schorneder ein Geschäft abgeschlossen, bei dem sie der Kaufpreis war? ... Allein – sie braucht ja nur an den sinnbetörenden Rausch der ersten Flittermonate zu denken! Da war nichts Erlogenes, nichts Gekünsteltes, und Glück strahlte ihr auch aus seinen Augen entgegen! Kann sein, daß es nicht bloß das Glück war über ihren Besitz, auch das Glück über die wirtschaftliche Sicherheit, die ihm durch seine Heirat geworden ...! Denn Sorge war ihm von den Eltern überkommen und die stete Unsicherheit, ob er die Fabrik würde halten können, die seit drei Generationen unter dem Namen Kemper ihre Erzeugnisse in die Welt schickte. Er hatte es ihr gebeichtet in den ersten Monaten: »Denke, Kleines, wenn ich das hier alles hätte lassen müssen, um mich bei fremden Leuten zu verdingen wie ein Kuli –!« Und sie war so stolz gewesen damals, daß er ihr zu danken hatte, was ihm wohl das Wertvollste schien im Leben: die Freiheit.

Freiheit! ... Ja – die hatte sie ihm gegeben und gelassen! Soviel Freiheit, daß er in seinem Hause und in seiner Ehe nicht den leisesten Druck einer Fessel spürte.

Noch einen Blick wirft sie auf ihr Bild – und wenn sie sich jetzt im Spiegel sähe, sie fände keine Beziehung mehr zu dem leeren, freundlichen Oval im Rahmen. Wie sollte da er noch eine Beziehung finden?! ...

An Stelle des Bildes, das sie an sich nimmt, legt sie das abgerissene Ende der Goldkette. Dann geht sie aus dem Zimmer.

*

An diesem Tage sitzt Toni ganz allein im Speisezimmer. Ihr Mann ist mit dem Auto nach Offenburg gefahren. Er hat es ihr ganz kurz mitgeteilt, ohne sie dabei anzusehen.

Wann er wiederkäme? ...

Er wüßte es nicht so genau – möglich, daß er über Nacht fortbliebe.

»Um die Korrespondenz wird sich wohl Gabriele kümmern?« meint Toni.

»Ja, ich denke.«

Toni fühlt: ihn beherrscht nur ein Gedanke – fort von hier, von den Fragen, die er in Tonis Augen sieht, von Elisens starrem: »Fräulein Schorneder ist nicht zu sprechen.«

Auch Toni selber muß sich das sagen lassen.

Nachdem Kurt fortgefahren, sieht sie auf seinem Schreibtisch nach. Das Stückchen Kette liegt noch immer an der gleichen Stelle. Sie ersieht daraus, wie selten seine Blicke ihr Bild grüßen. So hat er auch sein Fehlen und die Kette nicht bemerkt. Sie wundert sich, wie wenig sie das innerlich berührt – als glitte alles an ihr ab.

Am Spätnachmittag kommt der Verwalter herüber: ob Fräulein Schorneder nicht ins Büro käme? Oder ob er einige Briefe herüberbringen solle, es wäre einiges Wichtiges zu beantworten? ... Elise kommt mit der Meldung zurück, der Prokurist möge die Briefe gegen abend Fräulein Schorneder herüberbringen. Sie könne ihres schmerzenden Fußes wegen nicht gehen.

Als aber der Prokurist Wagner kommt, wird er von Elise abgefertigt: Fräulein Schorneder hätte so starke Migräne, daß sie ihn nicht empfangen könne. Da läßt sich der Prokurist bei Toni melden, um zu fragen, ob und wohin er die Briefe nachschicken solle oder ob Herr Doktor heute nacht noch zurückkäme.

»Er wird wahrscheinlich morgen wieder da sein. Die Sachen haben doch wohl bis dahin Zeit ...«

Dann fragt sie ihn, ob er sich gut unterhalten hätte am gestrigen Tage. Er dankt vielmals: »Ja, gewiß, es war alles sehr gelungen ... nur der Verwalter hätte ihm gesagt, die Arbeiter wären ein bißchen verschnupft, weil sich der Herr Doktor kaum die Zeit genommen, ein Glas Bier mit ihnen zu trinken.«

»So? Ich dachte doch, mein Mann und meine Schwester wären in der Kantine gewesen ...«

»Das schon, Frau Doktor. Aber leider war es schon ein bißchen spät, und die Leute waren reichlich animiert ... so daß Herr Doktor Fräulein Schorneder gleich riet, lieber ins Büro hinaufzugehn ... Er hat dann noch mit den Leuten ein Glas Bier getrunken und wollte dann mit Fräulein Schorneder über die Wendeltreppe zurückgehen, um den angeheiterten Arbeitern auszuweichen. Vielleicht war die Treppe nicht genügend beleuchtet – da kann ja leicht so ein Malheur passieren ...«

Das klingt alles sehr natürlich. Und wenn sie ihren Mann nach der gerissenen Kette fragte, würde er gewiß antworten: »Ja, mit der ist sie eben am Geländer hängen geblieben.«

Stundenlang geht Toni durch alle Zimmer ihrer Wohnung. Sie denkt nicht mehr daran, Einlaß bei ihrer Schwester zu begehren.

Spät abends kommt ein Telegramm. Kurt Kemper bittet, Wichtiges oder Eiliges nach Karlsruhe an die bekannte Hoteladresse zu schicken – sein Auto käme mit dem Chauffeur leer zurück. Der Telegraphenbote hat noch ein zweites Telegramm in der Hand: für Fräulein Schorneder. »Kann ich das gleich hier lassen, Frau Doktor?« fragt er.

»Ja«, sagt Toni. »Geben Sie her, ich bringe es meiner Schwester hinüber.«

So – nun hat sie einen stichhaltigen Vorwand, Gabriele aufzusuchen. Und da Elise nicht in der Nähe, klopft sie hart an die Tür:

»Mach' auf, Gabriele. Ein Telegramm für dich.«

Es bleibt still im Zimmer. Und noch einmal:

»Ein Telegramm für dich ... Soll ich es öffnen und dir vorlesen?«

Dumpf klingt es zurück:

»Komm durchs Ankleidezimmer herein.«

Es ist etwas so Fremdes in Gabrielens Stimme, daß es Toni scheint, als spräche jemand anderer.

Das Schlafzimmer ist ganz dunkel, und Toni hat Mühe, sich zurechtzufinden. Nur auf dem Bettisch brennt ein winziges, hellbraun beschirmtes Lämpchen.

»Soll ich Licht machen?« fragt Toni.

Gabriele will nein rufen, aber schon hat Toni an der Kette gezogen, die über dem Frisiertisch hängt und weißglühendes Licht ergießt sich über den Raum. Gabriele schlägt den Arm über die Augen.

»Verzeih, aber bei der Dunkelheit konntest du doch nicht lesen ...«

Toni fühlte genau, es ist eine Depesche von Kurt:

»Soll ich öffnen?«

»Nein, gib nur her.«

Fast reißt Gabriele ihr das Telegramm aus der Hand.

»Von meinem Mann, nicht wahr?«

Tonis Stimme zittert leise. Sie ist großen Szenen nicht gewachsen. Zuschlagen – das könnte sie vielleicht. Aber Rechenschaft verlangen – Fragen stellen ... Sie fürchtet das Lächerliche ihrer Kraftlosigkeit. Daß Gabriele sie jetzt nicht ansieht, ist ihr eine Erleichterung. Als wäre sie die Schuldige, als müßte sie zur Rechenschaft gezogen werden.

Gabriele läßt das Telegramm offen auf die Bettdecke zurückfallen:

»Kannst lesen, wenn du willst.«

Und Toni liest: »Mußt sofort hierherkommen, da gemeinsame Unterschrift in Sachen Bürger u. Co. vor Notar erforderlich. Drängt. Kurt.«

Ein Wort will Toni über die Lippen kommen: schamlos!

