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Berge von Kisten treffen ein. Im westlichen Flügel des Kemperschen Hauses wird von Maurern, Zimmerleuten, Malern und Tischlern fieberhaft gearbeitet. Die Wände werden neuartig bis zur Schulterhöhe mit köstlich gemaserter Panela verkleidet und von da ab in nach oben zu immer heller werdender Färbung getüncht. Mauern wurden ausgebrochen, um große Räume zu schaffen für die ungewöhnlich schweren und großen Möbel.

Inmitten des Wirrwarrs der schnaufenden Träger und hastenden Arbeiter steht unbeweglich die Zofe Elise und kommandiert. Von Zeit zu Zeit wird der Werkführer von Dr. Kemper herübergeschickt, mit einem oder zwei Arbeitern, die mit Hand anlegen sollen. Es gilt, ungeheuer schwere und kostbare Teppiche auszulegen. Die Arbeiter sind wie benommen von all der Pracht und dem schweren Reichtum, den sie spüren. Der Werkführer aber starrt immer nur wieder Elise an – so ein schönes Frauenzimmer hat er nur selten gesehn. Nicht mal ihr Kommandieren mißfällt ihm. Er sieht sich neben ihr in einem hohen Pfeilerspiegel, und es freut ihn, daß er doch noch um zwei Finger größer ist als sie. Wenn er an seine mickrige kleine Frau zu Hause denkt – – Donner ... ganz schwül wird ihm dabei. Die Arbeiter verbreiten Wunderdinge in der Fabrik, und in der Mittagspause sammeln sich die Mädels an auf dem Fabrikhof, vor dem neu errichteten und jetzt weit geöffneten braunen Tor, das die Westseite des Hauses von dem Fabrikhof abschließt.

Auch »die Theres'« ist unter den Gaffenden.

Toni geht manchmal hinüber, und Elise, streng gezogen, dämpft sofort ihre Befehlsstimme und fragt, wie die gnädige Frau es haben möchte. Toni wehrt dann immer hastig ab: »Sie wissen das besser als ich, Elise. Sie kennen ja die Eigenheiten meiner Schwester.«

Daß sie selbst sich kaum recht wohl fühlen würde inmitten der erdrückenden Wucht dieser schweren Möbel, die – sparsam aufgestellt – keine Gelegenheit gaben zu gemütlichen, lauschigen Plauderecken, wie Toni sie so gern hatte, verschweigt sie. Die großen englischen Sessel stehen in weiten Abständen voneinander. Man muß laut sprechen in diesen Räumen, um gehört zu werden, und die Gedanken dürften wohl kaum durch sanfte Zwischenworte oder leises Lachen gemildert werden. Alles ist bequem und zweckdienlich. Nur im kleineren Bibliothekzimmer sind zwei Sessel näher aneinandergerückt, und eine breite Ottomane, auf der bequem drei Menschen nebeneinander liegen könnten, läßt die Vorstellung des Ausruhens zu.

Elise packt gerade aus einer Kiste Decken und schwere seidene Kissen aus, die sie über die Ottomane ausbreitet und verstreut. Über der Ottomane hängt ein lebensgroßes Bild von Herrn Schorneder. Es ist von einem bekannten englischen Maler signiert und strahlt eine seltsame Kälte aus. Toni stehen beim Anblick dieses Bildes all ihre unfrohen Mädchentage vor Augen, und der ganze Raum scheint ihr erfüllt von dem Geist der Strenge und Unnahbarkeit, die ihr Stiefvater stets um sich verbreitet hatte. Fröstelnd tritt sie ans Fenster, blickt über den Torbogen hinunter auf den Hof. Zum erstenmal sieht sie genauer das Gesicht der »Theres'«. Das Gesicht – und die Gestalt.

»Ja, um Gottes willen« – fast wären ihr die Worte laut entschlüpft. Sollte die Theres' ein zweitesmal niederkommen ...? Sollte Kurt ...?

Aber sie spürt keinen Haß. Das dunkeläugige, schwarz gerahmte Gesicht der Vorarbeiterin flößt ihr Mitleid ein. Sie findet in ihm eine Weichheit, zu der sie sich fast hingezogen fühlt nach all der Kälte, die dieses Zimmer für sie soeben ausgestrahlt hatte. Nur muß sie die Vorstellung von ihrem Manne von sich jagen, ganz weit weg.

