Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3. Als Privatdozent in Heidelberg

»Altheidelberg, du feine,
Du Stadt, an Ehren reich,
Am Neckar und am Rheine
Keine andre kommt dir gleich.«

Mit dieser Melodie im Ohr war ich im Herbst 1863 als Studiosus juris in Heidelberg eingezogen, mit diesem Sang im Herzen war ich 1870 zur Alma mater der Ruperto-Carolina zurückgekehrt, um mich in ihren weichen Armen vom Doctor juris zum Doctor philosophiae hinüberwiegen zu lassen. »Altheidelberg, du feine« summte alles dankbar-begeistert in mir, als seine Bergwald-, Schloß- und Neckarherrlichkeit mich im nächsten Jahr unter seine Universitätslehrer aufnahm; und »Altheidelberg, du feine« hallte alles in mir nach, als ich nun endlich im Herbst 1872, inzwischen an den heiligsten Stätten der Kunst gefeit und geweiht, in Heidelberg wieder einzog, um von dem Rechte, das die Universität mir verliehen, Besitz zu ergreifen und mutigen Herzens selbst die Lehrkanzel zu besteigen.

Als ich nun wieder auf dem breiten Altan vor der efeuumrankten Schloßruine stand und schauensselig auf das lachende Neckartal hinabblickte, in dem die liebe alte Musenstadt, von dem schmuckbarocken Helm ihrer gotischen Heiligengeistkirche überragt, sich so lang und schmal stromaufwärts und stromabwärts hindehnt, glitt ein stillbefriedigtes Lächeln über meine Lippen. Wie stolz war ich gewesen, in der alten Universitätsstadt, der ältesten des neuen Deutschlands, nächst denen von Prag und Wien auch der ältesten des alten Reiches, leben, lernen und einen Doktorhut erwerben gedurft zu haben. Wie stolz durfte ich nun auch sein, zu den Lehrern der berühmten Universität zu gehören, als deren größtes Ruhmesblatt mir immer erschien, daß sie im Einverständnis mit ihrem Kurfürsten Karl Ludwig, einem Fürsten, der im Reichskriege gegen Frankreich alle Zumutungen des französischen »Sonnenkönigs« so standhaft zurückgewiesen, gerade im Anfangsjahr dieses Krieges (1673) den Mut fand, dem großen Weltweisen Spinoza, wenn auch erfolglos, einen Lehrstuhl in ihrer Mitte anzubieten. Freilich war ein »Privatdozent«, wie ich, amtlich in der Reihe der Meister der Wissenschaft natürlich nur erst geduldet. Mitzusprechen in den Angelegenheiten der Alma mater hatte er noch kein Wort. Sozusagen stand er noch zwischen den Studenten und den Professoren in der Mitte. Aber er hatte doch auf der ersten Sprosse der Himmelsleiter Fuß gefaßt, die geradeswegs zu allen weiteren akademischen Würden emporführte; und die Professoren, die ihm die Venia legendi erteilt, legten doch Wert darauf, ihm außeramtlich als jüngerem Kollegen freundlich zu begegnen.

Außer dem Rechte, Vorlesungen zu halten, hatte der Privatdozent freilich noch ein Hauptrecht, das ich freudig begrüßte und gründlich ausnutzte. Er hatte das Recht, frei in den großen Büchersälen der Universitätsbibliothek umherzustöbern, nach ihm noch unbekannten Golde zu schürfen, sich selbst die Bücher, die er brauchte, auszusuchen und mit nach Hause zu nehmen. In der Bibliothek selbst aber standen ihm nun auch alle handschriftlichen Schätze der berühmten alten »Palatina« zur Verfügung, die, bis auf die kostbare Minnesängerhandschrift des Manesse-Codex, die erst anderthalb Jahrzehnte später aus Paris zurückkam, alle Entführungsschicksale und Entwendungsnöte siegreich bestanden hatten. Jetzt hatte ich Muße, mich in den Bücherschätzen zu vergraben; und, schwere Bücher unterm Arm, bin ich – wie oft! wie gern! – zwischen der Bücherei und meiner Wohnung hin und her gewandert.

Ein »Bücherwurm« glaube ich freilich nie gewesen zu sein. Die Bücher waren mir immer nur Mittel zum Zweck. Jedenfalls war es damals wie zu allen Zeiten meines Lebens zunächst mein Streben, »nicht weniger, nicht mehr« als Mensch zu sein, ein Mensch mit der Kraft, »die herrliche Natur, die ihm als Königreich« gegeben, »zu fühlen und zu genießen«, aber auch ein Mensch unter Menschen zu sein, womöglich unter Menschen, die es verdienten, als Krone der Schöpfung gefeiert zu werden.

Wenn ich die Wahl gehabt hätte, in den engen Straßen eines Städtchens ohne landschaftliche Reize und ohne freie Menschengeister lernend und lehrend der Bücherweisheit zu dienen, oder in schöner Natur, mit lieben, gleichgestimmten Menschen gelehrig durchs Leben pilgernd, meine Einzelseele der Seele des Alls zu nähern – die Entscheidung wäre mir nicht schwer gefallen. In Heidelberg war ich nicht vor diese Wahl gestellt. In der nicht eben großen, nicht eben kühn geschnittenen, aber waldfrischen und wunderlieblichen, im Frühling in unendlicher Pracht erblühenden Natur des Neckartales, auf den waldigen Höhen, die es säumen, und an der romantischen Bergstraße, die sich draußen in der Rheinebene unter ihnen entlang zieht, genoß ich des täglichen Umgangs gleichgestimmter, teils hoch gelehrter und tief durchgeistigter, teils poesieverklärter und »feuchtfröhlicher« Menschen jedes Alters, unter denen auch verehrte und liebe Freunde vergangener Zeiten mich erwarteten; und herrschend schwebte über diesem Einklang von Menschen und Natur jene Weisheit, die auch Scheffel in seinem Liede an Heidelberg voranstellte. »An Weisheit schwer und Wein« nannte er es.

Noch blickte das eherne Standbild des Dichters nicht von der Höhe der Schloßterrasse auf die Stadt herab, der er den Strahlenkranz ums Haupt gewunden. Aber der Geist Viktor von Scheffels wehte damals noch quellfrisch durch die Gassen der Neckarstadt und über den Wellen, die sie durchrauschen.

Kaum ein Tag verging in meinen Heidelberger Jahren, an dem ich nicht im alten, laubgründurchwachsenen Schloßhof alle Reize einer Bau- und Bildkunst, die die Natur sich zurückerobert hatte, auf mich hätte wirken lassen und von der vorspringenden Gartenterrasse des Schlosses hinabgeblickt hätte auf den Ausgang des eng umgrenzten Neckartales in das weite Rheintal bis zum Speyerer Dom und weiter aufwärts bis zu den in Ferneblau verschwimmenden Wasgaubergen. Keine Woche verging ohne Verbrüderungswanderungen mit Bergen und Burgen, mit Felsen und Wäldern, mit Blütenwiesen und rauschenden Wassern.

