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Toni sitzt am Telephon. Sie ist kalt bis in die Fingerspitzen. Die Stimme ihres Mannes klingt seltsam weich und matt an ihr Ohr:

»Ja ... also nicht wahr, Tonichen ... Du kannst es verstehn ... ich war so erschöpft von der Arbeit ... und ... und all den Aufregungen ... ich mußte mal ausspannen. Mußte mal auf ganz andere Gedanken kommen. Konnte dir das nicht vorher sagen ... ich wußte ja selbst nicht, wie schlimm es mit meinen Nerven stand. Habe dir jeden Tag schreiben wollen oder telephonieren ... und dann kam es über mich wie Unlust ... Wußte auch nicht recht, ob ich's einhalte ... wenn ich dir sage, ich komme. Mußt mir schon Absolution erteilen, Tonichen ... Generalabsolution, weißt du ... bist du am Apparat? ... Du redest ja gar nicht.«

»Doch, doch«, würgt sie hervor. »Bin froh, daß du kommst ... Wagner meint auch, es gibt jetzt viel mit dir zu besprechen.«

»Na ja, kann mir's denken ...«

»Und wenn du erst da bist, mußt du wirklich einen Professor für die Mutzmann kommen lassen ... Man weiß nicht recht, wer sich mehr quält, er oder sie. Er sitzt jetzt halbe Nächte im Wirtshaus, und der Verwalter meint, er geht vor die Hunde, wenn's noch lange dauert ... Und ... mit der Elis' muß auch was los sein – ich glaube, sie hat sich zu sehr mit Mutzmann eingelassen, und jetzt ist es ihr leid.«

»Na Tonichen, du bist ja ganz trübetümpelich. Warum zerstreust du dich nicht ein bißchen? ... Fährst rüber nach Basel ...?«

»Das Wetter ist jetzt immer zu schlecht. Und dann ...«

»Na was denn?«

»Na ja ... sie fragen immer gleich so neugierig ... wo du bist ... und ob ...«

Kurt Kemper erwartet jetzt, daß der Name Gabriele von Tonis Lippen kommt. Wenn nur erst das überstanden wäre –! Aber Toni nennt den Namen nicht. So sagt er:

»Gabriele läßt schön grüßen. Sie bleibt noch ... hier ... Im Winter will sie dann nach St. Moritz ... Wir werden also wieder mehr auf uns angewiesen sein ... Sagtest du was, Toni?«

»Ich habe nichts gesagt ...«

Kurt Kemper ist es, als höre er plötzlich lautes Kinderlachen und gleich darauf: »Psst, ruhig!«

»Ist jemand bei dir, Tonichen?«

»Ja. Ich habe Besuch.« Und ihre Stimme klingt heller, fast freudig.

»So ...? Na: dann will ich dich nicht aufhalten.«

Er versteht jetzt, warum sie so wortkarg ist:

»Also, Tonichen, ich mache es so: ich fahre in Etappen zurück, habe noch allerlei in Mannheim und Karlsruhe zu erledigen. Bin also übermorgen mittag nach halb zwölf in der Fabrik. Ich will mir da erst Verschiedenes vom Halse schaffen. Punkt eins komm' ich dann rüber zu Tisch. Es ist dir doch recht so? ...«

»Ja. Gewiß. Um eins zu Tisch.«

»Auf Wiedersehn also!«

»Wiedersehn ...«

Das Hörrohr fällt ihr fast aus der Hand.

»Nicht weinen, Mutti ... ». Und das Robertle klettert Toni auf den Schoß, umhalst sie und reibt seine kupfernen Locken an ihren nassen Wangen feucht.

»Buberle kleines ... Bald kommt auch dein Vati. Mußt brav sein! ...«

»Vati? ... Oh lalà, ich hab' keinen Vati.«

»Doch, Buberle. Alle braven Kinder haben einen Vati!«

»Zeig mal.«

»Na ja, Robertle, komm ...«

Sie führt ihn in ihr Schlafzimmer und hält ihm das Bild ihres Mannes vor die Augen:

»Das ist dein Vati.«

Er schüttelt energisch den Kopf:

»Das ist der patron! Der muß wieder Seife kaufen! Weißt du, Mutti, die so gut riecht!«

»Ja, riecht denn deine Seife jetzt nicht gut?«

»Ja. Aber die ist nicht vom patron

Toni muß lachen:

»Robertle, wenn du noch einmal patron sagst, kriegst du auf die Höschen ...! Vati sollst du sagen.«

» Oh lalà ... also Vati- patron!?« Und er blinzelt Toni von der Seite ganz schlau an – genau wie es Kurt Kemper früher tat, wenn er sich vergewissern wollte, wie weit er Toni gegenüber mit einem Spaß oder einer faustdicken Lüge gehen konnte.

Abends liest Toni den einen und anderen Brief von Kurt, aus früheren Jahren. Immer wieder kommt in dieser oder jener Form das Bedauern zum Ausdruck, daß sie keine Kinder haben. Und mehr als einmal der Satz: »Für wen rackert man sich eigentlich ab – für wen schafft man?« Vor zwei Jahren erst hatte er infolge des Rückganges der Fabrik einen schweren Depressionszustand, der soweit ging, daß er daran dachte, die Fabrik zu verkaufen. Toni lebte damals in zitternder Angst, er könnte das, was er im Unmut manchmal wiederholte, in Wirklichkeit wahrmachen. Könnte wirklich mit ihr nach Berlin ziehn, in eine kleine Mietswohnung, und sich mit Hunderten von Bewerbern um eine Stellung bemühn, die ihm vielleicht nur das Notwendigste abwarf. Vielleicht würde doch noch alles gut werden – wenn nur erst Gabriele Lörnach verließe ...! Wenn ihr Mann sich je sein Liebesleben leicht gemacht hatte – an Gabriele hätte er zerschellen können! ...

Alles erhofft jetzt Toni von der Rückkehr ihres Mannes. »Übermorgen ... übermorgen ...«, flüstert sie vor sich hin.

Aber am nächsten Tag muß sie wieder sagen: »Übermorgen, übermorgen.« Und so geht es Tag um Tag. Und ihre Stimme am Telephon – wenn sie den Prokuristen Wagner anruft – wird immer zaghafter, und Wagners Stimme immer nervöser:

»Ja ... es wird bald Zeit, daß der Herr Doktor zurückkommt. Es liegen da wichtige Briefe vor, die ich erst nach einer längeren Besprechung mit ihm beantworten kann.«

»Können Sie ihn denn nicht anrufen?«

»Ich hab's zu allen Stunden versucht, aber ich kann ihn nicht antreffen.«

»Ist er denn noch in Berlin?« fragt sie.