Doch da tritt er selbst aus dem Fabriktor, die Zigarette im Mundwinkel, im lebhaften Gespräch mit dem Verwalter. Die Mädels stieben auseinander – auch die Theres' tritt zur Seite. Dr. Kemper nickt ihr freundlich zu, aber er bleibt nicht stehn. Aus seinen Handbewegungen entnimmt Toni, daß er von den Zimmern Gabrielens spricht.

Wie darf er denn so an dem armen Frauenzimmer vorbeigehen, und wie kann sie dieses fremde Vorübergehen ertragen – – wenn sie noch ein zweites Kind von ihm unter dem Herzen trägt –? Und wie wird sie selbst ihrem Manne entgegentreten, heute, nachdem sie das gesehn? ...

Nur nicht hier sich von ihm überraschen lassen! Hier, in diesen Räumen, in die sie nicht hineinpaßt, in denen sie ihm noch doppelt unbedeutend erscheinen muß! In denen ihre Worte verhallen würden wie das Gezirpe eines flügellahmen Vogels.

Auf der Schwelle hält Elisens Stimme sie noch einen Augenblick zurück:

»Bleibt es dabei, daß Fräulein Schorneder in drei Tagen eintrifft, gnädige Frau?«

Elise sagt von Gabriele nicht »das gnädige Fräulein«, sagt »Fräulein Schorneder«, als wäre es Gabrielens Wille, daß der Name geläufig würde unter den Leuten hier, und ihre gesonderte Stellung im Hause klar betont sei.

»Wenn mein Mann kein Telegramm erhalten hat, so wird es wohl bei übermorgen bleiben. Ich verständige Sie natürlich sofort, wenn meine Schwester andere Dispositionen getroffen haben sollte.«

Kurt verspätet sich zum Abendessen. Er hat noch, wie er sagt, allerlei in Gabrielens Wohnung zu tun gehabt.

»Tüchtige Person, diese Elise«, sagt er anerkennend. »Und patentes Frauenzimmer! ... Mutzmann – weißt du, der Werkführer, der die kränkliche Frau hat – scheint mir schon mächtig hinter der Elise her zu sein. Gestern nach Fabrikschluß traf ich ihn in vollem Sonntagsstaat, wie er vor dem Tor auf Elise wartete, um sie auszuführen und ihr Lörnach zu zeigen! ... Ein hübsches Paar.«

»Ich würde an deiner Stelle so etwas nicht dulden.«

»Wie meinst du, ›so etwas‹ ...?«

Im Eifer ihrer Empörung übersieht sie den spöttischen Ausdruck seiner Augen.

»Und überhaupt meine ich, daß diese Nähe von den Fabrikleuten zu unserem Hause nicht gerade richtig ist!«

Ihre Erregung hat etwas so Persönliches, daß Kemper mit den Fingern nervös auf dem Tischtuch zu trommeln anfängt.

»Du vergißt, liebes Kind, daß wir es mit freien, erwachsenen Menschen zu tun haben. Unsere Fabrik ist kein Erziehungsinstitut.«

»Gewiß nicht. Aber die Leichtfertigkeit der Fabrikleute braucht nicht in unser Haus getragen zu werden!«

Kurt Kemper zuckt die Achseln. Es lohnt ihm nicht, eine schwere Auseinandersetzung heraufzubeschwören, und wenn das Letzte gesagt wäre, vielleicht doch als Schuldiger dazustehn.

»Na ja, Kleine, reg' dich nur nicht auf. Wird die Fabrik erst mal vergrößert, dann ergibt sich ja von selbst ein größerer Abstand.«

Er steht auf, geht an den Zigarrenschrank.

»Ich geh' noch 'n bißchen in die Kneipe, Toni. Habe mich mit dem Amtsgerichtsrat verabredet.«

Toni weiß ganz genau, daß der Amtsgerichtsrat heute mit seiner Frau zu Besuch bei Basler Verwandten ist. Aber auch ihr lohnt es nicht, die Wahrheit festzustellen. Sie weiß nur zu gut, daß jede neue Aussprache die Kluft tiefer gräbt, an deren Rand er tänzelnd und sie zitternd einhergehen. Und gerade jetzt liegt ihr daran, die Einigkeit zwischen ihnen durch nichts zu erschüttern. Sie ist bereit, alles zu ertragen, nur um Gabriele nicht merken zu lassen, wie haltlos ihre Ehe geworden.