Schamlos sind sie beide: er, ihr Mann, und sie, ihre Schwester. Treiben abgekartetes Spiel und glauben, sie merkt nichts! Ihre Blicke irren umher, als suche sie einen Gegenstand, den sie Gabriele ins Gesicht werfen könnte. Aber ihre Hand ist wie mit Blei beschwert.

»Wann fährst du?« stößt sie heraus.

»Morgen, wenn mir besser ist.«

»Ja, kannst du denn überhaupt mit dem Fuß auftreten?«

»Wieso mit dem Fuß ... ach so, ja – –«

Toni entdeckt die Arnikaflasche. Ihr Inhalt hat sich nicht verringert.

»Hast dir also keine Umschläge gemacht? ... Wolltest doch Arnika haben heute morgen ...«

»Ja, heute morgen ... aber dann kam die Migräne. Diese tolle Migräne. Wahrscheinlich haben wir wieder Föhn ... Ich bitte dich, lösch' das Licht oben.«

Toni hat in ihrer Erregung das Telegramm zu einem Knäuel zusammengeballt. Jetzt wirft sie es auf Gabrielens Bett zurück, und mit einem schwachen Versuch zu beißender Ironie sagt sie:

»Vielleicht legst du Wert darauf, es zu behalten ...«

Dann wendet sie sich kurz um und geht aus dem Zimmer, ohne an der Lichtkette zu ziehen.

Kaum hat sich die Tür hinter ihr geschlossen, fährt Gabriele aus dem Bett. Schiebt den Riegel vor.

Warum hat sie gesagt: morgen ...? Heute. Gleich heute sollte sie fahren! Keinen Augenblick länger durfte sie hier bleiben – –

Kaum ein Auge geschlossen hat sie die ganze Nacht. Nur Farbflecke tanzten vor ihr her, gelbe, rote Farbflecke, und ein Gefühl unsagbaren Hasses weitete ihr das Herz, daß sie meinte, es müsse zerspringen. Haß auf den Mann, der sie um ihre Würde gebracht, um all das, was sie an Wert in sich Jahr um Jahr aufgebaut. Wie war es möglich, daß er sie rief – zu sich rief – – als gehöre sie ihm?! ... Denn die »notarielle Unterschrift« ... war ja doch nur für Toni berechnet.

Ihr Blick fällt auf die Arnikaflasche. Wenn Elise merkt, daß sie nichts vom Inhalt verbraucht hat, wird sie stutzig – Gabriele schlüpft in die Morgenschuhe und geht mit der Flasche in den Ankleideraum. Dort gießt sie das Medikament in die Waschschüssel. Elise – und jetzt wieder tanzt ein roter Farbfleck vor Gabrielens Augen: das rote Kleid. Wo ist es nur? – Elise darf es nicht finden! Und wenn sie fragt, dann wird sie einfach sagen, sie hätte es selbst eingehängt – – Wenn aber Elise beim Bettmachen die Matratze wendet? ... Nein. Hier kann sie es nirgends verbergen! Es ist gut, daß sie nach Karlsruhe fährt! In ihrem Reisenecessaire wird sie es mitnehmen, wird das Kofferchen mit dem Schlüssel abschließen ... daß Elise nicht herankann beim Packen! Am besten – sie nimmt es jetzt gleich ... Und sie zerrt das Kleid unter der Matratze hervor. Wie schwach sie doch ist ... als hätte die Matratze ein Zentnergewicht. Sie zieht und zerrt ... Endlich hält sie den formlosen zerknitterten Knäuel in Händen. Sie stopft ihn in das Necessaire, das stets reisefertig ist. Sie schließt es ab und gibt den Schlüssel in ein Seitenfach ihrer Handtasche. Dann zieht sie an der Lichtkette und kriecht zurück ins Bett. Dabei fällt das zerknüllte Telegramm ihr auf die Brust. Sie faltet es auseinander, glättet es. Fast ist es ein Streicheln. Sie zählt: noch neunzehn Stunden ... lange neunzehn Stunden, bis sie ihn wiedersieht ... Ob er auf dem Bahnsteig ist? ... Ob er sie im Hotel erwartet? ... Man kennt sie ja beide im Hotel. Ihr nahes Verwandtschaftsverhältnis läßt keinen Verdacht aufkommen! ... Wie lange sie wohl in Karlsruhe bleiben können ...? Oder – ob sie weiterfahren ... nach Mannheim? Geschäftliche Vorwände gibt es ja genug ... Nur nicht zusammen zurückfahren! Nicht gleich zurück in die bürgerliche Enge! Unter Tonis tastende Blicke ... Nur sich selbst wiederfinden – und zurechtfinden in das Neue – – es ist ja alles ganz einfach ... Und ein breites Lächeln legt sich um ihre Lippen. So einfach – – –

Ihre alte Lebenskraft regt sich. Als Elise vorsichtig an der Tür klopft, verlangt sie nach einem Bad.

»Und nachher bringen Sie mir etwas zu essen und Rotwein ans Bett. Sie brauchen nur die Kissen aufzuklopfen, ich lege mich gleich wieder hin.«

Gabriele ißt mit wahrem Heißhunger. Dazwischen trinkt sie in großen Zügen von dem schweren Burgunder. Wie neugeboren fühlt sie sich. Frisch und tatkräftig.

Natürlich fragt Elise nach dem Kleid, und Gabriele antwortet:

»Lassen Sie nur ... ich habe es schon in den Schrank gehängt.«

Wundert sich dabei, daß Elise nicht dennoch verlangt, es herausnehmen zu dürfen, um es auszuschütteln. Niemals war das Mädchen nachlässig im Dienst. Jetzt aber scheint es Gabriele, als arbeite sie nur widerstrebend, und aus dem robusten Gefühl wiedererwachender Selbstbehauptung heraus fragt sie:

»Was ist Ihnen? Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Elisens Blick wird starr, und ihr Gesicht um einen Schatten bleicher.

»Doch, ja ... ganz wohl. Aber die Luft ist so drückend hier.«

»Ja ... in den schottischen Bergen atmete sich's leichter ... Übrigens, Elise, müssen Sie ein Telegramm aufgeben. Aber ... bringen Sie es selbst auf die Post.«

Und sie setzt eine Depesche auf an Kurt Kemper: »Eintreffe morgen mittag Karlsruhe. Gabriele.«

Unterwegs trifft Elise den Diener. Sie tut, als sähe sie ihn nicht, und will an ihm vorbei. Er aber macht kehrt und bleibt an ihrer Seite. Macht »Konversation« – fragt so nebenbei, an wen die Depesche ist, berichtet Nachklänge vom gestrigen Abend. Ganz Lörnach spräche noch vom Feuerwerk und auch, daß beinahe ein Brand entstanden wäre.

»Ein Brand? Bei uns?«

Jawohl, im »Löwen« hätten sie davon gesprochen. Und ein paar Arbeiter hätten geschimpft, daß Fräulein Schorneder es unter ihrer Würde gehalten, ein paar Minuten mit ihnen zusammen in der Kantine zu sein.

»Ja, sehen Sie, Fräulein Elise, das ist ein unruhiges Volk hier unten an der Grenze. Und von der Schweiz drüben her weht so ein demokratischer Wind ... da gibt's keine so 'ne Klassenunterschiede wie bei uns! ... Und – das steckt die Leute hier an und macht Unzufriedene.«

Elise antwortet nicht, sie rechnet nach. Sie hatte sich noch gestern abend gewundert, wie lange Fräulein Schorneder von der Gesellschaft weggeblieben war ... und nun war sie gar nicht in der Kantine gewesen – – –?