»Soviel ich weiß, ja. Aber ...« Er unterbricht sich. Fügt rasch hinzu: »Na, ich will's noch einmal probieren.«

Die kleine Frau Doktor tut dem Prokuristen leid. Warum soll er ihr das Herz noch schwerer machen, indem er sagt, daß Kurt Kemper sein Telephon oft abgestellt oder verboten hat, ihn zu wecken, wenn er um die Mittagszeit anläutete. Einmal telephonierte er ihn gegen Abend an, außer der Bürozeit:

»Ja – hier Dr. Kemper ...«

So pappig klang die Stimme, daß Wagner sie kaum erkannte.

»Herr Doktor selbst?«

Albernes Lachen ertönte aus dem Apparat:

»Natürlich selbst ... Oder hab' ich vielleicht 'nen Doppelgänger ...?«

»Herr Doktor, Sie müssen zurückkommen. Wir brauchen Sie hier dringend!«

Und mit schwerer Zunge kam es zurück:

»Nna ... ist ja gut, daß mich noch jemand braucht ...!« Und ganz entfernt, als spräche er mit abgewandtem Kopf weit hinaus: »Du, Gabriele ... es gibt noch Leute ... die mich brauchen! ...«

Dann fiel das Hörrohr in die Gabel.

Das alles kann Wagner doch nicht sagen! Dürfte er seinen Posten jetzt verlassen, er würde selbst nach Berlin fahren. Aber so muß er warten – wie Toni wartet ... Wie alle in der Fabrik auf den Chef warten ... und die Stammgäste im »Blauen Stern« auf den »Ausreißer«, der mit seiner schönen Schwägerin das Berliner Leben auskostet!

»Wenn das so weitergeht, wird sich Fräulein Schorneder noch endgültig kompromittieren!« meint der Untersuchungsrichter in verhaltener Entrüstung.

»Wird, ist gut!« sagt der Staatsanwalt.

Der Assessor zuckt die Achseln: »Ich bitte Sie, meine Herren, das Wort kompromittieren ist doch heute aus dem Wörterbuch gestrichen! ...«

»Ich begreife nur nicht, wie sich eine Frau mit so freien Anschauungen gerade in Lörnach festsetzen konnte. Soviel ich weiß, sind unsere Damen nicht sehr erbaut von diesem Zuwachs«, meint der Amtsgerichtsrat.

Der Untersuchungsrichter hat ein zynisches Lächeln:

»Dafür aber das Finanzamt.«

*

Kurt Kemper lebt die letzte Woche sozusagen »die Türklinke in der Hand«. Er hat alles vergessen, was außerhalb seiner Leidenschaftssphäre liegt. Wie ein schweres Narkotikum legt sich jeden Abend der Weindunst über sein Gehirn, erdrosselt seinen Willen. Und er merkt es nicht, daß Gabriele mit ihm verfährt wie einer, der einen Ertrinkenden retten will, ohne selbst von ihm in die Tiefe gerissen zu werden: ihn Wasser schlucken läßt, bis die krampfartige Umklammerung nachläßt und er ihn ungefährdet ans Ufer bringen kann. Aber dennoch spürt sie, daß auch ihre Kräfte erlahmen. Ihr Weibtum, das er in so brutaler Art geweckt, verlangt nach dem starken Mann, dem sie sich geben kann. Die erotische Hörigkeit Kempers stößt sie ab. Sie versteht eine Kleopatra, eine Messalina, die ihre Liebhaber nach der Liebesnacht töten ließen ... Schwach will sie sich nur einem gegenüber fühlen, der stärker ist als sie. Ihr ganzes Wesen ist gespannt. Als spähe sie aus nach solch einem Manne.

Die Gefühlstragödie Kempers ist ihr lästig. Die kalte Begehrlichkeit Sardens weckt kein Echo in ihr. Die Hampelmänner der Gesellschaft, die aus Eitelkeit ihrer Schönheit und aus Habgier ihrem Gelde huldigen, langweilen sie. Sind ihr nicht einmal die Erregung einer Stunde wert. Kurt Kemper glaubt, einen Sieg errungen zu haben, weil sie sich nicht gleichmütig von jedem zum Tanz entführen läßt, weil sie auch in der »Villa Borgia« nicht mehr den Eintänzer Harry Milton verlangt. Weil sie an manchen Abenden, ohne auch nur ein einziges Mal mit wem immer zu tanzen, Kurt beim Wein gegenübersitzt. Er weiß nicht, daß sie es nicht über sich bringt, Milton zum Tanz zu »befehlen«, daß sie immer an seinen Satz denkt: Das Geschäft geht vor.

Wenn dann aber Kurt an ihre Tür klopft nach einer durchwachten Nacht, so bleibt sie ihm verschlossen.

Eines Abends – der Betrieb der »Villa Borgia« hat gerade seinen Höhepunkt erreicht, und Gabriele lehnt, wundervoll gekleidet, Kurt gegenüber im Sessel, tanzunlustig und fast ermüdet – da weiten sich plötzlich ihre Augen. Ein seltsamer Ausdruck verändert ihr Gesicht.

An der schmalen Tischreihe unterhalb der Brüstung ihrer Loge schreitet ein langer, hagerer Herr vorüber. Wie angezogen von ihrem starr auf ihn gerichteten Blick wendet er den Kopf zur Seite und sieht sie an. Dunkle Röte schießt in sein unschönes, aber vornehmes Gesicht mit den ausgemergelten Zügen. Sie ruft unwillkürlich englisch: »Oh ... Lord Carwell! How do you do? ...«

»Miß Schorneder! ... I am glad to see you

Sie ladet ihn mit einer Bewegung ein, heraufzukommen. Und während er sich den Weg zu ihrer Loge bahnt, sagt sie:

»Dieser Herr, weißt du ... das ist der Lord, der sich einbildete, ohne mich nicht leben zu können ... Und nun lebt er doch. Und ich bin sehr froh darüber.«

Kurt Kemper erinnert sich: Ja, das ist der Lord, der sich angeschossen hat ... Und als er ihm gegenübersitzt, sieht er eine kleine Vertiefung im Schläfenknochen. Ein leises Frösteln überkommt ihn: so also ist sie geartet, diese Gabriele, daß sie mit einem, der sein Leben um ihretwillen lassen wollte, harmlos plaudert, als wäre nichts gewesen und die Schatten des Todes hätten sich nicht aufgerichtet zwischen ihm und ihr!

