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Viertes Buch

Leben und Lieben

 

1. Daheim und unterwegs

Seit meiner Verlobung erschien Düsseldorf mir als eine andere Stadt, erschien aber auch die Welt mir als eine andere Welt. Hatte ich mich jahrelang darnach gesehnt, verstanden und verstehend zu zweien über die steinigen Höhen und durch die blühenden Täler des Lebens zu pilgern, so fand ich meine Sehnsucht jetzt mehr als erfüllt; und während des halben Jahres, das zwischen meiner Verlobung mit Ada Krumbügel und unserer Hochzeit verstrich, reifte das Gefühl, das uns vereinigte, zu dem Bewußtsein unauflöslicher Zusammengehörigkeit in Glück und in Leid. Ja, auch in Leid. Bald genug zog eine graue Wolke durch den Sonnenschein, der uns lachte.

Während unserer ersten Trennung geschah es. Ich war mit Professor Karl Müller, dem katholischen Heiligenmaler, als Vertreter der Düsseldorfer Kunstakademie zur Feier der Einweihung des neuen, prächtigen, von Theophil von Hansen errichteten Gebäudes der Akademie der bildenden Künste nach Wien entsandt worden. Nach den Wiener Festlichkeiten, bei denen ich, ohne etwas Besonderes dabei zu empfinden, zum ersten Male in meinem Leben einem Monarchen, dem guten alten Kaiser von Österreich, vorgestellt wurde, hielt ich mich zur Erholung einige Tage in Salzburg auf. Hier erhielt ich die Trauernachricht, daß der jüngere Bruder meiner Frau, ein hoffnungsvoller Jüngling, an dem ich einen Freund fürs Leben gefunden zu haben hoffte, in Köln plötzlich aus dem Leben geschieden sei.

»Weh! als ich heimkehrt', hoffnungstrunken,
Fand ich den Schmerzenkelch gefüllt:
Ich fand dich ganz in Gram versunken.
Ich fand dich tief in Schwarz gehüllt.

Doch hatt' in heitrer Tage Leben
Uns treue Liebe froh vereint,
Voll fühlten wir ihr heiliges Weben
Nun, da zusammen wir geweint.«

Still flossen die Monate bis zu unserer Hochzeit dahin, die am 7. August 1877 im Verwandtenkreise, in dem natürlich auch meine Eltern und einige meiner Geschwister aus Hamburg erschienen, in den schönen Räumen des Krumbügelschen Hauses in Düsseldorf ruhig und stimmungsvoll stattfand.

Auf der Hochzeitsreise kehrte voller Sonnenschein in unsere Herzen zurück. Sie führte uns über Kopenhagen, das ich schon als sechzehnjähriger Jüngling kennengelernt hatte, nach Schweden und Norwegen. In Kopenhagen wunderte ich mich über die Vertrauensseligkeit, mit der ich mich vor siebzehn Jahren für die Kunst Thorvaldsens begeistert hatte, die mir jetzt, da ich die echte Kunst der Griechen kennengelernt hatte, als kalte, leblose Kunst zweiter Hand erschien. In Schweden und Norwegen aber wollten wir nur der Natur und einander leben. In der heiteren Hafenstadt Gotenburg landeten wir. Den Göta-Elf hinauf fuhren wir bis zu den zwischen Fichten, Felsen und Sägemühlen schäumenden Wasserfällen von Trollhättan, glitten, von sauberem Dampfschiff getragen, glatt über den Wener- und den Wettersee, die großen hellgrünen Süßwasserseen Südschwedens, dahin, dampften in demselben großen Seeschiff durch ein Wunder des Menschenfleißes, wie auf einer Landstraße, auf schmalem Kanal hoch oben am Bergabhang entlang, um stufenweise von Schleuse zu Schleuse zum tieferen Wasserspiegel des Mälarsees hinabzusinken, über den wir Stockholm erreichten.

Wo der süße Mälarsee, der aus dem inneren Lande gespeist wird, sein Wasser in breitem Becken mit der salzigen Ostseebucht vereinigt, die hier tief ins Land schneidet, liegt eine Anzahl größerer und kleinerer Inseln nebeneinander. Die größte und mittelste dieser Inseln trägt den alten Kern der Stadt, der von ihrem klassizistischen Königsschlosse und ihren alten Kirchen überragt wird. Aber die Stadt hat sich über alle Nachbarinseln und schließlich nach Norden und Süden weit aufs Festland ausgedehnt. Am südlichen Ufer klimmt sie steile Felsenhöhen hinan; am nördlichen hat sie Raum, sich zu langen Prachtstraßen und großen Plätzen zu entfalten. Breite, stattliche Brücken sind von Insel zu Insel und von den Inseln zu den Ufern geschlagen, deren unterer Rand und deren steil abfallende höhere Strecken von Palästen und leuchtenden Häuserreihen umsäumt sind. Die ganze Stadt ist von klaren Wellen umspült, von breiten Wasserarmen durchzogen und von seeartigen Becken begrenzt. Stolze Seeschiffe liegen an verschiedenen Stellen vor Anker. Hübsche kleine Dampfschiffe sausen überall pfeilgeschwind von Ufer zu Ufer. Alles zeigt, daß Stockholm zugleich Handelsstadt und Residenzstadt ist, und sein Gesamtbild, von verschiedenen berühmten Aussichtspunkten, wie vor allem von den Höhen Södermalms gesehen, ist erstaunlich reich und bunt. Mit der Lage der schönsten Großstädte Europas, Neapels, Edinburgs und Konstantinopels, darf man die von Stockholm gleichwohl nicht vergleichen. Dazu sind ihre Bodenerhebungen zu gering, und dazu fehlt es dem Gesichtskreis an einem Sammelpunkte, wie ihn das geradlinige Schloß vielleicht darböte, wenn es eine große Kuppel trüge, wie das Berliner. Aber vergleichen läßt sich doch kein anderes Stadtbild dem von Stockholm; und unvergleichlich ist auch die Naturfrische, die den ganzen Umkreis der großen, nicht auf Pfählen, wie Amsterdam, Venedig und Petersburg, sondern auf Felsen erbauten Wasserstadt durchweht.

Von der Hauptstadt Schwedens zur Hauptstadt Norwegens trug uns die Eisenbahn. Von Christiania aber fuhren wir in jenen kleinen, zweiräderigen, offenen Wagen, die der Skydsverband stellt, quer durch das wilde Bergland zu der gewaltigen Westküste des Landes hinüber. Anfangs fuhren wir, jeder für sich, in den einsitzigen »Karriolen«, da uns dieses aber zu langweilig wurde, bald in den zweisitzigen, federlosen »Stolkjaerren«. Die Skydsjungen, die hintenauf hocken und das Pferd lenken, wurden uns fast immer vorenthalten. Von Bauernhof zu Bauernhof, die die Haltestellen bilden, wurden wir allein dahingeschickt. Unbequem genug saß sich's auf den harten, engen Karren, holprig genug fuhr sich's. Aber so zu zweien auf der Hochzeitsreise – konnte es Schöneres geben? Die Pferde kannten den Weg. Sie wußten, wo es auf einer Fähre, die man sich selbst heranholen mußte, über den Fluß ging. Sie kannten das Bauerngut, wo man speiste und übernachtete. Es waren goldene Tage.

Über spärlich bebaute Bergrücken und durch fruchtbarere Täler fuhren wir. Hier grüßten wir schroffe Schneegipfel, dort standen wir unter hohen, schäumenden Wasserfällen in grenzenlosen Felseneinöden. Manchmal glitten wir aber auch in schlanken Nachen über tief ins Land einschneidende, vielgewundene, von steilem Urgebirge gesäumte Fjorde, in deren dunkelgrüner Salzflut sich blaue, kataraktartig hinabstürzende Gletscher spiegelten. Durch Thelemarken zum Hardangerfjord! Wie einsam der senkrecht von hoher Felswand herabtosende, in Wasserstaub wieder empordampfende Rjukanwasserfall! Von Odde nach Eide: wie gewaltig der glatt herabstürzende Vöringfoß! Wie leuchtend der breite Gletscher des Buarbrae! Von Eide nach Laerdalsören am Sognefjord! Wie köstlich die Dampfschiffahrt auf der langgestreckten, kühn und schroff umrissenen Felsenbucht nach Bergen, der grünenden, vom Golfstrom warm geküßten nordischen Hafenstadt! Wie frisch bewegt die Heimkehr über das Tiefendunkel des Ozeans und die smaragden leuchtenden Wasserpfade der Nordsee!

In Hamburg war es noch voller Spätsommer. Oben am hohen Elbufer prangten mein elterlicher und mein großelterlicher Garten noch in voller Laub- und Blütenpracht. Wie freute ich mich, meine junge Frau meiner geliebten alten Großmutter zuzuführen. Am Tage unserer Ankunft war die ganze, übermächtig anwachsende Woermann-Webersche Familie zu ihrer regelmäßigen gemeinsamen Wochenmahlzeit in meinem großelterlichen Hause versammelt. Es bedurfte der ganzen Gewandtheit und Herzensgüte meiner jungen Frau, sich in die zahlreiche neue Verwandtschaft einzufühlen, die es ihrerseits an freundlichem Entgegenkommen nicht fehlen ließ.

Sonnige Wochen verlebten wir in meinem elterlichen Landhause. Dann kehrten wir nach Düsseldorf zurück, wo ein schön eingerichtetes Heim unser wartete. O, die köstlichen ersten Monde am eigenen heimischen Herde! Wie gehoben ging ich meinen Berufspflichten nach! Wie verklärt saß ich abends, Eigenes und Fremdes mit ihr lesend und besprechend, bei der geliebten Frau! Die Monde schwanden wie im Traume dahin. Das neue Jahr aber brachte uns neue Trauer. Im Februar 1878 starb mein Schwiegervater; und sein Tod griff tief in unser Düsseldorfer Leben ein. Die geräuschvolle Geselligkeit, an der wir teilgenommen hatten, machte stillem Schreibtischglücke Platz.

Nachdem meine »Antiken Odysseelandschaften«, meine »Landschaft in der Kunst der alten Völker«, meine »Antike Malerei« in Woltmanns großer Geschichte der Malerei und meine Elegien und Oden »Neapel« erschienen waren, war die erste Periode meines eigenen Schaffens zum Abschluß gelangt. Ich mußte wissen, wohinaus ich weiter wollte. Da mir eine möglichst organische Weiterentwickelung im Blute lag, war es beinahe selbstverständlich, daß ich zunächst die Gesamtgeschichte der Landschaftsmalerei ins Auge faßte. Als Vorarbeit dazu mußte ich im Sinne unserer damaligen Wissenschaft sämtliche erreichbare neuere Landschaftsgemälde vom Mittelalter bis zur Gegenwart kennenlernen, verzeichnen und vergleichen. Natürlich hatte ich ihnen schon auf meinen bisherigen Studienreisen eine wißbegierig teilnehmende, neben meinen damaligen Hauptaufgaben aber doch erst halb verstohlene Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt galt es, sie in den Vordergrund meines Blickfeldes zu rücken.