Mächtig lockte der Blick von der Schloßterrasse in die Ferne, und schon in der näheren Umgebung Heidelbergs, die in Halbtagsausflügen zu erreichen ist, ragen Zeugen und Musterschöpfungen der großen Geschichte der deutschen Kunst, vor allem der Baukunst, aus den grünen Bergen und weiten Tälern empor. Neue Einsichten gewann ich hier gerade auf dem Gebiete dieser Kunst, die mich auf allen meinen bisherigen Reisen mehr gepackt als wissenschaftlich beschäftigt hatte, mir aber doch so nahe lag, daß ich eine der Thesen, die ich bei meiner Habilitation öffentlich zu verteidigen hatte, dem Gebiete der mittelalterlichen Kirchenbaukunst entnommen hatte.

Jetzt erst fing ich eigentlich an, das Heidelberger Schloß, das ich bisher hauptsächlich als malerischste und großartigste aller deutschen Schloßruinen genossen hatte, kunstgeschichtlich zu studieren; und immer näher trat es mir dadurch, immer fester wuchs es mir ans Herz. Je mehr ich mich in seine Wunder vertiefte, desto strahlender baute es sich in seiner bodenwüchsigen roten Sandsteinpracht, von grünem Waldlaub umhegt, vor meinem Geiste wieder auf. Tritt hier doch, trotz alles nicht wieder gutzumachenden Schadens, den die feindlichen französischen Bomben des 17. Jahrhunderts an dem Meisterwerke der deutschen Baukunst angerichtet haben, deren ganze Entwicklung von der deutschen Spätgotik durch die deutsche Renaissance hindurch zum deutschen Frühbarock klar und gewinnend zutage. Daß aus der Mischung der italienischen Renaissanceformen mit dem germanischen Grundgefühl ein neuer Stil hervorgegangen ist, der – einerlei, ob er sich als deutsche oder als niederländische Renaissance gibt – als solcher gewürdigt sein will, war mir noch nirgends so unmittelbar zum Bewußtsein gekommen wie in der Stille des weiten Heidelberger Schloßhofes. Magnetisch zieht es den Blick vor allem nach der Nordostecke des Hofes, wo der »Saalbau« Friedrichs I. und der »Ottheinrichsbau« des Fürsten, der diesen Namen trug, in rechtem Winkel aneinander stoßen. Wie stämmig und breitschulterig kehrt der »Saalbau«, dessen Hauptraum ehemals schon ganz mit Spiegelwänden umgeben war, dem Hofe seine von kurzen Säulen mit krausen Kapitellen getragenen drei Rundbogenhallengeschosse zu! Wie reich und üppig und doch wie stark und klar baut sich die Schauseite des Ottheinrichsbaues auf, obgleich sie ganz in Rundnischen mit Standbildern, Rechteckfenster mit Dreieckgiebeln, schlanke ionische Pilaster und kurze, glatte korinthische Halbsäulen aufgelöst ist! Wieviel ruhiger und höher im ganzen, wenngleich bewegter in Einzelheiten streben die beiderseitig erhaltenen Schauseiten des dem Altan und dem Hofe zugewandten »Friedrichsbaues« empor, die gerade in der Auflösung aller Flächen den Nachklang gotischen Empfindens mit der Ottheinrichsfassade teilen, durch das gleichmäßige Höherstreben ihrer Verhältnisse und die ausgeschwungenen Umrisse ihrer erhaltenen Dachhausgiebel aber schon frühbarock wirken.

Gerade wer diesen Prachtbau deutscher Baukunst, der trotz aller italienischen und niederländischen Beimischungen als deutsche Eigenschöpfung dasteht, täglich vor Augen hat, wird sich aber auch fragen, welchen Anfängen diese deutsche Baukunst entsprossen sei und welchen Zielen ihre Weiterentwicklung zugestrebt habe. Ich empfand es als besonderes Glück, gerade in der Umgebung Heidelbergs Bauschöpfungen zu begegnen, die beide Fragen nach beiden Richtungen so zusammenhängend beantworten, wie die Bauten kaum einer anderen Gegend. Liegt doch, abgesehen vom Aachener Münster, zunächst fast alles, was von Deutschlands karolingischer Baukunst erhalten ist, in diesem Umkreis: gleich jenseits des Neckars auf dem Heiligenberge die karolingische Michaelisbasilika, von der man damals freilich mehr hörte als sah, während heute von ihren Grundmauern und einzelnen Werkstücken wenigstens so viel wiederausgegraben ist, daß der Eingeweihte sich die Entwickelung des karolingischen Stils zum frühromanischen aus ihren beiden aufeinanderfolgenden Anlagen vergegenwärtigen kann; dann, weiter drinnen im Odenwalde, in Steinbach bei Michelstadt, die karolingische Einhardbasilika, von deren Mittelschiffarkaden noch genug aufrecht steht, um uns ein Stück vorromanischer deutscher Baukunst vor Augen zu führen; draußen in der Rheinebene aber, von der unteren Bergstraße leicht zu erreichen, der wohl erhaltene, zierlich feste Torbau des ehemaligen Benediktinerklosters Lorsch aus dem 9. Jahrhundert, der mir wirklich eine neue Offenbarung war. Wie breitspurig fest das Erdgeschoß mit seinen weiten Rundbogen, zwischen denen schlanke hohe Halbsäulen mit echt römischen Kompositkapitellen emporstreben! Wie eigen die niedrigere Oberwand, die durch sechs gefurchte, ionisierende, aber nicht durch Rundbogen, sondern durch hochstehende Dreiecke verbundene Pilaster gegliedert ist! Wie fremdartig die teppichartige Musterung der ganzen Wandflächen mit kleinen, abwechselnd roten und weißen Steinchen! Wie barbarisch wirkte diese Mischung echt hellenistisch-römischer, altorientalischer und altgermanischer Motive auf mich ein; und doch wie anmutig stand, unbefangen betrachtet, der Gesamtbau als in sich selbst gefestigte Neuschöpfung frühdeutscher Baukunst vor mir da!

Mehr als einmal besuchte ich den jener Schloßterrasse gegenüber in blauer Ferne bei klarem Wetter erkennbaren Dom von Speyer, in dem ich schon früher den folgerichtigsten, größten und schönsten deutschromanischen Dombau verehren gelernt hatte, mehr als einmal auch – am Neckar selbst – in Wimpfen die romanische Kaiserpfalz mit ihren sich in dem Strom spiegelnden, von Doppelsäulchen mit Würfelkapitellen getragenen Rundbogenarkaden und die gotischen Kirchen, die uns die feinste Blüte des Spitzbogenstiles vergegenwärtigen, dessen nüchterne späte Entwicklung die Heiligegeistkirche in Heidelberg selbst uns täglich vor Augen stellte.