Gläsern und unverwandt haften die Augen des Engländers auf Gabriele. Auch er scheint nicht mehr an den Zusammenhang zu denken, der zwischen dieser Frau und dem düstersten Kapitel seines Lebens bestand. Aber er weicht den Erinnerungen nicht aus, erkundigt sich teilnehmend nach Herrn Schorneder und bedauert seinen Tod. Er fragt Gabriele nicht, was sie jetzt treibt, und sagt nur höflich: » Oh it's very interesting«, als sie ihm erzählt, daß sie Mitinhaberin der Kemperschen Fabrik ist und mit ihrem Schwager ein paar Tage geschäftlich in Berlin ist.

Von da ab ist er noch höflicher zu Kurt Kemper, noch eisiger.

Es werden an diesem Abend ungeheure Mengen Alkohol vertrunken. Kurt Kemper warnt Gabriele: »Du schadest dir!«, aber er selbst bringt die Worte nicht mehr deutlich über die Lippen. In ihren Augen steht ein schwimmender Glanz, der ihn erschreckt.

Nur zweimal hat er diesen Glanz in ihren Augen gesehn: als er in Heidelberg zu ihr in den Zug stieg, und als sie das erstemal vom Eintänzer Milton vom Tanz an den Tisch zurückgeführt wurde. Galt es diesmal wirklich diesem stocksteifen Engländer, der den Alkohol literweise wie Wasser durch seine Kehle rinnen ließ?

»Ich möchte heute wieder mal mit dem Eintänzer tanzen«, sagt Gabriele plötzlich. »Die Herren haben doch nichts dagegen? ...«

Lord Carwell zieht ein dunkelgerändertes Einglas aus der Westentasche, klemmt es ins Auge und blickt hinunter in den Saal:

»Oh ... Harry Milton – macht wohl große Sensation hier unter den Damen ...? In London waren sie wie verrückt mit ihm. Eine Lady wollte ihn sogar heiraten ... Tanzt er wirklich so gut, Miß Schorneder, daß es sich lohnt, ihn zu heiraten?«

Kurt Kemper hätte dem Lord jetzt am liebsten die Hand gedrückt, aber er gibt doch dem Kellner den Auftrag, Milton zu einem Tanz zu bestellen.

»Du wünschest ...?«

»Den nächsten Slow Fox.«

Gabriele hörte von da nicht mehr, worüber sich Lord Carwell und Kurt Kemper unterhalten. Nichts könnte ihr auch gleichgültiger sein ... Alles ist gleichsam versunken vor ihren Augen! ... Der ganze Saal mit all seinen Gästen. Nur Licht sieht sie ... strahlendes Licht! ... Und ein leuchtend weißes Brusthemd, das von einem Kopf überragt wird, dessen Züge sie nicht einmal erkennen kann ... Und das sich näher auf sie zu bewegt ... näher ... immer näher ... Bis sie schließlich einen Arm um sich fühlt und die Stütze eines standfesten, stählernen Körpers.

Sie denkt: Gewiß wird er mich fragen, warum ich solange nicht mit ihm getanzt, – aber es fällt ihm nicht ein zu fragen. Sie sagt schließlich:

»In den nächsten Tagen reise ich wieder nach Hause ...«

»Das ist auch gut so«, antwortet er.

Und ihr Herz schlägt wie toll vor Erwartung:

»Warum gut so, Herr Milton? ...«

»Weil Sie Ihre Gesundheit untergraben, mit all dem Gesöff ... Pardon, mit all dem Wein.«

Sie lächelt beglückt – also hat er sie doch beobachtet?! Und sie blickt zu ihm auf:

»Woher wissen Sie denn überhaupt ...«

»Glauben Sie, die Kellner, die so gerne große Trinkgelder einheimsen, sprechen nicht im Office über auffällige Zechen? ... Und nun sehe ich gar noch den Lord Carwell bei Ihnen! Londons trinkfestesten Mann. Sie nennen ihn drüben ›Falstaff extra dry‹! ...«

»Es war ein guter Bekannter meines Vaters, und ich habe mich gefreut, ihn wiederzusehn.«

»... was nicht gut möglich gewesen wäre, wenn er besser gezielt hätte!«

»So? ... Sie wissen ...?«

»Ja. Ich war damals gerade in London, und in der Gesellschaft wurde viel von dem Selbstmordversuch Carwells gesprochen ... Man lachte damals mehr über ihn, als daß man ihn bedauerte! ... Wahrscheinlich hat ihm der Alkohol das Leben gerettet. Viel Wert mag es ja nie gehabt haben ... Aber sicherlich mehr als die Frau, um derentwillen er es getan hat!«

»Das können Sie doch nicht wissen, Herr Milton.«

»Ich nehme es ja auch nur an. Denn wenn eine Frau es durch ihren Flirt so weit bringt, daß ein anständiger Kerl sich um ihretwillen das Leben nimmt – an dieser Frau ist nicht viel dran!«

»Schade, Herr Milton, daß Sie mir damals keine Moralpauke halten konnten, denn ... diese Frau war ich!«

Da sie gerade vor der kleinen Treppe angelangt sind, die zu ihrer Loge führt, reißt sie sich los und steigt rasch die Stufen empor.

Harry Milton sieht ihr verdutzt nach. Alle Achtung, daß sie sich dazu bekannt hat – –! Er übersieht den gönnerhaft liebenswürdigen Winkgruß des Lord Carwell. Nein – an den Tisch möchte er nicht mehr ran ... Sein Beruf ist ihm überhaupt manchmal zuwider. – – Was ist man denn? ... Ein besserer Diener. Ein Anreißer der »Liebe«! ... Na – und für heute hat er sowieso genug ...

Wie er zum Ausgang geht, tritt ihm ein Kellner entgegen: »Der dritte Tisch auf der linken Seite unten möchte gern Herrn Milton zu sich bitten. Scheinen sehr reich zu sein! Amerikanerinnen.«

»Sollen morgen wiederkommen«, sagt Milton grob und läßt den Kellner stehn.

Im gleichen Augenblick verläßt auch Gabriele Schorneder mit den Herren die Loge.

Noch zwei Tage währt das sinnlose Bummelleben. Lord Carwell weicht von fünf Uhr ab nicht mehr von Gabrielens Seite. Kurt Kemper führt ein erniedrigendes Schattendasein. Den ganzen Vormittag ist Gabriele für ihn nicht zu haben: sie hat Besorgungen über Besorgungen, als rüste sie sich für eine Weltreise. Als er eines Tages den Salon betritt, sieht er über den Stuhllehnen zwei schnittige Reitkleider hängen.