Nach seinem Weggang sucht sie sein Zimmer auf, sieht nach, ob alles in Ordnung ist, ob der Papierblock auf dem Bettisch liegt, auf den er oft mitten in der Nacht Notizen für den nächsten Tag aufzuschreiben pflegt, ob der Obstkorb auf dem Mitteltisch nicht vergessen ist.

Kurt Kemper ist nicht gerade ordentlich, aber verlangt Ordnung um sich herum. Um sie selbst zu halten, ist er zu fahrig, zu zerstreut. Mehr als einmal hat sie seine Brieftasche wegschließen müssen, oder das Silbergeld, das er stets lose in der Hosentasche trug und beim Wechseln des Anzuges einzustecken vergessen hatte. Denn in Verlegenheit kam ja Dr. Kurt Kemper in Lörnach nicht. Im »Blauen Stern« zahlte er ohnedies nicht regelmäßig, sondern verlangte ab und zu eine Rechnung, die er dann gelegentlich beglich. Und solch eine Rechnung liegt jetzt zwischen ein paar Markstücken und nachlässig gefalteten Zeitungen neben dem Obstkorb. Sie ist noch unquittiert. Mehr aus Ordnungssinn als um den Ausgaben ihres Mannes nachzuspüren, fliegt Toni sie durch. Nur einen Augenblick stutzt sie: unter den für sie unkontrollierbaren Seidel Bier und »Dezi« Wein steht da auch noch eine Flasche schweren Burgunders und zwei Portionen kalten Roastbeefs »in die Fabrik gesandt«.

Ihr Mann hatte ihr schon öfters telefoniert, daß er im Büro drüben etwas zur Nacht essen würde, sie solle ihn nicht zum Abendbrot erwarten. Jetzt wird es ihr zur Gewißheit, daß er an solchen Abenden die Theres' bei sich empfing.

Vielleicht hätte sie noch vor wenigen Wochen einen stechenden Schmerz darüber empfunden. Sie wundert sich selbst, daß alles in ihr so stumpf und gefühllos bleibt. Aber plötzlich fängt ihr Herz an, heftiger zu schlagen: auf dem Bettisch, unter einem Briefbeschwerer von Onyx, sieht sie unwahrscheinlich große Buchstaben auf hartem Büttenpapier aufleuchten. Es ist Gabrielens Schrift. Sicherlich ein unverfänglicher Brief, denn sonst hätte ihn ihr Mann bei all seiner Zerstreutheit nicht so offen liegen lassen. Aber warum hatte er ihn nicht erwähnt? ... Nur den Stein brauchte sie aufzuheben, um wenigstens das Datum zu erfahren! Und sie steht da und kämpft mit sich. Aber ihre Hand rückt nicht an dem Stein. Und daß sie es nicht über sich bringt, den Stein zu heben, das erfüllt sie geradezu mit Entsetzen. Schon jetzt fühlt sie sich wehrlos, zermalmt.

Was wird es sein, wenn Gabriele erst da ist? Mit dem Übergewicht ihrer Jugend, ihres Reichtums?

Sie sinkt vor dem leeren Bett ihres Mannes in die Knie, vergräbt den Kopf in ihre Arme, flüstert, als könne er es hören: Kurt, Kurt, tu mir das nicht an! ... Vergißt Zeit und Raum. Und schläft so ein. Traumlos, schwer, wie Kinder schlafen nach harter Züchtigung.

So findet Kurt Kemper seine Frau.

Erst stutzt er, wird dann ärgerlich und fühlt schließlich so etwas wie warmes Mitleid.

»Nanu, Tonichen ... was ist denn los?«

Sein Gewissen ist heute nicht rein. Aber seine Sinne sind beschwichtigt, und die Erwartung eines neuen Lebensabschnittes stimmt ihn gütig und milde. Auf den Armen trägt er seine Frau hinüber in ihr Zimmer: sie ist ja doch ein liebes, gutes Ding – kann nicht über sich hinaus, aber ist immer voll Treue und Ergebenheit zu ihm! Zerrt auch nicht an ihm herum, wie die schwarze Theres', bei der er manchmal den Herren herauskehren muß, damit sie pariert.