Ja, alles das war ein Stück früh- und spätmittelalterlicher Baugeschichte, wie man es in gleichem Umkreise kaum wieder beieinander fand, und hinzu kam, aus dem 18. Jahrhundert, im nahen Schwetzingen das Musterbeispiel eines Schloßparkes, in dem man die Entwickelung der Gartenkunst vom architektonisch französischen zum malerisch englischen Stil vorzüglich verfolgen konnte, und im nicht viel ferneren Bruchsal das herrliche Schloß, ein Musterbeispiel jener zugleich großartigen und feinfühligen, vom Barock zum Rokoko hinüberleitenden deutschen Baukunst der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die, trotz der ähnlichen Entwickelung in Frankreich, einzig in ihrer Art war. Gerade der größte deutsche Baumeister dieser Zeit, Balthasar Neumann, hatte die maßgebenden Teile des Bruchsaler Schlosses, namentlich das brückenartig freischwebende, überaus reizvolle Treppenhaus und eine Reihe seiner schönsten Innenausstattungen geschaffen. Von seinen Nachfolgern rührten die echten Rokokozierflächen einiger Gemächer her, die zu den feinsten der Welt gehören. Alle Reize dieses Stiles, an dem ich, anderen Aufgaben zugewandt, an anderen Orten ziemlich achtlos vorbeigegangen war, enthüllten sich mir hier in ihrem ganzen zarten und überaus eigenartigen Reichtum. Ich hatte eine neue Einsicht und eine neue Liebe gewonnen.

 

Zur Kunst und Natur Heidelbergs und seiner Umgebung, die ich in vollen Zügen genoß, gesellten sich aber auch die Kreise befreundeter und so oder so gleichgestimmter Menschen, unter denen es sich verlohnte, Mensch zu sein.

Trotz meines Münchner Halbjahrs und meines vollen Kunstreisejahrs bildet meine Heidelberger Zeit in dieser Beziehung von 1870 bis 1874, abgesehen vom Kommen und Gehen einzelner, ein ziemlich einheitliches Ganzes. Als ich 1870 und 1871 nach Heidelberg zurückgekehrt war, hatte ich dort noch eine Nachblüte der Studentenverbindung erlebt, der ich seit 1863 angehört hatte. Natürlich wurde ich in ihrer Mitte, wie üblich, als »alter Herr« mit Freuden aufgenommen und mit Freundschaft verwöhnt. So viel älter als ihre »Aktiven« war ich auch nicht, als daß ich mein Herz nicht noch wie das ihre hätte schlagen fühlen. Ist mir doch auch noch nach Jahrzehnten der Verkehr mit Jüngeren immer ein Jungbronn gewesen, der mir ein Stück meiner Jugend zurückgab. Sogar eine Jugendfreundschaft nach alter Art, eine Herzensfreundschaft fürs Leben, die sich auf unsere Kinder vererbt hat, trug mir dieser Verkehr noch 1871 ein. In unserer Verbindung schloß sich damals ein junger Deutschschweizer mit seelenvollen braunen Augen, Gustav Reimann aus Aarau, aufs herzlichste an mich an. Ihm sang ich:

Noch einmal an der eh'rnen Schwelle,
An ernster Pflichten strengem Tor,
Trug mich zu warmer Sonnenhelle
Ein kurzer Jugendtraum empor.

Noch einmal hat mit Götterfunken
Das Burschenleben mich erwärmt,
Noch einmal hab' ich mitgetrunken
Und mitgesungen, mitgeschwärmt.

Noch einmal hat mich hold umwunden
Der Jugendfreundschaft Rosenband,
Das, Freund, sich, da ich dich gefunden,
Mir weich um Herz und Seele wand.

Weshalb? wodurch? Ach, das sind Fragen,
Auf die es keine Antwort gibt.
Genug, wir haben uns vertragen,
Wir haben herzlich uns geliebt.

Jetzt heißt es auseinandergehen.
Mir ist nicht leicht zu Mut und froh.
Wer weiß, ob wir uns wiedersehen?
Und keiner kennt das Wann und Wo.

Vielleicht, daß wir nach grauen Jahren,
Wenn unsrer Jugend Stern erblich,
Desselben Wegs zufällig fahren,
Philister du, Philister ich.

Von andren Banden dann umwunden
Und voll zufrieden mit dem Tausch,
Gedenken lächelnd wir der Stunden,
Die wir verlebt im Jugendrausch.

Und doch, wer so wie wir gesprochen
Und wie gesprochen so getan,
Dem kann das Alter wohl den Knochen,
Doch Alter nicht der Seele nahn.

Und doch, ich fühl's: dies reiche Leben,
Das uns vereint hat, frisch und hold.
Wird noch in unser Alter weben
Mit hellen Fäden lautres Gold.

Im Sommer 1872 löste die Studentenverbindung, der wir angehört hatten, sich auf. Gustav Reimann, der kein hohes Alter erreichte, zog in die Schweiz zurück, wo er in seiner juristischen Laufbahn Fürsprech, in der schweizerischen Landesbewaffnung Oberstleutnant wurde. Von seinen Kindern erfreute sich seine schöne Tochter Paula vor ihrer glücklichen Verheiratung verdienten Ansehens als Schauspielerin am Deutschen Theater in Berlin.

In Heidelberg aber nahm mich ein anderer Freundeskreis auf, dessen meiste Mitglieder ungefähr von gleichem Alter wie ich waren: der Kreis der » Referendaria«, einer geselligen Vereinigung, die, wie ihr Name zeigt, ursprünglich von jungen Juristen gegründet, damals hauptsächlich aus Privatdozenten und außerordentlichen Professoren der Universität, aus Gymnasialprofessoren, Ärzten und berufslosen Freunden der Wissenschaft bestand. Es war eine durchaus zwanglose Gesellschaft, die sich nur aus einem gewissen Gefühl geistiger und gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit ergänzte. Hier traf ich, um nur einige zu nennen, meinen alten Göttinger Freund Arnold Gaedeke, der sich als Privatdozent der Geschichte in Heidelberg niedergelassen hatte, traf ich den Privatdozenten Otto Waltz, den nachmaligen Professor der Geschichte an der Universität Dorpat, traf ich den Privatdozenten Heinrich Thorbecke, der 1885 Professor der arabischen Sprache an der Universität Halle wurde, und seinen sehr sympathischen Bruder Professor August Thorbecke, der Vorstand einer höheren Schule in Heidelberg war. Hierher gehörte auch August Eisenlohr, der außerordentliche Professor der Ägyptologie in Heidelberg. Bei ihm belegte und hörte ich noch ägyptische Grammatik, in deren Elemente er mich wenigstens einführte. Hierher gehörten aber auch Albert Bürklin, der später vielgenannte Karlsruher Theaterintendant und Staatsmann, und der große Physiologe und Philosoph Wilhelm Wundt, der seit 1865 außerordentlicher Professor in Heidelberg war, 1874 aber nach Zürich und im nächsten Jahre nach Leipzig berufen wurde. Oft genug bin ich damals diesem Manne begegnet, dessen Bedeutung mir erst viel später aufging; und freundschaftlich genug habe ich, wie mit allen anderen, auch mit ihm verkehrt, ohne daß wir uns besonders nähergetreten wären.