Er versucht es mit Ironie:

»Du willst wohl die Lörnacher Damen in helle Aufregung versetzen, Gabriele?«

»Wieso die Lörnacher Damen?«

»Oder willst du etwa auf den Schneefeldern von Sankt Moritz im Reitkleid herumspazieren? ...«

»Auch nicht. Aber ich will mal wieder meine Reitkunst in einem Londoner Tattersall auffrischen.«

»Ja ... hast du denn die Absicht ...?«

»Habe ich, mein Lieber. Habe ich.«

»Du kommst nicht zurück nach Lörnach?? ...«

»Doch, natürlich. Aber nur, um meinen dortigen Wohnsitz aufzulösen. Paß auf, Kurt ... du verdrückst mein Reitkleid.«

Sie sieht nicht oder will nicht sehen, wie fahl Kurt Kempers Gesicht geworden ist, greift in die vor ihr stehende Zigarettendose und raucht an. Sie setzt sich tiefer in den breiten Sessel hinein und blickt von unten herauf zu Kurt Kemper empor. Es muß ein Ende gemacht werden – so geht das nicht weiter – –

Langsam und hart hebt sie an:

»Ja, wie denkst du dir denn die Zukunft, mein Lieber?? ...«

Er steht noch immer da, reglos, die Finger in ihr Reitkleid eingekrallt. Denken ... – ja, was meint sie denn mit: denken? ... Der Kopf ist ihm so wüst seit Tagen und Wochen, daß er bisher kaum einmal einen klaren Gedanken fassen konnte. Ihre Worte wirken wie eine eisige Sturzwelle. Peitschen seine Nerven auf.

»Ich denke mir ... daß du nach Lörnach zurückkommst und –«

Gabriele unterbricht:

»Und daß wir Toni unter ihrem Dach betrügen ... ja?«

»Nein. Du sollst ja auch nicht nach Lörnach kommen, solange nicht ... alles geklärt ist.«

»Sehr hübsch. Du willst also deiner Frau sagen: Meine liebe Toni, ich erwarte von dir, daß du in gleich kluger Weise meine Beziehungen zu deiner Stiefschwester stillschweigend duldest – wie du mein Verhältnis mit Therese geduldet hast ...? Und da du erwartest, daß Toni, aus lauter Angst, dich zu verlieren, alles hinnimmt, so meinst du damit eine für dich jedenfalls sehr bequeme Klärung der Lage herbeigeführt zu haben. Stimmt es?«

»Nicht ganz. Ich will Toni klar machen, daß in unserer aller Interesse es nur eines gibt: Scheidung! ... Es wird Toni natürlich an nichts ... an gar nichts fehlen – sie wird sich ihr Leben einrichten können ganz nach ihrem Wunsch. In Berlin ... oder in der Schweiz ... ganz wie sie will. Und du?«

»Und ich werde als Frau Dr. Kemper einziehen ... nicht wahr, so meinst du doch?«

»Ja. So meine ich. Heutzutage sind das ja alltägliche Dinge!«

»So alltäglich – daß sie ganz uninteressant sind. So alltäglich, daß nur eine große Leidenschaft über ihre Banalität hinwegtäuschen kann. So alltäglich – daß ich nicht die mindeste Lust verspüre, meinem Leben diesen Abschluß zu geben. Wenn ich, als ich dir unüberlegterweise nachreiste, nicht an Toni gedacht, so lag meine Entschuldigung nur in der Stärke meines Triebes. Wenn ich heute nicht an sie dächte, so wäre es ein Verbrechen! ... Wenn ich mich zurückerinnere an meine Kindheit, so ist mir, als hätte ich Toni mehrfach wehgetan ... nicht absichtlich. Aber weil der Trieb in mir stärker war als die Hemmung. Es ist heute vielleicht das erstemal, daß Toni mir Zeit gelassen hat, sie in den Kreis meiner Betrachtungen zu ziehen.«

»Wie soll ich das verstehen, Gabriele? ... Soll das heißen, daß alles ... aus ist zwischen uns?«

»Es war aus, mein Lieber, als ich in Frankfurt aus unserem gemeinsamen Hotelzimmer auszog ... in die untere Etage.«

Tonlos wiederholt er:

»Ja. Von deiner Seite war es aus.«

Und der grauenhafte Abend steht ihm wieder vor Augen, da ihn die Nachricht von Theresens Tod traf.

»Geliebt hast du mich nie, Gabriele ... nie.«

Sie unterdrückt ein Lächeln. Wie kindlich ein Mann doch sein konnte – –:

»Hast du mich etwa damals geliebt ... in der Festnacht?«

»Damals vielleicht nicht. Damals habe ich dich nur begehrt! ...«

»Warum willst du mir also einen Vorwurf daraus machen, daß es mir – ebenso ergangen ist?«

»Aber jetzt, jetzt liebe ich dich!«

»Wie du den Wein liebst, wenn er dir wohlschmeckt, die Reisen, weil sie die Öde deines Alltags unterbrechen! Wie du jede Frau liebst – solange sie dich reizt! ... Und jetzt greinst du wie einer, dem der Becher vom Munde genommen wird, noch bevor sein Durst gelöscht ist.«

Es ist keine Härte mehr in ihrem Ton. Nur eine leise Müdigkeit, und sogar ein bißchen Langeweile. Gegen Härte hätte er noch ankämpfen können – das Demütigende der gelangweilten Stimme erschlafft ihn vollends.

»Was soll ich eigentlich jetzt noch in Lörnach – –?« Er fragt es mehr für sich.

Gabriele steht auf, stützt sich mit beiden Händen auf den Tisch und beugt den Oberkörper vor:

»Etwa zweihundertfünfzig Menschen essen jetzt dein Brot! Etwa vierhunderttausend Mark müssen verzinst und abgeschrieben werden! ... Ist das vielleicht keine Aufgabe für einen Mann?!«

Ein bitteres Lächeln reißt an seinen Mundwinkeln:

»Eine Aufgabe wäre es schon – wenn man wüßte, für wen man sie löst!«

»Zur Beruhigung derer, für die man die Verantwortung übernommen!«

Er greift nach ihren Händen:

»So gib mir doch wenigstens eine Hoffnung ...!«

»Von mir aus, Kurt, kann dir keine Hoffnung mehr kommen.«

Er läßt ihre Hand aus der seinen fallen wie einen Gegenstand.

An der Tür wird leise von außen geklopft, ein Page bringt eine Depesche.