»Fräulein Schorneder hatte doch den Unfall mit dem Fuß!«

»Ach? Sie glauben an die Geschichte? ... In der Fabrik drüben glaubt keiner an den verstauchten Fuß! ... Oder hat sie der Storch vielleicht reingebissen? ...«

»Sie werden unverschämt, Joseph!«

Er hebt frech lachend die Achseln:

»Na ja ... wenn Sie nichts Besseres drauf zu antworten wissen ... es ist eben ein ordinäres Pack im ›Löwen‹. Im ›Blauen Stern‹ sind sie feiner ... Aber dort klatschen sie auch am Biertisch. Und wenn der neue Prokurist mit dem Zeichner Schirmer an ihren Ecktisch kommen, tuscheln sie auch zusammen. Gerade so wie am großen Stammtisch, wo der Herr Amtsrichter sitzt und der Herr Untersuchungsrichter und der Herr Staatsanwalt und der junge Assessor und die ganze Gesellschaft. Ich weiß es von der Tochter vom Wirt, die hat's mir selber erzählt! ... Und daß sogar die Rede davon war, der Untersuchungsrichter wollte dem Fräulein Schorneder einen Heiratsantrag machen ...! Das könnte ihm schon passen ... das viele Geld, hm? Aber – seit dem verstauchten Fuß ... da wird sich das Blatt wohl wenden! ... Resteressen ist nicht jedermanns Sache! ... Ach – da kommt ja auch der Herr Mutzmann ... na, ich will nicht stören. 'n Abend, Fräulein Elise.«

Vor Elise dreht sich alles im Kreise, und sie streckt den Arm aus, als wolle sie sich an Mutzmann festhalten.

»Wie siehst du denn aus?« fragte er sie. »Was hat dir der Lümmel gesagt, die gottverfluchte Schandschnauze?«

Er führt sie zu einer Bank, die auf dem schmalen Promenadenweg längs der Bahnschienen steht.

»Ich muß ein Telegramm aufgeben«, sagt sie schlaff.

»Na dann gib her, ich bring's hin.«

Sie hat ganz vergessen, daß sie es selbst aufgeben sollte. Es ist ihr ja so hundeelend zumute. Körperlich und auch seelisch. Alle versteckten Anspielungen, die sich gegen sie richteten, hat sie wohl verstanden, und sie weiß, daß die zischelnden Lästerzungen vor nichts und niemand halt machen. Sie weiß, daß man ihren Namen mit dem von Mutzmann verknüpft, weiß, daß man aus der Art ihres veränderten Ganges, der Blässe ihrer Wangen Schlüsse zieht, weiß, daß die kranke Frau im Verwalterhause schmutzige Geschichten um ihren Mann und sie webt, weiß, daß hämische Blicke ihnen folgen, wenn sie zusammen aus dem Fabriktor treten, und daß das Bedauern mit Mutzmanns Schicksal umgeschlagen ist in feindliche Gehässigkeit.

»So«, sagt Mutzmann und legt den Rest des mitbekommenen Geldes in Elisens Hand. »Also dein Fräulein fährt ihm jetzt nach – – na ...«

»Red' nicht so wüst«, unterbricht ihn Elise.

»Glaubst du, 's trifft nur unsereins, wenn es über einen kommt?«

Elise findet keine Antwort.

»Wie jetzt schon die Tage kurz werden ... und vergehen doch so schrecklich schnell ...«

Sie greift nach seinem Arm, weil ihr ist, als könnte sie nicht zwei Schritte mehr allein machen. Sie haben einen Seitenweg eingeschlagen, der an ein paar vereinzelten Villen vorbei ins Land hinein führt.

»Die Theres' wird jetzt auch dran glauben müssen«, sagt Mutzmann langsam. »Von morgen ab soll sie nicht mehr in die Fabrik, der Verwalter muß es ihr morgen ausrichten. Heute dachten schon alle, es ginge los ... hat sich gerade nur so festgeklammert am Stuhl. Kann's dem Chef nicht verdenken, wenn er nicht da sein will ... Ist überhaupt kein ruhiges Arbeiten mehr, seit die vielen Neuen da sind.«

Schwer hängt sie an seinem Arm.

»Na Elise ... was ist denn ...? Mußt dich zusammennehmen, solange es geht.«

Sie bleibt stehn, wirft beide Hände auf seine Schultern:

»Und wenn's nicht mehr geht ...? Meinst du, ich bin's gewöhnt, daß die Leute mit Fingern auf mich zeigen? ... Meinst du, daß mich Fräulein Schorneder behält, wenn ich herumlaufe wie eine trächtige Kuh? ... Ein Fabrikmädel – wer schert sich darum? Aber unsereins – – Fünf Jahre bin ich jetzt in der Stellung. Überallhin hat mich Fräulein Schorneder mitgenommen. Hab' mich nicht zu verstecken brauchen! Hab' die Welt gesehn – in England war ich, in Schottland, in Schweden, in Holland ... Hab' Heiratsanträge genug gehabt, gerade so wie Fräulein Schorneder, um die sich ein Lord sogar angeschossen hat ... und jetzt soll ich hier in dem elenden Drecknest ...«

»Ja, Himmelkreuzdonnerwetter, was soll ich denn da machen?! ...«

Mutzmann reißt die Mütze vom Kopf und fährt sich durch das wellige Haar: »Verrückt kann man werden! Zu Hause die Frau, die nicht leben und nicht sterben kann, und hier – – na ...«

Elise lehnt sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm.

Er steht vor ihr, breitschulterig und übergroß. Ein schöner Mensch ist er. War vielleicht auch mal was Besseres, mit einem Anflug von Bildung, mit Ehrgeiz. Jetzt aber –

Elise kann sich nicht für alle Zeit an die Seite dieses Mannes denken. Der Klang allein der Länder, die sie nannte, zeigt ihr, was sie verlöre.

Mit schwerer Zunge, als hätte er zuviel Wein getrunken, hebt Mutzmann wieder an:

»Nun hat die Theres' meiner Frau eingeredet, der Chef brächte einen Professor – der würde sie gesund machen! Jetzt redet sie nur davon. Ich glaube, sie hat nicht mal gestern was vom Feuerwerk gesehn. All den Weibern aus ihrer Verwandtschaft hat sie's erzählt. Und auch heute hat sie sich wieder alle kommen lassen, die ganze Stube war voll ... nicht zum aushalten! Sie bildet sich ein, sie wird noch Kinder kriegen können ...! Kinder von der Frau!«

Mutzmann schüttelt sich:

»Wenn sie bei der Operation nicht unterm Messer bleibt – frei gibt die mich nie, solange sie lebt!«

Elise denkt: und wenn die Frau die Operation nicht übersteht, sollte sie vielleicht einziehen als Nachfolgerin in die muffigen Stuben, wo Krankheit, Unfrieden und Zank geherrscht? Sollte sie etwa das Proletarierleben führen, das die Frauen vor der Zeit alt und rechtlos macht? Und plötzlich überkommt sie Zorn gegen den Mann, der sie vielleicht an sich zu binden meint durch das noch Ungeborene.

Er mißversteht das Feindselige in ihrem Blick, glaubt, es sei Angst vor dem Bevorstehenden, vor der Ungewißheit künftiger Tage, und es rührt ihn diese Angst, vor der sie nur bei ihm Zuflucht finden kann. Ganz nahe tritt er an sie heran und drückt seinen großen schweren Körper gegen den ihren.

»Elise ... meine gute, liebe!«

Er preßt seine Lippen auf die ihren, merkt es gar nicht in seinem Zärtlichkeitsbedürfnis, wie widerstrebend sie ist, und weiß nicht, wie ihm geschieht, da ihre Hände ihn mit plötzlicher Wucht von sich stoßen: »Gib acht!!«

»Guten abend auch, Fräulein Elis'. Ach – und der Andreas ist ja auch da ...«

Es sind zwei Kusinen von Frau Mutzmann, die jetzt heim ins benachbarte Dorf gehen.

»Deine Frau hat schon nach dir gefragt, Andreas ... Aber es ist gerad' ein so herrlicher Herbstabend, nicht wahr, Fräulein Elis'?«

Die Züge der zwei Frauen sind kaum zu unterscheiden in dem anbrechenden Dunkel. Aber die Stimmen haben den heuchlerischen teilnehmenden Klang, der bei Ungebildeten die Ironie ersetzt.