Auch aus diesem Kreise erwuchs mir, außer Arnold Gaedeke, der später, wie ich, nach Dresden berufen, unzertrennlich mit langen Jahrzehnten meines Lebens verbunden blieb, noch ein wirklicher Freund in Gustav Waltz, der praktischer Arzt in Heidelberg, außerdem aber geistreicher Gelegenheitsschriftsteller und Übersetzer war. Er war ein Bruder jenes tüchtigen Geschichtschreibers Otto Waltz; beider Wiege hatte in der ihrerzeit viel besuchten Waltzschen Konditorei am Markt zu Heidelberg gestanden. Gustav Waltz war ein überaus feinnerviger Mensch. Weil er seine Mitmenschen nicht leiden sehen konnte, verzichtete er schon in jungen Jahren auf die Ausübung seines ärztlichen Berufes, um als Junggeselle, der vielen als Sonderling erschien, ein stilles, aber geistig bewegtes Leben in seiner Vaterstadt zu führen. Einerseits lyrisch-weich, andererseits ohne Bosheit sarkastisch veranlagt, hatte er einen scharfen Blick für die Schwächen seiner Mitmenschen, die er in treffsicheren, meist doch in Prosa gestalteten Epigrammen geißelte. Die meisten dieser Aussprüche wurden als »Gedankensplitter« in den »Fliegenden Blättern« veröffentlicht, aber auch, vereinigt, in einem Sammelbändchen gedruckt. Zum großen Verdrusse Kuno Fischers, des berühmten Heidelberger Philosophen jener Tage, bezeichnete Gustav Waltz sich gelegentlich als den »Heidelberger Weltweisen«. Bedeutsam sind seine mit Hexametern durchsetzten Übersetzungen der lateinischen Romane John Barclays, des Geheimsekretärs, Freundes und Gesandten Jakobs I. von England; die Übersetzung seines politischen Romans »Argenis« erschien 1891 in München; die des satirischen Romans »Euphormio« 1902 in Heidelberg. Diese beiden Übersetzungen, die uns mitten in die Gedankenwelt des 17. Jahrhunderts führen, zeugen von der großen Sprachgewandtheit meines Freundes. Noch packender aber tritt diese in seiner meisterhaften Übertragung der Satiren des römischen Nachklassikers Petronius hervor, die sich den vornehmsten Werken deutscher Übersetzungskunst anreiht. Gustav Waltz starb einsam und menschenscheu als Sechziger in seiner Vaterstadt. Nur einmal hat er eine Einladung in mein Haus nach Dresden angenommen. Aber unsere Freundschaft ist bis an sein Lebensende ungetrübt geblieben. Er war eine Persönlichkeit besonderen Schlages, deren Wert nur die wenigen, die ihm nahestanden, voll zu würdigen wußten.

Die eigentlichen berühmten Universitätsprofessoren lernte ich teils in den Hausgesellschaften bei mir befreundeten anderen Gelehrten, teils abends in den Lese- und Gaststätten der Gesellschaft »Museum« kennen, die einen gemeinsamen Mittelpunkt abendlicher Zusammenkünfte von Professoren und von Studenten bildete. Wollten die Professoren und Dozenten sich von den Studenten absondern, so zogen sie sich in ein besonderes Zimmer zurück. Mit Freude und Genugtuung erinnere ich mich der Abende, an denen ich hier mit Männern wie Heinrich von Treitschke, dem großen Geschichtsforscher unserer großen Zeit, mit Kuno Fischer, dem allbekannten Philosophen, mit Hermann Helmholtz, dem gewaltigen Naturforscher, mit Karl Bartsch, dem bedeutenden Literarhistoriker, mit Gustav Robert Kirchhoff, dem berühmten Physiker, der mit Wilhelm Bunsen die Spektralanalyse entdeckt hatte, und mit Bunsen selbst, dem großen Chemiker, in geistig angeregter Unterhaltung beim Glase Wein zusammengesessen.

Besondere Anregungen empfing ich in dem wissenschaftlichen Montagsverein der philosophischen Fakultät, der aus seiner Mitte heraus Vorträge zu gegenseitiger Belehrung veranstaltete. An diesen Vortragsabenden erinnere ich mich auch, dem Theologen Adolf Hausrath, dem Vorkämpfer freichristlicher Auffassungen, näher getreten zu sein, der später unter dem Namen George Taylor vielgelesene Romane aus der altrömischen Welt, wie »Antinous« und »Klytia«, schrieb. Sie gehörten mit denen von Georg Ebers und Felix Dahn in die Klasse jener geschichtlichen Professorenromane, die heute ihren damaligen hohen Kurs eingebüßt haben. Eine Hauptrolle spielten in diesem Verein aber auch die meiner eigenen wissenschaftlichen Richtung nahestehenden Philologen und Archäologen, von denen mein alter Freund und Gönner Karl Bernhard Stark mich betreute, sooft und solange ich in Heidelberg war, während Otto Ribbeck, der 1877 an Friedrich Wilhelm Ritschls, des Großen, Stelle nach Leipzig ging, mir während meiner letzten Heidelberger Dozentensemester ein freundlich gesinnter Berater wurde. Im Montagsverein hielt ich selbst einmal einen Vortrag, in dem ich zum ersten Male zusammenfaßte, was ich von der Landschaftsmalerei der Griechen und Römer erkundet hatte.

siehe Bildunterschrift

Tafel 12
Dr. med. Gustav Waltz. Der »Heidelberger Weltweise«
(1890)

Nur im Sommer 1870 aber kann ich den berühmten großdeutschen Politiker und Literaturgeschichtschreiber Georg Gottfried Gervinus besucht haben, der schon im März 1871 starb. Ich erinnere mich, anregende Stunden in seinem Hause verlebt zu haben. Gervinus hatte bekanntlich zu den sieben Göttinger Professoren gehört, die 1837 wegen ihres Einspruchs gegen die Wiederaufhebung der freiheitlichen Verfassung Hannovers durch den König Ernst August abgesetzt worden waren. Seit 1844 wirkte der große, wenngleich immer etwas doktrinäre Literatur- und Kulturhistoriker als Ehrenprofessor in Heidelberg. Seine Geschichte der deutschen Nationalliteratur, die Karl Bartsch vollendete, und seine Bücher über Shakespeare und über Shakespeare und Händel gehörten damals zu meinen Evangelien. Da Gervinus sich als entschiedenen Gegner Preußens und Bismarcks bekannte, sprach ich nicht gern über Politik mit ihm. Aber zu dem Verfasser der berühmten literaturgeschichtlichen Werke, dessen starke Persönlichkeit sich schon in seinem großzügigen Äußeren aussprach, schaute ich mit Andacht empor.