»Na, was denn, kleine Toni? ... Setz' dir doch keine Motten in den Kopf.«

Toni möchte weinen und sich ihm an den Hals werfen, möchte ihm sagen ... Was sagen? Sie fühlt, jedes Wort würde nur den Zauber dieser Stunde zerstören, dieser Stunde, in der sie spürt, daß ihr Manu einmal wieder ihr gehört. Sie läßt sich von ihm auskleiden, ohne fast die Augen zu öffnen, läßt sich von ihm betten wie ein kleines Kind, und fällt, wie von neuer Schlaftrunkenheit überwältigt, mit heißen Lippen auf seine kühle Hand.

Sie ist so glücklich ... so unsagbar glücklich.

*

Fast zu viele Blumen sind aufgestellt in den Ecken und Nischen der Kemperschen Wohnung. Mit einer ganzen Wagenladung von Blumen ist Dr. Kemper aus Basel gekommen. Aber bei Gabriele durften nur zwei auf dem Boden stehende Riesenvasen gefüllt werden: die eine vor der Bibliothek, mit Orchideen – die andere im Nebenzimmer vor dem den Raum beherrschenden Diplomatenschreibtisch, mit Chrysanthemen. Dort fällt das Licht am Abend von einer orangefarbig beschirmten Stehlampe auf die mit dunkelviolettem Tuch bespannte Platte des Schreibtisches und den runden Handbüchertisch, der den gewundenen Stamm der Lampe umschließt. Jedes der Handbücher und alle Bände der Bibliothek sind nach künstlerischen Entwürfen kostbar gebunden. Die Räume durchzieht ein ganz leiser, frischer Tannenduft.

»Prächtig haben Sie das alles gemacht, Elise«, sagt Dr. Kemper anerkennend und will dabei über den schmalen Gang hinweg in Gabrielens Schlaf- und Toilettenzimmer treten.

Aber Elise hat schon eilig die Tür geschlossen, so daß Dr. Kemper nur den Eindruck eines intensiven Blau erhält.

»Ach, bitte, Herr Doktor – nicht. Fräulein Schorneder mag es nicht, wenn Fremde in diese Zimmer kommen.«

Dr. Kemper lacht ein wenig ärgerlich auf.

»Na ja, Elise, Fremde ... Aber schließlich ...«

Toni kreist mit heißen Wangen um den festlich gedeckten Tisch. Sie hat das schönste an Wäsche, Geschirr und Silber herausgegeben und den Tisch so gedeckt, wie es im Schornederschen Hause üblich war: die Blumen, in einer flachen runden Schale, mit herabhängenden grünen Zweigen, nicht in der Mitte, sondern am Ende der Tafel aufgestellt, zugleich mit dem feinen Naschwerk in silbernen und kristallenen Schälchen. Es hatte sie Überwindung gekostet, den Platz ihres Mannes, der seit zehn Jahren der gleiche war, an die Schmalseite zu verlegen, so daß nun nicht mehr er, sondern Gabriele ihr gegenüber saß.

Seit ihrem Hochzeitstage hat sie Gabriele nicht wiedergesehen – seit der Stunde, da ihre Hand aus dem weißen Brautschleier heraus auf das Gesicht der Stiefschwester niederfiel ... Ob sich Gabriele überhaupt wohl noch daran erinnerte? ... Denn anders war ihr Leben gewesen als das ihrige in dem gleichen Kreislauf der Begebenheiten und Erinnerungen. Wie viele Menschen und Länder hatten inzwischen den Rückweg zu Gabrielens Kindheit verstaut ...?

Toni bangt sich entsetzlich vor diesem ersten Wiedersehen.

Kurt ist mit Elise allein zur Bahn gefahren – Toni sollte auf dem ersten Treppenabsatz die Schwester empfangen. Dr. Kemper hatte etwas übrig für ein gewisses Zeremoniell, und es war ihm nicht unlieb, daß Gabrielens Ankunft auf einen Sonntag fiel, da er wußte, daß die Neugier die Fabrikarbeiter trotz des Feiertages in den Hof treiben würde. Er wußte auch, daß er nicht unbeliebt war bei seinen Leuten, und es machte ihm Spaß, Gabriele gleichsam zwischen einem Spalier grüßender Menschen vor sein Haus zu führen.

Zum erstenmal ärgert sich Toni darüber, daß sie von ihrer Wohnung aus den Fabrikhof nicht sehen kann. Aber es widerstrebt ihr, vor Gabriele in die für sie bereiteten Zimmer zu gehen.