»Nicht zu sagen, wie deiner Frau die Hoffnung auf den Professor aus Basel neuen Lebensmut gegeben hat ..! Und wie steht's bei Ihnen mit der Gesundheit, Fräulein Elis'?«

In diesem Augenblick haben Elise und Mutzmann den gleichen Wunsch: den beiden an die Gurgel fahren und sie schütteln. Kanaillen ...!

»Ich muß jetzt eilen, daß ich nach Hause komme«, sagt Elise.

Am liebsten würde sie davonlaufen, solch eine Sehnsucht hat sie nach den schönen stillen Zimmern, mit den vornehmen Möbeln und den kostbaren Teppichen.

Dorthin – dorthin gehört sie! Nicht auf die Landstraße neben einen Arbeiter und zwischen hämische Weiber – –

Sie geht so schnell, daß Mutzmann sie leise am Arm zurückhält.

»Lauf' nicht so, Elise. Du könntest dir schaden ...«

Schaden –! Sie möchte ihm ins Gesicht lachen. Bis ans Ende der Welt würde sie laufen, wenn sie sich damit »schaden« könnte!

Mutzmann hält ihr Schweigen nur für die Folge der unliebsamen Begegnung.

»So ein Pech! Gerade diese verdammten Klatschweiber mußten uns über den Weg laufen! ... Morgen erzählen sie's der Frau brühwarm! Und dann ist sie hin, meine Nachtruhe! ...«

Elise läuft wieder schneller. Was geht sie Mutzmanns Nachtruhe an? ... Sie kann seine Stimme nicht mehr hören und möchte sich die Ohren zuhalten vor seinen Worten, die sie hinüberziehen in das Intimste seines Lebens.

»Bring' mich nicht bis an die Fabrik. Der Verwalter steht um die Zeit oft vor dem Tore. Hat keinen Zweck, daß er uns wieder zusammen sieht.«

»Ach, Elis', das ist jetzt nun doch schon egal ...«

»Dir vielleicht! Aber mir nicht!«

So ungewohnt rauh und hart ist ihre Stimme, daß Mutzmann sie kaum wiedererkennt.

»Na ja, geh' nur vor«, sagt er täppisch-gutmütig. Aber sein Kopf ist schwer, als hätte er einen Schlag bekommen. – –

– – »Wie lange Sie weggeblieben sind, Elise ...! Ist die Depesche fort?«

»Ja natürlich ... das war das erste.«

»Und das zweite? ...« fragt Gabriele. Sie sieht wieder gut aus in ihrem frischen, blauen Nachtkittel, mit dem gelockten und leicht geordneten Haar. Die Burgunderflasche ist zu dreiviertel geleert, und der Wein hat ihre Wangen mit feinem Rot überzogen.

»Spazieren gegangen, was Elise? ... Sehen Sie sich nur vor!«

Elise wird kalt bis in die Fingerspitzen.

»Was soll ich einpacken für Karlsruhe, Fräulein Schorneder?«

»Ein bißchen Wäsche und ein Abendkleid, für alle Fälle. Das Reisenecessaire hab' ich schon abgeschlossen.«

Und Elise packt den kleinen Coupé-Schrankkoffer. Und hängt noch ein weiteres Kleid ein. Und späht dabei vergeblich nach dem roten Chiffonkleid. Wo mag das nur sein ...? – Doch im letzten Augenblick drängt sie die Frage zurück. Was ihr jetzt durch den Kopf blitzt, scheint ihr undenkbar ... Und doch – –

Um die festgesetzte Stunde gleitet das Auto mit Gabriele aus dem Hof. Sie hat sich nicht von Toni verabschiedet. Noch ist ihr die Lüge zu ungewohnt. Auch die Lüge in Blick und Stimmklang. Nur Elise hat sie aufgetragen: »Schönen Gruß an meine Schwester. Und sagen Sie, ich hätte mich verspätet. Darum hatte ich keine Zeit, hinüberzukommen.«

– – – Elise will nun endlich wissen, was mit dem roten Kleid geschehen ist. Schließlich ist sie doch verantwortlich! Ein Kleid ist kein Taschentuch, das man irgendwo verlieren kann ... und warum hat Fräulein Schorneder gerade dieses Kleid selbst eingehängt? ... So etwas tat sie doch sonst nie ... Und warum hatte sie ihr vorgestern nicht erlaubt, daß sie ihr den Schal abnahm? ... Und warum hatte sie sich eingeschlossen? ... Und warum fuhr sie jetzt gleich nach Karlsruhe – kaum, daß der Doktor hingefahren war ...? Was sagte Mutzmann? ... Die Leute klatschten soviel in Lörnach ...?

Vergeblich durchsucht sie die zwei großen Schränke. Dann kehrt sie zurück ins Schlafzimmer. Sie muß das Bett ins Fenster an die Sonne legen ... Wie schwer ihr doch jetzt alles fällt ...! Mit welcher Leichtigkeit wendete sie früher die Matratze! Und jetzt – –

»Ja, was ist denn das?? ...«, entfährt es ihr plötzlich.

Sie hält einen roten Chiffonfetzen in der Hand. Wie kam der hierher? ... Hatte Fräulein Schorneder das Kleid unter die Matratze ... wie ledige Mütter ein Neugeborenes ...

Elise sinkt auf dem Bett zusammen.

– – – unter der Matratze ...

*

Es ist eine alte Gewohnheit Tonis, in Abwesenheit ihres Mannes im Büro die ankommende Korrespondenz durchzusehen. Und seitdem der Prokurist Wagner da ist, stellt sie wohl diese oder jene Frage, auf die er bereitwilligst Auskunft gibt. Wenn sie auch nichts zu sagen und zu bestimmen hat, so ist ihr doch, als hätte sie noch ganz persönlich teil an der Fabrik, von deren Führung sie so gar nichts mehr weiß. Die Posteingänge sind jetzt freilich so zahlreich geworden, daß Toni meist nur die Firmennamen auf den Briefköpfen überfliegt. Namen, die ihr fast alle fremd sind. Sie wird auch nicht mehr gefragt, was von der Korrespondenz nachgeschickt werden soll, es wickelt sich alles in feststehenden, geschäftlichen Bahnen ab.

Toni nimmt allen Mut zusammen und fragt, wie nebensächlich:

»Wann wird denn endlich der notarielle Vertrag mit Bürger & Co. in Karlsruhe gemacht?«

Der Prokurist steht, eine Mappe mit Briefen in der Hand, halb abgewendet am Fenster und liest.

»Der notarielle Vertrag ist schon seit vierzehn Tagen getätigt, Frau Doktor.«

»So so – seit vierzehn Tagen. Beim Notar in Karlsruhe?«

»Nein, hier in Lörnach. Herr Bürger war ja selbst hier.«

Es ist so still im Zimmer, daß Toni meint, der Mann dort am Fenster müsse das Klopfen ihres Herzens hören. In hartem, ihr ungewohntem Rhythmus klopft es: an – gelogen und – betrogen, an – gelogen und – betrogen. Sie weiß nicht, wie sie zu den Worten kommt, aber ihre Lippen wiederholen sie wieder und immer wieder. Gut, daß der Mann drüben sich nicht umsieht ... erschrecken würde er vor dem Häufchen grauen Elends, das da im Sessel sitzt und mit großen Augen vor sich hinstarrt.

Als er sich umwendet, strafft sich ihre Gestalt. Sich nur keine Blöße geben vor dem Fremden ... nur den Schein aufrechterhalten.

»Wünschen Sie sonst noch etwas zu wissen, Frau Doktor?«

»Nein, nein, ich will Sie auch nicht länger stören. Ich gehe nur gerade mal hinüber ins Zimmer meines Mannes.«

Höflich bringt der Prokurist sie bis an die Tür.

»Lassen Sie sich nicht aufhalten, bitte! Ich finde mich schon zurecht, Herr Wagner ...«

»Ja, es ist noch alles recht unbequem, aber das Büro vom Herrn Doktor soll ja hier herüberkommen in den Neubau.«

Toni geht an den geschlossenen Türen vorbei, an denen Schilder angebracht sind, wie Buchhalterei, Registratur, Propaganda. Es sind zumeist noch unfertige Räume. Ein Flur trennt den Neubau vom Altbau. Sie biegt in den schmalen Gang ein, von dem aus die Wendeltreppe hinabführt, und will durch den kleinen Vorraum in das Zimmer ihres Mannes.

