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Zweites Buch

Sollen und Wollen

 

1. Ringen und Reifen

In meiner schönen Vaterstadt, in die ich als ein halbreifer und halbverträumter Jüngling zurückkehrte, hatte sich in meiner Abwesenheit nur wenig verändert. Im Schatten einer noch ziemlich patriarchalischen Verfassung, in der Verwaltung und Gesetzgebung noch keineswegs so scharf getrennt waren, wie die Schulweisheit es verlangte, erfreute sie sich eines von Jahr zu Jahr zunehmenden Wohlstands. Ihre rote Flagge mit dem weißen dreitürmigen Burgtore wehte über allen Ozeanen. Ihre regierenden Bürgermeister schätzten sich jedem Monarchen gleich. Ihr geschäftiger Senat, der teils aus ehemaligen Rechtsanwälten, teils aus angesehenen Großkaufleuten bestand, schwelgte in dem stolzen Bewußtsein, eine unabhängige Staatsmacht zu sein. Ihre »Bürgerschaft«, die sich einstweilen noch mit den bereits errungenen Freiheiten begnügte, bestand natürlich aus lauter überzeugten Republikanern. Von der Sozialdemokratie war noch keine Rede.

Von den Zöpfen, die der alten freien Hansastadt hier und da noch hinten hingen, hatte sie sich gerade während meiner Reise den am meisten verspotteten abgeschnitten. Seit dem letzten Neujahrstag war die Torsperre gefallen, die bis dahin allabendlich mit Dunkelwerden die Stadt von ihren Vororten und von Altona abschnitt. Das Sperrgeld, das nach 10 Uhr vier, nach 11 Uhr sechs Hamburger Schillinge betrug, wurde von alt und jung für ein vermeidbares Übel gehalten. Die Reichsten liefen vor Torschluß mit den Ärmsten um die Wette, es zu sparen. Die seltsamsten Vorgänge spielten sich dabei ab. Wie fröhlich mußte ich lachen, als ich die Torsperre bei meiner Heimkehr abgetan fand.

Im übrigen hatte Hamburg schon seit Jahrzehnten an der Spitze jedes Fortschritts in Handel und Wandel gestanden. In manchen Einrichtungen war es allen anderen deutschen Städten voraus; und jetzt erweiterte die Stadt sich nach allen Seiten, nach denen die Grenzen ihres Gebietes es erlaubten. Namentlich das Straßen– und Gartennetz um den grünumlaubten See der Außenalster begann sich zuzuziehen. Die Uhlenhorst, deren Vorderstraße »An der schönen Aussicht« zwar nicht wegen ihrer meist ahnungslos unkünstlerisch gestalteten Landhäuser, wohl aber wegen ihres Fernblicks über die breite graue Wasserfläche auf die hochgetürmte Stadt zu den schönsten großstädtischen Straßen der Welt gehört, begann sich damals vor unseren Augen zu entfalten.

Sn der äußeren Ausstattung geschmackvollen Wohllebens hielten die maßgebenden Kreise Hamburgs sich für vorbildlich; und in den Grenzen eines behäbigen Großbürgertums waren sie es vielleicht auch. Sn der geistigen Kultur Deutschlands aber nahm die reiche Handelsstadt in jenen Jahren keineswegs eine besonders hohe Stelle ein. An der Spitze ihres wissenschaftlichen Lebens hatte seit 250 Jahren das Akademische Gymnasium gestanden, das, wie schon erwähnt, eine Art kleiner philosophischer Universitätsfakultät war. Eine Reihe namhafter Gelehrter, denen sich die der Sternwarte und der Navigationsschule anschlossen, hatte an ihm gewirkt. Einiger bedeutender Professoren, deren meiste meinem großelterlichen und meinem elterlichen Hause nahestanden, erfreute es sich auch jetzt noch. Aber es hatte sich überlebt. Es hatte damals höchstens einmal ein halbes Dutzend Zuhörer. Es stand im eigentlichen Sinne des Wortes auf dem »Aussterbeetat«, erwies sich mir nun aber freilich als ein Retter in der Not.

Zu den wenigen übrigen namhaften Männern der Wissenschaft, die damals in Hamburg lebten, gehörten die meist von auswärts berufenen »Hauptpastoren« der Kirchen, von denen erklärlicherweise nur die »rechtgläubigen« in unserem Kreise verkehrten, gehörten aber auch einige Professoren und vor allem die Leiter der Realschule und der Gelehrtenschule des Johanneums, die unseren Häusern lebhafte geistige Anregungen spendeten.

Hervorragende Schriftsteller freier Art lebten damals überhaupt kaum noch in Hamburg, wenn man nicht Feodor Wehl, den nachmaligen Stuttgarter Hoftheaterintendanten, der in Hamburg unter anderem die »Jahreszeiten« herausgab, den Schauspieler Karl August Görner, der als Lust- und Märchenspieldichter in ganz Deutschland Erfolg hatte, den Satiriker Julius Stettenheim, der später mit seinem Witzblatt »Die Wespen« nach Berlin übersiedelte, und Robert Heller, den allmächtigen Kritiker der »Hamburger Nachrichten«, als solche anerkennen will.

Das Musikleben Hamburgs dagegen, dem Sittard ein besonderes Buch gewidmet hat, stand auf einer gewissen Höhe; und in der Theatergeschichte Deutschlands spielte Hamburg, wie wir sehen werden, gerade in jenen Jahren wieder eine Rolle.

Näher als die Schriftsteller, Musik- und Theaterkreise standen dem unseren die Vertreter der bildenden Künste. Von den großen älteren Hamburger Baumeistern war Forsmann noch am Leben, erhielt aber kaum noch seiner würdige Aufträge. Als Baukunstwerk, das damals vor meinen Augen in Hamburg entstand, kommt nur die Nikolaikirche in Betracht, deren Wiederaufbau aus dem Schutt des großen Brandes in neuer Gestalt, nach Verwerfung des Entwurfs Gottfried Sempers, der einen hohen herrlichen Kuppelbau errichten wollte, dem berühmten englischen Gotiker Gilbert Scott übertragen worden war. Ich hatte gotische Kirchen auch in England genug gesehen, um gerade der englischen Gotik Geschmack abzugewinnen. Mit lebhafter Anteilnahme sah ich den in seiner Art kostbaren Bau, dessen deutsch empfundener Turm freilich erst viele Jahre später vollendet wurde, aus den Sammlungen, die von Haus zu Haus für ihn veranstaltet wurden, langsam emporwachsen. Den Baumeister aber habe ich nie zu sehen bekommen.

Merkwürdig erscheint uns heute, daß Hamburg 1861 noch kein einziges öffentliches Werk der Bildhauerei, noch kein einziges Standbild irgendeines bedeutenden Mannes besaß. Aber man tat sich gerade damals etwas darauf zugute, den Beschluß gefaßt zu haben, Schiller ein ehernes Standbild zu widmen und es einem Hamburger Bildhauer – Julius Lippert hieß er – übertragen zu haben. Dieser starb freilich, ehe es ausgestellt werden konnte. Andere Hände haben es vollendet.

Von einer Hamburger Malerei aber konnte man wirklich reden. Die Hamburger Maler, die im »Verein für Kunst und Wissenschaft« zusammenkamen, bildeten einen Künstlerkreis, der, noch von dem Ruhme Runges, Oldachs und Erwin Speckters erfüllt, sich im Sinne des fern von seiner Vaterstadt wirkenden Friedrich Wasmann einer schlicht empfundenen Natürlichkeit befleißigte. Die Künstler dieses Kreises, mit denen wir rege Beziehungen unterhielten, erlangten durch die Berliner Jahrhundertausstellung von 1906 einen größeren Nachruhm, als wir es damals ahnten. Einige tüchtige feinfühlige Meister gab es auch wirklich unter ihnen.

Viel mehr wüßte ich in der Tat nicht von der allgemeinen geistigen Kultur meiner Vaterstadt zu Anfang der sechziger Jahre zu berichten; und doch genügte dieses Wenige, einen empfänglichen jungen Mann mannigfach anzuregen.