Das Mädchen hat Auftrag, zu melden, sobald das Auto in den Hof einbiegt. Und nun, da die Hupe ertönt, läuft Toni beinahe durch den mit Glas überdeckten Verbindungsgang zur Treppe, die zu Gabrielens Wohnung hinaufführt. Dieser bisher vernachlässigte Verbindungsgang mit seinen Glaswänden und der rosa Ampel, die ihr Licht über verschwenderisch aufgestellte Blattpflanzen breitet, hat schon bei den Lichtproben die Fabrikarbeiterinnen sehr beschäftigt. Wie eine kleine Theatervorstellung war es für sie immer in den letzten Tagen, wenn sie die schöne Elise in dem »Glaskasten« herumwirtschaften sahen. Und jetzt erblicken sie auch die hastig eilende kleine Frau Doktor, in einem so schönen Kleide, wie sie es nie an ihr gesehen.

»Mach' dich recht hübsch für heute abend!« hatte Kurt Kemper ihr gesagt, mit den gleichen Worten, wie sie seinerzeit ihre Mutter gebraucht hatte, als ihre Verlobung mit Kurt gefeiert werden sollte – ein Fest für das Haus. Als solch ein Fest empfand Kurt Kemper wohl auch den heutigen Abend.

Und so hat denn Toni ihr neues taubengraues Chiffonkleid angelegt, mit dem weichen Spitzengeriesel um den zagen Ausschnitt, in dem sie, wie die Schneiderin ihr sagte, aussieht »wie ein Backfisch«. Steht nun mit hoch klopfendem Herzen auf dem ersten Absatz der mit blutrotem Teppich ausgelegten Treppe. In der Hand hält sie einen Nelkenstrauß, den sie Gabriele überreichen soll. Als sie aber die Stimme ihres Mannes hört und gleich darauf Gabrielens helles: »Na, und wo ist Toni?«, fallen ihr die Nelken aus der Hand – zehn Jahre sind wie weggewischt – und Toni stürzt Gabriele in die Arme.

Erst oben, auf dem Flur, merkt sie, wie groß Gabriele ist. Sie kommt sich klein, ganz klein vor.

»Wie schön du alles hergerichtet hast«, sagt Gabriele und legt ihren Arm um Tonis Schultern.

»Es ist Elisens Verdienst, denn ich – hätte ja gar nicht gewußt, wie du alles magst.«

Später im Speisezimmer sagt Gabriele, indem sie auf den Tisch deutet:

»Doch weißt du, wie ich es mag!«

Und sie faßt Toni unter das Kinn und küßt sie auf die Stirn.

So drollig verschoben kommt Toni plötzlich das ganze Verhältnis vor, aber es ist doch eine leise Freude in ihr, daß alles so schön geklappt hat, und sie betrachtet die Schwester mit mehr Ruhe und Aufmerksamkeit.

Schön ...? Nein, nicht eigentlich. Aber so ungeheuer stattlich und vornehm. Keine Konzession an die jüngste Mode, und doch unnachahmlich elegant. Auch kein kurz geschnittenes Haar, wie sie selbst es trägt, das helle Blond ist zu einem stark welligen Knoten leicht im Nacken zusammengerafft, und von der hohen weißen Stirn zurückgestrichen. Es rahmt wundervoll das ein wenig harte, helle Gesicht, ohne es zu beschatten, und nur die seltsam dunklen Wimpern geben den stahlblauen großen Augen eine weichere Tönung. Alles an Gabriele ist groß, aber edel geformt. Auch die ungewöhnlich weißen Hände, deren linker Goldfinger nur von einem Ring mit einer großen schwarzen Perle umschlossen wird. Sie trägt noch leichte Halbtrauer um den Vater, aber sie nennt ihn selten, als wüßte sie, daß sein Name hier nicht so ganz gewürdigt werden dürfte. Aber sie sagt immer »wir«, wenn sie von den Reisen und Aufenthalten in fremden Städten spricht, und nur einmal »ich«, als sie erwähnt, daß sie gern studiert hätte, dies aber mit der nun einmal »vagabundierenden« Lebensweise nicht in Einklang zu bringen gewesen wäre.

»Schließlich habe ich in jedem Lande etwas gelernt, und aus dem wirklichen Leben vielleicht mehr, als es mir aus Büchern möglich gewesen wäre!«

»Wie wird es dir nur hier in unserer Einöde vorkommen, Gabriele?« fragt Kurt Kemper und will ihr dabei das Glas zum zweiten Male mit Sekt füllen.