Der Schall aufgeregter Stimmen, losgelöste geschluchzte und gekreischte Worte dringen an ihr Ohr, werden lauter, je mehr sie sich der dem Eingang entgegengesetzten Tür nähert, die auf den hinteren schmalen Gang hinausführt, wo die alten kleinen Lagerräume liegen und sich das Kontor des Verwalters befindet. Toni schiebt den breiten Riegel zurück, die Tür schwingt in den Angeln und fällt draußen gegen die Wand.

»So nehmen Sie doch Vernunft an, Theres'!«

Es ist die Stimme des Verwalters.

Die Frauenstimme hat kaum noch einen Klang. Wie ein heiseres Bellen klingt es:

»Vom patron selbst will ich's hören – von ihm selbst!« Dazwischen ein Schmerzensschrei: » Ah! Mon Dieu!« und dann weiter, überhastig, kaum noch verständlich: » Le lâche! ... Davongefahren! ... Weiß Gott, wohin ... mit der ... Schorneder ...«

»Theres'!« donnert der Verwalter.

»Ach was, mir machen Sie nix vor! ... Alle hier lachen darüber – ihnen ist es 'n Spaß ... Sollte ich sagen, Ihr lügt? ...«

»Das geht uns alles nichts an, Theres'!«

»Nein, Sie nicht. Aber mich!! Mich geht's an!«

Wieder ein lauter, fast tierischer Schmerzensschrei.

»Jetzt ist's genug! Ich telephoniere nach dem Krankenwagen.«

Lärm dringt aus dem Zimmer: ein Stuhl fällt um, ein schwerer Gegenstand kracht zu Boden. Therese schreit höhnisch:

»So telephonieren Sie doch!! Allez, telephonieren Sie!! ...«

»Sie sind verrückt, Theres'!«

Die Tür des Verwalterzimmers fliegt auf. Er selbst stürzt heraus, Wut und Ratlosigkeit in dem sonst so gutmütig ruhigen Gesicht. Er stürzt den Gang entlang, aber die alten Lagerräume sind alle abgeschlossen und leer. Es ist ein weiter Weg zum Neubau, auf die große Treppe. Aus seinem Zimmer dringt immer lauter werdendes Stöhnen und Schreien.

»Theres'!« ruft Toni. »Theres'!« Und ist schon bei ihr.

Therese liegt auf dem Boden, den hochgewölbten, zuckenden Leib auf dem herabgefallenen Telephonapparat.

»Stehen Sie auf, Theres' ... kommen Sie ... ich helfe Ihnen.«

Therese klammert sich an den Schreibtisch. Wie verglast starren die dunklen Augen Toni an. Ein Ausdruck des Entsetzens legt sich über das schweißperlende, grünlich weiße Gesicht der Kreißenden.

»Rühren Sie mich nicht an ...!«

Mit dem letzten Aufgebot ihrer Kräfte entwindet sie sich Tonis stützendem Arm, taumelt zur Tür hinaus, sieht schräg gegenüber eine andere, weit geöffnete Tür, schreit, brüllt, fällt in das Zimmer hinein.

Toni ist von namenlosem Grauen und Mitleid erfüllt. Sie will, sie muß helfen! Irgendwie. Muß das furchtbare Geschehen erleichtern. Sie zerrt die halb besinnungslose, vor Schmerzen sich windende Theres' auf das Ruhebett, lockert ihren Rock, stopft ihr ein Kissen unter den Kopf.

»Arme Theres' ... keine Angst ...«

»... Robertle ...!« kommt es von den fieberheißen Lippen. »Robertle ...!«

»Soll ich das Robertle holen ...?« fragt Toni.

»Einmal sehen ... noch einmal sehen, mon p'tiot ...«

»Ja, ich hole ihn! ... Seien Sie nur einen Augenblick ruhig, Theres' ...«

Aber bevor sie geht, telephoniert Toni an ihren Hausarzt, er möchte kommen ... augenblicklich ... in das Büro ihres Mannes ... und eine Hebamme mitbringen ... oder sofort nachkommen lassen!

So. Denn das weiß Toni: bei Geburten muß ein Arzt geholt werden und eine Hebamme! ...

Sie hat kaum den Hörer aufgelegt, als der Verwalter im Türrahmen erscheint.

»Was denn, Frau Doktor, die Theres' ist hier?«

»Ja«, sagt Toni mit ungewohnter Festigkeit. »Und bleibt hier, bis mein Arzt gekommen ist. Er wird dann das Nötige veranlassen.« Und da sie Stimmen hört vom Gang her, fügt sie hinzu: »Wenn Sie Leute hergeholt haben, dann schicken Sie sie wieder weg.«

»Vielleicht kann inzwischen meine Frau hier ein bißchen helfen ... war ja dreimal im Kindbett.«

Toni nickt:

»Ihre Frau, ja. Aber sonst niemand.«

So jämmerlich kommt sich Toni vor, daß sie selbst so gar nicht helfen und beistehen kann. Ein Minderwertigkeitsgefühl überkommt sie, wie sie es nie gekannt. Der Verwalter stolpert hinaus. Hinter ihm hört man die Schritte der abziehenden Leute.

Toni schließt beide Türen. Ganz allein ist sie nun mit der vor Schwäche nur noch heiser stöhnenden Frau. Sie gießt aus der Flasche auf ihr Taschentuch Kölnisch Wasser, das auf dem Schreibtisch steht, netzt damit die Stirn, Hals und Brust der Leidenden.

Therese schlägt die Augen auf, der Schimmer eines traumhaften Lächelns huscht über ihre schmerzverzerrten Züge:

» Oh madame ...«, flüstern ihre Lippen und suchen Tonis Handrücken. Dann gleich darauf: » Mon p'tiot ... Robertle ... Robertle ...«

»Gleich kommt er ... gleich.«

Da plötzlich geschieht etwas so Schauerliches und so gurgelnde Töne kommen aus dem Halse des kreißenden Geschöpfes, daß Toni entsetzt zur Tür läuft. Da keucht aber auch schon die dicke Verwaltersfrau die Wendeltreppe herauf, von ihrem Mann gefolgt, der Leintücher und Decken trägt und Kissen.

»Is' es schon soweit, Frau Doktor?« fragt die Frau.

»Ich weiß nicht ... ich ... ich kann's nicht sagen. Sehen Sie nach.«

»Na ja, Frau Doktor, bleiben Sie nur draußen. Ist ja nichts für Sie.«

Toni steht im Türrahmen, mit dem Rücken zu den beiden, die jetzt im Zimmer herumwirtschaften. Sie hört die Frau ausrufen: »Na, da hätten wir die Bescherung! ... und möchte sich die Ohren zuhalten von den röchelnden, gurgelnden Lauten. Da hört sie wieder:

»Robertle ... mein Robertle!«

»Ich hole ihn schon!« ruft Toni über ihre Schulter zurück.

»Das Robertle ist oben bei uns, Frau Doktor«, sagt die Verwaltersfrau.