In meinem Elternhause fand ich bei meiner Heimkehr doch viel verändert. Was ihm durch den frühen Tod meiner Mutter verloren gegangen, kam mir jetzt erst recht zum Bewußtsein. Unser kleiner Bruder Johannes war einige Wochen nach meiner Abreise gestorben. Unter der Last, gleichzeitig dem großen Doppelhaushalt vorzustehen und die Erziehung der sechs jüngsten Geschwister zu leiten, drohte meine achtzehnjährige älteste Schwester zu erliegen. Zu ihrer Unterstützung war eine Fremde ins Haus gekommen.

Von dieser Fremden aber ging ein warmes Licht aus, das die Wolken, die über unserem Hause hingen, allmählich verscheuchte. Aline Ferber, die dreißigjährige Tochter des Konsuls Ferber, der aus angesehener thüringischer Familie stammte, war eine stattliche, gewinnende Erscheinung, der angeborene Herzensgüte aus den Augen strahlte. Häusliche Tüchtigkeit verband sie mit feiner Geistes- und Herzensbildung. Mein Vater hatte sich gesträubt, gerade sie ins Haus zu nehmen, weil er, wie er meiner Großmutter Weber anvertraute, fürchtete, ihr gegenüber seines Herzens nicht sicher zu sein. Meine Großmutter hatte für alle Fälle im voraus ihren Segen erteilt. Es kam, wie es mußte. Zwei Monate nach meiner Rückkehr fand im Ferberschen Hause die stille Hochzeit statt.

Aline Ferber ist meinem Vater, den sie 28 Jahre überlebte, eine hingebende Gattin, seinem Hause eine umsichtige und innerlich vornehme Vertreterin, uns Kindern eine selbstlose und liebevolle zweite Mutter gewesen. Wir haben sie wie eine rechte Mutter verehrt und geliebt. Das einzige Kind, das sie meinem Vater geschenkt hat, mein im August 1863 geborener Bruder Eduard, wurde von uns allen mit Freuden begrüßt. Auch er hat später seine Stelle neben und nach meinem Bruder Adolph im Hamburger Geschäftsleben verständnisvoll ausgefüllt. Daß ich meine beiden Brüder, mit denen mich herzliche brüderliche Gesinnung verband, überleben würde, hätte damals niemand gedacht.

Die zwei Jahre, die ich, bis ich mit dem Reifezeugnis versehen, zur Universität zog, in meinen elterlichen und großelterlichen Häusern drinnen in der Stadt und draußen an der Elbe verbrachte, gehören zu den schönsten, aber auch zu den entscheidungsvollsten meines Lebens. Verliefen sie äußerlich so glatt und sorgenfrei, wie keine anderen, so waren sie um so reicher an geistigen Arbeiten und an seelischen Kämpfen. Große Umwälzungen und neue Einstellungen vollzogen sich in meinem Inneren. Am Ende dieser beiden Jahre dachte und empfand ich im wesentlichen schon so wie heute.

Nach der Hochzeit meines Vaters wurden mir als Wiederantrittsbesuch bei den westfälischen Verwandten noch einige köstliche Wochen auf dem lieben alten Kupferhammer bewilligt, den ich, so oft es anging, aufsuchte, um im Verkehr mit den starken, klugen Menschen, die mir nahe standen, meine Schwächen erkennen zu lernen und aus dem Boden, dem ich entstammte, immer neue Nahrung zu saugen. Wie schlicht und winzig war diese Landschaft mit dem Urwald Javas verglichen, den ich gesehen hatte; und doch, wie viel inniger, wahrer, als was mich dort berauschte, war das Mitempfinden mit der Heimatnatur, mit dem mich die weite Heide und der dunkle Kiefernwald der westfälischen Senne beglückten!

Dann aber war es die höchste Zeit, meine Arbeiten wieder aufzunehmen. Waren doch anderthalb Jahre verflossen, seit ich die Schule plötzlich verlassen! Galt es doch vieles nachzuholen und noch mehr hinzuzulernen, ehe ich zur Universität gehen durfte. Zur Gelehrtenschule zurückzukehren, der erst einige Jahre später der große Gelehrte und feine Mensch Johannes Claßen neues Leben einhauchte, konnte ich mich um so weniger entschließen, als meine Freunde von der Obersekunda mir nun doch ein Jahr voraus gekommen waren. Wozu gab es auch jenes Akademische Gymnasium in Hamburg? Die Aufnahmeprüfung, die dieses verlangte, galt als Reifeprüfung für die Universität. Wenn man nach der Aufnahme ein Jahr lang Vorlesungen besucht und seine Befähigung durch eine größere schriftliche Arbeit dargetan hatte, erhielt man das Zeugnis, das auf allen Universitäten anerkannt wurde.

Anderthalb Jahre mußte ich mich aber noch für die Aufnahme ins Akademische Gymnasium durch Einzelunterricht vorbereiten. Daß ein anderer als mein alter Freund und Lehrer Dr. Ernst Reinstorff – er hatte sich während meiner Abwesenheit in Jena den Doktorhut zugelegt – mein Lehrer sein könne, kam mir gar nicht in den Sinn; und anderthalb Jahre lang wurde ich nun durch ihn in alle grammatischen Feinheiten der beiden alten Sprachen eingeweiht und für alle Schönheiten der griechischen und römischen Dichter begeistert!

Überflüssigerweise fühlte ich daneben das Bedürfnis, meine Kenntnisse im Spanischen wieder aufzufrischen und zu vervollkommnen. Den spanischen Unterricht aber erteilte mir jetzt der ziemlich alte Herr Gomez, der geist- und kenntnisreiche Verfasser einer vielbenutzten spanischen Grammatik. Unter seiner Leitung übersetzte ich Lessings Minna von Barnhelm vom ersten bis zum letzten Worte ins Spanische, aber auch spanische Komödien wie die Lesedramen (Dramicuentos) des spanischen Dichters mit dem deutschen Namen (Juan Eugenio) Hartzenbusch ins Deutsche.

Großes Gewicht, wohl größeres als meine Begabung verdiente, legten meine Eltern darauf, mich in der Musik zu fördern. Klavierstunden empfing ich während dieser ganzen Zeit vom Meister Carl von Holten, der zu den feinfühligsten und beliebtesten Pianisten Hamburgs gehörte, auch 1860 mit dem hochbegabten Geiger John Böie und anderen ein Trio gründete, in dessen »Soireen« auch Quartette und Quintette gespielt wurden. Ja, nachdem ich vermeintlich die genügende Fertigkeit dazu erlangt hatte, erhielt ich sogar Begleitungsstunden von Böie, der damals eine Rolle im Hamburger Musikleben spielte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wundere ich mich, daß diese Größen des Hamburger Musiklebens sich mit mir abquälten. Ich hatte weder Zeit noch Geduld, so viel zu üben, wie der Unterricht dieser Meister es verdient hätte; und meine Finger waren zu steif, eine leidliche Fertigkeit zu erlangen. Höchstens Andantes und Adagios lernte ich einigermaßen ausdrucksvoll vortragen. Aber daß diese Unterrichtstunden meiner Begeisterung für die Musik einiges Verständnis hinzugefügt haben, erkenne ich heute noch dankbar an.

Selbstverständlich wurde ich ungehalten, alle ersten Konzerte Hamburgs zu besuchen, vor allem die der Philharmonischen Gesellschaft, die damals noch der alte Friedrich Wilhelm Grund leitete. John Böie war ihr erster Konzertmeister. In diesen und anderen Konzerten tat sich mir der Himmel der Beethovenschen Symphonien, tat sich mir aber auch die Wunderwelt aller anderen großen Meister auf. Ich lernte, mich aus der Not verstandesmäßigen Ringens immer wieder in das heilige Reich der Töne zu flüchten.