Sie legt ihre Hand abwehrend auf den Glasrand:

»Wenn du noch einen Tropfen Burgunder hast, Kurt, wäre es mir lieber. Das Zeug ist mir zu süß!«

»Auch mir ist Burgunder lieber. Vielleicht läßt du noch eine Flasche temperieren und hereinbringen, Toni«, wendet sich Kemper freundlich an seine Frau.

Es kommt Toni plötzlich vor, als würde sie von Tisch geschickt. Aber vielleicht will Kurt gleich am ersten Abend etwas Geschäftliches mit Gabriele besprechen und möchte es nicht gern in ihrer Anwesenheit tun. –

Sie gibt dem Mädchen die nötigen Anweisungen und geht noch einmal hinüber in Gabrielens Wohnung, wo der schwarze Kaffee eingenommen werden soll. Elise hat mittlerweile die zwei großen Schrankkoffer und das unzählige kleinere Gepäck ihres Inhaltes entleert und ihn mit Hilfe des zweiten Stubenmädchens, das auch ihr zur Hand gehen soll, in den monumentalen Schränken und Kommoden untergebracht. Auf dem Schreibtisch liegt jetzt eine große Mappe, mit dem goldenen, bis zur Mitte reichenden S, die Toni von Herrn Schorneders Arbeitstisch her kennt. Auch Herrn Schorneders klobiger Federhalter liegt bereits in dem wuchtigen Halterträger aus Malachit. All diesen Gegenständen entströmt vertraute Feindlichkeit. Toni kann sich nicht denken, daß sie sich jemals zur Seite dieses Schreibtisches niederlassen könnte.

Im Schlafzimmer breitet Elise gerade Gabrielens Nachtkleid aus. Aus hellblauer Seide, ohne jede Verzierung, mit schrägem Schulterschluß. Es ist alles so überaus gediegen, reich und bequem.

Elise ist gesprächiger und mitteilsamer als sonst, als fühle sie sich gestützt durch die Nähe ihrer Herrin. Toni fragt, wann ihre Schwester zu frühstücken gewohnt wäre und ob sie zu ihnen hinüberkäme.

»Das Frühstück für Fräulein Schorneder hole ich selbst aus der Küche. Um acht nimmt Fräulein Schorneder ein Bad, dann turnt sie und läßt sich von mir massieren. Ich habe es in Schweden von den Masseusen gelernt. Punkt neun trinkt Fräulein Schorneder ihren Tee im Bibliothekzimmer. Das haben wir immer, auch auf allen Reisen, so gehalten. Nicht mal am Tage nach dem Tode von Herrn Schorneder wurde daran etwas geändert ... er starb ja freilich in der Nacht. Eigentlich unerwartet. Sein Diener fand ihn tot im Bett.«

»Es war wohl ein großer Schmerz für meine Schwester?«

»Ja natürlich, gnädige Frau. Herr Schorneder liebte ja seine Tochter abgöttisch. Aber sie sagte immer: man darf sich einem Gefühl nicht hingeben. Sie ist sehr streng, Fräulein Schorneder. Nicht nur gegen andere, auch gegen sich selbst. Wie sehr sie an ihrem Vater gehangen, habe ich erst gesehn, als er tot war. Denn alles, was ihn bei Lebzeiten umgeben hatte, wollte nun auch sie um sich haben. Und die Tasse, aus der sie trinkt, ist die Mundschale von Herrn Schorneder, die ihn seit zehn Jahren auf allen Reisen begleitete. Ja – wer sich gut stellt mit Fräulein Schorneder, dem geht's auch gut.«

Es scheint Toni, als unterhielte sie sich schon zu lange und zu intim mit der Zofe ihrer Schwester. Sie nickt kühl und freundlich:

»Nun, ich denke, Elise, meine Schwester wird mit allem zufrieden sein.«

»Sicher, gnädige Frau. Nun haben wir doch etwas vergessen.«

»So? Und das wäre?«

»In den Glasgang müssen Stores hineinkommen. Mutzmann sagte mir schon, die Leute guckten abends vom Fabrikhof zum erleuchteten Gang herauf.«

»Dem ist ja leicht abgeholfen. Ich werde mit meinem Mann sprechen. Übrigens, Elise, wollen Sie den schwarzen Kaffee jetzt hier richten? ... Dann schicke ich unser Mädchen nur mit den Likören herüber.«

»Jawohl, gnädige Frau. Wann soll der Kaffee bereitstehn?«

»Ich läute zweimal zu Ihnen hinüber, bevor wir kommen.«

»Danke, gnädige Frau.«

Toni hat das Gefühl, als hätte sie wirklich etwas geleistet, und – sie schämt sich fast, es sich zu gestehen, die vertraulichere Art Elisens hat ihr wohl getan.