In den nicht allzu fernen, in Ferienreisen erreichbaren Kunststädten Nord- und Mitteldeutschlands und den benachbarten Niederlanden begann ich meine neuen Untersuchungen seit dem Frühling 1878; und diese Fahrten, auf denen die natürlichen Landschaftsbilder mit nicht minder offenen Augen angesehen wurden als die gemalten, gestalteten sich doppelt genußreich, da meine Frau mich auf ihnen zu begleiten pflegte. Auch Dresden sah meine Frau damals an meiner Seite zum erstenmal. Es kam mir damals nicht in den Sinn, daß ich jemals nach Dresden berufen werden könne; aber ich hatte doch solche Vorliebe für die schöne Stadt im breiten Elbtal, daß ich daran dachte, mich »später einmal« in sie zurückzuziehen. Davon wollte meine Frau aber nichts wissen. Zwei ausgezeichnete Dresdener Kunstgelehrte, Hermann Hettner und Wilhelm Roßmann, beide aufrichtig von mir verehrt, denen wir uns freundschaftlich näherten, standen einander so feindselig gegenüber, daß sie sich nicht begegnen durften und uns dies bei Verabredungen mit ihnen unumwunden zu verstehen gaben. Sachse oder gar Dresdener war keiner der beiden; aber meine Frau gewann durch diesen Zwiespalt einen so unangenehmen Eindruck von dem sonst so friedlichen, an Natur und Kunst so reichen »Elbflorenz«, daß sie mir den Gedanken, jemals freiwillig nach Dresden zu ziehen, völlig auszureden suchte.

Die Pfingstferien dieses Jahres benutzte ich, mich in der eigentlichen Urheimat der neueren Landschaftsmalerei, im oberen Maastal, umzusehen. Ist dieses Maastal, das der alte Karel van Mander deshalb den Talern des Arno und des Po an die Seite setzt, doch nicht nur die Wiege der gesamten, in den Vollbesitz ihrer Kraft gekommenen nordischen Malerei, sondern auch die Geburtsstätte aller neueren Landschaftsmalerei als selbständiger Kunst. Stromabwärts von Lüttich liegt Maaseyck, das schlichte flämische Städtchen, dem ein Marmordenkmal verkündet, daß in seinen Mauern die beiden großen Maler Hubert und Jan van Eyck geboren sind, deren Licht uns noch heute leuchtet. Stromaufwärts aber liegen Dinant und Bouvignes einander schräg gegenüber, die Geburtsstädte Joachim Patinirs und Henri Bles', der beiden Maler, die früher als andere seit der alten Römerzeit wirkliche Landschaften gemalt haben. Bezeichnet doch auch unser Dürer den alten Patinir, den er 1521 in Antwerpen besuchte, als den »guten Landschaftsmaler«; und taucht damit doch wie der Begriff so auch das Wort der Landschaftsmalerei zum erstenmal in unserer Sprache auf. Man muß die Heimat dieser Meister durchstreifen, wenn man ihre Landschaften verstehen will. Die schroff übereinandergetürmten grauen Steinmassen und die vereinzelten Felsnadeln, die über dem reichbebauten grünen Flußtale und über waldigen Schluchten emporragen, geben noch heute der Gegend ihr halb phantastisch-romantisches, halb anmutig freundliches Ansehen, ihre Fülle von Einzelheiten und ihren etwas unruhigen Gesamtcharakter, kurz, alle jene Eigenschaften, die die Landschaftsgemälde Patinirs und Bles' widerspiegeln.

 

Im Laufe des Sommers aber wurde mir klar, daß ich die kunstgeschichtliche Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, nicht lösen könne, ohne nochmals alle Kunstsammlungen Europas zu besuchen, von denen die zu Madrid und zu Petersburg, die ich noch nie gesehen hatte, zu den wichtigsten der ganzen Welt gehörten. Anfangs zweifelte ich an der Möglichkeit, eine solche Reise, die mich nicht von meiner jungen Frau trennen durfte, durchsetzen zu können. Bald aber zeigte sich auch hier, daß sich, als der Wille feststand, auch der Weg dazu fand. Mein Vater brauchte nicht lange gebeten zu werden, die Mittel zu der Reise zu zweien zu bewilligen; und der preußische Kultusminister genehmigte nicht nur den Urlaub für ein ganzes Jahr, sondern auch den Fortbezug meines Gehalts während meiner Abwesenheit und setzte eine besondere Vergütung für meine Vertretung während dieses Jahres aus, die der alte Professor Andreas Müller gern übernahm. Zugleich erhielt ich durch das Kultusministerium eine Empfehlung unseres großen Reichskanzlers an alle deutsche Gesandtschaften Europas, die meine Reisezwecke in jeder Beziehung förderten und mir meine Aufgaben überall aufs liebenswürdigste erleichterten. Zu dem Jahresurlaub kamen die zwei Monate der großen Herbstferien hinzu. Uns standen also vierzehn Monate zur Verfügung. Es war die längste Reise, die ich je gemacht habe, aber auch die inhaltsreichste und, da ich sie an der Seite der geliebtesten und verständnisvollsten Frau machen durfte, auch weitaus die schönste aller meiner großen Pilgerfahrten auf der Oberfläche des Erdballs.

Unsere Reise begann in Belgien und in Holland. Über Dänemark und Schweden, in deren Hauptstädten wir dieses Mal die im vorigen Jahre vernachlässigten Gemäldestudien gründlich nachholten, ging es nach Finnland; von Helsingfors fuhren wir zu Wasser nach Petersburg, der von der mächtigen grünen Newa durchströmten Pfahlbaustadt, von deren glänzenden Palästen uns namentlich die Ermitage mit ihrer einzigen Fülle von Kunstschätzen aller Zeiten festhielt. Dann Moskau mit seinem krausen Kreml und seinen ragenden Kathedralen, seinen kunstreichen Palästen und seinen Wogen farbiger Kirchenkuppeln; nach Moskau aber Kiew mit seinen mittelalterlichen Katakomben und seiner altrussisch-byzantinischen, durch Goldgrundmosaiken und uralte Freskenreste ausgezeichneten Sophienkathedrale. Von Odessa übers Schwarze Meer zum breiten, malerischen Salzstrom des ewig jungen Bosporus: Byzanz-Konstantinopel, die meerumspülte Hügelstadt unter dem Halbmond! Die Hagia Sophia und alle die übrigen spätgriechischen Kirchen und türkischen Moscheen mit ihren neben vornehmen Flachkuppeln schlank gen Himmel strebenden Minareten! Durch die Dardanellen und das griechische Inselmeer nach Hellas, dem hellen, dem heiligen, mit seiner groß zugeschnittenen und plastisch umrissenen Berg- und Buchtenlandschaft, mit allen seinen meinem Herzen so teuren Marmortempeln und Bildwerken! Großgriechenland in Sizilien und Unteritalien! Neapel, Rom, Florenz, Bologna, Venedig, Mailand, Genua und die dazwischen liegenden kleineren Städte, von denen jede eine fest umschriebene, ihrer Natur gemäße Kunst für sich hat! Mir alles alte teure Bekannte, die mir jetzt, mit vier Augen gesehen, in neuem, klarem Lichte entgegenstrahlten! Über die Riviera und den Süden Frankreichs nach Spanien! Welche Fülle des Neuen, des Großen, des voll und des leidenschaftlich Schönen, das uns am Manzanares, am Tajo und am Guadalquivir, unter der Sierra Guadarrama, der Sierra Morena und der mit Schneekronen geschmückten Sierra Nevada grüßte! Über San Sebastian und Biarritz nach Frankreich! Im Zickzack durch Frankreich und England bis hinauf zu den kahlen Felsenriesen der Insel Skye im Nordwesten Schottlands! Von Edinburg, der schönen Königin und der Dienerin zu ihren Füßen, der Hafenstadt Leith, über die grünen Wellen der heimatlichen Nordsee zurück nach Hamburg!

Aus der Fülle das Belangreichste auszuwählen, ist nicht leicht. Nur einige Stichproben kann ich an dieser Stelle aus meinen damals gedruckten Reisetagebüchern wiederholen.

 

Blankenberghe, den 7. August 1878.

»Gestern abend saßen wir noch unter den hohen Ulmen der Sommerseite des Düsseldorfer Malkastengartens. Das leise Rauschen in den breiten Laubwipfeln und das melancholische Plätschern des kleinen Wasserfalls, den die Düssel zwischen mächtigen Huflattichblättern in der Nähe bildet, wurde von fröhlichem Gläserklange an festlich erleuchteten Tischen übertönt. Der »Malkasten« feierte gerade sein dreißigstes Stiftungsfest. Rede folgte auf Rede. Schließlich gedachte Professor Camphausen, der Königsmaler, auch unser, der Scheidenden, mit freundlichen Worten. Dankbar nahmen wir den Abschiedsgruß der Künstler als gute Vorbedeutung mit auf den Weg.

»Heute abend sitzen wir am Strande des weich und sommerlich murmelnden Meeres, des lieben alten, immer gleichen und immer verschiedenen Meeres. Neugierig forschend blicken wir ihm heute ins dunkle Rätselauge; denn seine Wellen bespülen alle Länder, die wir besuchen wollen; an sein Gestade wird unser Weg uns immer wieder zurückführen; seinen Fluten werden wir uns mehr als einmal anvertrauen müssen. Wird es uns grollen, wird es uns züchtigen, oder wird es uns immer schmeicheln wie heute? Als Antwort erzählt es uns funkelnd ein Märchen. Ein Meerleuchten, das ich nie so schön gesehen zu haben meine, flimmerte zu unseren Füßen. Um es bei dem stillen Wetter noch mehr zu erregen, holten die Leute sich Sand vom Strande und streuten ihn ins Wasser. Säcke voll streuten sie hinein; und rings in Kreisen flammte es magisch blitzblau auf und glitzerte in Milliarden leuchtender Funken. Das ist kein Bild für den Maler, aber für den Dichter.

Armes Herz, hör' auf zu klagen!
Leuchtet selbst des Meeres Schoß,
Mag es plötzlich einmal tagen
Auch im dunklen Menschenlos.

Wart' nur ab die warme Stunde,
Da der Geist zum Geiste spricht,
Und aus nächtlich finstrem Grunde
Strahlt ein ungeahntes Licht.«

 

Gent, den 9. August 1878.

»Die Kapelle im Chorumgang des Heiligen Bavo zu Gent, die wir heute wiedergesehen haben, bedeutet für die nordische Kunst dasselbe, was die Brancaccikapelle in Florenz mit ihren Wandgemälden des Masaccio für die südliche Kunst ist. Dort im Süden wie hier im Norden fielen der Malerei zum ersten Male die Schuppen von den Augen, so daß sie sich ihrer eigensten in ihr schlummernden Kräfte bewußt wurde, daß sie lernte, ein Stück der Außenwelt mit Luft und Licht und mit dem ganzen vertieften Raume der Landschaft oder der Gebäude zugleich auf die Fläche zu bannen. Wenn eine Zeit für gewisse Entdeckungen reif ist, werden sie oft in verschiedenen Orten zugleich gemacht. Masaccio und Hubert und Jan van Eyck haben schwerlich voneinander gewußt. Masaccios Fresken in der Brancaccikapelle sind unzweifelhaft auch etwas älter als das große Altarwerk der Brüder van Eyck in Gent. Aber wie ganz verschieden bei aller Gleichheit des Strebens fassen der italienische und die nordischen Meister ihre Aufgabe an! Der Italiener hat mehr das Ganze, der Niederländer hat mehr das Einzelne im Auge. Aber welche Fülle herrlicher, alle Einzelheiten verschmelzender Leuchtkraft der Farben hat der nordische Meister mit dem Öl vor seinem italienischen Zeitgenossen voraus! Über die Bedeutung des Genter Altarwerks für die Kunstgeschichte ließe sich ein Buch schreiben; und die Hälfte dieses Buches käme der Bedeutung dieses Bildes für die Landschaftsmalerei zugute.«

 

Brüssel, den 12. August 1878.