Wie die Konzerte Hamburgs besuchte ich mit einiger Regelmäßigkeit auch das Theater. Ich sage »das« Theater und meine damit das Thaliatheater, das sich gerade damals unter der genialen Leitung Chéri Maurices, des französischen Deutschen, der eigentlich Charles Schwarzenberger hieß, des Rufes erfreute, eine der ersten Bühnen Deutschlands zu sein. Ins Stadttheater zu gehen, gehörte damals in Hamburg nicht zum guten Ton, es sei denn, daß ein berühmter Gast, wie Therese Tietjens, die Primadonna der Londoner Oper, die geborene Hamburgerin war, seine Bretter betrat; und der gute Ton hatte diesesmal recht. Wie eine dunkle Sage klang der Ruhm des Hamburger Nationaltheaters aus den Zeiten Ackermanns, Ekhofs und Lessings und des Hamburger Stadttheaters unter dem großen Friedrich Ludwig Schröder aus dem 18. Jahrhundert herüber. Hatte es unter Schröders Nachfolgern noch 1835 den Ruf, das beste Zusammenspiel in Deutschland in Unterhaltungsstücken zu haben, so war es seit dieser Zeit allmählich immer weiter zurückgegangen. Es litt, wie die meisten damaligen Stadttheater, unter dem Irrtum der Stadtväter, mit ihrem Theatergebäude Einnahmen erzielen und es daher verpachten zu müssen, anstatt ihm einen Zuschuß zu gewähren. Um 1860 war es in Hamburg so weit, daß ein Berliner Witzblatt einem Scherzgedicht über das Leben in Hamburg die Worte einfügte:

Und wenn wir gern alleine sind,
Gehn ins Theater wir geschwind.

Auch die Vereinigung der beiden Theater in Maurices Händen hatte sich nicht bewährt. Das Doppeltheater hatte 1854 seine Zahlungen eingestellt. Eine Zeitlang waren beide Bühnen geschlossen. Nur mit großer Mühe und unter starken Beschränkungen erhielt Chéri Maurice 1855 die Erlaubnis, sein Theater wieder zu eröffnen. Nur Lustspiele und Possen durfte er geben; Trauerspiele und Schauspiele waren ihm untersagt. Aber Maurice hatte ein seltenes Geschick, die besten Kräfte zu entdecken und heranzuholen, sie auszubilden und zu selbstlosem Zusammenspiel zu erziehen. Trotz der Beschränkungen, die ihm auferlegt waren, wurde das Thaliatheater unter seiner Leitung zu der Musterbühne, die die Kräfte für die großen Theater Deutschlands schulte.

Als ich im Herbst 1861, siebzehnjährig, bildungsdurstig und begeisterungsfähig, in den Kreis der Besucher des Thaliatheaters eintrat, hatte es gerade seine vollste Blüte entfaltet. Einige seiner berühmtesten Kräfte, wie Bogumil Davison, den großen Charakterspieler, und Friederike Goßmann, die unvergleichliche »Grille«, hatte es freilich schon damals zunächst an die Wiener Hofburg, Anna Schramm, die schalkhafte »Soubrette«, an andere Bühnen abgegeben. Aber Charlotte Wolter, die machtvolle Tragödin, die am 1. August 1861 zuerst als Adrienne Lecouvreur als Mitglied des Thaliatheaters auftrat, nach Jahresfrist jedoch bereits dem Wiener Burgtheater angehörte, blieb unserer Bühne gerade während des Winters 1861-62 erhalten, und Julius Hübner, der ausgezeichnete Held und erste Liebhaber, der am 2. August 1861 in seiner Antrittsrolle als Schiller in Laubes Karlsschülern stürmischen Beifall auslöste, gehörte seit dieser Zeit, unverführt durch die glänzendsten Anträge, bis zu seinem frühen Tode zu den Säulen des Thaliatheaters. Dessen Hauptstütze aber war sein Oberregisseur, der 1797 in Hamburg geborene Heinrich Marr, der in seiner Art einzige Charakterdarsteller, der unvergleichliche Shylock, der so oft er anderen Rufen gefolgt war, immer wieder in seine Vaterstadt zurückkehrte.

Ein Glück war, daß Direktor Maurice gerade im Frühling 1861 die Aufhebung des Verbots, Schauspiele aufzuführen, durchgesetzt hatte. Schon vorher war ein Prozeß mit dem Stadttheater darüber, ob der Kaufmann von Venedig, den Shakespeare doch selbst als Comedy bezeichnet hat, ein Lustspiel oder ein Schauspiel sei, zugunsten des Thaliatheaters entschieden worden. Gelegentlich wurde jetzt »mit Erlaubnis des Stadttheaters« sogar ein Trauerspiel aufgeführt.

Von den Aufführungen, die ich im Winter 1861-62 im Thaliatheater erlebte, sind mir namentlich die von Shakespeares Wintermärchen und von Goethes Iphigenie unvergeßlich! Charlotte Wolter als Hermione! Charlotte Wolter als Iphigenie! Verständnisvoller und schöner konnten die beiden Gestalten nicht verkörpert werden. Ihre Mitspieler in der Iphigenie waren Dreßler, der vom Stadttheater herübergenommen war, als Thoas, Hübner als Orest, der bildschöne Friedrich Ludwig Schmidt als Pylades, und der in allen Fächern bewanderte Hungar als Arkas. Ich meine, niemals wieder eine so vollendete Aufführung des klassischen Stückes gesehen zu haben.

Aber nicht nur Konzerte und Theater brachten mir nach den empfangenen Anstrengungen des Tages angeregte Abendstunden, auch die ganze reiche, in überlieferten Formen heiter bewegte Geselligkeit des Hamburger Familienlebens riß mich schon jetzt viel zu früh in seine Strudel hinein. Da die angehenden Kaufleute in Hamburg früh über See geschickt wurden, fehlte es leicht an jungen Herren für die jungen und jüngsten Haustöchter, und in Ermangelung von Studenten wurden die Primaner der Gelehrtenschule, zu denen ich nun doch gerechnet wurde, vorzeitig zu Hausbällen, abendlichen Mittagessen und wissenschaftlichen oder künstlerischen Vorträgen mit anschließendem Abendessen hinzugezogen.

Besonders anregend war diese Geselligkeit im Hause meiner Großeltern Weber im Winter am Neuen Jungfernstieg und im Sommer an der Flottbecker Landstraße. Gesellschaftlichen Verkehr hatten meine Großeltern nur mit wenigen der alt- oder doch ältereingesessenen Hamburger Familien, deren Namen damals gesellschaftlich am lautesten genannt wurden, angeknüpft. Doch gehörte die Familie Dr. August Abendroths, ihres Nachbarn am Neuen Jungfernstieg, in dessen von Alexis de Chateauneuf erbautem, klassisch schönem, auch inwendig im feinsten kunstgewerblichen Geschmack ausgestatteten Hause der Hamburger Corneliusschüler Erwin Speckter zwei Jahre vor seinem frühen Tode Fresken zu malen begonnen hatte, zu den nächsten Freunden meiner Großeltern. Andere kamen durch die Heiraten einiger ihrer Kinder und Enkel hinzu. Vor allem aber ließen meine Großeltern es sich angelegen sein, ihr Haus zu einem der Mittelpunkte geistigen, wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens in Hamburg zu machen, so weit es sich mit ihren Lebensanschauungen vertrug. Bei ihrem ausgesprochenen religiösen Sinn spielten die Theologen eine Hauptrolle in ihrem geselligen Kreise. Joh. Heinrich Michern, der glaubensstarke Gründer der Rettungsanstalt des »Rauhen Hauses« war freilich 1859 als preußischer Oberkonsistorialrat und vortragender Rat im Kultusministerium nach Berlin berufen; und Hans Hinrich Wendt, der Mitbegründer und Leiter des christlichen Werbeblattes »Der Nachbar«, dessen Gattin die jüngste Tochter meiner Großeltern war, war während des ganzen Winters leidend und starb im Frühjahr 1862. Schon 1861 aber war ein neuer großer Stern am theologischen Himmel Hamburgs aufgegangen. Der Gießener Universitätsprofessor Gustav Baur, der damals schon seine Grundzüge der Homiletik, seine Grundzüge der Erziehungslehre und – zuletzt – seine Geschichte der alten Weissagungen veröffentlicht hatte, war zum Hauptpastor der Jacobikirche ernannt worden und nahm bald eine hervorragende Stellung im geistigen Leben Hamburgs ein. Seine Strenggläubigkeit drängte sich niemals vor. Er hielt glänzende öffentliche Vorträge aus dem Gebiet der Literatur und der Philosophie, entfaltete in Gesellschaften einen köstlichen Humor und verstand es in allen Fällen vortrefflich, den Brustton der Überzeugung anzuschlagen, der ihm wirklich vom Herzen kam. D. Gustav Baur und die Seinen gehörten wie selbstverständlich sofort zu den nächsten Hausfreunden meiner Großeltern, bis seine Berufung zum ordentlichen Professor in Leipzig im Jahre 1870 dem schönen Verhältnis ein Ende bereitete.