Gabriele erbricht sie, fliegt den Inhalt durch und wirft sie Kurt hinüber auf den Tisch:

»Kannst lesen ... Lady Carwell, die Tante von Lord Carwell, ladet mich auf ihren Landsitz ein.«

Kurt Kemper sieht sie groß an:

»Lady Carwell ...? Wie kommt sie dazu?«

»Lord Carwell hat mir gestern seinen zweiten Heiratsantrag gemacht, und ich habe ihn angenommen.«

»Bist du wahnsinnig, Gabriele?!«

»Im Gegenteil.« Und ohne ihn anzusehen, mit jener Unbeugsamkeit in der Stimme, die sie wohl von Herrn Schorneder geerbt hat, sagt sie: »Es gibt Fälle, da man seinen Trieben einen Riegel vorschieben muß.«

*

Am Nachmittag desselben Tages bekommt Gabriele in geschlossenem Umschlag einen Zettel von Kurt:

»Mögest Du Deinen Entschluß nie bereuen! Ich reise nach Lörnach. Lebe wohl! Kurt.«

Sie dankt es ihm innerlich, daß er keinen pathetischen Abschied herbeigeführt hat. Sie wähnt ihn schon längst in Lörnach, ahnt nicht, daß er noch tagelang in den Straßen und Lokalen von Berlin herumirrt, jeden Abend sein Kommen für den nächsten Tag in der Fabrik ankündigt und am Morgen darauf sein Versprechen wieder rückgängig macht.

Bis ihn ein Expreßbrief vom Prokuristen Wagner aus seiner geistigen Erschlaffung aufrüttelt. Er hat für Dienstag der kommenden Woche alle Vertreter und Reisenden nach Lörnach beordert zu einer gemeinsamen Besprechung zwecks Ausgabe neuer Verkaufsmethoden.

»... Ihre Anwesenheit, Herr Doktor, ist unbedingt erforderlich! Es wäre dabei von größter Wichtigkeit, daß Sie bereits Montag hier einträfen, damit ich Ihnen die den Vertretern zu machenden Vorschläge vorlegen kann ...«

Ja – – unbedingt erforderlich ... zweihundertfünfzig Menschen essen mein Brot – – Er wiederholt vor sich hin: »Mein Brot ... mein Brot ... Und auch ihr Brot, das ... bezahlt und – abgeschrieben werden muß ...« Solange muß er auf seinem Posten bleiben – – bis es »bezahlt und abgeschrieben« ist – –

Am Montag, in frühester Morgenstunde, steigt er in Basel auf dem Badischen Bahnhof aus. Wie zerschlagen ist er nach der langen Nacht, in der er kein Auge geschlossen, wie verknotet sind seine Glieder. Er muß sich Bewegung machen, gehen. Gehen! Naßkalter Wind schlägt ihm ins Gesicht, und dichte Nebel steigen vom Rhein auf, daß er die Häuser kaum sieht jenseits der mittleren Rheinbrücke. Noch ist es dunkel in den schmalen Straßen, die vom Markt aus abzweigen. Aber diese Dunkelheit tut ihm wohl – die Dunkelheit und die Stille. Ob Toni jetzt schon auf ist ...? Er hat ihr durch Wagner seine Rückkehr anzeigen lassen. Hat nicht mehr den Mut gehabt, ihr selbst zu schreiben.

Es ist ihm nicht bewußt, durch welche Straßen er schreitet, nur wenn sie sich weiten zu einem Platz und der Wind stärker um ihn herum pfeift, blickt er auf. In dem späten Morgendämmer sieht er die Sträucher und Baumzweige wie kahle Ruten in die Luft hineinragen. Die Wege in den Anlagen sind vom Regen aufgeweicht, und seine Füße sinken schwer in den durchnäßten Boden ein. Lichter blinken auf hinter den Fenstern, die Straßenlampen erlöschen. Vereinzelt fahren Privatautos und Taxameter mit Gepäck zum Bundesbahnhof. Wie ist er eigentlich hierhergekommen ...? Er weiß es nicht, hat seinen Schritten kein Ziel gesetzt. Aber nun er da ist, kommt wieder etwas wie Ruhe über ihn. Die ihm so bekannte Frühbewegung des Bahnhofrestaurants umfängt ihn. Fast an jeden Tisch knüpft sich eine Erinnerung für ihn ... Erinnerungen, die nichts zu tun haben mit Gabriele Schorneder. Hier, in der Holznische, hat er mit seinen Eltern, nach bestandenem Abitur in Freiburg, gesessen und mit kaum zu zähmender Ungeduld den Wundern der Alpenwelt entgegengejauchzt, die ihm seine erste Schweizer Reise erschließen sollte. Da, an dem langen Tisch, hatte er später mit Geschäftsfreunden stundenlange Besprechungen gehabt, um erleichterten oder – noch beschwerteren Sinnes aufzustehen. Dort, an der Ecke des langen Mitteltisches, hatte er Toni so zur Eile angetrieben, daß sie den Inhalt ihrer Kaffeetasse über ihr neues hübsches Reisekleid ausgeschüttet, und ihnen beiden der Beginn ihrer ersten gemeinsamen Ferienreise verdorben war, weil Toni kaum noch Sinn hatte für die wechselnden schönen Naturbilder, sondern immer nur auf den handtellergroßen Fleck starrte, der ihr Kleid verunzierte. Dieses lächerliche Vorkommnis bildete den Anfang einer Kette von kleinen Ärgernissen und Mißstimmungen, an denen er in seiner Ehe so ermüdete. Hinten, im kleinen Seitenzimmer, an einem der Ecktischchen – wie oft hatte er da den Abschluß einer Reisebekanntschaft besiegelt ... und wie so manchesmal hatte er dort Theresens kaum zügelbare Vorfreude dämpfen und ihrem vorsorglichen Eifer Einhalt gebieten müssen, wenn sie ein Brötchen nach dem anderen mit Butter und dick mit Konfitüre bestrich, als Reiseproviant. Wie hatten sie dabei oft gelacht, und wie hatte er sich oft nervös umgeblickt, aus Furcht, er könnte gesehen werden – er, der Chef der Fabrik, mit einer kleinen Arbeiterin! ...

»Nur keine Angst ... oh lalà«, sagte sie dann.

Und er hörte jetzt wieder ihr silbernes Lachen.

Nein – da will er nicht sitzen! Vielleicht findet er im großen Saal einen Tisch, an den sich keine Erinnerungen knüpfen. Ja ... hier, an der großen Tür zum Bahnsteig. Ein harmloser Irrer hatte da Tag um Tag durch zwei Jahre gesessen und einen Haufen unbeschriebener Blätter bekritzelt, die er dann mit wichtiger Miene bis an das andere Ende des Saales trug, um sie darauf wieder geschäftig an seinen Stammplatz zurückzubringen ... Das ist wohl jetzt der richtige Tisch für mich, denkt Kurt Kemper – – Er bestellt sein Frühstück. Die meisten Saaltöchter kennen ihn. Das servierende Mädchen begrüßt ihn freundlich:

»War schon lang nit da, der Herr Doktor. Ware Sie krank?«

»Krank? Nein. Warum?«

»Ja, ich denk' mir's halt, wiel Sie nit mehr e so fest sind und schlecht zuweg aussehn. Na ja, 's is ebbe die Grippeziet jetzt! ...«

Er nickt: »Ja ja, Grippe ...«

Wenn das fremde Mädel die Veränderung bemerkt hat – was wird erst Toni sagen –? Er wird eben Grippe vorschieben müssen ... hatte schon in Berlin die Grippe ... wollte es ihr nur nicht schreiben, um sie nicht zu ängstigen ... Ja ja – die Grippe! ... Da wird alle Sorge um ihn erwachen in ihr, wird alles fortschwemmen an Groll und Mißtrauen! ... Wird ihm alles fernhalten, was ihn aufregen könnte! ... Wird nicht von Theres', nicht von Gabriele sprechen! ... Wird ihm Zeit lassen, zurückzufinden in das alte Geleise ... Wird das Schloß seiner Ehefessel leise schließen, daß er es kaum merkt ... und er erst wieder erwacht, wenn er nicht mehr heraus kann ... nie mehr! ...