»Manche Städte nennen sich ein Klein-Paris; keine Stadt könnte sich diesen Namen mit solchem Rechte zulegen wie Brüssel. Ob aber Brüssel stolz darauf sein darf, ist die Frage. Stimmen genug werden selbst hier laut, die die Verwelschung des städtischen Charakters der alten Hauptstadt von Brabant beklagen. Sogar die ›Indépendance belge‹ brachte dieser Tage einen in diesem Sinne gehaltenen Aufsatz; und das flämische Blatt ›de Stad Brussel‹ jubelte ihrer französisch geschriebenen Schwester Beifall zu. Es sei lächerlich, sagt das Blatt, aus Brüssel ein Klein-Paris machen zu wollen. Die Fremden würden dann viel lieber das große Paris an der Seine als das kleine Paris an der Senne besuchen. Man müsse vielmehr mit allen Kräften darnach streben, der Stadt ihren flämischen Charakter zu erhalten. ›De verpaapsching en verfransching‹ fügte es hinzu, seien ›de twee geesels van Vlanderen‹. Zieht es doch auch mich trotz des prachtvollen Stadtparks und der an ihn grenzenden Paläste der Oberstadt und trotz der glänzenden Pariser Straßen, die die Unterstadt umringen und durchziehen, stets am mächtigsten nach dem alten Marktplatz mit dem prächtigen gotischen Rathaus und dem Kranze reicher nordischer Giebelfassaden der Gildenhäuser des 16. Jahrhunderts. Einleuchtend war mir auch der Spott, mit dem ›de Stad Brussel‹ gestern abend die Lächerlichkeit an den Pranger stellte, den flämischen Kindern Deutsch und Englisch mittels der französischen Sprache beizubringen, obgleich sie es mittels ihrer Muttersprache noch einmal so leicht haben könnten.

»Kleine Erlebnisse taten das ihre dazu, mir die tatsächliche Stellung der beiden Sprachen zueinander im Brüsseler Volksleben zu vergegenwärtigen.

»In einem Café hörte ich einer ehrbaren Brüsseler Bürgerfamilie zu, die ihre Unterhaltung ganz in flämischer Sprache führte, aber, sobald sie merkte, daß ich ihr zuhörte, ins Französische fiel.

»Auf der Pferdebahn war ich Zeuge, wie der Schaffner, ein feuriger Wallone, sich mit einer anständig gekleideten, flämisch redenden Familie, die von einem Nachbardorfe zur Stadt gekommen zu sein schien, in keiner Weise verständigen konnte und sich schließlich mit der Bitte an die Mitfahrenden wandte, ob nicht jemand den Dolmetscher spielen könnte.

»In dem gastfreien Hause des bekannten Kunstschriftstellers Charles Ruelens, der als Direktor der Bibliothek der Herzöge von Burgund mir in dieser die Durchsicht der alten Bilderhandschriften auf das liebenswürdigste erleichterte, fiel mir auf, daß die Familie sich in der Regel französisch unterhielt, jeder aber mit dem zweijährigen Enkelkinde des Herrn Ruelens flämisch sprach. Auch in hochgebildeten Brüsseler Familien lernen die Kinder also noch eher Flämisch als Französisch.

»Als Herr Ruelens sah, daß ich mich für das Verhältnis des französischen Elementes in Belgien zum germanischen interessierte, führte er mich dem flämischen Dichter Ed. Hiel zu, von dem ich gerade tags zuvor ein schwungvolles vaterländisches Gedicht in jenem flämischen Blatte gelesen hatte. Herr Hiel schenkte mir seine hübschen Gedichte, die jeder Holsteiner, Mecklenburger und Hamburger verstehen wird, ohne die flämische Sprache studiert zu haben. Wir sprachen über die ›Dietsche Beweging‹, die eine geistige und sprachliche Vereinigung aller niederdeutsch redenden Stämme von der Ostsee bis zum Ärmelkanal anstrebt. Herr Hiel gehört zu den begeisterten Anhängern dieser Bewegung, als deren Führer er mir Herrn Dr. Hansen in Antwerpen bezeichnete. Die Mehrzahl der Gebildeten sieht die Französierung Brüssels aber freilich als vollendete Tatsache an, an der nichts mehr zu ändern ist.«

 

Brüssel, den 15. August 1878.

»Heute habe ich die Brüsseler Kirchen nach raumschmückenden Landschaften durchsucht und manches gefunden. Seit dem 17. Jahrhundert wurde es in Belgien Mode, die Kirchen mit ganzen Folgen großer Landschaftsgemälde zu schmücken, deren Ausstattung mit biblischen Vorgängen oft sehr untergeordnet ist, manchmal aber auch von berühmten Geschichtsmalern ausgeführt wurde. Diese kirchliche Landschaftsmalerei war eine Besonderheit der flämischen Kunst, die man in Brüssel, Antwerpen, Brügge, Mecheln und Lüttich verfolgen kann. Sie verdient eine eingehendere und zusammenhängendere Betrachtung, als ihr bisher zuteil geworden ist. Die bekanntesten Namen der flämischen Landschaftsschule, wie Lukas Achtschelling, Jacques d'Arthois, Cornelis Huysmans, sind auch auf diesem Gebiete tonangebend. Viele der großen Landschaften dieser Meister, die jetzt in den Museen zerstreut sind, sind nachweislich für Kirchen gemalt gewesen; und schon einer der älteren flämischen Landschafter, Paul Brill, hatte die Gattung nach Rom verpflanzt. Paul Brill selbst malte Landschaften in der Kirche der heiligen Cäcilie zu Rom; die schönsten kirchlichen Landschaften, die es gibt, aber malte dann Gaspard Dughet, ebenda in der Kirche San Martino ai Monti. Ich freute mich, auch hier in Brüssel Proben dieser kirchlichen Landschaftsmalerei zu finden. Lukas Achtschellings meiste Galeriebilder werden erst verständlich, wenn wir bedenken, daß sie ursprünglich Bestandteile eines malerischen Wandschmuckes gewesen sind.«

 

Antwerpen, den 19. August 1878.

»Antwerpen feiert gerade seine Groote Kermeß. Überall Glockengeläute, überall festliche Beleuchtung, überall jubelndes Menschengewoge. An unseren Fenstern vorüber zog gestern abend ein Fackelzug, den Soldaten bildeten. Das Fußvolk trug die Fackeln. Die Reiterei trug bunte Papierlaternen. Es waren keine als Soldaten verkleidete Bürger, sondern wirkliche Soldaten. Rote und grüne bengalische Flammen erhöhten die Wirkung des phantastischen Aufzugs.

»Eine ungeheure Menschenmenge wogte heute den ganzen Tag auch in den breiten sieben Schiffen der gewaltigen gotischen Kathedrale. Rote, goldgestickte Banner und Fahnen wallten feierlich von den Galerien herab. Die Kerzen funkelten, die Priester sangen. Die Orgel tönte. Der Weihrauch duftete. Zur Feier des Tages waren die Flügel der beiden großen Hauptwerke des Rubens, der ›Aufrichtung des Kreuzes‹ und der ›Abnahme vom Kreuze‹, den ganzen Tag über geöffnet. Tief ergriffen und andächtig stand auch ich inmitten der andächtigen, summenden Menge. Mir war die Kunstoffenbarung, die Irdisches und Überirdisches unwiderstehlich verschmilzt, so heilig wie ihnen das geoffenbarte Mysterium. Es war eine feierliche Stunde, die ich nie vergessen werde. Doch bildete die Prachtentfaltung der Kirche keinen günstigen Hintergrund für die Bilder; und gar die große Himmelfahrt Mariä des Meisters auf dem Hochaltar sah matt und farbenblaß gegen all den Lichterglanz und Purpurflitter aus.«

 

Antwerpen, den 26. August 1878.

»Die Nachmittagsstunden verbrachten wir heute in der Kathedrale, die wieder ihr Alltagsgewand angelegt hatte. Nachmittags ist das große Gotteshaus in ein Rubens-Museum verwandelt. Die heiligen Gerätschaften werden entfernt oder verdeckt. Die großen Flügelbilder werden geöffnet. Am Eingang wird ein Eintrittsgeld erhoben. Zahlreiche Maler sitzen drinnen an ihren Staffeleien, teils um die Kirchenarchitektur zu malen, teils um die großen alten Gemälde zu kopieren. Wie ganz anders konnte ich heute die Himmelfahrt Mariä, die große Kreuzesaufrichtung und die gewaltige Kreuzesabnahme würdigen als neulich, da der üppige Glanz des Kirmesprunkes auf die Riesenbilder drückte! Nie und nirgends habe ich die überwältigende Größe des Malerfürsten so empfunden, wie heute hier vor der Abnahme Christi vom Kreuz und vor den Flügelbildern dieses Gemäldes, von denen mir die Darstellung im Tempel in diesem Augenblicke das vollendetste Gemälde zu sein schien, das ich je gesehen: so klar und fest in der Anordnung, so rein und groß in den Charakteren, so tief und geistvoll in der Farbe, so gediegen und gefühlt in der malerischen Pinselführung! So sorgfältig hat Rubens später vielleicht nie wieder gemalt. Hier ist noch kein Schatten jener Manier vorhanden, die in den schnell hingestrichenen Altersbildern des allzuvielbeschäftigten Meisters, als sein Atelier zur Fabrik geworden war und er seinen Schülern in der Regel die ganze Ausführung überließ, oft genug die reine Größe des Eindrucks beeinträchtigt. Hier ist noch alles echt und weihevoll.«

 

Rotterdam, den 29. August 1878.

»Heute sind wir zu Wasser von Antwerpen nach Rotterdam gefahren. Antwerpen, von seinem Strome aus gesehen, ist ein Prachtbild besonderer Art. Daß die erste Kunststadt Belgiens zugleich seine erste Handels- und Hafenstadt ist, verleiht ihr ein gutes Stück ihrer eigenartigen Anziehungskraft. Auch der Kunstfreund, dessen Tagewerk ihn in den Kirchen und Museen festgehalten hat, wird in der Erinnerung an Antwerpen stets die schlanke, hohe, zierlich im Eigenstil gekrönte Turmpyramide seiner Kathedrale über den tausend Masten der breiten, graugelben Schelde ragen sehen und das lustige Glockenspiel bei jedem Stundenschlag von der luftigen Höhe herabtönen hören.