Von den übrigen Hamburger Pastoren, die damals regelmäßige Gäste meiner Großeltern waren, seien nur noch Pastor Mönckeberg von der Nicolaikirche, der, außer vielen anderen, eine Geschichte der Freien und Hansestadt Hamburg schrieb, nach der man annehmen könnte, daß Hamburg in erster Linie eine Theologenstadt gewesen sei, und Pastor Berend Carl Roosen genannt, ein Sproß der alten mennonitischen Hamburger Reederfamilie, der Prediger an der Hamburg-Altonaer Mennonitenkirche auf der »Großen Freiheit« in Altona war, durch die schlichte Wärme seines Vortrages aber auch Zuhörer anderer Bekenntnisse anzog. Auch er gehörte zu den besten Freunden meiner Großeltern und Eltern.

Theologen waren freilich von Haus aus auch die beiden Realschulmänner, die vielfach bei meinen Großeltern aus und ein gingen. Der eine von ihnen, Karl Bertheau, dessen Enkelin später meinen jüngsten Bruder Eduard heiratete, war seit 1845 Direktor der von der Gelehrtenschule abgezweigten Realschule des Johanneums, aber mit Wichern auch der Begründer der Sondergemeinde der Anscharkapelle am Valentinskamp, zu der auch meine Großeltern sich hielten. Es waren nicht sowohl Sonderlehren, die diese kleine, aus sogenannten »guten« und »besten« Familien bestehende Gemeinde zusammenhielt, als das Gefühl, mit geistig Zusammengehörigen »unter sich« sein zu wollen. Der Geist, in dem die Mitglieder dieser Gemeinde sich fanden, war vor allem der des Dithmarschener Müllersohnes und späteren Kieler Hauptpastors Claus Harms, der, unbefriedigt nicht nur von dem herrschenden Rationalismus der Aufklärungszeit, sondern auch von der freieren philosophischen Auffassung Schleiermachers, ein strenges Bibelchristentum im Sinne Luthers predigte, von dem er, ohne Weltflucht, das ganze Leben ergriffen sehen wollte. Claus Harms hat namentlich durch seine Predigten, die auch im Druck weithin verbreitet wurden, gewirkt; auch mir wurden, wenn irgend etwas uns am Kirchgang hinderte, oft genug seine Predigten in die Hand gegeben; und ich las sie, so lange ich gläubig blieb, mit der größten Hingabe und begriff nicht, warum die Predigten, die wir anhören mußten, nicht ebenso frisch, klar, warm und überzeugend sein konnten, wie die gedruckten des Dithmarschener Müllersohns Claus Harms.

Der zweite Realschullehrer, der Hausfreund bei meinen Großeltern wie bei meinen Eltern war, aber war Dr. Georg Röpe, der als Vertreter der Literaturgeschichte die Realschüler für Schiller und Goethe zu begeistern hatte und auch wirklich begeisterte. Von seinem Vater, der innig mit dem großen Schauspieldirektor Fr. Ludw. Schröder befreundet gewesen war, hatte er die Leidenschaft für die dramatische Dichtkunst geerbt. Seine Schriften über neuere Bearbeitungen der Nibelungensage, in denen er namentlich Wilh. Jordans Nibelungen, Geibels Brunhilde und Wagners Nibelungen miteinander verglich, fesselte mich lebhaft. Weitere Kreise aber wurden besonders durch seine Schriften über Lessing und den Hauptpastor Goeze, in denen er die Rettung Goezes nicht ungeschickt versuchte, auf ihn aufmerksam. Röpe war ein ausgezeichneter Gesellschafter. Er sprühte immer von Begeisterung und verstand in Prosa und in Versen hübsche Gelegenheitsreden zu halten. Seiner Teilnahme für mich und meine poetischen Versuche muß ich dankbar gedenken. Obgleich sein Urteil über sie immer sehr wohlwollend war, habe ich doch manches von ihm gelernt.

Zu den literarisch angehauchten Hauptfreunden meines großelterlichen Hauses gehörten auch noch der Eisenbahndirektor Wolff mit seiner Familie. Dieser liebte es auch, selbst als stets jovialer Tischgast, seine hochkonservative und hochkirchliche Gesinnung hervorzukehren; seine Gattin, eine geborene Niemeyer, aber war die Witwe des Dichters Karl Immermann gewesen; ihre Tochter Caroline Immermann, die natürlich mit ihrem Stiefvater und ihrer Mutter an deren Geselligkeit teilnahm, wurde von uns jüngeren als dunkelhaarige und glutäugige Schönheit und als Tochter eines anerkannten Dichters mit einer Art ehrfürchtiger Scheu bewundert. Frau Direktor Wolff aber, die von meinen Interessen gehört hatte, liebte es, mir von der Düsseldorfer Zeit ihres berühmten ersten Gatten, von Schnaase, dem großen Kunstgeschichtschreiber und von Emanuel Geibel, der zu ihren engsten Freunden gehörte, zu erzählen.

Bedeutender als alle diese gelehrten Freunde des Hauses Weber, deren meiste auch in meinem Elternhause als Freunde aus und ein gingen, aber war der bekannte Historiker und Politiker Karl Ludwig Ägidi (1825-1901), der 1859 als Professor der Geschichte ans Akademische Gymnasium nach Hamburg berufen worden war. Nachdem er 1850-51 die »Konstitutionelle Zeitung« geleitet hatte, ließ er sich 1853 als Privatdozent in Göttingen nieder; doch wurde ihm die Erlaubnis, Vorlesungen zu halten, entzogen, weil er in einem Privatbriefe etwas von »vaterländischen Hoffnungen« hatte fallen lassen. Als Professor nach Erlangen berufen, lehrte er dort 1857 und 1858. Von Hamburg siedelte er 1868 als Professor des Staatsrechts nach Bonn über. Seine weitere Wirksamkeit ist bekannt; 1871 trat er als Wirklicher Geheimer Legationsrat ins Auswärtige Amt in Berlin ein, in dem er eine Zeitlang als Bismarcks rechte Hand galt. Als Mitglied des Norddeutschen Reichstages (1867-71) und des preußischen Abgeordnetenhauses gehörte er der freikonservativen Partei an. In seinen ersten Hamburger Jahren aber stand er noch viel weiter links und wollte nichts von Bismarck und seiner Politik wissen. Erst 1866, nach Königgrätz, lenkte er in seiner Schrift »Woher, wohin?« in das neue Fahrwasser ein.

Ägidi war von auffallend kleiner Gestalt. Sein feiner Kopf wurde durch ein kluges, strahlendes braunes Auge belebt. Seine Gattin, eine vornehm schlanke Gestalt von selbsicherem Auftreten, entstammte einer preußischen Adelsfamilie. Das liebenswürdige und immer anregende kinderlose Ehepaar wurde in meinem großelterlichen Hause mit offenen Armen aufgenommen. Wie schwärmerisch er meine Großmutter als mütterliche Freundin verehrte, hat Ägidi mir noch 35 Jahre später, als er mich, wie oft, in Dresden besuchte, in feurigen Farben geschildert. Auch in meinem Elternhause waren Ägidis gerngesehene Gäste; und ein Band freundlicher Zuneigung verknüpfte mich schon damals mit dem 19 Jahre älteren Manne.