Gervinus hatte viel dazu beigetragen, die Verehrung Shakespeares, die in Deutschland damals ihren Höhepunkt erreicht hatte, bis zum Fanatismus zu steigern. Die Stimmen der Gegner, wie die Georg Rümelins in seinen »Shakespearestudien« und die Roderich Benedix' in seinem Buche »Shakespearomanie«, fanden nur geringen Widerhall. Shakespeare war unter den Dichtern damals auch mein Abgott; und er ist es bis zu einem gewissen Grade geblieben. Eine Bacon-Frage gab es damals noch nicht und gibt es für mich auch heute noch nicht. Daß ein anderer als Shakespeare, und wäre er auch der große Staatsmann und Philosoph Francis Bacon, die Dramen geschrieben habe, die Shakespeares Namen tragen, halte ich für undenkbar, solange das Gedicht Ben Jonsons, des Zeitgenossen, Freundes und Mitbewerbers Shakespeares, auf diesen nicht aus der Welt geschafft ist. Wenn Ben Jonson ihm nachruft:

»Und kanntest du auch wenig nur Latein,
Noch weniger Griechisch, war doch Größe dein,
Vor der sich selbst der Donnrer Äschylus,
Euripides, Sophokles beugen muß«,

so sind für mich damit alle Einwände der Afterweisheit erledigt, die darauf hinauslaufen, der Schauspieler Shakespeare habe nicht so viel Latein und Griechisch und nicht so viel Natur- und Rechtswissenschaft verstehen gekonnt, wie der Dichter Shakespeare offensichtlich gekannt und verstanden habe.

So sehr auch ich von der Wucht des Donnerers Äschylos hingerissen und von der Schönheit der Tragödien Sophokles' erfüllt war, Shakespeare schien mir die Griechen damals so hoch zu überragen wie ein gotischer Dom den griechischen Tempel. Eine Shakespeare-Bühne aber gab es in nächster Nähe Heidelbergs nicht. Um die Kunst Shakespeares, ohne die das Leben mir eng und kahl erschienen wäre, in mir wirken zu lassen, lud ich einen Kreis ebenso empfindender Freunde, unter denen sich Gaedeke, die beiden Thorbeckes und die beiden Waltz befanden, zum Lesen der Dramen des Meisters mit verteilten Rollen jede Woche einmal in meine Wohnung ein. Alle Stücke des großen Welt- und Menschenkenners haben wir uns auf diese Weise wieder vergegenwärtigt. Im Spiegel, den er allen Zeiten vorgehalten, haben wir auch die unsere wiedererkannt. Alles menschliche Erleben haben wir in uns nachzittern gefühlt; und in anregendem Meinungsaustausch pflegten wir bis nach Mitternacht zusammenzubleiben.

Ja! wie an Kunst und Natur fehlte es mir in Heidelberg wahrlich nicht an Menschen, mit denen ich Mensch sein konnte. Eines Mannes aber muß ich noch gedenken, dessen Wohlwollen und Freundschaft von dem größten Einfluß auf mein ganzes späteres Berufsleben geworden ist, Alfred Woltmanns (1841-80), der einer der hervorragendsten Vertreter der Kunstgeschichte unseres älteren Geschlechts war. Als Enkel des seinerzeit berühmten Geschichtschreibers Karl Ludwig von Woltmann 1841 in Berlin-Charlottenburg geboren, war er nur drei Jahre älter als ich, mir aber, da er sich von Anfang an unter der Leitung des alten G. F. Waagen in Berlin der Kunstgeschichte gewidmet hatte, auf diesem Gebiete weit voraus. Sein zweibändiges Werk über Hans Holbein den Jüngeren und seine Zeit, dessen erste Auflage schon 1866-68 erschienen war, hatte seinen Namen rasch auf aller Lippen gebracht. Er hatte sich an der Berliner Universität habilitiert, wurde aber gleich 1868 als Professor der Kunstgeschichte an die Technische Hochschule nach Karlsruhe berufen. Gleichzeitig mit mir hatte er sich, um die Fühlung mit den Universitäten nicht zu verlieren, nebenher im benachbarten Heidelberg als Privatdozent habilitiert; und hier sprach er zweimal die Woche über deutsche Kunst. Ich besuchte diese Vorlesungen des Kollegen; und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen uns, deren Hauptfrucht in der Folge unsere gemeinsame Geschichte der Malerei war, ergaben sich von selbst.

Woltmann trug, wie die eingefallene Brust der lang aufgeschossenen Gestalt ahnen ließ, schon damals den Keim seines frühen Todes in sich. Aber seine scharf, doch nicht hart geschnittenen Züge, aus denen zwei lebhafte hellbraune Augen durch eine goldene Brille blitzten, sprühten noch warmes Leben; und die reiche Tätigkeit, die er seit 1873 als Professor der Kunstgeschichte an der Universität Prag, seit 1877 an der Straßburger Universität entfaltete, zeugt von der geistigen Kraft, die er sich bis kurz vor seinem Ende bewahrte. Er starb 1880 in Mentone.

Die meisten der damaligen Heidelberger Professoren waren so fesselnd und vornehm dreinblickende Vertreter ihres Standes, wie mein Freund Karl Lemcke, den ich 1872 nicht mehr in Heidelberg fand, sie in seiner »Ästhetik« geschildert hatte.

Gervinus war eine stattliche, fast derbknochige Erscheinung mit offenen, nicht eben regelmäßigen, aber groß geschnittenen Gesichtszügen, in denen sich, als ich ihn kennenlernte, nur leise eine gewisse Verbitterung über den Verlauf der deutschen Geschichte seit 1866 widerspiegelte. Treitschke, der Sprosse eines sächsischen Adelsgeschlechts, dessen meiste Mitglieder ihn, den Hauptverfechter eben dieses Verlaufs der deutschen Geschichte, damals noch als Abtrünnigen betrachteten, war von alledem das Gegenteil. Seinem Äußeren nach hätte man ihn, den dunkel-glutäugigen Schwarzhaarigen, mit seiner bräunlichen Hautfarbe und seinen regelmäßigen, wenn auch etwas derb geschnittenen Zügen eher für einen Romanen als einen Germanen halten gekonnt. Eine Kinderkrankheit hatte ihm das Gehör geraubt. Er hörte sich selbst nicht sprechen, mußte daher bei seinen Reden manchmal schwer und anscheinend vergeblich ansetzen, bis er in Fluß kam. Auch konnte er die Doppellaute nicht aussprechen; »über« z. B. lautete bei ihm wie »uber«. Aber das zündende und begeisternde Feuer seiner Rede ließ diesen Mangel seiner Aussprache rasch vergessen. Seine Verehrer hätten sie als ein Stück von ihm vielleicht kaum vermissen mögen. Mit besonderer Freude erinnere ich mich der Abende, an denen ich, ein begeisterter Anhänger seiner deutschen Geschichtsauffassung, in eingehender Unterhaltung allein neben ihm im »Museum« saß. Was ich sagte, mußte ich auf kleinen Zetteln, die er bei sich führte, niederschreiben; und die Unterhaltung stockte kaum. An einer Unterhaltung zu mehreren konnte er natürlich nicht teilnehmen.