»Auf dieser Dampfschiffahrt lernten wir die niederländische Küste an ihrer merkwürdigsten Stelle kennen. Seit Jahrtausenden hat von der einen Seite das Meer die flachen Küsten zerpeitscht und zernagt, haben von der anderen Seite die Schelde, die Maas und der Rhein, in viele Arme zerspalten, ihre mächtigen Fluten dem Meere entgegengeworfen. Der Kampf zwischen der See und den Strömen hat meilenweite Länderstrecken zerwühlt und zerrissen, und in seinem steten Hin- und Herwogen hat er die Küste fortwährendem Wechsel unterworfen. Bald hier, bald dort sind Sandbänke aufgetaucht und wieder verschwunden. Bald hier, bald dort hat sich eine grüne Insel gebildet und ist wieder fortgeschwemmt worden. Bald hier, bald dort hat dieser oder jener Arm der Flüsse seinen Weg zum Meere gefunden. Da warf sich – schon sind es viele Jahrhunderte her – ein kühnes Geschlecht blonder Recken keck zum Schiedsrichter zwischen der See und den Strömen auf, setzte dem Meere durch ungeheure Deiche seine festen Grenzen, die es freilich in seinem Zorne oft genug durchbrochen hat, wies den Strömen durch Kanäle und Dämme ihre Bahnen an, über die sie freilich in ihrer Wildheit oft genug herausgetreten sind, und beanspruchte alles streitige Land für sich. Viele tausend Menschenleben sind in diesem Kampfe zugrunde gegangen. Nicht nur das Volk, der Boden selbst hat hier eine dramatische Vergangenheit. Schließlich aber ist der Mensch Sieger geblieben. An manchen Orten rollen die Ströme und branden die Meereswogen hinter ihren Dämmen hoch über den Dächern der Häuser, und Blumen blühen und Korn reift, wo früher nur Algen und Seetang auf tiefem Meeresgrunde schwankten.«

 

Amsterdam, den 9. September 1878.

»Ist Antwerpen die Stadt Rubens', so ist Amsterdam die Stadt Rembrandts. Freilich ist in Amsterdam nur ein kleiner Teil der Bilder des holländischen Großmeisters erhalten. Aber er tritt uns in seinen ›Schützen- und Regentenstücken‹, jenen großen Bildnisgruppen, die die eigentlichen Historienbilder der holländischen Malerei sind, in der ›Nachtwache‹ und den ›Staalmesters‹ des Amsterdamer Museums in seiner ganzen Größe und Eigenart so fesselnd entgegen wie nur in wenig anderen Schöpfungen seiner Hand. Schon wegen dieser beiden, unmittelbar aus dem Amsterdamer Leben geschöpften Bilder, denen die ebenfalls in Amsterdam gemalte Anatomievorlesung des Professors Tulp im Haag noch vorausging, bleibt Amsterdam, in dem er den größten und reifsten Teil seines Lebens verbracht hat, nach wie vor die eigentliche Stadt Rembrandts. Lehrreich fanden wir vor allem das kleine Zimmer der Nachtwache im ›Trippenhuis‹, aus dem die Bilder erst nach Vollendung des geplanten großen Neubaues des Reichsmuseums in würdigere Räume übersiedeln werden.

»Der Nachtwache gegenüber hängt in diesem Zimmer die berühmte Schützenmahlzeit Bartholomäus van der Helsts, der in noch höherem Grade vielleicht als der allseitige Rembrandt der eigentliche Vertreter der Amsterdamer Bildnismalerei des 17. Jahrhunderts ist. Van der Helst ist sogar noch ausschließlicher Bildnismaler als der große Frans Hals in Haarlem, vor dessen gewaltigen und doch so frisch-fröhlichen Schützen- und Regentenstücken wir gestern in Haarlem begeistert gestanden haben. Ein Menschenalter jünger als Frans Hals und auch noch sechs Jahre jünger als Rembrandt, wetteifert van der Helst in ruhiger, klarer, aber geistig erfaßter ›Ähnlichkeit‹ seiner Bildnisse mit denen seines flämischen Zeitgenossen van Dyck. Seine Auffassung der dargestellten Persönlichkeit ist viel ›objektiver‹ als die Rembrandts; seine Malweise ist weicher, zahmer, verschmolzener als die Frans Hals'. Es ist daher kein Wunder, daß er der Lieblingsmaler des Amsterdamer ›Publikums‹ wurde, ja, daß es ihm gelang, als Bildnismaler selbst Rembrandt zu verdrängen.

»Beide Bilder sind große Schützenstücke. Van der Helst hat seine Schützen bei der Mahlzeit, Rembrandt hat die seinen bei ihrem Auszug aus dem Gildenhause dargestellt. Van der Helst läßt jedem der fünfundzwanzig Männer, die er darstellt, sein volles Recht. Alle treten in gleich hellem Lichte gleich klar hervor; alle tragen ihre eigene Persönlichkeit zur Schau. Rembrandt dagegen hat seinen Schützenauszug in ein so geheimnisvolles Helldunkel gehüllt, daß der Volksglaube daran festhält, das Bild sei ein Nachtstück mit Fackellicht, obgleich es helles Tageslicht darstellt. Geheimnisvoll und festlich hat er ihn behandelt, als sei es ein Zug von Magiern aus dem Morgenlande, die zur Anbetung des fleischgewordenen Mysteriums ziehen. Als Rembrandt seinen Anatomie-Unterricht malte, war er, im Vergleich zu seiner späteren Zeit, noch ganz Realist. Der Rembrandt der Nachtwache stellt überirdische Gesichte dar; und Visionär in diesem Sinne ist er in allen Bildern, in denen er seine eigenste Eigenheit entwickelt zeigt. In der Komposition und in der Farbengebung ist Rembrandt immer Idealist. Er ist in seiner Sphäre ein ebenso subjektiver Idealist wie Michelangelo in der seinen. Wie Michelangelo packt er uns daher mit mächtigerer Magie als die Meister, die uns die Dinge so zu zeigen meinen, wie sie sind. Himmel und Hölle kennen wir nicht. Zwischen Himmel und Erde aber ist das Gewaltigste, was es gibt, ein gewaltiger Menschengeist. Indem ein solcher Geist uns die Welt zeigt, wie er sie sich neu schafft, erhebt er uns über uns selbst.«

 

Åbo, den 27. September 1879.

»Nun liegt Stockholm wieder hinter uns. Auch seine Sammlungen haben uns neue Ausblicke eröffnet. Den Sammlungen Petersburgs fahren wir zur See über Finnland entgegen.

»Wir hatten eine allerliebste kleine Kajüte an Bord des schmucken Dampfers ›Konstantin‹ für uns allein und schliefen, von sanften Wogen gewiegt, bis die Sonne sich vor uns über dem Inselmeere der finnischen Küste erhob. Wer hat sie gezählt, die Klippen und Schären, die Inseln und Inselchen, wie sie in allen Größen vom schlichten Blocke, den die Jahrtausende rund gespült haben, bis zur großen Insel, die des Ansiedlers zu harren scheint, eine nach der anderen vor uns aus den Wellen auftauchen, um hinter uns wieder hinabzusinken? Blauen Buchten gleich glänzen die Wasserarme zwischen den felsigen Küsten, an denen die Wellen, vom frischen Morgenwinde gepeitscht, schäumend und blendendweiß emporbranden. Überall sieht man den nackten roten Granit, das prächtige finnische Urgestein, die wallende Meerflut durchbrechen. Auf etwas größeren Flächen ragen Fichten, Kiefern und Birken zwischen dem Gestein empor. Manchmal wurzelt eine einsame, pinienartig ausgebildete Kiefer allein in der Spalte eines vereinsamten Granitblockes, und der weiße Schaumgischt züngelt nach ihren Wurzeln. Die größeren Inseln aber sind mit dichteren Waldungen bewachsen. Ich mußte des ostindischen Archipels gedenken, durch den ich vor Jahren gefahren. Dort aber wuchsen hohe, üppige, lianenumschlungene Laubbäume, wuchsen Palmen und Bananen und grünten kleine Haine und undurchdringliche Gebüsche von bezaubernder Pracht, wo hier, ernst und dunkel, aber fein und zierlich, Nadelhölzer um schlanke weißstämmige Birken werben.

»Als wir uns dem finnischen Festlande näherten, wurde der Baumwuchs reicher, Eichen mischten sich wieder unter die Tannen und Birken. Auf der Insel, wo die Bewohner Åbos ihre hölzernen Sommerwohnungen haben, prangte der Boden sogar in frischem Wiesengrün. Bald darauf sahen wir die stattlichen Gebäude der ehemaligen Hauptstadt Finnlands im roten Abendlichte hinter dunklen Fichten herüberschimmern. Dann fuhren wir rückwärts den kleinen Fluß hinauf, und zehn Minuten später hatten wir den Boden des Zarenreiches betreten, dem das glückliche, noch halb selbständige Finnland erst lose angegliedert ist.«

 

Petersburg, den 30. September 1878.

»Als wir heute morgen an Bord des ›Konstantin‹ erwachten, hatten wir die berühmte Festungsinsel Kronstadt gerade hinter uns gelassen. Wir sahen, zurückblickend, die glatt aus den Wellen emporsteigenden Festungsmauern noch in den durchsichtigen Schatten des Morgengrauens ragen. Als wir, das Festland zu beiden Seiten, in die mächtig ausgebreitete Newamündung hineindampften, streute die ›rosenfingrige Eos‹ bereits goldene Frühstrahlen aus. Das nordöstliche Ufer war in Schatten gehüllt, als das südwestliche in feenhafter, anfangs purpurner, dann goldener, endlich klarsilberner Beleuchtung prangte; und es winkte uns wie mit Elfenhänden, dieses südwestliche Hügelufer mit seinen Erlen- und Fichtenwäldern, seinen Schlössern Peterhof und Oranienbaum, seinen glänzenden Klosterkuppeln und schimmernden Landhäusern. Vor uns war die Küste ganz flach. Eine Rauchwolke verkündete die große Stadt, hinter dem Rauche aber leuchtete die gewaltige Kuppel der Isaakskirche im doppelten Glanze ihres eigenen und des Morgensonnengoldes. Rasch tauchten auch die anderen Kuppeln und Türme Petersburgs aus dem Frühnebel auf. Ehe wir uns dessen versahen, fuhren wir an mächtigen Schiffswerften und granitenen Ufermauern vorbei mitten in die Stadt hinein. Am Newaufer zwischen den Prachtbauten der Bergakademie und der Akademie der schönen Künste legte das Dampfschiff an. Nach unserem Passe fragte kein Mensch, hier so wenig wie in Finnland, eine Folge der eigentümlichen Zwischenstellung dieses Landes. Von keiner anderen Seite naht man sich der Stadt Peters des Großen so schön und so unbehelligt wie von dieser.«

 

Petersburg, den 1. Oktober 1878.

»Nicht ohne erwartungsvolles Herzklopfen betrat ich heute die Ermitage. War sie doch, außer dem Madrider Museum, die einzige der ganz großen Kunstsammlungen dieser Erde, die ich noch nicht gesehen hatte! Jetzt habe ich auch sie gesehen! Das kann mir niemand mehr rauben, wenngleich ich noch oft in sie zurückkehren muß, ehe ich sagen kann, daß ich sie kenne.