Im Speisezimmer sitzen Gabriele und Kurt, im eifrigen Gespräch, bei leerer Flasche und noch halb gefüllten Gläsern. Er hat seinen Stuhl ganz an die Ecke der Schmalseite gerückt und tippt mit seinem silbernen Bleistift immer wieder auf ein Blatt Papier, dem seine Brieftasche als Unterlage dient.

»Du begreifst, Gabriele, das erfordert natürlich großen Umbau.«

»Die Fabrik hat ja viel Hinterland, wie du sagst, und wenn man das daneben liegende Grundstück kauft ...«

»Es gehört schlauen Bauern, die genau wissen, was ihre Grundstücke wert sind.«

Gabriele knipst mit den Fingern ein Aschenhäufchen vom Papier:

»Na ja, man wird dann schon sehn. Jedenfalls mußt du die Sache nun bald und energisch in die Hand nehmen. Denn ich halte es immerhin für zweckmäßiger, du vergrößerst dich hier auf dem Boden, den du kennst, als du arbeitest dich wieder in ein neues Gebiet ein und in Verhältnisse, die sich ja doch in den letzten Jahren recht schwierig und ungünstig gestaltet haben. Ich gestehe dir offen, daß ich meine Einlagen überall langsam zurückzuziehen gedenke, damit wir hier etwas Großes schaffen können. Denn ich meine, die Nähe der Schweiz ist nicht nur nicht hinderlich, sondern sogar fördernd für unsere Pläne. Und wenn wir uns vielleicht später mal zu einer Interessengemeinschaft mit der einen oder anderen großen Schweizer Produktionsgesellschaft verbinden könnten, so wäre das wirtschaftlich ja von größtem Wert, da uns dann auch der Weltmarkt offen stünde ... Aber das liegt ja noch in weitem Felde! Das Erste sind die Umbauten und die Anschaffung neuer Maschinen. Du arbeitest mir dann wohl ein ausführliches Exposé aus?«

Mit einem kräftigen Ruck bläst Gabriele den Rauch ihrer starken, mundstücklosen Zigarette von sich. Dabei erblickt sie Toni.

»Na, da bist du ja wieder, Tonichen. Jetzt wollen wir aber nichts mehr von Geschäften reden!«

Kurt Kemper steht lachend auf und geht auf seine Frau zu:

»Nee. Geschäfte sind nicht Tonis starke Seite ... gelt, Kleine?«

Gabriele leert ihr Glas. Dann wirft sie die Zigarette in die Aschenschale und erhebt sich ebenfalls.

Dann gehen sie hinüber.

Im Glasgang sagt Toni:

»Du, Kurt, wir müssen hier noch Stores anbringen lassen, meint Elise.«

Gabriele hemmt den Schritt und streicht mit der Hand unter ein schweres Palmenblatt:

»Stores? Warum denn?«

»Der Werkführer Mutzmann hat ihr nämlich gesagt, daß die Leute immer heraufguckten.«

»So laß sie doch gucken. Panem et circenses – man muß den Leuten immer was geben, was sie von ihrem täglichen Einerlei ablenkt. Meinst du nicht, Kurt?«

Ihm fällt die schwarze Theres' ein, und ausweichend sagt er:

»Du kennst die Leute hier nicht, Gabriele. Wir leben nicht im Süden, wo die gleiche äußere Lebensart die Klassen nivelliert, und der Unterschied sehr oft nur in der Aufmachung besteht. Die gleichen bröckeligen Steinstufen führen da in einen Palazzo, dort in eine Osteria, und die gleichen köstlichen Früchte liegen da in einer Schale aus Murano, dort in einem Bastkorb. Das ist der ganze Unterschied. Hier aber –«

Wieder schneidet Gabriele mit einer kurzen lässigen Handbewegung ab:

»Na, wir werden ja sehn.«

Sie entschuldigt sich für einen Augenblick, um es sich bequem zu machen. Denn sie ist von Berlin direkt hierher gereist. Sie liebt nicht die engen Schlafabteile und läßt sich für ihre Tagesreisen ein ganzes Polstercoupé reservieren.