Daß auch Künstler, namentlich Maler, willkommene Gäste im Hause meiner Großeltern waren, versteht sich bei den Beziehungen, die sie schon in Rom zu Künstlern angeknüpft hatten, von selbst. Maler, die sich über den Durchschnitt erhoben, waren in Hamburg damals spärlich gesät; und nicht alle von ihnen waren für den immerhin nicht formlosen Verkehr in den Häusern meiner Großeltern und meiner Eltern zu haben. Immerhin erinnere ich mich, in meinem großelterlichen Hause Künstlern wie Hermann Kaufmann (1809-96), dem ehrlichen Darsteller ländlichen Lebens und Treibens, Karl Eybe (1813-1893, dem Düsseldorfer Schadow-Schüler, dessen »Historien« uns heute wirklich veraltet erscheinen, und Otto Speckter (1807-71), dem trefflichen Illustrator von Heys Tierfabeln, der auch die Bildnisse meiner Großeltern und meiner Eltern lithographierte, begegnet zu sein. Zu dem engeren Kreise der Getreuen meiner Großeltern aber gehörten, so viel ich mich erinnere, nur zwei Maler: Valentin Ruths (1825-1905), der Düsseldorfer Schirmer-Schüler, der sich, wie sich auf der Berliner Jahrhundertausstellung 1906 zeigte, zu einem der feinfühligsten realistischen Landschaftsmaler seinerzeit entwickelt hatte, und Christian Magnussen (1821-96), der Schüler Coutures in Paris, der breit und farbig hingesetzte große Bildnis- und Volkslebensstücke malte, schließlich aber eine Holzschneideschule in Schleswig gründete. Ruths war unverheiratet. Den Gesprächen mit ihm verdanke ich manche Einblicke in die Werkstatt der Künstlerseele. Magnussen, der gerade 1860 das Gruppenbild des Hamburgischen Senats gemalt hatte, war mit einer Tochter des kunstsinnigen alten hamburgischen Senators G. C. Lorenz Meyer verheiratet und schon dadurch in die ersten Familien Hamburgs eingeführt. Auch er war ein liebenswürdiger Meister, der mich gern an seinen Gedankengängen teilnehmen ließ.

Ich darf aber, wenn ich von den Männern rede, die in den Jahren 1861-63 geistige und künstlerische Anregungen im Hause meiner Großeltern und meiner Eltern verbreiteten, zwei ihrer eigenen Söhne, der Brüder meiner verstorbenen Mutter, nicht vergessen. Mein Onkel Dr. jur. Hermann Weber, der später wiederholt erster Bürgermeister von Hamburg war, war schon 1860 Senator geworden und erfreute sich schon wegen seiner hervorragenden Stellung als einer der Herrscher unserer Freien und Hansastadt verdienten Ansehens in unserer Familie. Er war unzweifelhaft einer der gescheitesten und geistvollsten Männer, die damals in Hamburg lebten. Zu inhaltsreichen Gesprächen, auch mit Jüngeren wie mit mir, stets geneigt und bereit, war er am meisten er selbst doch, wenn er seinem Humor die Zügel schießen lassen konnte. Seine Tischreden waren in ihrer Verschmelzung von Herzenswärme und goldener Heiterkeit einzig in ihrer Art.

Sein acht Jahre jüngerer Bruder Eduard Weber, der nachmals die ihrer Zeit berühmte, fünf Jahre nach seinem Tode, 1912, versteigerte Gemäldesammlung besaß, war gerade 1861 von Valparaiso zurückgekommen, wo er sich ein großes Vermögen erworben hatte. Er hatte eine durchaus klassische Bildung genossen. Seine Sammlung antiker Münzen, die er schon damals angelegt hatte, war vielleicht noch berühmter als seine Gemäldegalerie. Er war mir ein älterer, stets anregender Freund, dem die Kunst von klein auf – war er als Knabe doch mit seinen Eltern in Italien gewesen – Herzenssache gewesen war. Wenn ich mein Leben nicht der Geschichte der Dichtkunst, was mir von Haus aus wohl am nächsten gelegen hätte, sondern der Geschichte der bildenden Künste gewidmet habe, so hat mein Onkel Eduard F. Weber dazu sicher das seine beigetragen.

In meinem elterlichen Hause, in dem es weder an feierlichen Abendtafeln noch an Bällen für meine Schwestern, weder an Vortragsabenden, zu denen auch wohl das v. Holten-Böiesche Trio herangezogen wurde, noch an zwangloser, freundschaftlicher, häuslicher Geselligkeit fehlte, verkehrten außer den »unerträglichen Gesichtern« Goethes auch ein Teil der Gelehrten und Künstler, die sich bei meinen Großeltern zu Hause fühlten: z. B. Eisenbahndirektor Wolffs, Pastor Roosens, Doktor Röpes und Professor Ägidis. Die eigentlichen hochkirchlichen Pastoren fehlten; dafür gehörte von den Kollegen Ägidis am Akademischen Gymnasium, wie ich schon bei früherer Gelegenheit erwähnt habe, der Chemiker und Physiker Professor Karl Wiebel mit seiner Frau und seinen drei schönen Kindern zu unseren nächsten Hausfreunden. Wiebels waren 1837 von Baden nach Hamburg berufen, wo sie anfangs in demselben Hause mit meinen jungverheirateten Eltern gewohnt hatten, die erst 1840 ihr eigenes Haus bezogen. Die beiden jungen Frauen, meine Mutter und Frau Professor Wiebel, schlossen sich innig aneinander an. Ich habe sie, so lange sie lebte, »Tante« genannt. Karl Wiebel hatte außer zahlreichen Fachschriften einige geologisch-vorgeschichtliche Arbeiten, wie die über Helgoland und über die Insel Kephalonia veröffentlicht, die weitere Kreise fesselten. Früh erblindet, wurde er von seinem Sohn Dr. Ferdinand Wibel (er schrieb sich im Gegensatz zu seinem Vater ohne e) unterstützt, der später die Leitung des neu eingerichteten chemischen Laboratoriums übernahm. Zu Ferdinand Wibel, der vier Jahre älter war als ich, schaute ich immer mit schwärmerischer Bewunderung empor, die übrigens nicht nur seiner anziehenden Persönlichkeit, sondern auch seiner naturwissenschaftlichen Lebensauffassung galt.

Einen willkommenen Zuwachs an Freunden mit künstlerischem und wissenschaftlichem Streben erhielt mein Elternhaus aber auch durch nahe Verwandte meiner zweiten Mutter. Eine jüngere Schwester von ihr war mit Arnold Otto Meyer verheiratet, der von seinem Vater, dem alten Senator G. C. Lorenz Meyer, dessen wertvolle Sammlung deutscher Handzeichnungen geerbt hatte. Besonders die Blätter Fügers und Chodowieckis, die sie enthielt, gaben ihr einen kunstgeschichtlichen Rang. Mein Onkel Arnold Otto ließ es sich angelegen sein, sie durch die Erwerbung von Blättern der deutschen Idealmeister seiner Zeit, wie Schnorr von Carolsfeld, Steinle, Führich, Genelli, Preller d. Ä. und Schwind, mit deren meisten er persönlich befreundet war, zu einer der bedeutendsten Sammlungen der Meister dieser Schule zu machen. Nicht nur seiner Sammlung, die mich in den Ideenkreis der eigenartigen »neudeutschen« Schule der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einführte, sondern auch den immer anregenden Gesprächen mit ihm verdanke ich tiefgehende Anregungen auf kunstgeschichtlichem Gebiete.