Wieder ein ganz anderer Typus war Kuno Fischer, mit dem ich auch manchen Abend im »Museum« zusammengesessen, ohne mich ihm wirklich zu nähern. Sein bartloser, gepflegter, etwas quadratischer Kopf entsprach seiner ganzen sorgsamen leiblichen Haltung. Er überlegte jeden Satz, den er sprach. In seinen Wort für Wort wohlvorbereiteten Vorlesungen trug er eine unverkennbare Selbstgefälligkeit zur Schau, die sich namentlich in der Art aussprach, wie er zur Bewunderung seiner wohlgebildeten Hand aufforderte, indem er sie vorn am Katheder herabhängen ließ. Wunderbar fesselnd in ihrer sachlichen Klarheit und formellen Abrundung wären seine Vorträge auch ohne das gewesen. Im Urteil über Gegner oder laue Bewunderer war er gelegentlich schonungslos; aber er war zu klug, um bei geselligen Unterhaltungen das Gefühl seiner Überlegenheit, das ihn nie verließ, in besonders unangenehmer Weise hervorzukehren. Geistvoll und durchdacht war stets jede seiner Äußerungen. Man mußte ihn bewundern, konnte sich aber nicht für ihn erwärmen.

Eine besonders anziehende Gelehrtenerscheinung hingegen war Helmholtz, dessen feingebildeter Kopf durch seinen zugleich scharf beobachtenden, teilnehmend wissenden und freundlich wohlwollenden Blick einen ungemein angenehmen Ausdruck erhielt. In der Unterhaltung war Helmholtz einfach und natürlich. Man konnte viel von ihm lernen und gewann ihn unversehens lieb.

Die volle Größe dieser und anderer Männer, die sich zum Teil auch erst später offenbarte, war mir, dem Anfänger in meinem Fach, noch kaum zum Bewußtsein gekommen, als ich mich gelegentlich, wie mit meinesgleichen, mit ihnen unterhalten durfte. Jedenfalls fehlte es mir in den drei Semestern meiner Heidelberger Tätigkeit als Privatdozent nicht an mannigfachen Ein- und Ausblicken in Wissenschaft, Kunst und Leben, die meinen Gesichtskreis erweiterten und mein Weiterstreben vertieften.

Meine eigene Tätigkeit war zwischen meinen Vorlesungen und meinen schriftstellerischen Arbeiten geteilt. Ich las über Pompeji und über die Geschichte der antiken Malerei, betonte aber auch meinen Übergang zur neueren Kunstgeschichte durch mein »Publikum« über Michelangelo, das ich in meinen beiden letzten Heidelberger Semestern las. Pompeji und Michelangelo! Nach der ganzen Richtung, die meine Studien in Italien genommen hatten, war es eigentlich selbstverständlich, daß ich mich mit ihnen zuerst befaßte.

Pompeji! Es war mir eine Herzensfreude, mit den jungen Leuten, die sich meiner Führung anvertraut hatten, im Geiste und an der Hand guter Abbildungen die wiederausgegrabene, wenn auch nur als Ruinenfeld aus der Asche des Vesuvs erstandene, lebensfrohe und wohlhabende römische Landstadt auf großgriechischem Boden wieder zu besuchen; es war mir ein Bedürfnis, meine Hörer im Herzen des Trümmerfeldes auf dem alten, von tiefen Wagengleisen durchfurchten Lavapflaster von einer Stätte antiken Lebens und antiker Kunst zur anderen, von der Porta Marina zur Säulenhalle der Basilika und zum Apollotempel, über das lange Rechteck des Forums zum ragenden Jupitertempel und in die öffentlichen, so zweckentsprechend und so geschmackvoll eingerichteten Badeanstalten der Thermen zu begleiten, sie aber auch zu den wohlerhaltenen, im Halbrund ansteigenden Stufensitzen der beiden Theater zu führen und mit ihnen in Gedanken eines der feinen, mit behaglichem Luxus ausgestatteten, mit einer Fülle von Gemälden geschmückten Wohnhäuser nach dem anderen von dem Eingangsraum ihres Säulenatriums zu dem bilderreichen Empfangsraum des Tablinums und von diesem zu dem hinteren Säulenhof, zu den Speisezimmern und allen dem täglichen Leben dienenden Räumen zu durchwandern. Wie reich und mannigfaltig die Fülle der überall verteilten Wandgemälde, die öfter die Liebesgeschichten der alten Götter als die tragischen Begebenheiten der griechischen Heldensage, aber auch Landschaften und Stilleben jeder Art, und als besonderste Besonderheit die köstlichen, so sicher auf farbigem Grunde einherschwebenden Einzelgestalten darstellten! Wie verschieden alles von unserem Dasein, Leben und Empfinden! und doch wie menschlich verständlich, wie einschmeichelnd anmutig und wie einheitlich empfunden in seiner künstlerischen Verklärung des irdischen Lebens!

Eine noch größere Genugtuung aber gewährte es mir, vor einer größeren Anzahl von Zuhörern alles zusammenfassen zu dürfen, was ich angesichts der Schöpfungen Michelangelos innerlich erlebt und empfunden hatte. Wissenschaftlich gezwungen, zu lesen und zu verarbeiten, was andere über den gewaltigen Florentiner gedacht und geschrieben, schloß ich mich namentlich den Ausführungen des Kieler Anatomen Wilhelm Henke an, der nachgewiesen hatte, daß die machtvollen, überirdisches Leben und innere Seelenkämpfe veranschaulichenden Stellungen und Bewegungen seiner Prachtgestalten niemals über die anatomische, also natürliche Möglichkeit hinaus, aber bis an eine Grenze dieser Möglichkeit gehen, die nur durch die gewaltigsten seelischen Erlebnisse gezogen wird. Docendo discimus. Aus meinen Vorträgen über Michelangelo wuchs mir die künstlerische Gestalt des Meisters zu immer riesigerer Höhe empor.

Michelangelo, Rembrandt, Shakespeare und Beethoven waren damals die großen Sonnen am Himmel der Kunst, die mich mehr als alle anderen entflammten.