»Das Gebäude ist bekanntlich eine Münchener Schöpfung aus der Zeit Ludwigs I.; Leo von Klenze hat sie gebaut. Schwanthaler hat sich an ihrer Ausschmückung mit Bildwerken beteiligt. Hiltensperger hat die Wachsgemälde aus dem Leben der altgriechischen Maler in einer der oberen Galerien ausgeführt.

»Im Innern ist es ein offensichtlicher Fehler, daß weder die Oberlichtsäle noch die durch Seitenfenster erleuchteten Sammlungsräume auch nur annähernd genügendes Licht haben. Aber alle diese Räume verbinden eine die Sinne gefangennehmende Pracht mit edlen und feinen Formen in einer Weise, wie das vielleicht bei keinem zweiten Gebäude des 19. Jahrhunderts der Fall ist. Die Treppe besteht aus karrarischem Marmor. Die Wände der Säle sind, soweit sie nicht mit purpurroten Seidengeweben behängt sind, mit den kostbarsten Marmorsorten getäfelt, die mir hier und da allerdings künstlicher Art zu sein schienen. Die monolithen Säulen, die die Decken der Hauptsäle tragen, sind alle aus dem lebendigen Steine gehauen, teils aus dem schönen, roten finnischen, teils aus dem zarten, grauen serdobolischen Granit, manche aber auch aus verschiedenen Marmorarten; und vollendet wird diese Steinpracht durch die Tische, Vasen und sonstigen Ziergeräte, die reichlich durch alle Räume verteilt sind. Hier spielen auch Malachit und Lapislazuli, spielen Jaspis und Achat ihre Rollen. Am köstlichsten aber erschien uns der von schwarzen Adern durchzogene, warm rosenrote Stein (Rhodonit), aus dem die Obelisken und Kandelaber der Eingangshalle gearbeitet sind. Auch Marmorstandbilder von Canova und von anderen bedeutenden Bildhauern stehen als Schmuckstücke zwischen den großen Gefäßen und Lichtständern der Gemäldesäle. Und dem allen entsprachen die prachtvollen Sessel und Sitze, die an den Wänden entlang stehen. Wir meinten anfangs, sie seien nur zum Ansehen da, und wagten erst, uns auf ihnen niederzulassen, als wir ärmlich gekleidete Leute aus dem Volke vor den Augen der Wächter in den prächtigsten goldenen Lehnstühlen ausruhen sahen.«

 

Petersburg, den 11. Oktober 1878.

»Endlich! Endlich! Nachdem ich, dank den liebenswürdigen Anordnungen Baron Brünings, des stellvertretenden Direktors der Gemäldesammlung, alle Landschaftsbilder der Ermitage, die ich näher untersuchen wollte, als ihre hohe Hängung es erlaubte, mit Leitern erklommen oder durch die Angestellten ans Licht der Fenster erhalten habe, darf ich frei in allen Sälen des geräumigen Museums umherschweifen. Das Schauen zu zweien fängt jetzt eigentlich erst an. Welches Glück ich dabei empfinde, diese Fülle des Schönen zu schauen und mit vier Augen, die abwechselnd zueinander und auf die Bilder schauen, genießen zu dürfen, kann ich nicht aussprechen.

»Bei aller Vielseitigkeit der Gemäldegalerie der kaiserlichen Ermitage steht die holländische Schule in ihr doch im Vordergrunde und Mittelpunkte unserer Betrachtung. Aus Holland hat Peter der Große seine Kenntnisse und seinen Geschmack geholt; dem ursprünglichen Plane nach sollte Petersburg noch mehr nach holländischem Muster gebaut werden, als es in seiner inneren Stadt wirklich geschah; und die holländischen Gemälde, die schon der große Peter mit nach Rußland gebracht hatte, blieben auch für die Geschmacksrichtung seiner Nachfolger maßgebend, die immer reichere Schätze nach ihrem Norden entführten. Von den beiden berühmtesten holländischen Meistern des 17. Jahrhunderts, dem großen Landschaftsmaler Jakob van Ruisdael und dem großen Menschenmaler Rembrandt van Rijn, besitzt keine zweite Sammlung der Welt so viel Gemälde wie die Petersburger. Jakob van Ruisdael, von dem in der Ermitage vierzehn Bilder hängen, tritt uns in Berlin vielleicht vielseitiger, in Dresden geistvoller entgegen; aber seine Petersburger Bilder führen uns seine Entwickelung so klar vor Augen wie die Bilder keiner anderen Sammlung. Und dann ihre sechsunddreißig echten Rembrandts! Ganz Holland birgt in allen seinen Sammlungen kaum mehr als die Hälfte. Die Ermitage hat den Gemälden Rembrandts einen eigenen, verhältnismäßig gut beleuchteten Saal eingeräumt; und dieser Rembrandtsaal ist das Allerheiligste der Sammlung. Hier leben und weben wir in Rembrandts Zauberlicht; und nach und nach zwingt der Meister uns, auch im Leben ähnlich zu sehen wie er. Überall, wo wir Menschen in geschlossenen Räumen begegnen, erscheinen sie uns wie von Rembrandtschem Geiste umflossen.«

 

Petersburg, den 14. Oktober 1878.

»Vor und nach den Stunden, in denen die Ermitage geöffnet ist, deren einzige Sammlung von Werken griechischer Kleinkunst in den Sälen der Altertümer von Kertsch uns nicht minder gefesselt hat als ihre Gemäldegalerie, finden wir, immer rastlos, noch Zeit genug, nach und nach alle eindrucksvollen Punkte und Bauten der weitgedehnten Stadt und ihrer Umgebung aufzusuchen, aber auch Kraft genug, die übrigen Gemäldesammlungen Petersburgs eine nach der anderen zu durchwandern. Durch die Säle des kaiserlichen Winterpalastes und des der Newa zugekehrten Teiles der Ermitage, dessen reich mit Gemälden geschmückte Säle noch immer als Privatgemächer der kaiserlichen Familie angesehen werden, hat uns, äußerst zuvorkommend, Herr Staatsrat Baron Koehne begleitet. Herr Hofbuchhändler Karl Röttger, der uns in jeder denkbaren Weise zu Dank verpflichtet, hat mich in die Sammlung des Staatsrats Koslow und in die lehrreiche Galerie des Herrn Semeonow geführt, der ein Sammler ersten Ranges ist, weil er nur die seinen Mitteln erreichbaren echten Bilder seltener holländischer Meister zweiten oder dritten Ranges sammelt.

»Vor allem aber verdanke ich dem überaus bereitwilligen Entgegenkommen der deutschen Botschaft, deren Geschäfte in Abwesenheit des Botschafters der kunstverständige und liebenswürdige Botschaftsrat Graf Berchem versieht, den Zutritt zu fast allen Privatsammlungen der russischen Großen. Graf Berchem hat uns selbst in die Sammlung des Grafen Paul Stroganow an der Polizeibrücke und in die Leuchtenbergische Galerie in dem köstlich geschmackvoll und behaglich eingerichteten Palast der verstorbenen Großfürstin Marie begleitet, die in erster Ehe mit dem Herzog von Leuchtenberg, in zweiter mit dem Grafen Gregor Stroganow vermählt war. Dieser russische Große, seinem Äußeren und seinem Wesen nach ein Mann, von dem man begreift, daß eine Kaisertochter ihn geliebt, empfing uns selbst im Palais Leuchtenberg, führte uns durch alle seine Räume, zeigte uns alle seine Kunstschätze und stellte uns schließlich im Vorübergehen auf der Treppe in fast bürgerlich ungezwungener Weise seiner Tochter, der Enkelin des Kaisers Nikolaus, vor. Wir wechselten einige Worte und gingen weiter. Der Graf aber sagte in liebenswürdigem Scherze: ›Ich habe nur die eine Tochter; aber sie ist so groß, daß man zweie daraus machen könnte.‹ Die Prinzessin war in der Tat eine stattliche, aber sie war auch eine schöne und liebenswürdige Erscheinung.«

 

Moskau, den 15. Oktober 1878.

»Nur wer Moskau kennt, kann sich vorstellen, was es heißt, den ersten Tag im heiligen Mittelpunkte des russischen Reiches zugebracht zu haben. Wie kalt, blaß und konventionell liegt die Schönheit Petersburgs hinter uns! Wie großartig blühend und asiatisch glühend, wie märchenhaft fremdartig, wie bunt und warm lebt das frische Bild Moskaus in unserer Seele.

»Vom Bahnhof zu unserem Gasthofe hatten wir einen weiten Weg, den wir in offenem Zweispänner zurücklegten. Für Moskau, dessen Entfernungen bei dem dorfartig zerstreuten Bau der Stadt denen Londons gleichkommen, war es vielleicht ein kurzer Weg; aber wir fuhren nach russischer Art pfeilschnell und fuhren doch fünfundzwanzig Minuten. Einen Eindruck erhielten wir nicht von Moskau; d. h. wir erhielten eben den richtigen Eindruck; denn dem Charakter Moskaus entspricht es, daß man, wenn man seine Straßen durchfährt, keinen Gesamteindruck erhält. Hier dehnt sich eine stattliche hohe Häuserreihe, dort stehen niedrige elende Hütten. Hier prangt ein öffentliches Gebäude mit stolzer klassizistischer Säulenhalle. Dort ist ein anderes mit bunten russischen Schnörkeln geschmückt. Gründachig sind sie fast alle; gelblich oder rötlich angestrichen sind die meisten; und Kirche folgt auf Kirche, Kapelle auf Kapelle: die meisten fünftürmig und mit Zwiebelkuppeln versehen, die bald mit grün angestrichenem Eisenblech gedeckt sind, bald einen dunkelblauen Anstrich erhalten haben, manchmal goldene Sterne auf blauem Grunde zeigen, manchmal mit einem buntschillernden Schuppennetz überzogen sind, fast am öftesten aber ganz vergoldet sind und dann blendend in der hellen Sonne glänzen. Die Straßen ziehen sich immer bergauf bergab, rechtsum und linksum. Von regelmäßigen, langen geraden ›Linien‹ und ›Perspektiven‹, wie in Petersburg ist keine Rede. Das Pflaster ist hier womöglich noch schlechter als dort. Holperig genug fährt sich's. Aber der leichte Wagen tanzt schnell darüber hin.«

 

Moskau, den 16. Oktober 1878.