Wieviel Uhr mag es jetzt sein? ... Ob er sie anläutet – jetzt gleich ...? Er stürzt ans Telephon, verlangt seine Hausnummer. Wartet stehend – es kann ja jetzt nur einige Minuten dauern.

Und richtig: »Hier bitte, bei Dr. Kemper.«

Es ist das Hausmädchen. Er atmet erleichtert auf.

»Sie sind's, Marie? ... Nein, nein ... wecken Sie meine Frau nicht. Sagen Sie ihr nur, ich wäre schon in Basel und käme um halb eins zu Tisch nach Hause ... Nein. Nicht das Auto schicken, ich komme mit einem Basler Taxi. Habe hier noch Besuche zu machen ... Ja natürlich ... viele Grüße ...«

Besuche machen! Ist ja alles nur Vorwand, um Zeit zu gewinnen – –

Um halb eins hält eine Gepäckdroschke vor dem Straßeneingang der Kemperschen Villa. Das Hausmädchen und der Diener stehen schon unten, um die Koffer in Empfang zu nehmen.

Als Kurt Kemper aus dem Wagen steigt, streckt der Diener unwillkürlich die Hand aus, um ihm zu helfen. Es fällt Kemper kaum auf. Schwer stützt er sich auf den dargebotenen Arm. Und wie in unbewußtem Erinnern kommen ihm die bei seiner Rückkehr üblichen Worte über die Lippen: »Alles gesund? Alles in Ordnung?«

»Frau Doktor wartet schon im Speisezimmer. Darf ich dann gleich auftragen?« fragt Joseph.

»Ja, natürlich. Muß nachher sofort in die Fabrik.«

Die teppichbelegte Treppe, die in den ersten Stock führt, ist von frischen Blattpflanzen gesäumt. Die vertraute Atmosphäre seines Hauses umfängt ihn, strafft unwillkürlich seine Haltung. Gleich wird er Toni am Eßtisch gegenübersitzen, wird erst von gleichgültigen Dingen sprechen ... Nur ja nicht die Grippe vergessen und daß er sie nicht hatte erschrecken wollen durch Krankheitsberichte – –! Er wird sagen dürfen: Gib mir keinen Kuß, Toni ... ich könnte dich vielleicht noch anstecken ...

Auf der Schwelle des Eßzimmers steht Toni. Er bemerkt den entsetzten Ausdruck ihrer Augen nicht: was hat man aus ihrem Manne gemacht –? Diese schlaffen Züge ... blaßgrau und verquollen! – Die früher sorgfältig überkämmten silberigen Schläfenhaare stehen in struppigen Büscheln an! –

»Du warst krank ...?!« ruft sie ihm entgegen.

Er faßt das Rettungsseil:

»Ja ... Toni ... Grippe ... Aber es geht schon wieder. Mußte eben abwarten ... bis das Schlimmste vorüber war. Aber nun geht es wirklich.«

Unter dem Sprechen ist seine Stimme fester geworden, und nun findet er sogar ein Lächeln.

»Willst du erst in dein Zimmer?« fragt Toni.

»Nein ... Wir wollen lieber gleich essen.«

Toni wird von plötzlicher Angst erfaßt: was geschieht, wenn ihr Mann der Aufregung nicht gewachsen ist –? Nicht diesem Mann war die Überraschung zugedacht – dem kraftstrotzenden, lebensübermütigen, selbstsicheren anderen! ... Dem, den allein sie bisher gekannt! ...

Sie tritt rücklings ins Zimmer zurück, als könnte sie mit ihrem schmalen Körper den dritten Stuhl verbergen, mit den zwei aufeinandergelegten Kissen und dem kleinen Bengel, der still und abwartend, den Suppenlöffel in der Hand, auf ihnen thront.

»Was – ist – denn – das?«

Wie festgenagelt bleibt Kurt Kemper stehn. Starrt auf das Kind.

» Le patron! ... Oh lalà ... «

»Was soll das? ... Toni, so red' doch – was soll das??«

»Es soll dir nur ... zeigen ... für wen du jetzt ... zu schaffen hast ... Komm, Robertle – gib Vati die Hand.«

»Vati« – –! Und das ist keine Lüge! Es ist wirklich sein Kind – sein Junge! Für den er jetzt schaffen soll – wie Toni sagt –!

»Hast du Seife mitgebracht für Robby? ... Komm, ich will dir mein Zimmer zeigen! ... Komm, Mutti.«

– – Der Diener Joseph muß dreimal an die Tür des Kinderzimmers klopfen und die Herrschaften erinnern, daß die Suppe auf dem Tisch steht.

*

Wer Kurt Kemper sieht, glaubt es ohne weiteres, daß er die Grippe gehabt hat. Auffällig ist nur, daß niemand nach Fräulein Schorneder fragt. In großen Zügen gibt Prokurist Wagner einen Bericht über alles Vorgefallene, legt verschiedene wichtige Rechnungen vor – auch die über die Beerdigungskosten der Therese und das Grabkreuz.

»Welche Inschrift haben Sie gewählt, Wagner?«

»Ich habe bei Frau Doktor angefragt, und da meinte sie: Einfach nur den Namen, Therese Lambert, mit den Daten und die Worte Ruhe in Frieden.«

Kurt Kemper fürchtet seine Bewegung durch den Ton seiner Stimme zu verraten. So nickt er nur zustimmend und blättert weiter in den Papieren. Plötzlich lehnt er sich zurück und fragt:

»Sie wissen ja wohl, daß wir Familienzuwachs bekommen haben?«

»Ich dachte es mir, Herr Doktor. Ist ja auch ein allerliebstes Burschel. Alle werden sich freuen, wenn sie das erfahren. Und Sie werden es wohl nicht zu bereuen haben ...!«

»Sicherlich nicht, Wagner. Es steckt viel Gutes in dem Kind!«

Es tut Kurt wohl, den festen Druck von Wagners Hand zu spüren. Dieser Händedruck verwischt den Klang seiner eigenen Stimme, den er plötzlich im Ohr hat, da er vor einigen Tagen die Worte auf einen Zettel schrieb und vor sich hinsprach: Mögest Du Deinen Entschluß nie bereuen! ...