Zu so hohen Flügen erhoben die nächsten wissenschaftlichen Aufgaben, die ich mir gestellt hatte, mich freilich nicht. Aber am eigenen Schreibtisch mit der Feder in der Hand alles, was ich auf ihrem Gebiete zusammengetragen, gelesen und verglichen hatte, festzuhalten und zu gestalten, war mir ein stilles, in sich befriedetes Glück. Den Text zu meiner Ausgabe der antiken Odysseelandschaften vom esquilinischen Hügel in Rom schrieb ich gleich nach meiner Rückkehr von Italien im Herbst 1872 in Heidelberg. Es dauerte aber noch jahrelang, bis die Farbendrucke, die in Berlin hergestellt wurden, vollendet waren. Die ersten Kapitel meiner Geschichte der antiken Landschaftsmalerei schrieb ich 1873 in Heidelberg. Auch fingen, wie es mir in der Regel erst nach Jahresfrist geschah, meine Erinnerungen an das schöne Halbjahr, das ich in Neapel und in Pompeji verlebt hatte, jetzt an, sich poetisch zu gestalten; und die ersten der Elegien und Oden, die ich später unter dem Titel »Neapel« herausgab, sowie andere Gedichte wurden jetzt in Zeitschriften und in Dichterbüchern der Öffentlichkeit übergeben.

Bei alledem kam ich jetzt in das Alter, in dem auch im Herzen des verwöhnten jungen Mannes eine heiße Sehnsucht nach Frauenliebe am eigenen Herde allen Freundschaftstaumel und alle Junggesellenherrlichkeit nagend durchbricht. An Gelegenheit fehlte es mir in Heidelberg eigentlich nicht. Es gab eine ganze Reihe von Professorenfamilien, die, mit liebenswürdigen Müttern und schönen Töchtern beglückt, »Haus machten«, wie man zu sagen pflegt, zu Mittags- und Abendgesellschaften, im Winter auch zu Bällen, im Sommer zu gemeinsamen Ausflügen einluden und so in ihrer Art Mittelpunkte des geselligen Verkehrs bildeten. Die Zahl der Heidelberger Häuser, in denen ich zwanglos verkehren durfte, erweiterte sich nach meiner Rückkehr aus Italien zusehens. Nicht in allen gab es heranblühende Töchter. Zu den töchterlosen gehörten namentlich die gastfreien Häuser meines jungverheirateten Freundes Gaedeke, dessen treffliche Gattin von einem ostpreußischen Rittergut stammte, des bekannten Geschichtschreibers der Chemie Hermann Kopp, dessen Frau Bremerin war, des berühmten Philologen Otto Ribbeck, der gerade 1872 nach Heidelberg berufen worden war, und des Lübecker Historikers Wilhelm Wattenbach, dem seine noch in ihren weißen Locken anmutige Schwester Cäcilie, die Jugendfreundin Emanuel Geibels, den Haushalt führte. So gern ich in diesen Häusern verkehrte, unwiderstehlicher zog es mich doch in die Häuser, in denen liebliche junge Mädchenblicke des Freiers harrten.

»Klar ziehn des Stromes Wellen,
Blauäugelein blitzen drein.«

Der hübschen, sinnigen, lebenslustigen Heidelberger Haustöchter jener Jahre denke ich mit herzlicher Ehrerbietung und schelmischer Fröhlichkeit. Ach! wie oft fürchtete ich, in meinem Entschluß, nicht eher zu heiraten, als bis ich in fester Stellung sei, und mich nicht eher ernsthaft zu verlieben, als ich heiraten wollte, wankend zu werden. Wie leicht hätte der große kleine Flügelgott mir einen Strich durch die Rechnung machen können. Aber glücklicherweise hatte er noch ein Einsehen; und ich preise mich glücklich, daß ich seinen gelegentlichen Einflüsterungen nicht nachgab, bis er selbst die einzige, die für mich bestimmt war, herausgefunden hatte.

Aber schön und klug und liebenswürdig waren sie doch, die Heidelberger Mädchen jener Jahre; und wenn ich ohne die Freunde, die mich täglich umgaben, nicht leben konnte, so schien der Verkehr mit liebenswürdigen Frauen mir als die sonntägliche Süßigkeit, ohne die meinem Leben sein feinster Reiz gefehlt hätte.

Und doch! Wie oft irrte ich allein! Nicht immer zog ich, von Freunden und Freundinnen umgeben, durch Berg und Tal. Oft genug schweifte ich einsam, in Gedanken versunken, durch die Wälder und Felsen der Bergabhänge, oft genug auch saß ich allein und nachdenklich von meiner Arbeit emporblickend zu Hause an meinem Schreibtisch; und dann überfiel mich manchmal eine namenlose Angst, ob wohl etwas aus mir werden würde, ob ich nicht zu sorglos in den Tag hineinlebte. Das Gespenst des ewigen Privatdozenten, dem ich einmal, als ich einem solchen in seinem zwanzigsten Semester im Walde begegnete, teilnehmend die Hand reichte, fing in meinem dritten Dozentensemester an, mich, dürr und hager, auf stillen Waldwegen und in schlaflosen Nächten zu verfolgen.

Ich wußte ja, daß mein Vater, dessen Tatkraft ich bewunderte, von mir erwartete, daß auch aus mir »etwas würde«; und ich wußte, daß man in meiner Vaterstadt, in der ich mich noch mit allen Fasern wurzeln fühlte, nur einen Menschen achtete, der sich selbst seinen Lebensunterhalt erwarb. Ich aber lebte, als ich neunundzwanzig Jahre alt geworden war, noch immer so gut wie völlig aus der Tasche meines Vaters. Obgleich mein Vater jetzt, da meine Laufbahn vorgezeichnet war, nie mehr ein Wort in diesem Sinne verlor und ich wußte, daß ich ihm mit dem flotten Leben, das ich führte, nicht zur Last fiel, fing ich ab und zu an, mich dessen zu schämen.

Tatsächlich betrachtete ich, obgleich ich badischer Staatsbürger geworden war, mein Elternhaus in Hamburg immer noch als meine eigentliche Heimat. Nach allen Wanderjahren, die ich genossen, von Reiseeindrücken bis auf weiteres gesättigt und des Junggesellenlebens müde, das ich in Heidelberg zu führen genötigt war, brachte ich meine Ferien während meiner Privatdozentenzeit fast immer bei meinen Eltern und Geschwistern zu, im Winter immer noch in unserem alten Stadthaus in Hamburg, im Sommer immer noch in unserem herrlich gelegenen Landhause in Neumühlen. Die schönen Herbstwochen, in denen ich hier mit dem Blick zu meinem Fenster hinaus auf den breiten, belebten Strom an meinem Buche über die antike Landschaftsmalerei arbeitete, mich dazwischen zur Erholung in meinem lieben alten Ruderboot auf der Elbe umhertrieb und abends im benachbarten Hause meiner Großmutter mich mit ihr im Reiche der Dichtkunst erging, gehören zu den sorgenfreiesten und stillbeglücktesten meines Lebens.