»Du, das ist ja eine fabelhafte Person, diese Gabriele!« sagt Kurt Kemper zu seiner Frau.

»Fabelhaft – wieso? ...«

»Frag' nicht so dumm, Toni. Es sollen ja jetzt keine kleinen Hilfsaktionen mehr sein, um die Lebensdauer unserer Fabrik zu verlängern. Es soll ein völliger Neuaufbau werden! Unsere Fabrik wird ganz Süddeutschland beherrschen ... Sie ist großzügig, wie selten ein Mann! Nach kurzen Andeutungen von mir hat sie gleich die ganze Lage hier erfaßt und gefühlt, was auch der Bevölkerung nottut. Nicht bloß Selbstzweck ist ihr die Fabrik, sondern das Mittel, den Leuten durch ihre Arbeit fühlbaren Wohlstand zu geben. Wäre sie nicht so reich und dächte sie nicht so praktisch, man könnte sie für eine phantastische Idealistin halten. Aber es ist etwas Imponierendes an ihr!«

Kurt Kemper hat sich ganz warm geredet. Toni zupft, ohne ihn anzusehn, an ihrem Spitzengekräusel. Dann kommt Gabriele herein. Sie hat das knappe, schiefergraue Reisekleid abgelegt. Ihre Gestalt sieht noch größer aus in dem schwer bestickten Kimono aus pfaublauer Seide, den ein breiter silberner Gürtel zusammenhält.

»Ihr erlaubt wohl, Kinder ...«, und sie läßt sich müde in den Kissenberg der breiten Ottomane fallen. Dabei klafft ihr Gewand auseinander, und Toni erblickt dunkelfarbige seidene Türkenhosen, die bis zum Fußknöchel reichen.

Elise schenkt den Kaffee ein und reicht Zigaretten aus einem Kristallkasten. Aufmunternd sagt Gabriele:

»Wenn sie dir nicht zu stark sind, Toni ...?«

Toni ist keine prinzipielle Nichtraucherin, aber hier – sie weiß selbst nicht, warum – lehnt sie die Zigarette ab. Sie kommt sich wie verloren vor in dem großen englischen Ohrensessel, der vor der Bibliothek neben der Orchideenvase steht. Kurt sitzt nahe an der Ottomane, rittlings auf einem englischen Rauchstuhl, beide Arme vor sich auf der weichen grünen Polsterung aufgestützt.

Wie aus weiter Ferne hört Toni die Stimmen von Gabriele und Kurt. Es ist da ein Name gefallen, und gleich darauf wird die Güte einer neuen, verbesserten Maschine erörtert. Dann folgen Zahlen. Terrainmaße. Toni hört die Worte »Kantine«, »Hilfsarbeiter«, »Kessel«, »Ingenieure«, und dann schläft sie ein. Der heutige Tag hat ihr an seelischer Anspannung und Erregung mehr gebracht, als all die vielen stillen Ehejahre. Sogar die Reisevergnügungen ihres Mannes und selbst die immer wieder aufsteigende Empörung über die schwarze Theres' verblassen dagegen.

Ihr Mann weckt sie:

»Na, kleine Schlafmütze, willst du hier übernachten?«

Toni reißt die Augen auf, als müsse sie sich erst zurechtfinden in dem ihr fremden Raum. Da steht aber schon Gabriele unter dem Licht der orangefarbig beschirmten Lampe:

»Und wenn sie auch die Nacht hier verbrächte ... Wo man schläft, ist gleichgültig – wenn man nur schläft ... wie oft hab' ich meine Nächte hier auf diesem Ruhebett zugebracht ... wie oft im Garten in der Hängematte geschlafen! Das Bett ist ein Vorurteil, eine Konzession, die man der Überlieferung macht. Am liebsten würde ich jeden Tag in einem anderen Zimmer schlafen – auch mal in einem Sessel oder auf dem Bodenteppich – es käme mir gar nicht darauf an.«

Es wird noch ein bißchen gelacht, und dieser erste, von Toni gefürchtete, von Kurt ersehnte Abend ist zu Ende.

* * *


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