Nur nicht wieder mit den Gedanken an Gabriele hängen bleiben – das ist vorbei! Muß vorbei sein! ... Er sieht sich um in seinem neuen, noch nach Farbe riechenden Büro: prächtige, gediegene Möbel stehen darin. Gabriele selbst hatte sie nach dem Katalog einer Firma ausgesucht und zusammengestellt. Als er von den Kosten sprach damals, zuckte sie die Achseln und sagte: »Ich bitte dich ...« Auch das mußte jetzt »bezahlt und abgeschrieben« werden.

»Von jetzt an, lieber Wagner, heißt es sparen.«

»Aber sicher, Herr Doktor – man weiß doch auch, für wen!«

»Eben, das meine ich.«

Und sie sprechen weiter. Über die neuen Verkaufsmethoden, die Wagner für die Vertreter ausgearbeitet hatte, über Personalfragen, über einzelne Angestellte. Schirmer hatte wieder einen famosen Entwurf für eine neue Packung vorgelegt, der Verwalter hatte eine neue praktische Kontrolluhr vorgeschlagen.

»Vielleicht müßte man auch überlegen, Herr Doktor, ob man nicht jetzt einen Teil der Expeditionsräume herüber nach dem Verwalterhaus verlegen könnte. Sie reichen hier kaum noch aus.«

»Da sitzt ja aber noch der Mutzmann drin?«

»Schon, Herr Doktor. Aber die Frau wird ja doch nun bald in die Klinik müssen, und ob sie da noch herauskommt, ist ja mehr als fraglich. Dem Mutzmann ist es kaum zu wünschen«, fügt er hinzu.

»Also noch immer die alte Leier ...?«

»Schlimmer denn je! Sie ist ja wohl nicht mehr verantwortlich zu machen, aber – der Mutzmann kann einem leid tun: auf der einen Seite die Frau, auf der anderen die Geliebte, die auch nichts mehr von ihm wissen will.«

»So ...?! Nichts von ihm wissen will ...? – – Ja, mein lieber Wagner ... ich glaube, die ist auch hier die längste Zeit gewesen ...! ... Meine Schwägerin heiratet wohl bald nach England und wird Elise gewiß zu sich berufen.«

»Das wäre schon gut, Herr Doktor, 's hat sich hier in der Stadt ungeheuer viel Klatsch und Tratsch angesammelt. Da tut eine Generalreinigung not.«

Kurt Kemper fühlt, daß jedes Wort auch für ihn Geltung hat – nun heißt es, sich eine dicke Haut anschaffen und unbeirrt den neuen Weg gehen, der zum alten Ausgangspunkt führt.

Seine Blicke schweifen zum Fenster hinaus. Er sieht nicht mehr über den Hof, sieht nicht den Glasgang mehr und das Verwalterhaus mit den Fenstern von Thereses ehemaliger Wohnung ... Vor ihm breitet sich ein langes, flaches Gelände aus, in das der neue Maschinenraum und die Kantine spitz hineinragen. In einigem Abstand davon befinden sich die Garagen mit den darüberliegenden Wohnräumen für die Chauffeure, den Kantinenverwalter und den Nachtwächter. Ein Seitenweg führt durch ein großes Tor auf die Straße hinaus.

»Ich denke, Wagner, wir reißen später die Wendeltreppe zu meinem früheren Büro ein ... die zwei Eingänge, vom Hof und hinter dem Maschinenhaus, genügen. Aber, wie gesagt ... wir müssen langsam und sparsam vorgehen.«

»Wollen Sie den Altbau in seiner veränderten Form jetzt in Augenschein nehmen, Herr Doktor?«

Kurt Kemper will erst nein sagen, fürchtet, seinen wunden Nerven zuviel zuzumuten. Aber gleich darauf kommt es über ihn: nur fertig werden mit allem! Fertig! – Nicht wehleidig vor allem zurückschrecken ...

»Ja, Wagner ... Zeigen Sie mir, bitte, wie alles geworden ist.«

Und er läßt den Prokuristen vorangehen. Kurz vor dem alten Privatbüro schwenkt Wegner mit einem »Entschuldigen Sie, Herr Doktor, einen Augenblick. Ich ...« in einen Seitengang ab. Entschlossen drückt Kurt Kemper die Klinke seines ehemaligen Zimmers herab. Tritt ein.

Es ist jetzt hell getüncht. Nüchtern stehen kahle Tische im Viereck. Es ist der Probierraum. Auf den Wandregalen reihen sich kleine weiße Teller und Schalen, hängen Kellen, Löffel und langstielige Scherenzangen. Nichts erinnert mehr an den Raum, in dem sich so vieles aus Kempers Leben abgespielt – nur die Aussicht auf den Hof ist die gleiche geblieben. Und fast überwältigt ihn der Anblick des Glasganges und der herabgelassenen Rolläden vor Theresens Fenster.

Aber er hört Wagners Schritte und rafft alle Willenskraft zusammen: »Wenn wir die Wendeltreppe schleifen, müßte man einen kleinen Aufzug hier anbringen für die Probemuster.«

»Wollte ich schon vorschlagen, Herr Doktor.«

»Na, es gibt ja allerlei zu tun. Also auf Wiedersehn, Wagner ... ich gehe jetzt hier noch mal den kürzeren Weg über die Wendeltreppe.«

Kurt Kemper steigt langsam Stufe um Stufe hinunter. Wie mochte der armen kleinen Theres' wohl zumute gewesen sein, als sie das letztemal, von ihm weg, über die Stufen hinunterschritt –? Nicht denken – – nicht denken ...! Und sie durfte ja »in Frieden ruhn« – ihr Kind war bei seinem Vater.

Das Kind ... das Heute ... das Morgen – die Zukunft! Tapfere kleine Toni!! ...

Unten ist alles an der Arbeit. Der schwere Brodem der warmen Schokolademasse legt sich ihm auf die Zunge. Verdrängt den pappigen Geschmack all der Weingelage, den er noch nicht losgeworden. Mutzmann kommt ihm entgegen, mit offenem Hemdkragen und bis zu den Ellbogen aufgestülpten Ärmeln, die seine muskulösen, behaarten Unterarme freilassen.

»Na, Mutzmann, wie geht's?«

Kemper streckt ihm die Hand entgegen.