Toni jagt die Wendeltreppe hinunter. Sie hält sich fest am Geländer, sonst würde sie kopfüber fallen. Unten im kleinen Treppenflur steht Mutzmann:

»G'rad ist der Arzt gekommen, mit einer Frau. Er verlangt ins Büro vom Herrn Doktor ... ich führe ihn hinauf ...«

»Ja ja«, stößt Toni mit fliegendem Atem hervor. »Ja ja.«

Sie hat nur einen Gedanken: das Robertle zu holen. Aber sie hört Mutzmann noch vor sich herfluchen: »... so eine gottverdammte Geschichte ...«

Das Robertle sitzt, sauber angetan, ein Spielschürzchen aus buntbedrucktem Wachstuch umgebunden, im Wohnzimmer der Verwaltersleute und tippt mit dem Fingerchen auf große, lustige Bilder eines Kinderbuches, während das achtjährige Töchterchen die drolligen Verse dazu herplappert. Toni reißt das Kind vom Boden:

»Komm, Robertle, komm ... Mutti ruft!«

Der Junge ist ihr doch zu schwer. Sie läßt ihn wieder herabgleiten und faßt ihn bei der Hand: »Komm, Robertle, schnell. Komm!«

»Mutti bös'?«

»Nein, nein, Bubi, Mutti ist nicht bös'. Arme Mutti ist krank!«

Dies Wort versteht das Robertle. Er hat es so oft gehört, wenn von der Frau Mutzmann die Rede war ... bei der er nicht sitzen sollte, eben weil sie krank war, und bei der es immer so schlecht roch und alles »so wüscht« war. Nein ...

»Mutti ist nicht krank«, sagt er bestimmt. Seine Mutti, bei der immer alles so schön war und bei der es nach feiner Seife roch!

»Mutti will dem Robertle einen Kuß geben ...«, sagt Toni, die gar nicht weiß, wie man mit Kindern spricht. Ungläubig schaut das Kind zu ihr empor, indem es seine flinken Beinchen ihrer raschen Gangart anpaßt. Das ist ihm noch nicht vorgekommen, daß ihn die Mutti mitten am Tage hat holen lassen, um ihm einen Kuß zu geben ...!

»Komm schnell, Bubi, halt' dich fest am Geländer.«

Aber der Kleine kommt doch nur langsam die steilen Stufen hinauf. Vor der geschlossenen Bürotür geht Mutzmann auf und ab.

»Nun, Mutzmann, wie geht es ...«

Er murmelt zwischen den Zähnen: »Tot ist das Kind.«

»Und die Theres'?«

»Im verbluten ... Ruft immer nur das Robertle ... Gehn Sie nicht rein, Frau Doktor ... ich führ's zu ihr.«

»Nein. Lassen Sie nur. Ich selbst.«

Sie spürt den festen Druck der kleinen Kinderhand in der ihren. Der Junge fürchtet sich vor Mutzmann, dessen rauhe Stimme ihn so oft aus dem Schlaf geweckt.

»Sei ruhig, Robertle ... ich komm' mit. Ich bleib' bei dir.«

Toni beugt sich zu ihm nieder und fährt glättend mit der Hand über sein Haar. Da schlingt er schon sein Ärmchen um ihren Hals. Und wieder, wie schon einmal, steigt ihr eine warme Welle zum Herzen.

Das kleine Privatkontor ist angefüllt mit Menschen. Auf dem Schreibmaschinentisch liegt ein in Tücher gehülltes, formloses Etwas. Die Verwaltersfrau knotet noch gerade einen Zipfel des Leinentuches. »Ein Mädchen«, sagt sie. Es ist ganz still im Zimmer. Der Arzt sitzt am Schreibtisch, neben ihm steht die Hebamme. Man hat der Theres', so gut es ging, ein sauberes Lager zurechtgemacht. Ihr Gesicht ist so weiß wie der Linnenbezug, ihr Haar schlängelt sich in welligen Strähnen pechschwarz über das Kissen.

»Ich bringe ihr das Kind«, sagt Toni leise zum Arzt. »Oder glauben Sie, die Aufregung schadet ihr? ...«

Der Arzt zuckt die Achseln: »Der kann nichts mehr schaden ...«

»Tot? ...« flüstert Toni entsetzt.

»Noch nicht. Aber es kann jeden Augenblick sein. Ein Wunder, daß sie's noch nicht ist ... vielleicht wartet sie auf ihr Kind.«

»Ist das Mutti ...?«

Und das Robertle zeigt mit dem Finger auf die flachgestreckte Gestalt mit dem so schrecklich weißen Gesicht. Fester krampft sich sein Händchen um Tonis Finger – er hat Angst vor der Frau, dort auf dem Lager.

»Komm, Robertle, komm ...« sagt Toni ganz weich und zart und fühlt, wie er nur widerstrebend folgt. »Sag' ›Mutti‹! ... Sag' schnell.«

Fast muß Toni leichte Gewalt anwenden, um das Kind ganz nahe an die Sterbende heranzubringen.

»Da bring' ich Ihnen Ihr Robertle, Theres'«, sagt sie leise eindringlich.

Und Therese schlägt die Augen auf – ihre wundervollen, großen schwarzen Augen.

»Mein ... Robertle ...«, flüstert die Sterbende. Sie tastet nach der Hand ihres Kindes, ist aber zu schwach, sie zu heben. »Wo bleibt mein Robertle ...?«

Toni starrt wie gebannt auf dieses Antlitz, aus dem die Augen in übernatürlicher Schönheit und in flehender Angst auf sie gerichtet sind. Und aus ihrem Inneren, fast unbewußt für sie selbst, lösen sich die Worte:

»Bei mir bleibt das Kind. Bei mir und seinem Vater.«

Wieder ein so traumhaftes Lächeln um Theresens Lippen:

»– – und seinem Vater ... – – gute Frau ... pardonnez – moi ...«

Der Arzt tritt hinter Toni und führt sie sorglich unter dem Ellbogen vom Ruhebett fort:

»Es ist jetzt gleich aus.«

Toni hat das Größte in ihrem Dasein erlebt: gebären und sterben.

*

»Komm, Buberle, komm ...«

Willig läßt sich das Robertle von Toni aus dem Zimmer führen. Jetzt steht sie mit dem Kleinen im Büro des Prokuristen. An den Biegungen des Ganges war sie an verschiedenen tuschelnden Gruppen vorübergekommen.

Der Prokurist steht ihr gegenüber in verlegen dienstlicher Haltung. Schirmer, der junge Zeichner, gleitet von der Tischkante ab, auf der er gesessen. Beide Männer blicken unsicher auf den Jungen und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen.

»Wir müssen eine Depesche an meinen Mann aufsetzen«, sagt Toni.

»Soll ich den Kleinen inzwischen zu mir ins Zimmer nehmen? ... Oder ihn hinaufbringen in die Verwalterwohnung?« fragt Schirmer.

»Nein. Danke. Der Kleine bleibt bei mir.«

»So ...? Ja ... natürlich ... ich meinte nur ...«

Er ist froh, aus dem Zimmer herauszukommen.

Der Prokurist rückt den Sessel näher zum Schreibtisch heran:

»Wollen Frau Doktor vielleicht selbst das Telegramm aufsetzen ...«

Toni schreibt: »Therese nach Entbindung von totgeborenem Mädchen heute vormittag gestorben. Telegraphiere Deine Dispositionen ans Büro. Toni.«

Es kommt ihr nicht der Gedanke, daß Kurt sofort zurückkehren könnte.

»Am besten ist es wohl, Sie selbst schreiben meinem Mann die Einzelheiten und bitten um Verhaltungsmaßregeln.«

»Scheußliche Geschichte ...«, murmelt der Prokurist. »Die Leute sind hier alle ganz aufgeregt. Ich glaube, es ist das Beste, man läßt die Leiche erst nachts abholen ... ich denke, Herr Doktor wird damit einverstanden sein.«

»Sicherlich, ja.«

»Haben Sie sonst noch Wünsche, Frau Doktor?«

»Ich möchte den Entschließungen meines Mannes nicht vorgreifen.«

Robertle hat sich mit dem ganzen Gewicht seines kleinen Körpers über Tonis Schoß geworfen und kramt aus der Tasche seiner Spielschürze ein paar Murmeln heraus:

»Geb' ich dir«, sagt er mit einer vornehmen kleinen Geste, als vergäbe er einen Schatz.