»Eindrucksvoller als die Moskauer Sammlungen, denen allen wir natürlich unsere Pflicht- und Anstandsbesuche machen, sind die Kirchen und öffentlichen Gebäude der Stadt. Die glänzende, modern-russische Erlöserkirche, die, zur Feier der Flucht der Franzosen im Jahre 1812 gegründet, seit fünfzig Jahren im Bau ist, aber erst in zwei Jahren eingeweiht werden soll, durften wir durch die Vermittlung des gastfreien deutschen Konsuls Bartels von außen und von innen bewundern. Namentlich das Innere wirkte mit dem reichen Schmucke seiner Täfelung mit den kostbarsten Steinarten in den unteren, seinen neumoskowitischen Wandgemälden in den oberen Teilen trotz der überall noch angebrachten Gerüste blendend und fesselnd. Von der Erlöserkirche fuhren wir heute zum Kreml, dem Burgberg Moskaus. Der erste Besuch des Kreml! Ein Lebensereignis, ein feierlicher Augenblick! Wenn Moskau, von unten, von den Straßen gesehen, gerade durch das Fehlen eines Gesamteindrucks gekennzeichnet wird, so ist hier oben das Gegenteil der Fall. Hier oben ist nichts kleinlich, nichts zerstreut, hier ist alles majestätisch, einheitlich und prächtig. Wir bestiegen den Iwansturm. Gerade von hier aus umfaßt der Blick das großartigste Panorama. Beschreiben läßt es sich nicht. Nur wenige Andeutungen lassen sich geben. So weit das Auge reicht, bis zu den fernen Höhen, die rings den Gesichtskreis kränzen, erstreckt sich das Häusermeer, im großen weiten Bogen von der schmalen, silbern blinkenden, in vertieftem Bette dahinströmenden Moskwa durchflossen. Aber der Ausdruck ›Häusermeer‹ ist doch zu konventionell, um Moskau zu schildern. London mag man so nennen, Neuyork und Berlin; meinetwegen auch Paris. Für Moskau paßt er so wenig wie für Rom oder für Neapel. Dazu ist der Eindruck des Zusammenklangs der wechselvollen Einzelheiten zu überwältigend. Man sagt, Moskau habe vierhundert Kirchen. Ich glaube, es sind eher mehr als weniger. Jede dieser Kirchen hat ihre Türme und ihre Kuppeln; die meisten haben mindestens fünf Kuppeltürme; das macht ihrer schon zweitausend. Diese zweitausend Kuppeln und Türme denke man sich in den verschiedensten, zum Teil phantastischsten Gestalten; man denke sie sich in den prächtigsten Farben, unter denen Gold, Grün und Blau vorherrschen, man denke sich dazu den Purpurglanz der sinkenden Sonne an einem klaren Oktobernachmittag; man denke sich dieses Spiel von Formen und Farben rings, so weit das Auge reicht, fortgesetzt; und man kann sich vielleicht annähernd eine Vorstellung von der Gewalt und Pracht des Bildes machen, dessen Anblick uns berauschte. Moskau scheint, so angesehen, nicht mehr in Europa, sondern in Asien zu liegen; und doch wüßte ich keine asiatische Stadt mit ihm zu vergleichen. Moskau ist eben echt altrussisch und will nur mit sich selbst verglichen sein. Eben deshalb bedarf das geblendete und erstaunte Auge einige Zeit, um sich voll in dieses überreiche und überglänzende Stadtbild hineinzusehen. Je länger man hinblickt, desto mächtiger wächst der Eindruck. Kaum oben gewesen, konnte ich es nicht lassen, ich mußte zum zweiten Male hinaufsteigen auf den Iwansturm; und zum zweiten Male schien uns der Anblick noch überwältigender schön als zum ersten Male.

»Beim Rückwege vom Kreml fuhren wir an der überraschend bizarren, aber auch überraschend malerischen, in allen Regenbogenfarben strahlenden alten Basiliuskirche vorüber, dem Wunderbau Iwans des Schrecklichen draußen vor dem Heiligen Tore, durch welches selbst der Zar entblößten Hauptes fährt. Der Kutscher wandte sich geschickt bedeutungsvoll, indem er selbst den Hut abnahm, nach uns um. Ich folgte natürlich willig und bedauerte hier, wie in ganz Rußland, nur, mich in kein Gespräch mit diesen so kindlich offen und freundlich, aber auch kindlich befangen dreinblickenden Leuten aus dem russischen Volke einlassen zu können.«

 

Moskau, den 17. Oktober 1878.

»Mit irgendwelchen Vorurteilen von konstruktiver Gesetzmäßigkeit darf man die russischen Kirchen von vornherein nicht betrachten. Aber auch von einer organisch-schmuckhaften Gesetzmäßigkeit ist keine Rede. Zur Zeit, als Bramante in Italien die reine Hochrenaissance geschaffen hatte, suchten die russischen Baumeister durch die Vermischung byzantinischer, romanischer, gotischer, arabischer und Frührenaissance-Formen mit einigen echtrussischen Linien- und Farbenspielen einen nationalen Baustil zu schaffen, der, architektonisch betrachtet, einen wahren Hexensabbat widernatürlicher Verbindungen darstellt, visionär angeschaut aber, durch seinen Goldglanz und seinen Farbenschimmer, durch den eigenartigen Rhythmus seiner seltsamen Gesamtformen und die Fülle krausen Zierrats die Sinne blendet und verführt und schließlich doch noch als völkische Tat der russischen Kunst zur Geltung kommt.

»Wir besuchten heute eine große Anzahl Moskauer Kirchen, blieben aber schließlich an jener eigenartigsten, verrücktesten und phantastischsten Ausgeburt der russischen Architektenphantasie der Mitte des 16. Jahrhunderts haften, die bunt und kraus wie ein Kinderspielzeug vor dem heiligsten Tore des Kreml liegt. Dem Erbauer dieser Basiliuskirche, Iwan dem Schrecklichen, gefiel dieses Heiligtum so gut, daß er, wie erzählt wird, dem Baumeister die Augen ausstechen ließ, damit er kein zweites solches Wunderwerk schaffe. Groß ist die Kirche nicht; und doch ist sie, schon von außen betrachtet, aus einer Anzahl einzelner Teile von verschiedener Höhe und Gestalt zusammengeschweißt und von einem Dutzend ungleicher, in Zwiebelkuppeln auslaufender Türme und in Knäufe ausgehender Pyramiden gekrönt. Die Durcheinandermischung der verschiedensten Stilmotive ist hier so vollständig durchgeführt, daß es Mühe kostet, die einzelnen Bestandteile zu erkennen und man wirklich auf den Gedanken kommen könnte, es sei ein aus sich selbst hervorgewachsenes Neues; und das vielfarbige Ornamentennetz, das den Bau umfaßt, erhöht diesen Eindruck. Wir betreten das Innere, das aus zwei Stockwerken und vielen ineinandergehenden kleinen Räumen besteht. Die Unterkirche ist ganz niedrig und strahlt von Gold und flimmert von Kerzen und starrt von naturfremden Bildern und hallt von summendem Priestergesange wie alle russischen Kirchen. Die Oberkirche aber, zu der man auf maskierten Außentreppen emporsteigt, besteht aus einem Knäuel von Gängen und Kapellen. Jede dieser Kapellen liegt unter einem der vielen Kuppeltürme, von deren Wölbung ein Heiligenbild herabstarrt. Wie in Schornsteine blickt man zu ihnen hinauf. Die Malerei der mittleren, der höchsten Kuppel aber will den Eindruck hervorrufen, als verlöre der Blick sich in den endlosen Äther.«

 

Kiew, den 19. Oktober 1878.

»Kiew ist die älteste heilige Stadt Rußlands. Die Reisebücher nennen es das russische Jerusalem. Ich weiß nicht, wer den Ausdruck erfunden hat. Zutreffend scheint er mir nicht zu sein; denn Jerusalem hat für die römische Kirche dieselbe Bedeutung wie für die russische. Richtiger würde man es das Rom Rußlands nennen, insofern hier die Mutterkirche Rußlands gestanden, von hier aus das Christentum sich im Zarenreiche verbreitet hat, indem hier die ältesten Klöster Rußlands, hier die Katakomben mit ihren Heiligengräbern sich befinden. Natürlich haben wir die Hauptkirchen der Stadt besucht, von denen namentlich die uralte Sophienkirche mit ihren Mosaiken und ihren Freskenresten uns lebhaft anzog. Natürlich haben wir die berühmten großen Katakomben Kiews besehen, deren lange, schmal in den lebendigen Felsen gehauene Gänge wir mit geweihten Kerzen in den Händen durchwanderten, um den Gräbern der Heiligen zu huldigen, deren Mumien, in Prachtgewänder gehüllt, in offenen Holzsärgen daliegen. Am meisten aber fesselte die Stadt als solche uns, die, wie Moskau, ungewöhnlich weitläufig gebaut ist. Enge Gassen gibt es nicht. Überall sieht man große, breite staubige Straßen, überall einzeln in Gärten oder doch unter Bäumen stehende Häuser. Wenn man Kiew auch als Klein-Moskau bezeichnet, so kann sich das nur auf die Zahl seiner Kirchen mit goldenen Kuppeln beziehen. Seine Gesamtlage ist von der Moskaus ganz verschieden. Moskau erstreckt sich endlos in einem weiten, von mäßigen Höhen gebildeten Talkessel, gerade in der Mitte von der Moskwa durchflossen, die kaum breiter ist als der Neckar bei Heidelberg. Kiew dagegen liegt in vollstem Sinne des Wortes am Dnjepr; d. h. an einem, am rechten Ufer dieses Stromes, der hier breiter ist als der Rhein bei Düsseldorf, unterhalb der Stadt aber breiter und breiter in riesiger Majestät noch an tausend Kilometer weiter zum Schwarzen Meere hinabwallt.

»Der Dnjepr wirkt zum Gesamteindruck um so mächtiger mit, als verschiedene Teile der Stadt auf Felsenhöhen liegen, die sich an achtzig Meter über den Strom erheben; gerade von diesen, an ihren Abhängen mit schönen Parkanlagen geschmückten Stadtteilen hat man einen weiten Überblick über die mächtigen Windungen des Flußbettes; und besonders eigenartig wirken diese Aussichten durch den Gegensatz der reichen, lebhaften, über Hügel und Täler hinlaufenden Stadt zu der endlosen Einförmigkeit der Landschaft, die jenseits des Stromes beginnt.

»Daß Kiew ebenso russisch und ebenso orientalisch dreinblickt wie Moskau, dafür sorgen nicht nur die zahlreichen farbigen und goldenen Kuppeln seiner Kirchen, die hier und da auf Einzelfelsen aus dem Stadtgewühl in den Himmel emporgehoben werden, sondern auch die eigentümlichen Trachten des Volkes, dem man in den Straßen und vor den Toren der Stadt begegnet. Es ist ein ganz fremdartiges Volk, teils mit edel geschnittenen südslawischen Köpfen und funkelnden schwarzen Augen, teils stumpfnasig und glatthaarig mit mongolischem Einschlag. Die Männer tragen den umgekehrten Schafspelz, die Frauen sehen mit ihrem turbanartigen bunten Kopftuch und ihrem langen farbigen Rock über dem unten hervorblickenden, bis halb an die Knöchel reichenden Hemd malerisch genug drein.

»Die Russen haben überall den Eindruck eines ernsten und ruhigen Volkes auf uns gemacht. Einen oberflächlichen Beobachter hörte ich sagen, es seien der Ernst und die Ruhe, die durch die Knute geschaffen wären. Richtig würde man vielleicht hinzufügen, daß gerade dieser Ernst des russischen Volkes es wahrscheinlich erscheinen lasse, daß es seine Ziele, was diese auch sein mögen, früher oder später erreichen werde.«

 

An Bord des »Oleg« auf dem Schwarzen Meere,
den 22. Oktober 1878.