Immer noch, wie in meiner frühen Jugend, strahlte etwas wie freudige Genugtuung in mir auf, wenn ich auf dem belebten Strome unter anderen hinauf- und hinabsegelnden Schiffen neue große Segelschiffe der Reederei meines Vaters entdeckte. Es waren ihrer erheblich mehr geworden als vor zwanzig Jahren; die alten Holzschiffe, deren Kiel aus Buchen-, deren Wände aus Eichen- und deren Masten aus Tannenholz zu bestehen pflegten, hatten, der Entwicklung der Technik folgend, allmählich Eisenschiffen Platz gemacht; an die Stelle der alten Hamburger Flagge, die sie in alle Welt hinauszutragen pflegten, war die neue schwarzweißrote Flagge getreten, die uns rasch ans Herz wuchs. Ohne Widerspruch hatte auch sie damals nicht Eingang gefunden. Ich erinnere mich, daß ein konservativer Freund unserer Familie über den breiten roten Streifen jammerte, den Bismarck ihr, wie der Reichsverfassung, eingefügt habe; und ich erinnere mich, daß ein so preußisch-deutsch gesinnter Mann wie Paul Heyse in München es für einen Raub an der Überlieferung erklärte, daß Bismarck nicht die schwarzrotgoldene Fahne des Jahres 1848 zur Reichsfahne erhoben habe. Aber alle diese Widersprüche verstummten rasch genug vor der Macht der Gewohnheit und vor den Erfolgen, die die schwarzweißroten Farben unserer Schiffahrt und unserem Welthandel sicherten.

In den Stadthäusern meiner Eltern und meiner Großmutter verbrachte ich manchmal die Osterferien, immer die Weihnachtsferien. Seinen Weihnachtsbaum im Elternhause läßt der Deutsche sich nicht nehmen, bis sein eigenes Heim zum Elternhause wird. Seinen Weihnachtsbaum trägt der Deutsche über alle Ozeane. An den Strahlen seiner Kerzen entzündet sich seine Liebe zu seiner Heimat und zu seinem Vaterlande. Solange die Lichter seines Weihnachtsbaums im Hause jedes Deutschen brennen, wird sein Vaterland immer wieder neu erstehen.

Besonders feierlich gestalteten sich auch die Silvesterabende im Hause meiner Großmutter, die alles zu vereinigen pflegten, was unseren oder ihren Namen trug. Bis zum Nachtessen wurde allerlei Beschauliches und Erbauliches gelesen. Dann hub die Fröhlichkeit an, die sich erst, wenn die Mitternachtstunde nahte, zu ernst-feierlicher Stimmung verdichtete.

Bedeutsames geschah beim Silvesterpunsch des Jahres 1873. Mein Vater erhob sich an der Festtafel, die in dem kleinen, mit der chinesischen Vogeltapete ausgestatteten Saale meines großelterlichen Stadthauses stattfand, um der versammelten Familie mitzuteilen, daß seine beiden Söhne, mein Bruder Adolph und ich, nunmehr zu selbständigen Stellungen gelangt seien. Ich sei zum Professor der Kunst- und Literaturgeschichte an der Düsseldorfer Kunstakademie ernannt, mein Bruder Adolph aber sei als Teilhaber in sein Geschäft aufgenommen worden. Für uns beide bedeuteten diese Ereignisse so ziemlich die wichtigsten Abschnitte unseres Lebens.

Schon zu Anfang Dezember 1873 hatte der vortragende Rat im preußischen Kultusministerium, der feinsinnige Gelehrte Richard Schöne, amtlich bei mir angefragt, ob ich geneigt sei, die Stelle eines Lehrers der Kunst- und Literaturgeschichte an der Düsseldorfer Kunstakademie anzunehmen. Ich bejahte unter der Voraussetzung, daß der Professortitel mit dieser Stelle verknüpft sei. Da diese Voraussetzung zutraf, nahm ich die Berufung mit Vergnügen an. Daß ich junge Künstler geistig weiterbilden helfen sollte, war mir, meiner ganzen Anlage nach, eine besondere Freude. Ich hielt es für wichtiger, Künstler als Kunstgelehrte großzuziehen.

Da ich mein Amt in Düsseldorf erst am 1. April 1874 anzutreten hatte, blieb ich den Rest des Winters, meinen Vorlesungen und meinen Freundschaften treu, noch in meiner geliebten Neckarstadt.

An Abschiedsfesten fehlte es im Frühling nicht. Die Universität gab mir und dem nach Berlin berufenen Heinrich von Treitschke ein gemeinsames Abschiedsessen. Andere Feiern, die mir den Abschied von Heidelberg schwer machen sollten, folgten. Einen besonderen Abschied aber bereiteten mir – ich weiß nicht, ob ich es erzählen soll? aber warum nicht? – die Heidelberger Kutscher, mit denen ich die Umgegend zu durchfahren pflegte. Es waren drei oder vier Brüder Wolf, die in den Studentenkreisen den Namen »Bierjungen« führten. Mich kannten sie seit meinem ersten Studentensemester. Jetzt fuhren sie mich, selbst die Annahme eines Trinkgeldes verweigernd, als ich abreiste, vierspännig an den Bahnhof.

Oft genug bin ich später nach Heidelberg zurückgekehrt. Jahrelang hatte ich Gelegenheit, mich am Gestade des Neckars in der Gastfreundschaft lieber Geschwister zu sonnen, die hier einen schönen Besitz erworben hatten. Wie ich Heidelberg nicht vergaß, vergaß es aber auch mich nicht. Als die Universität 1886 ihr fünfhundertjähriges Jubelfest feierte, war ich leider verhindert, ihrer Einladung, an der Feier teilzunehmen, Folge zu leisten; der Aufforderung ihres Professors der Literaturgeschichte Karl Bartsch aber, das Hauptgedicht für die Festzeitschrift zu schreiben, die er herausgab, kam ich mit Vergnügen nach. Das längere Gedicht, das in freien Rhythmen gehalten war, erschien unter dem Titel »Heidelberg Jungbronn« an der Spitze des Blattes.

Im Sommer 1920 aber erfreute die Universität mich mit der üblichen Erneuerung meines vor 50 Jahren von ihr erworbenen Titels eines Doktors der Philosophie und überraschte mich dadurch, daß sie in der immer noch in lateinischer Sprache abgefaßten Urkunde auch meiner Eigenschaft als Dichter in freundlichen Worten gedachte, was mir eine um so größere Freude bereitete, als es zu einer Zeit geschah, wo man sich in weiteren Kreisen nicht mehr daran erinnerte, daß ich in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts als lyrischer Dichter nicht ganz erfolglos gewesen war.

Altheidelberg, in ewigjungem Glanze,
Bekränzt mit Waldlaub, strahlst du mir entgegen.
So oft auf vielverschlungnen Lebenswegen
Ich heimgekehrt zum Neckarwellentanze.

Die Wissenschaften im Olivenkranze!
Im alten Schloß der Kunst geheiligt' Regen!
Rings Berg und Tal im reichsten Blütensegen!
Ich kenn' es längst, doch neu ist stets das Ganze.

Denn einzeln hab' ich's mancherwärts gefunden,
Was hier einherschwebt in vereintem Fluge
Und fröhlich aneinander scheint zu glauben.

Natur und Kunst sind innig hier verbunden,
Und selbst die Wissenschaft, die ernste kluge.
Mischt in den Ölkranz lächelnd reife Trauben.


 << zurück weiter >>