»Ist ein nettes Kerlchen«, sagt der Prokurist. »Und die Theres' hat ihn gut gehalten ...«

Toni nickt, sieht sich um in dem Zimmer, in dem ihr nichts vertraut ist. Denkt an das Büro ihres Mannes, an das schmale Ruhebett, auf dem jetzt die Tote liegt und auf dem zwei Nächte zuvor ... und noch weiter zurück – sechs oder acht Jahre zuvor – sie selbst mit ihrem Mann manch kleines Liebesfest gefeiert, in lachender Angst vor unliebsamer Überraschung, auf der Wache zwischen Telephon und Tür. Einmal hatte ihr Mann eine bereitgestellte Flasche Sekt entkorkt und ein paar mit Delikatessen belegte Schnittchen und Gläser aus dem alten zerkratzten Geldschrank herausgenommen ... Wie hatten sie beide damals gelacht, immer gleich erschreckt, wenn es zu laut klang. Toni hatte den niemals gekannten, prickelnden Reiz einer heimlichen »Separee«-Stunde durchgekostet und war so glücklich gewesen in dieser Zeit ...! Bis dann diese Tür ihr abends verschlossen blieb – »weil er zu arbeiten hatte und nicht gestört sein dürfte«. Bis sie dann Rechnungen auffing aus dem »Blauen Stern«, die ihr Aufschluß gaben, und der Klatsch der Dienstboten hereindrang in ihre Einsamkeit. Sie hatte es oft der Toten zugute gehalten, daß sie so bescheiden im Hintergrunde blieb, und nur als das Robertle zur Welt kam, hatte sich der leise Kummer über entschwundene Glücksstunden zu brennendem Neidgefühl gewandelt. Das Geraune der Leute ließ sie stets kalt, aber jedesmal wühlte es alles in ihr auf, wenn sie in den Zügen des heranwachsenden Kindes die Züge ihres Mannes wiedererkannte.

»Es wäre mir lieb, wenn Sie meinem Mann gleich schrieben, daß der Kleine gut untergebracht ist ... Einzelheiten brauchen Sie nicht hinzuzufügen – das besorge dann ich selbst.«

Der Prokurist verneigt sich etwas tiefer als sonst:

»Frau Doktor können sich auf mich verlassen ...«

An die Tür wird kurz geklopft. Die Frau des Verwalters steht auf der Schwelle. Man hätte ihr gesagt, die Frau Doktor wäre beim Herrn Prokuristen – da wolle sie nur fragen, ob sie das Robertle mit zu sich heraufnehmen sollte und ob die Frau Doktor den Schlüssel von Theresens Wohnung in Verwahrung nehmen wolle.

»Ich gehe jetzt mit Ihnen in die Wohnung«, sagt Toni. »Ich will die Sachen vom Kleinen zusammensuchen.«

Die Frau und der Prokurist wechseln einen Blick, in dem ein leichtes Lächeln aufglimmt.

Und nun schließt Toni die große Kommode in Theresens Zimmer auf. Ganz oben liegen die Sachen von Robertle. Alles eben frisch gewaschen und geplättet. Die Wäsche viel feiner, als die einfach groben Kittelchen es vermuten lassen. Und zwischen den Leibchen und Hemdchen je ein Stück wohlriechender Seife ... französische Seife, die ihr Mann der Theres' wohl aus der Schweiz mitzubringen pflegte. Ja – sie hat etwas gehalten auf den Jungen, das muß man ihr lassen!

»Im zweiten Schub hat sie, glaube ich, ihr Sparkassenbuch, das sie für den Buben angelegt«, meint die Verwaltersfrau.

Toni hält das in sauberes Papier eingewickelte Sparbüchlein in Händen, schlägt es auf. Die Einzahlungen sind zu hoch, um bloß aus Theresens Lohnersparnissen zu stammen. Aber sie sind auch nicht übermäßig hoch. An bestimmten Festtagen dreißig Mark, oder auch fünfzig, am Geburtstag des Kindes hundert, im ganzen doch schon zwölfhundert Mark. Toni denkt: das wird weiter fortgeführt. Der Junge soll sein Eigenes haben – nicht abhängig sein, wie ich!

Auch Theresens Sachen liegen säuberlich geordnet. Es ist das Schubfach von Theresens » elegancen«: vier Paar seidene Strümpfe, Kombinations aus Kunstseide in hellen, weichen Farbtönen, Spitzenkrägelchen, Vorsteckblumen, glitzernde Kettchen, imitierte helle Lederhandschuhe, und im gestickten Taschentuchbehälter, unter dem ersten Taschentuch, ein Bild – das Bild ihres Mannes. Ein Bild aus der Zeit, da Toni noch glücklich war ... und das noch heute auf ihrem Nachttisch steht. Arme kleine Theres' – sie durfte freilich dies Bild nicht in ihrem Zimmer aufstellen!

Die Frau des Verwalters bringt die Kinderschuhe an, und Toni geht ans Bett des Kleinen: »Vielleicht tun Sie mir den Gefallen und ziehen die Wäsche ab und schicken mir dann eine frische Bezuggarnitur mit dem Bett zu mir herauf.«

»Wird alles besorgt, Frau Doktor ...«

»Klopft da nicht jemand?« fragt Toni und wendet sich der Tür zu.

Aber im gleichen Augenblick geht die Tür auf, und Frau Mutzmann tritt zaghaft herein. Sie sieht erschreckend verfallen aus, in einem unkleidsamen Hänger. Ihr Haar ist ungepflegt und stumpf. Ihre abgemagerten knochigen Hände raffen das allzu weite Gewand über der flachen Brust zusammen. Der Mund ist in die Breite gezerrt, in jammervollem, ungutem Ausdruck.

»Verzeihen, Frau Doktor ... ich bin eben nur gekommen, um zu danken für all den guten Wein, den Sie mir geschickt haben, und das schöne kräftige Essen, das ich oft bekomme.«

»Bitte, Frau Mutzmann, es ist gerne geschehen. Hat Ihnen hoffentlich gut getan ...«

Die Frau des Verwalters wirft einen ärgerlichen Blick auf die Kranke und packt den Korb, in dem die Sachen des Kindes liegen:

»Ich will mal eben den Korb 'rübertragen, Frau Doktor, wenn's recht ist ...«

Der Kleine hat seine Arme um Tonis Knie geschlungen und verbirgt sein Gesicht in den Falten ihres Kleides. Er kann nun mal die Frau Mutzmann nicht leiden ...! Ob Tante Doktor ihm auch wohl eine Ohrfeige geben würde, wie Mutti es einmal getan, weil er durchaus nicht Frau Mutzmann die Hand geben wollte? ... Aber nein – sie sagt nur:

»Geh spielen, mein Kind.«

Und er trollt sich ins Nebenzimmer, das halb Küche, halb Wohnraum ist, und wo in einer Ecke seine Kiste mit allerlei Spielzeug steht.

Frau Mutzmann zieht ein angegrautes Taschentuch aus der breit abstehenden Tasche:

»Ach, Frau Doktor ... was soll mir noch guttun? ... Und wenn man weiß, daß man doch allen nur zur Last ist und allen zum Ärgernis ...!«

Toni drückt die Hand leicht auf ihre Schulter und zwingt sie auf einen Stuhl. Nur Knochen spürt sie unter den Fingerspitzen, und sieht dieselbe Frau vor sich, wie sie hier einzog – fast zu gleicher Zeit wie sie selbst: ein junges, frisches Ding, mit freundlich lachendem Blick. Allerlei Spaß trieb sie damals mit ihrem großen, stattlichen Mann, der sie oft, unbekümmert um etwaige Zuschauer, auf dem Arm über den Hof trug wie ein kleines Kind. Und wenn damals Toni selbst über den Hof huschte, um ihren Mann aufzusuchen, dann gab es wohl eine kurze lustige Begegnung, mit ein paar Scherzworten, wie sie junge glückliche Frauen manchmal wechseln. Die Begegnungen wurden seltener, Toni huschte nicht mehr über den Hof, Mutzmann trug seine Frau nicht mehr auf dem Arm – Es vergingen oft Monate, ohne daß die beiden Frauen einander sahen, dann ein Jahr und mehr, und wenn Tonis Gesicht immer farbloser wurde, ihr Lachen immer resignierter, so sah Frau Mutzmann immer abgehärmter aus, immer verbissener.