Lebhaft hingezogen fühlte ich mich aber auch zu einem jüngeren Bruder meiner zweiten Mutter, dem damals noch unverheirateten Dr. med. Rudolf Ferber, der Assistenzarzt am großen Hamburger Krankenhaus war. Ihn nannte ich nicht Onkel, sondern Rudolf. Er nahm sich, vielseitig gebildeten und regen Geistes, wie er war, nicht nur der Vermehrung meiner anthropologischen und medizinischen Grundbegriffe, sondern auch der Entwicklung meiner deutsch-vaterländischen Gesinnung mit Wärme an. Wenn ich, eingedenk der Geringschätzung, mit der meine englischen und spanischen Schulkameraden in Eimsbüttel von Deutschlands Staatswesen sprachen, an der staatlichen Zukunft Deutschlands verzweifeln zu müssen meinte, stellte er mich begeistert zur Rede und meinte, ich ahnte nicht, welche Kraft in den Tiefen der deutschen Volksseele wohne. Wie lebhaft aber auch er an kultur- und literaturgeschichtlichen Fragen teilnahm, zeigt von seinen Schriften namentlich die hübsche, frische Arbeit über »Die Gesellschafts- und Volkslieder in Hamburg an der Wende des vorigen (18.-19.) Jahrhunderts«, die zuerst in Karl Koopmanns Sammelbuch »Aus Hamburgs Vergangenheit« erschien.

Engere Freundschaft als mit allen diesen älteren Bekannten, zu denen ich doch mehr oder weniger emporsah, verband mein von jeher freundschaftsbedürftiges Herz natürlich mit den gleichaltrigen Jünglingen und Mädchen, an denen es in unserem Hause niemals fehlte. Jugendliche Tanzgesellschaften und Leseabende, an denen Dramen mit verteilten Rollen gelesen wurden, gaben Gelegenheit genug, sich einander zu nähern. Es herrschte damals in den Hamburger Familienkreisen, mit denen wir verkehrten, eine ungezwungene, aber durch die überlieferte Sitte wie selbstverständlich in Schranken gehaltene Leichtigkeit der Annäherung der jungen Männer und jungen Mädchen aneinander. Man verstand sich, man liebte sich, aber war sich, so lange man nicht an Heiraten denken konnte, voll bewußt, daß das alles nur Freundschaft oder im besten Falle ein geschicktes Spielen mit dem Feuer sei. Jedenfalls gab ich [mich] in diesen Wintern reinen Herzens allen Reizen weiblicher Schönheit, Liebenswürdigkeit, Schalkhaftigkeit und Geistesgewandtheit gefangen; und wenn ich den längst zu Matronen und Witwen gewordenen Freundinnen jener schönen Jahre im späteren Leben wieder begegnete, unterhielten wir uns geradeso freundschaftlich verliebt wie vor einem halben Jahrhundert.

Mit meinen Freunden von der Gelehrtenschule bildete ich auch so etwas wie eine Dichtgenossenschaft. Wenigstens aus einem besondern Anlaß vereinigten wir uns in den ersten Monaten des Jahres 1862 zum Dichten an bestimmten Tagen in meinem Arbeitszimmer in der Großen Reichenstraße. Mein Vater spendete dann jedesmal eine Flasche guten Rheinweins dazu, und wir unterhielten uns vortrefflich. Den Anlaß gab ein Basar zum Besten des Turmbaus der Petrikirche, zu deren Kirchspiel wir gehörten. Nach dem Brande des Jahres 1842 war die Kirche wieder aufgebaut, wie sie gewesen war. Nur dem Turmstumpf fehlte noch seine schlanke Spitzpyramide, die der Kirche jetzt so gut und anheimelnd steht. Der Basar sollte die Mittel zum Wiederaufbau schaffen. Jeder sollte geben, was er konnte. Was die Frauen in solchen Fällen an eigenen Handarbeiten spendeten, konnten wir jungen Gelehrtenschüler nur an geistiger Arbeit liefern. Ich schlug meinen Freunden vor, wir wollten einen gemeinsamen Band oder, wenn das zu viel wäre, doch ein gemeinsames Heft Gedichte beitragen. Der Plan wurde begeistert aufgenommen. Mein guter Vater mußte natürlich die Druckkosten bezahlen. Es war herrlich; und es gelang, soweit es gelingen konnte; das Heft wurde gekauft, und wir waren stolz, etwas zum Wiederaufbau des Turmes beigetragen zu haben. »Gedichte einiger jungen Freunde der Petrikirche, herausgegeben zum Besten des Turmbaus« stand auf dem grünen Umschlag. Jeder von uns hatte sich mit dem Anfangsbuchstaben seines Namens unterzeichnet; einige, die nicht erkannt sein wollten, mit unrichtigen. Die meisten der Gedichte rührten von mir her; ich unterzeichnete sie C. W. Um aber meinen Löwenanteil nicht allzu sichtbar zu machen, setzte ich unter einige meiner Beiträge auch falsche Anfangsbuchstaben.

Eines der Gedichte, die ich beigesteuert, ist noch 1921 ohne mein Zutun in einer Vorlesung über Naturdichtungen in Dresden öffentlich vorgetragen worden. Ich glaube es daher auch hier einrücken zu dürfen:

Trauerweide! Trauerweide!
Stehst allein in tiefem Leide
An dem spiegelklaren See?
Schau doch auf vom stillen Weiher!
Alles feiert Frühlingsfeier,
Auf den Fluren schmolz der Schnee.

Trauerweide! Trauerweide!
Alles strahlt im Lenzeskleide,
Alles grünt und blüht und lacht!
Schaust noch immer weinend nieder?
Sieh! du selber grünest wieder,
Bist vom Schlummer aufgewacht.

Ach! nun seh' ich's, Trauerweide,
Bist dir selber Augenweide,
Spiegelst dich in klarer Flut,
Wiegest dich in Wonneschauern,
Denkst: »Ich will nun einmal trauern,
Denn das Trauern steht mir gut.«

Weit bedeutsamer als der Druck dieser Gedichte zum Besten des Petriturmbaues aber wurde für meine Weiterentwicklung ein anderes literarisches Erlebnis. In Hamburg erschien damals unter der Leitung Feodor Wehls eine schöngeistige Zeitschrift mit dem weitherzigen Titel »Die Jahreszeiten«. Mit der Lesezirkelmappe kam dies Blatt auch in unser Haus. Ich sah seiner Ankunft, da es auch Gedichte bekannter Poeten brachte, stets mit Spannung entgegen, und da ich glaubte, manche meiner Gedichte seien nicht schlechter als die dort abgedruckten, entschloß ich mich eines Tages, um mich davon zu überzeugen, der Zeitschrift zwei meiner Gedichte, die auf meiner Reise im fernen Süden entstanden waren, zum Abdruck anzubieten. Wer war froher als ich, als sie auch wirklich mit meinem vollen Namen unterzeichnet in den nächsten Nummern (des Jahrgangs 1862) erschienen. Da aber die Handelsfirma meines Vaters ebenfalls C. Woermann zeichnete und er daher erklärlicherweise an der Börse mit einiger Verwunderung als der Verfasser angesprochen wurde, schrieb ich seinet- und meinetwegen meinen Namen seit dieser Zeit mit einem K. Von nun an wurde ich, zunächst in dem Kreise meiner engeren und weiteren Familie, oft genug als Gelegenheitsdichter in Anspruch genommen. Gern tat ich es, wenn mein eigenes Herz beteiligt war, weniger gern, wenn es weniger davon wußte. Doch tröstete ich mich in solchen Fällen damit, daß es eine gute Übung im Versemachen sei.

Aus vollem Herzen schrieb ich in demselben Jahr 1862 das Festspiel zum siebzigsten Geburtstag unserer geliebten Großmutter Weber, der am 22. Oktober war. »Die Zeit« erschien mit den sieben Jahrzehnten des Lebens der Gefeierten als ihren Kindern. Die Hauptereignisse jedes Jahrzehnts wurden vergegenwärtigt. Ich selbst stellte die Zeit in ihrer griechischen Bezeichnung als Chronos, also in Gestalt eines bärtigen Alten dar. Im Saal meines elterlichen Landhauses war eine kostbare und geschmackvolle Bühne für die Vorführung aufgeschlagen worden. Mein Prolog begann mit den Worten:

»Ich bin die Zeit. Mir ist die Weltgeschichte,
Was ist, was war, was sein wird, untertan,
So lang die Erde glänzt im Sonnenlichte,
So lange Sterne wandeln ihre Bahn.«

Mir wurde nachher berichtet, einige der Verwandten hätten Anstoß daran genommen, daß die Zeit sich in diesen Worten die Rolle des lieben Gottes angemaßt habe. Schon die nächsten Worte hätten ihnen zeigen gekonnt, daß es so nicht gemeint war. Aber es gingen damals eben schon Gerüchte in der Familie um, daß ich ungläubig geworden sei; und wenn das in dieser Dichtung absichtlich noch nicht hervortrat, so kann ich doch nicht leugnen, daß schon damals der Boden des beseligenden Kinderglaubens unter meinen Füßen zu wanken begonnen hatte.