»Heute vormittag um elf Uhr trat der russische Dampfer ›Oleg‹, Kapitän Markakow, die Reise von Odessa über Burgas nach Konstantinopel an. Ein lebhaftes Bild entfaltete sich unten am Hafen vor unseren Blicken. Große russische Dampfer schifften ganze Regimenter der aus dem türkischen Kriege heimkehrenden siegreichen Truppen aus. Dagegen schifften sich in unseren ›Oleg‹ mindestens zwei Dutzend russische Offiziere und Militärärzte mit ihren Familien ein, um zwar nicht nach der türkischen Hauptstadt, aber doch nach Burgas, jener Hafenstadt zwischen Warna und Konstantinopel zu fahren, die noch von russischen Truppen besetzt ist. Auch eine Abteilung Soldaten wurde an Bord gebracht. Es machte keineswegs den Eindruck, als werde der vor einem halben Jahre zu San Stefano abgeschlossene Friede schon als dauernd angesehen.

»Um halb zwölf Uhr setzte der ›Oleg‹ sich in Bewegung. Es war ein klarer, windstiller, sonnenwarmer Tag. Das Schwarze Meer lag in dunkelgrünem Glanze zu unseren Füßen. Als die Sonne sank, sahen wir nichts als Luft und Wasser. Aber in der ungeheuren Weite regte keine Welle sich.«

 

An Bord des »Oleg«, den 23. Oktober 1878.

»Die Herrenkajüte ist hier noch von der Damenkajüte getrennt. Heute morgen beklagte meine Frau sich über den Tabakrauch, mit dem die Russinnen bis spät in die Nacht hinein und schon früh am Morgen die Damenkajüte gefüllt haben. Der Kapitän, dem sie ihre Not klagte, meinte, den Damen könne man doch nicht, wie den Herren, das Rauchen verbieten, versprach uns aber für die nächste Nacht, da die Überfüllung in Burgas aufhören werde, eine Kammer für uns allein in der Herrenabteilung, in der nicht geraucht werden darf. Sicherlich ein Stück umgekehrter Welt. Wer aber viel reist, wundert sich über nichts.«

 

Konstantinopel, den 24. Oktober 1878.

»Der Kapitän hat uns Wort gehalten. Als die Sonne aufging, standen wir erfrischt wieder auf dem Verdecke. Vor uns lag der Eingang zum Bosporus. Der Bosporus! Welche Fülle von Gedanken überflog mich im Angesicht dieses Meeresarms und dieser Küste! Kaiser Konstantin, Suleiman der Prächtige und Lord Byron – Janitscharen, Baschi Bozuks und die ›Grünen‹ und ›Blauen‹ der alten Rennbahn – das Corpus juris, der Koran und der ›Bosporus‹ des griechischen Rhetors Philostratos – Adler, Kreuze und Halbmonde – alle diese Gestalten und Dinge und noch vieles andere wirbelte mir durch die Phantasie. Endlich ist es auch mir, dem πολύτροπος ἀνῆρ, vergönnt, in den Bosporus hineinzufahren. Aber alle Blässe der Gedanken verfliegt schnell vor dem glühenden Leben, das uns lacht.

»Ja! hier zur Linken ragt ›Anadolifeuer‹, der asiatische Leuchtturm; hier zur Rechten ›Rumelifeuer‹, die europäische Feste über den berüchtigten Riffen der Symplegaden, die jetzt, vom Naturgesetz bezwungen, starr aus dem Meerschaum blicken, während sie doch die Schiffe der griechischen Heldenzeit zusammenschlagend zermalmt haben sollen. Noch immer aber strömt das Wasser vom Schwarzen ins Marmarameer durch den göttlichen Sund und reißt uns schneller und schneller mit fort in die klareren, blaueren Wellen des Südens. Noch mischt sich ein rötlicher Glanz ins gelbe Morgenlicht. Die weißen Segel der großen vor dem Eingang kreuzenden Schiffe und die hellen Mauern der Festen, die ihn bewachen, leuchten in orangenem Farbenspiel. Friedlich zieht die siegreiche russische Flagge hindurch. Rasch gleitet der Kiel zwischen den sonnigen Gestaden dahin. Hier, am europäischen Ufer, winken die ersten Pinien in plastischer Formenschönheit von brauner Felsenhöhe herab. Drüben in stiller Schlucht Kleinasiens begrüßt uns der erste Hain von dunklen Zypressen.

»Nun aber! Etwas Schöneres meine ich nie gesehen zu haben: das feste Schloß Rumeli-Hissar, das Mohammed II. zum Schutze des eroberten Byzanz errichtet hat! Rumeli-Hissar mit den mächtigen grauen Türmen und den steil die Höhe hinanlaufenden Mauern und am Fuße der Höhe unter all dem grauen Gemäuer der türkische Friedhof mit seinen in malerischer Unordnung in dem Walde von Zypressen verstreuten Leichensteinen, in der blauen Flut sich spiegelnd! Welch ein Bild und welch ein Friedhof! Père Lachaise und Greenwood, was seid ihr mit all eurer unruhigen Pracht gegen diese ernste, stille Ruhestätte, die noch ein wirklicher Friedhof ist! Weiter! weiter! Schlösser und Gärten hüben und drüben! Langsamer weiter! Das Land wird an beiden Ufern zur Stadt. Ein Häusergewirr hier in Galata, wie drüben in Skutari. Wir sind in Konstantinopel.

»Der Hafen wimmelt von Schiffen. Dutzende von Booten umringen den ankommenden Dampfer, der langsam vorwärts strebt, bis der Anker fällt. Ach, wie viel haben wir zu sehen! Dort ist ja die Sophienkirche! Dort ragen aus dem Häusergewirr ein Dutzend mächtige Kuppeln empor, von Hunderten von schlanken Minareten begleitet. Ja, das ist Stambul; und vor uns wird das offene Marmara sichtbar; die Prinzeninseln erscheinen; der asiatische Olymp taucht auf, stolz und prächtig, als wollte er sagen: Bin ich nicht ebenso schön wie der europäische Olymp, den die homerischen Götter zu ihrem Wohnsitz erkoren? O, es ist herrlich! es ist überwältigend schön! es ist mindestens so großartig, wie unsere Einbildungskraft es sich ausmalen gekonnt.

»An Bord beginnt natürlich ein furchtbares Gewühl, dem wir glücklich entrinnen, weil mein Schwager Willy, der Bruder meiner Frau, der unter dem Namen Ahmet Zeki Bey Major in türkischen Diensten ist und manche blutige Schlacht gegen die Russen mitgeschlagen hat, uns in Empfang nimmt und in raschem Boote zum bunten, bewegten Strande von Galata und steil hinan nach Pera entführt. In der engen Straße jenseits der Dampfschiffagentur steht ein Wagen im dichtesten rotfesigen Menschengewühl für uns bereit. Welch ein Gewimmel von Türken, Griechen, Juden, Armeniern und Persern! Welch ein Formen- und Farbenreichtum in allen Trachten des Orients und des Okzidents! Welche babylonische Sprachenverwirrung! Welch abscheuliches Straßenpflaster! Langsam keuchen unsere Rosse nach Pera hinauf. Aber ist das Pera? Das hatte ich mir allerdings anders vorgestellt. Ich hatte mir das berühmte europäische Viertel Konstantinopels als eine westliche Stadt mit breiten Straßen, stattlichen Häusern und luftigen Terrassen vorgestellt und war erstaunt, hier geradeso enge krumme Gassen, ein geradeso elendes Pflaster, ein geradeso wirres Menschengewühl und geradeso viele herrenlose, scheu umherlungernde Hunde zu finden, wie Stambul nur aufzuweisen haben kann.

»Wir hätten gern einen Ruhetag gehabt. Aber gerade heute ist der Tag der Heul-Derwische in Skutari. Die müssen wir sehen. Wir fahren wieder nach Galata hinab. Unten drängen wir uns durch einige Straßen bis zu der Brücke, die übers Goldene Horn nach Stambul führt. Es ist eine lange hölzerne Schiffsbrücke, auf der das Gewimmel beturbanter oder rotfesiger Männer und verschleierter, in lange weite Gewänder gehüllter Weiber erdrückend ist. Die Brücke ist entschieden zu klein für den Verkehr. Unmittelbar neben ihr liegt eine neue, große, prächtige eiserne Pontonbrücke. Aber sie kann nicht benutzt werden. Sie ist in der Mitte durchgebrochen. Die Sultaninmutter, so erzählt man sich, pflegt jedesmal, wenn sie der Öffentlichkeit übergeben werden soll, einen Admiral zu veranlassen, daß er, wie durch einen unglücklichen Zufall, mit einem Panzerschiffe hineinfährt. Der Sultaninmutter sind nämlich die Einkünfte von der alten Brücke überwiesen.

»Von der Mitte der Brücke fährt das Dampfschiff nach Skutari ab. Das kleine Schiff ist bis zum letzten Plätzchen vollgepfropft. Wir haben Muße, die verschiedenen Typen und Trachten der verschiedenen orientalischen Völkerschaften zu beobachten. Die meisten Mitfahrenden sind türkische Soldaten und Offiziere. Es sind schöne Männer darunter; aber die meisten Offiziere sind ebenso schäbig gekleidet wie die Soldaten.

»Nach einigen Minuten betreten wir in Skutari asiatischen Boden. Noch fünf Minuten Steigens, und wir sind am Ziel. In der Vorhalle des Klosters der Heul-Derwische nötigte man uns Männer, die Stiefeln auszuziehen. Der Saal, in dem die heilige Zeremonie vor sich gehen sollte, war sehr einfach und erinnerte an den Tanzsaal einer ländlichen Wirtschaft in Deutschland. Oben lief eine hölzerne Galerie an den Wänden entlang, die an einer Seite vergittert und den zuschauenden Türkinnen vorbehalten war. Von Zeit zu Zeit hörte man Kindergeschrei von dort herabschallen. Dieser oberen Galerie entsprach unten ein durch Schranken von dem mittleren Raume des Saales abgeteilter Gang. Hier nahmen wir Giauren an der einen Seite Platz. Die entgegengesetzte Seite war männlichen türkischen Zuschauern angewiesen. An der inneren Schmalwand des Saales, an der Dolche und Folterinstrumente hingen, mit denen die Heuler sich in weniger aufgeklärten Zeiten stachelten, saßen die Derwische auf Teppichen vor der mit Kerzen erleuchteten und mit heiligen Geräten geschmückten Nische. Der Oberderwisch, ein würdiger Mann, saß gerade in der Mitte. Gegenüber an der Fensterseite hatten die Derwische sich aufgestellt, die heute tanzen sollten. Es war ein Hin- und Hergehen, ein Wechseln der Sitzplätze, ein Flüstern, ein Beten, ein Umherreichen von Flaschen mit geweihtem Wasser – und was weiß ich? Das Wesentliche der ersten Phase der Haupthandlung bestand darin, daß der Oberderwisch an der Nische arabische Formeln und Gebete vorsang, die die gegenübersitzenden Mönche nachsangen. Dieses Vorsingen und Nachsingen wurde allmählich immer lauter und immer heftiger.