»Das Schicksal hat's nicht immer gut mit uns gemeint, Frau Doktor ... aber – die Theres' war die schlimmste nicht.«

Toni wendet sich ab und schluckt schwer – von der Frau will sie nicht getröstet und nicht bemitleidet werden. Zu verschieden ist doch die Art, wie sie beide ihren Kummer tragen ... So sagt sie nur:

»Sie hat ausgelitten, die arme Theres' ...«

Frau Mutzmann schneuzt sich in ihr Taschentuch:

»Ich hab's gehört, Frau Doktor. Alle Leute sprechen ja davon. Und – wie das so plötzlich gekommen ist. Und ... gerad' im Büro vom Herrn Doktor. Und wie die Frau Doktor selbst beigestanden ist ... Sie hat aber auch immer mit großem Respekt gesprochen von der Frau Doktor ... Anders als von der ... entschuldigen, Frau Doktor, aber man vergißt immer, daß es die Schwester ist ...«

»Meine Schwester hat doch viel getan für die Fabrik. Es war oft ein schweres Arbeiten, Frau Mutzmann ... das werden Sie von Ihrem Mann wohl wissen.«

»Schon, schon, Frau Doktor. Man hat ja manchmal fünf Tage auf den Lohn warten müssen und selber mit Angst gehabt, wird's weitergehen oder nicht ... aber es war doch ein schöneres Arbeiten, wo man so nahe stand zum Chef und so mitschaffte wie an eigenem ... Wenn dann nicht die dumme Krankheit gekommen wäre, die immer schlimmer wurde, daß mein Mann nichts mehr wissen wollte von mir ... Und dann die ... das Frauenzimmer, die Elis'! Ich sag' Ihnen, Frau Doktor, das ist eine! ... Die hat mirs Letzte gestohlen, was mir von meinem Mann geblieben ist! Und trägt jetzt – da schwör' ich drauf – ein Kind von ihm unterm Herzen! ...« Sie lacht hämisch auf: »Herzen ... die hat doch kein Herz! ... Nur Lust am Manne hat sie!«

Toni weiß nicht, was sie der Frau antworten soll. Mit jedem Wort würde sie ihre eigene Not bloßlegen. Wie ein grober Abklatsch ist es von allem, was sie selbst durchleidet.

Die kranke Frau auf dem Stuhl fliegt am ganzen Körper. Ihre abgezehrten Finger krallen sich in die Tischdecke ein, und hemmungsloser stürzt der klagende Jammer über ihre Lippen:

»Frau Doktor können mir's glauben, alles würd' ich ertragen, alle Schmerzen, die mich zerfressen, wenn das Frauenzimmer nur wieder weg wäre. Denn das ist das Furchtbarste: Angst hab' ich vor den zweien, weiß ja, daß sie mir keinen Happen Luft mehr gönnen! Daß sie jeden Atemzug von mir zählen! Und jeden Morgen ihre Wut gegen mich größer wird, weil ich noch lebe! ... noch immer lebe!«

Sie greift plötzlich nach Tonis Arm:

»Frau Doktor, Sie hätten meinen Mann sehen sollen, als ich ihm erzählte, daß der Herr Doktor einen Professor mitbringen will aus Basel! ... Ordentlich erschrocken war er. Ihm liegt nichts mehr dran, daß ich gesund werde! ... Aber ein paar Stunden später meinte er, es wär' vielleicht doch das beste, ich würde operiert, und ich sah's ihm an, wie er sich's schon ausmalte, wenn das Zimmer leer wäre von mir ... Aber den Gefallen tu' ich den beiden nicht! Und darum will ich jetzt auch keinen Professor! ...«

Sie lacht höhnisch, hysterisch auf:

»Das wär' ja bequem, die Frau unters Messer zu schicken und dann groß dazustehn, als trauernder Witwer, den keine Schuld trifft, wenn die Frau verreckt!«

»Sie sollten so schlimmen Gedanken keinen Raum geben in Ihrem Herzen, Frau Mutzmann ...«

Aber Toni fühlt, ihre Worte sind leerer Schall.

Laut pfeift die Fabriksirene, die die Mittagszeit ankündigt. Das Robertle läuft aus dem Nebenraum herbei:

»Jetzt kommt gleich Mutti! ... Robby hat Hunger.«

Behende krabbelt er auf die Fensterbank und drückt sein Näschen platt an die Fensterscheibe.

»Ich glaube, Frau Mutzmann, Sie müssen nun auch Ihrem Mann das Essen richten.«

»Das richtet sich von alleine in der Kochkiste. Mein Mann nimmt sich's schon heraus, wenn er kommt ...«

»Ich schicke Ihnen dann wieder was herüber, Frau Mutzmann ...«

Mühsam erhebt sich die Kranke:

»Ich glaube ... der Theres' ihr Essen ist auch noch in der Kochkiste. Der Kleine könnte ...«

»Nein, Frau Mutzmann, der Kleine kommt jetzt zu mir 'rüber. Ich will nur warten, bis die Angestellten weg sind.«

Der Kleine müht sich, das Fenster aufzumachen, ruft: »Mutti! ... Mutti!« Gerade gehen der Prokurist und der junge Schirmer vorüber. Sie haben ihren Stammplatz im »Blauen Stern«. Sie sehen das Robertle am Fenster und gleich darauf Toni, wie sie die Hände des Kindes sanft vom Fensterriegel löst. Ohne stehenzubleiben grüßen sie tief und respektvoll.

»Das soll der Frau eine nachmachen! ...« sagt der Prokurist.

»Der Mutzmann ist heute bald aus der Jacke gefahren, die Arbeit wollte nicht vorwärts gehen ... Die Mädels hatten immerfort zu tuscheln und zu reden«, berichtet Schirmer. »Bin neugierig, wer jetzt Aufseherin wird.«

»Mutzmann meint, so eine, wie es die Theres' war in gesunden Tagen, kriegt man nicht bald wieder ... Ich wollte, wir hätten schon die Leiche aus dem Hause.«

»Das Telegramm an den Chef ist doch wohl abgegangen?«

»Nein, ich gebe es jetzt gleich, noch vor dem Essen auf. Es ist besser, ich mach's selber ... denn in so einer kleinen Stadt ...«

Immer rascher werden die Schritte der zwei Männer.

»Wie einem doch so was an die Nerven geht ...«, sagt der junge Zeichner. Und er atmet wie befreit die frische Herbstluft ein.

»Mutti!« schreit das Robertle ... »Mutti!! ... Mutti soll kommen. Robby hat Hunger.«

Toni neigt sich über das Kind:

»Komm jetzt, Buberle. Du kriegst jetzt was Gutes. Mutti mußte weggehn.«

Nun stampft auch der Verwalter auf sein Haus zu, Frau Mutzmann aber stößt plötzlich einen heiseren Schrei aus und blickt starr zum Glasgang hinauf:

»Da – Frau Doktor! Eben hab' ich meinen Mann gesehn – neben der Elis' hat er gestanden ... nur einen Augenblick ... aber hingeschlichen hat er sich, weil er sie sehn mußte, das Mensch! Weil er ihr alles erzählen mußte ... früher als mir!«

Sie beachtet Toni gar nicht mehr. Ohne Abschied zu nehmen, nur besessen von dem einen Gedanken, ihrem Manne was anzutun, sich zu rächen für das Leid, das er ihr zufügt, Tag um Tag, Stunde um Stunde. Sie läßt die Tür hinter sich auf, stolpert in ihre Wohnung hinein, auf die Kochkiste zu, die sie öffnet, hebt den Kochtopf heraus und wirft ihn zu Boden. Und wenn er kommt, dann wird sie ihm sagen: Zum Futtern – da kommst du ... wie ein Hund, der an seinen Freßnapf geht – da hol dir dein Futter ... vom Boden, wie ein Hund! ... Und sie sieht es nicht, wie Toni, mit dem Kinde an der Hand, über den Hof auf das Haus seines Vaters zugeht.

* * *


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