Auch in größeren Schauspielen versuchte ich mich im Jahre 1862. »Der Blaustrumpf« hieß eine zweiaktige Tragikomödie, von der Dr. Reinstorff, dem ich sie zeigte, meinte, wenn sie auch kein reifes Werk sei, so hätte er mir sie, so wie sie sei, doch noch nicht zugetraut. »Hertha« war gar ein »deutsches Drama in fünf Aufzügen«. Es spielte in der Atmosphäre von Kleists Hermannsschlacht, behandelte aber ein tragisches Problem, das auch anderwärts spielen konnte, in fünffüßigen Jamben Goethe-Schillerscher Art. Übrigens war ich schon zu einsichtig, als daß ich diese dramatischen Versuche jemals einem Verleger oder einer Bühne angeboten hätte.

Von einigen Seiten scheint aber nach wie vor darauf hingearbeitet worden zu sein, mein Verhältnis zur Dichtkunst überhaupt nicht zu intim werden zu lassen. Als meine älteste Schwester, vor der ich keine Geheimnisse hatte, einer auswärts wohnenden erfahrenen mütterlichen Freundin ihren Schmerz über meinen Verlust des Bibelglaubens ausgesprochen und ihr einige meiner Gedichte geschickt hatte, antwortete diese, daß ihr die Gedichte sehr gefallen haben, fuhr dann aber fort: »Karl ist eine Natur, die sich durchkämpfen muß; und er wird es auch tun. Bete für ihn, aber ermahne ihn nicht. Letzteres würde für den Augenblick nichts helfen und euer gutes Verhältnis stören. Sein Talent zum Dichten ist etwas sehr Schönes; aber ermuntere ihn nicht!«

Ratlos stand ich anfangs mir selbst gegenüber, als ich merkte, daß sich mein schöner Kinderglaube zu verflüchtigen begann. Wie ein letzter Versuch, ihn mir zu retten, mutet es mich heute an, daß ich mir gleich nach der Heimkehr von meiner Indienfahrt allein das Abendmahl reichen ließ, das mit den Meinen, wie üblich, in der stillen Woche zu nehmen, ich ja durch meine Abwesenheit verhindert gewesen war. Aber es half nichts mehr.

Daß Dr. Reinstorff, der mich während meines Konfirmationswinters geschont hatte, mir jetzt aber von seinem Schopenhauerschen Standpunkt aus immer ernster und überzeugender zuredete, das seine dazu getan hat, mich der Kirche zu entfremden, ist selbstverständlich; und doch war es hauptsächlich der Umgang mit Lessing, Goethe und Schiller, der mich zu der freieren Weltanschauung hinüberzog. Lessings »Nathan der Weise«, den Heinrich Marr im Thaliatheater so eindringlich verkörperte, hat ursprünglich wohl das meiste dazu getan, mich zu belehren. David Friedrich Strauß' »Leben Jesu«, das ich damals las, folgte; und von der Philosophie Kants, Hegels und vor allem natürlich Schopenhauers lernte ich gerade genug kennen und verstehen, um mich innerlich zu einem anderen Menschen zu machen. Dem Beispiel Reinstorffs folgend, verlor ich mit dem Bibelglauben auch den Glauben an einen persönlichen Gott. Aber die abstrakte und erklügelte Lehre Schopenhauers von der Welt als Wille und Vorstellung wollte mir ebensowenig in den Kopf. Daß diese menschlichen »Spekulationen«, so großartig sie sein mochten, nicht die »Wahrheit« schlechthin enthalten konnten, drängte sich mir schon damals unwiderstehlich auf. Überzeugender schien mir, was ich von Spinoza und seinem »Pantheismus« erfuhr und in mich aufnehmen konnte; Goethes Wort

»Was wär ein Gott, der nur von außen stieße,
Die Welt am Finger laufen ließe«

summte mir Tag und Nacht im Kopfe. Übrigens schien es mir schon damals ziemlich auf dasselbe hinauszulaufen, ob man von Gott und Welt, von Wille und Vorstellung oder gar mit Büchner von Kraft und Stoff träumte. Ich wurde allen philosophischen Systemen gegenüber noch mißtrauischer als den überlieferten »Offenbarungen« gegenüber. Daß es etwas außer und über uns, etwas Unendliches, Herrliches, »Göttliches« – »Name ist Schall und Rauch, Umnebelnd Himmelsglut« – gebe, zu dem wir emporstreben oder das wir, uns veredelnd, zu uns herabzwingen müßten, leugnete ich nicht. Ich leugnete nur, daß uns die Fähigkeit gegeben sei, dieses Etwas begrifflich oder anschaulich zu fassen, und hielt es auch nicht für unmöglich, daß dieses Höchste, an dem teilzuhaben Seligkeit ist, als unser besseres Selbst nur in uns selber wohne. Ja, dieses war schließlich die Ansicht, bei der ich mich vorläufig beruhigte.

Aber man glaube nicht, daß diese Umkehr meines inneren Menschen sich ohne schweres und schmerzvolles Ringen vollzogen habe. Der Gedanke, preisgeben zu sollen, was mich die ersten achtzehn Jahre meines Lebens beglückt, beruhigt und beseligt hatte, schien mir anfangs unerträglich. Ich stemmte mich mit allen Kräften dagegen.

Aus vollster Seele strömte mir ein Sonett, dessen ersten beiden Vierzeiler hier Platz finden mögen:

Vernunft und Glaube ringen wild erbittert
In meiner Brust mit wechselweiser List;
O Fluch dem schrecklichen Gedankenzwist,
Von dem mein Hirn in Fieberglut erzittert.

Ich glaube nicht. Mein Wollen ist zersplittert.
Ich glaube weder Gott noch Jesum Christ,
Und flehe doch: O Vater, wenn du bist,
So sprenge du den Bann, der mich umgittert!

Schließlich kam ich auf den Gedanken, zu versuchen, ob nicht ein großer und wohlwollender Theologe mich zum Glauben zurückführen könne. Als großen Theologen und edlen, liebenswürdigen Menschen verehrte ich den Hauptpastor D. Gustav Baur, der, wie gesagt, Hausfreund bei meinen Großeltern und auch wohl bei uns war. Unbescheiden genug, schilderte ich ihm – es war schon in den ersten Monaten des Jahrs 1862 – brieflich meine Seelennot und bat ihn um Hilfe. Ernst, aber freundschaftlich antwortete er mir und bestimmte eine Stunde, zu der ich ihn besuchen durfte. Seine erste Frage war, warum ich mich denn nicht an meinen Onkel Pastor Wendt gewandt hätte. Ich antwortete der Wahrheit gemäß, dieser läge doch im Sterben. Er starb am 17. März dieses Jahres. In Wirklichkeit aber hätte ich mich nie an ihn herangewagt. D. Baur redete mir ernst und freundlich zu und sagte alles, was ein gläubiger und menschenfreundlicher Theologe in solchem Falle sagen kann. Schließlich empfahl er mir Stirms »Apologie des Christentums«. Natürlich blieb ich nach alledem so klug oder so dumm wie zuvor. Einer Apologie des Christentums bedurfte ich eigentlich nicht. Ich hatte es niemals angegriffen. Von der Notwendigkeit der Religionen für die leidende Menschheit bin ich immer überzeugt geblieben; und ich habe das Christentum stets als eine der tiefsinnigsten und beglückendsten Religionen mit heiliger Ehrfurcht bewundert. Aber ich hielt es, wie die übrigen Religionen der Menschheit, denen die Künste an beseligender Wirkung gleichen, doch nur für ein Sinnbild oder sagen wir einen Abglanz des uns Staubgeborenen unzugänglichen ewigen Lichts.