»Wie soll's gehn, Herr Doktor ... man ist froh, wenn man Arbeit bis über den Kopf hat ...!«

»Na ja, Mutzmann ... Nur nicht unterkriegen lassen. Und vor allem: die Frau muß jetzt in die Klinik.«

»Geht ja nicht, Herr Doktor! Sie will doch nicht! Partout nicht. Und mit Gewalt läßt sich da nichts machen ... die brüllt mir ja den ganzen Hof zusammen! ...«

Mutzmanns Hand liegt, zur Faust geballt, auf einem Maschinenteil. Liegt so krampfhaft darauf, daß Kurt Kemper das Zittern seines Armes sieht.

»Na, Mutzmann ... es ist ja noch nicht aller Tage Abend ... wird sich schon was finden lassen. Vielleicht redet auch meine Frau mal gut zu.«

Es scheint jetzt Kurt Kemper, als könnte Toni alles erreichen.

Mutzmann bringt ihn zum Ausgang. Die Arbeiterinnen grüßen, viele kennen den Chef noch nicht.

Sehr gerade aufgerichtet schreitet Kurt Kemper über den Hof. Hinter dem trüben Fenster der Mutzmannschen Wohnung sieht er in unscharfen Umrissen das hohlwangige Gesicht der Kranken, wie es sich an der Scheibe plattdrückt. Er zwingt sich zu einem Lächeln und grüßt mit der Hand. Ahnt nicht, daß das Fenster sich hinter ihm öffnet und die Frau ihm nachspuckt.

Auf dem ersten Absatz der Haustreppe steht Elise:

»Verzeihen Sie, Herr Doktor ... aber ich hätte so gern gewußt, ob Fräulein Schorneder keinen Auftrag für mich hat – –«

Er muß doch einmal schlucken, ehe er antworten kann:

»Soviel ich weiß, wird meine Schwägerin Ihnen ihre Weisungen brieflich geben. Sie sagte mir, sie geht zunächst nach England und löst ihren Haushalt dann hier auf.«

Elise, sonst so gefaßt und stets zurückhaltend, schreit fast auf:

»Nach England?! ... Ohne mich? – – Und ich soll hier ... hier ... Oder soll ich mit nach England? Kann mir Herr Doktor das nicht sagen? ...«

So verzweifelt ist ihr Ton, daß Kurt Kemper sie erschüttert ansieht.

»Ja, was ist Ihnen denn, Elis' ...? Und überhaupt – wie sehen Sie aus?«

»Ich will nicht hier bleiben, Herr Doktor! Ich kann nicht hier bleiben! ...«

Und dann bricht sie auf der Stufe zusammen, schluchzt in ihre Arme hinein: »Ich kann aber auch nicht mit nach England ... kann nicht mit ... so wie es jetzt mit mir steht.«

»Was denn, Elis' ...? Na, kommen Sie. Nehmen Sie sich zusammen. Ich bin ja selbst eben erst gekommen. Muß mir alles erst recht überlegen ... Aber das beste wäre schon, Sie würden langsam mit dem Kistenpacken beginnen, denn ich glaube ... meine Schwägerin hat die Absicht, zu heiraten ... Sie sprach von Lord Carwell ...«

Kerzengerade richtet sich Elise auf:

»Fräulein Schorneder Lord Carwell heiraten?? ... Das tut sie nie! Nie tut sie das! ... Nicht mal den Arm mochte sie ihm geben, wenn er sie in den Saal führen wollte ... Und da glauben Herr Doktor, Fräulein Schorneder wird ihn heiraten –?«

»Ich glaube gar nichts, Elis'. Aber wir müssen uns an die Worte meiner Schwägerin halten.«

Mit finsterem Groll murmelt Elise: »Nie hätte Fräulein Schorneder das getan, nie – wenn sie nicht hierher gekommen wäre ...!«

»Vielleicht ist alles Bestimmung, Elis'. Wissen wir denn überhaupt, was wir tun und was wir lassen werden.«

Es bringt ihm Elise fast nahe, daß sie so verzweifelt ist über Gabrielens Entschluß. Sie – die Gabriele so genau kennt! Ist es Selbstvernichtungstrieb, der Gabriele in die Arme dieses Engländers jagt? ... In die Arme – – es graut ihm bei der Vorstellung. Er hat sich in Berlin überall erkundigt nach diesem Lord Carwell: ein notorischer Säufer, niemals betrunken ... und niemals nüchtern. Ein Gentleman allerdings, von höchsten Ehrbegriffen. Freigebig und grausam, lüstern und impotent, maßlos im Spielen und Wetten. Das sollte nun Gabrielens Mann werden?! ... Und er, Kurt Kemper, sollte schuld daran sein!?

Er merkt es nicht, daß Elise sich an ihm vorbeigestohlen hat, und weiß es sich im ersten Augenblick nicht zu deuten, wieso Kinderlachen und Kindergeschwätz aus dem Wohnzimmer zu ihm herausschallen. Bis dann plötzlich das Robertle ihm entgegenläuft und jubelnd schreit: » Le patron! Le patron! Mutti, der patron ist da!«

Toni zupft ihn am Ohr: »Du sollst doch nicht!!«

»Laß ihn nur, den Jungen.«

Und Kurt Kemper hebt sein Kind auf den Arm. Wie ein ferner Nachklang aus frohen Zeiten ist ihm dieses: » Le patron.«

Auf dem Tisch steht eine Flasche Burgunder.

»Heute Robby mitessen ...«

»Nur heute, zum Wiedersehensfest, darf Burgunder auf dem Tisch stehen, Toni ... Das viele Weintrinken wollen wir uns abgewöhnen.«

Toni murmelt leise: »Ich bin ja so froh. Ich hatte ja solche Angst um dich ...«

Der Diener stellt die Bouillontassen auf die Teller und geht hinaus.

»Glaubst du nicht, Toni, daß wir jetzt gut ohne Diener auskommen könnten?«

»Das wollte ich dich gerade fragen, Kurt. Zudem glaube ich, daß Joseph nicht gut im Hause tut und vieles in die Gaststuben bringt, was unter uns bleiben sollte ...«

»Ich werde ihn gleich morgen verabschieden und ihm seine vierzehn Tage bezahlen. Vielleicht ist dir auch Elise inzwischen ein wenig behilflich.«

Toni schüttelt den Kopf:

»Elise – nein, ich möchte ihre Dienste jetzt nicht in Anspruch nehmen ... Mißversteh mich nicht, Kurt ... es ist nur ihres eigenen Zustandes wegen ...«

»Hat sie dir etwas anvertraut, Toni?«

»Sie mir nicht, nein ... aber die Gerüchte um sie herum werden immer lauter, und sie trägt ihr Schicksal mit einer so verzweifelten Auflehnung dagegen, daß ich ... manchmal das Ärgste befürchte.«

* * *


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