Der zweite Akt begann, als die nachsingenden Derwische an der Fensterseite sich erhoben und eine fest geschlossene Kette bildeten, worauf Vorgesang und Nachgesang wieder einsetzten, nur mit dem Unterschiede, daß jetzt vier andere ältere Männer, die einander paarweise gegenüber vor der geschlossenen Reihe Platz nahmen, den Vor- und Nachgesang leiteten, während ein sehr rühriger anderer Oberderwisch ab und zu ging, den Gliedern der Kette weiße Mützen statt des Fes oder des Turbans aufsetzte, ihnen ein Tuch zum Abtrocknen des Schweißes oder, wie es schien, ein Riechfläschchen reichte. Denn wahrlich, bald genug hatten die armen Burschen derartige Hilfsleistungen nötig. Der wiederbegonnene Gesang steigerte sich rasch zum Geheul, und dazu begann ein Hin- und Herwiegen des Körpers erst im sanften Tanzschritt, bald im wilden Stampfschritt. Seitwärts und vorwärts beugten sie sich alle zu gleicher Zeit und warfen die Köpfe nach rechts und links und zurück in den Nacken, und ihre anfangs nicht unmelodischen Stimmen wurden schließlich zum heiseren, unartikulierten, aber rhythmischen Gekrächz. Die Erschöpften traten aus und wurden durch neue ersetzt.

Am meisten strengte ein Neger sich an, der gerade in der Mitte aufgestellt war und seine weißen Brüder um mehr als Kopflänge überragte. Er schien seine Lust an der wilden Zeremonie zu haben. Er warf und verrenkte sich nach allen Seiten. Sein weißes Gewand sah bald wie aus dem Wasser gezogen aus. Jeden Augenblick meinten wir, er würde mit Schaum vor dem Munde hinfallen. Endlich, endlich – uns schwindelte – beinahe eine Stunde hatte der Lärm gedauert – trat eine Pause ein. Sorgsam wurden die Fenster im Rücken der Stampfenden und Heulenden geschlossen, um die Zugluft abzuhalten. Erfrischungen wurden herumgereicht; und zum Schlusse brachte man den heiligen Männern, die sich so angestrengt hatten, schreiende kleine Kinder hinein, damit sie sie segneten. Während der ganzen Vorstellung hatte ich einen schönen, schneeweißen Kater auf dem gegenüberliegenden Dache beobachtet. Neugierig schaute er ab und zu zum Fenster herein. Was müßt ihr Tiere nur von uns Menschen denken – ging mir durch den Kopf daß wir uns so wie Verrückte gebärden, und das alles zur Ehre Allahs?«

 

Konstantinopel, den 27. Oktober 1878.

»Gestern haben wir Stambul besucht. Wir sind noch ganz berauscht von allen seinen Herrlichkeiten, noch ganz beseligt von der weihevollen stillen Größe des Inneren der Sophienkirche Justinians, deren kunstreich aus flachen Kuppeln und Halbkuppeln zusammenfließende Wölbung uns wie Sphärenharmonien umfängt, noch ganz erfüllt von der Größe der Marmormoschee Sultan Achmeds, die, baukünstlerisch angesehen, freilich nur als vergrößerte und vergröberte Nachahmung der Sophienkirche erscheint.

»Heute galt es, Stambul von außen zu umfahren oder, richtiger ausgedrückt, die überaus genußreiche Wagenfahrt an den Mauern des alten Byzanz entlang zu machen, die sich vom Marmarameer als Grundlinie des flutumspülten Stadtdreiecks zum Goldenen Horn hinüberziehen; und es galt, bei dieser Gelegenheit eine wegen ihrer unübertüncht erhaltenen byzantinischen Mosaiken berühmte kleine Moschee zu besuchen. Wir erreichten die Stadtmauer beim »Schloß der sieben Türme». Da sie als Festungsmauer längst überholt worden, läßt man sie verfallen. Es ist eine dreifache, in Stufen ansteigende Mauer, aus der sich in unregelmäßigen Abständen viereckige, aus wechselnden Schichten von Quadern und von Ziegelsteinen errichtete Türme erheben. Zum Teil liegt die Mauer noch so, wie sie bei der Eroberung durch die Türken gefallen sind. Zum Teil ist sie später als Steinbruch benutzt worden. Dichtes Efeugebüsch umrankt sie. Mächtige Bäume wachsen in ihren Gräben und Spalten: Steineichen, Platanen und Feigen, Lorbeeren, Pinien und Zypressen. Einzelne der Bäume, die so zwischen dem alten mächtigen, grauen Gemäuer dastehen, sind Prachtstücke im Stile der heroischen Landschaftsmalerei.

»Die Landstraße, die draußen unter dieser Mauer herführt, ist im denkbar schlechtesten Zustande. Hat man einmal glücklich einen Kutscher gefunden, der bereit ist, die Fahrt zu machen – die meisten weigern sich –, so gewährt sie einen poetisch-elegischen und malerischen Genuß, der einzig in seiner Art ist. Nichts erinnert hier an das türkische Konstantinopel; oder, wenn das zuviel gesagt ist, will ich gestehen, daß ab und zu eine über die Mauer herüberragende Moscheenkuppel oder ein Minaret, daß aber auch die ernsten, zypressenbeschatteten türkischen Friedhöfe jenseits der Straße uns daran erinnern, daß wir in der Türkei weilen. Für den Gesamteindruck aber befinden wir uns hier nicht in Stambul, sondern in den Ruinen des alten Byzanz. Griechische Kreuze und griechische Inschriften an den Mauern erhöhen diesen Eindruck. Es ist einer der malerischsten, aber auch der ernstesten und gewaltigsten Ruineneindrücke, die diese Erde gewährt. Wo der Weg sich hebt, sieht man zugleich aufs Marmarameer und die Gebirge Kleinasiens; und gerade dann verwandelt die Küste sich in eine heroische Landschaft von großartiger Pracht.

»An einem der Tore machten wir halt und schickten den Wagen zum nächsten Tore voraus. Eine kurze Strecke stadteinwärts wandernd, gelangten wir zu einer jener vielen kleinen Moscheen, die früher altchristliche Kirchen waren. Wie vergessen liegt diese am äußersten Ende Konstantinopels da. Μονὴ τῆς χώρας hieß sie zur byzantinischen Zeit. Kahrie Djamissi heißt sie als Moschee. Kunstgeschichtlich bedeutungsvoll ist sie wegen ihrer offen liegenden Mosaiken und Fresken, die sich eben nur in den Räumen befinden, die jetzt als Vorhallen, nicht aber als mohammedanisches Heiligtum gelten. Wir dürfen sie sogar betreten, ohne unsere Stiefel auszuziehen, und – was das merkwürdigste ist – als Führer gesellte sich uns kein Mann, sondern eine türkische Frau, die Gattin des mohammedanischen Geistlichen der Kirche. Es war eine sehr schöne Frau, die es wohl eben deshalb wenig ängstlich mit ihrer Verschleierung nahm. Wir sahen sogar ihre blendend weißen Zähne hinter weichen Korallenlippen.

»Zu unserem Wagen zurückgekehrt, setzten wir uns in einen griechischen Kaffeegarten, der hart am Tore zwischen der Stadtmauer und den Ruhestätten der Toten lag. Wir tranken türkischen Kaffee, und mein Schwager und ich rauchten eine türkische Wasserpfeife. Wir saßen nur etwa eine Viertelstunde an dem ernsten, stillen Ort; in dieser Viertelstunde wurden aber vier Leichen an uns vorbeigetragen; zwei türkische und zwei griechische. Es waren offenbar keine vornehmen Leichen, es waren einfache Begräbnisse; aber gerade sie brachten uns den völligen Gegensatz zwischen türkischer und griechischer Begräbnisart und den Unterschied beider von dem westeuropäischen Brauche zum Bewußtsein. Die Türken tragen ihre Toten in platt geschlossenem Sarge zum Grabe, nehmen die Leichen aber am Grabe heraus, um sie nackt oder nur in ein Tuch gehüllt ›dem dunklen Schoß der heiligen Erde‹ anzuvertrauen. Die Griechen dagegen tragen ihre Toten, die wie im täglichen Leben gekleidet sind, im offenen Sarge zu ihrer Ruhestätte; der Deckel, der vorausgetragen wird, wird erst am Grabe selbst auf den Schrein genagelt; und Popen in bunter Amtstracht folgen dem Zuge. Es waren eigentümliche Sittenbilder, die sich der elegischen Stimmung der ganzen Umgebung ergreifend einreihten.«

 

An Bord des italienischen Dampfschiffes »Lilibeo«,
den 31. Oktober 1878.

»Das Frühlicht strahlt uns über der asiatischen Küste der Dardanellen. Der Hellespont! der Hellespont! Sind das Delphine, die uns umspielen? Ja! aber mir ist's, als sähe ich den goldenen Widder zwischen ihnen schwimmen, auf dessen Rücken Phrixos durchs Meer reitet und die Hand sehnsüchtig nach der hinabgeglittenen und hinter ihm in der blauen Flut versinkenden Schwester, der schönen Helle, ausstreckt, deren Tod der Wasserstraße ihren griechischen Namen gegeben. So stellen pompejanische Wandgemälde es dar. Auch die Delphine zeigen sie, die sich um den Widder tummeln. Die Delphine spielen hier noch immer in den blauen Wellen. Aber das liebliche traurige Bild der griechischen Sage verscheuchen die trotzigen türkischen Festen zu beiden Seiten des Meeresarmes.

»Sieh! dort auf dem asiatischen Vorsprung lag die alte Stadt Abydos, hier drüben thronte Sestos, wo Hero, die griechische Jungfrau, nächtlicherweile ihres Leander harrte, der das Meer durchschwamm, bis das Meer ihn behielt. Es muß schon lange her sein. Die Felsenufer starren kahl und braun; und die Flut lächelt so unschuldig, als wäre nichts geschehen.

›Seht ihr dort die altersgrauen
Schlösser sich entgegenschauen,
Leuchtend in der Sonne Gold,
Wo der Hellespont die Wellen
Brausend durch der Dardanellen
Hohe Felsenpforte rollt?
Hört ihr jene Brandung stürmen,
Die sich an den Felsen bricht?
Asien riß sie von Europen;
Doch die Liebe schreckt sie nicht?‹ (Schiller.)

»Dort aber ist die Stelle, über die Xerxes seine Brücke schlug, als er mit dem gewaltigsten Heere nahte, Griechenland zu unterjochen; und hier überschritt Kaiser Barbarossa den Wasserarm mit dem Kriegsheer, welches auszog, das Heilige Land zu erobern. Die Küsten sehen langweilig und verbrannt aus; aber sie haben, auch sie haben bessere Tage gesehen. Pflanzenwuchs und Menschenleben haben sich nach dem Bosporus zurückgezogen. Die Gelände haben ihre Schicksale, wie die Bücher.

»Jetzt aber dampfen wir ins Ägäische Meer hinein. Schönes, blaues Ägäisches Meer! Weich wiegst auf mächtigen Armen du unser zierliches Schiff! Siehe, dort ist das letzte Vorgebirge Kleinasiens, das wir auf dieser Reise sehen werden. Vor uns glänzen die hohen blauen Gebirge der Insel Lesbos, die mich vor sechs Jahren im Mondschein grüßten, in weichverlockendem, sonnendurchstrahltem Nebel. Wieder, wie damals, fühle ich die Geister des Alkäos und der Sappho über ihren Höhen schweben. Wie weicher, melodischer Gesang schallt es über die Wasser. Vergebens strecken wir die Arme nach der gesegneten Küste aus. Unser Schiff macht eine rasche Wendung nach rechts. Wir steuern durchs offene Meer dem griechischen Mutterlande zu.«


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