Übrigens hatte mein »Abfall« im Kreise meiner Familie nicht die katastrophale Wirkung, die ich gefürchtet hatte. Von unseren Freunden dachten Professor Wiebels und dachte wohl auch Rudolf Ferber so wie ich; mein teurer Vater setzte sich auf einem weiteren Spaziergang im Freien mit mir darüber auseinander. Ich merkte, daß ihm innerlich das kirchliche Dogma so fern lag wie mir, daß er sich aber den Glauben an Gott und Unsterblichkeit nicht nehmen lassen wollte, und ich sah, daß er von der Notwendigkeit der positiven Religionen so überzeugt war, daß er nicht nur nicht daran dachte, aus der Kirche auszutreten, sondern sogar Kirchenämter in unserem Sankt-Petri-Kirchspiel übernahm. Schließlich tröstete mich am meisten, daß auch meine geliebte Großmutter keinen Versuch machte, mich zu bekehren. Ich durfte nach wie vor die Abende, die ich frei war, bei ihr zubringen, um ihr vorzulesen. Ich habe ihr nach und nach wohl alle Dramen Goethes, Schillers, Shakespeares, Äschylos' und Sophokles' vorgelesen; und im Verein mit ihr habe ich die Meisterwerke der Dichtkunst erst völlig kennen und verstehen gelernt.

So kam der Frühling 1863 heran. Die Aufnahmeprüfung fürs Akademische Gymnasium wurde bestanden. Ich hatte nur drei oder vier Mitschüler an der ganzen Anstalt, deren Zeit, wie Ägidi selbst in einer Denkschrift ausführte, eben vorüber war. Die Professoren, deren Vorlesungen ich folgte, aber standen durchaus auf der Höhe ihrer Wissenschaft und frischer Lehrfreudigkeit. Wiebel und Ägidi habe ich, da sie zu unseren Hausfreunden gehörten, schon geschildert. Bei Wiebel hörte ich Physik und Chemie, bei Ägidi deutsche Geschichte. Ägidi war damals, in der preußischen Konfliktszeit, noch ein Gegner Bismarcks. Ostpreuße von Geburt, war er der Vorherrschaft Preußens in Deutschland an sich nicht abgeneigt, hielt aber die Wege des großen Pommern noch für ungangbar. Natürlich riß er, beredt, wie er war, uns damals zu seinen Ansichten mit fort. Die eigentliche Seele des Akademischen Gymnasiums als humanistischer Bildungsanstalt aber war der Altphilologe und Archäologe Christian Petersen, der zugleich der Leiter der Hamburger Stadtbibliothek war. Von seinen Hauptschriften waren die über den Fries des Parthenon und die panathenäischen Feste schon 1855, die über die Niobidengruppe 1860 erschienen. Seine Vorlesungen waren äußerlich etwas trocken, innerlich aber von warmem Leben erfüllt. Im Sommer 1863 las er griechische Kunstgeschichte. Es überlief mich ein heißer Freudenschauer bei dem Gedanken, nun wirklich Vorlesungen über griechische Kunstgeschichte hören zu sollen; und Petersens Vorlesungen enttäuschten mich nicht; sie sind wohl eigentlich entscheidend für meine ganze Entwickelung gewesen.

Mir war zugestanden worden, unter der Voraussetzung, daß ich eine gute schriftliche Arbeit lieferte, schon nach einem halben Jahr mit dem Reifezeugnis entlassen zu werden. Und so geschah's. Ich schrieb eine ausführliche Schrift über »Ovid als Mensch und Dichter«. Petersen erklärte sie für wert, gedruckt zu werden, was ich weiter nicht beachtete, und erteilte ihr in meinem Abgangszeugnis ein besonderes Lob. Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht. Das Akademische Gymnasium fristete sein Leben noch bis 1883. Erst ein Menschenalter später erblühte aus seiner Asche die neue Hamburgische Universität.

Als ich mich von Professor Ägidi verabschiedete, traf ich dort mit dem bekannten schleswig-holsteinischen Freiheitskämpfer und Politiker Rudolf Schleiden zusammen, mit dem Ägidi damals an einem Strange zog. Die Vorbereitung der Befreiung Schleswig-Holsteins hatte sie zusammengeführt. Beide arbeiteten für den Herzog von Augustenburg. Ihre Unterhaltung fesselte mich mächtig. Als sie aber entscheidende Fragen berührte und ich mit großen Augen zuhörte, bedeutete Ägidi mir freundlich, daß es Zeit für mich sei, zu gehen. Ägidi blieb mir sein Leben lang ein treuer Freund. Noch nach Jahrzehnten, als er Honorarprofessor der Berliner Universität und berühmter »freikonservativer« Politiker war, pflegte er mich fast jedes Jahr in Dresden zu besuchen. Sprühend geistreich in der Unterhaltung, verbreitete er zugleich eine wohltuende Herzenswärme um sich.

Feierlich war nun auch mein Abschied von Dr. Reinstorfs, dem merkwürdigen Manne, dem ich so viel verdankte. Unser Verhältnis zueinander war, seit ich seinem Unterricht entwachsen, äußerlich etwas kühler geworden. Aber wir wußten, was wir einander waren. Er schrieb mir einmal, er wisse, daß wir uns schließlich doch immer wieder treffen müßten, wie die Parallellinien der Längengrade der Erde schließlich doch zusammenträfen. Übrigens nahm seine Weiterentwickelung einen mir unerwarteten Verlauf. Schon als ich ihn nach Jahresfrist wieder besuchte, erzählte er mir, er sei innerlich ein anderer Mensch geworden. Ein einfacher Laie, ein österreichischer Offizier, habe ihn bekehrt. Wie weit die Bekehrung gegangen, erfuhr ich freilich nicht.

Reinstorff war damals bereits als Hilfslehrer an der Gelehrtenschule angestellt, an der er 1868 Oberlehrer wurde und 1874 den Professortitel erhielt. Daß er auch als Klassenlehrer einen zwingenden Einfluß auf seine Schüler ausübte, bezeugte mir dieser Tage Dr. Timm in Hamburg, der 1867 sein Schüler am Johanneum war. »Obgleich er selten vom Katheder herunterkam«, schreibt Timm, »hielt er uns doch alle die ganze Stunde lang in gespannter Aufmerksamkeit, gewissermaßen im Schraubstock fest. Die ganze Grammatik hatte er einheitlich nach morphologischen Grundsätzen aufgebaut, aber sie war nicht öde, sondern riß uns hin und machte uns Freude ... Niemand erlaubte sich bei Reinstorff nur die leiseste Unbotmäßigkeit, und doch hatte er bei aller Strenge volles Verständnis für jugendliche Entgleisungen.«

Reinstorff starb 1893. Sein Freund Pastor Rukteschell hielt dem in der treuen Pflege seiner Schwester gestorbenen Junggesellen eine ergreifende Leichenrede. Seine Schwester ließ nach seinem Tode unter dem Titel » Carmina Germanorum in Latinum convertit E. Reinstorff« seine Übersetzungen deutscher klassischer Gedichte in großenteils gereimte lateinische Verse drucken. Als besonders gelungen gelten die Verse aus Bürgers Leonore:

Und hurra, hurra, hopp, hopp, hopp,
Ging's fort in brausendem Galopp,
Daß Roß und Reiter schnoben
Und Kies und Funken stoben.

» Et impetu quadrupedis
Abrepti sunt ex ungulis,
Ut saxa dum ferirent
Scintillae prosilirent

Ja! Ein großer Lateiner war Ernst Reinstorff unzweifelhaft; aber er war mehr als das, er war eine Persönlichkeit.

Wie mein Lebensweg verlaufen wäre, wenn Reinstorff mir auf ihm nicht begegnet wäre, weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß ich mich durch seinen Einfluß als »Humanisten« im Sinne des 16. Jahrhunderts fühlen lernte und, als ich die Universität bezog, um zunächst die Rechte zu studieren, innerlich eigentlich angehender klassischer Philologe und Archäologe war.


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