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Drittes Buch

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1. Von der Rechts- zur Kunstwissenschaft

Fünfundzwanzigjährig, arbeitshungrig, voll großer Erwartungen und Hoffnungen von meiner zweiten Weltreise in meine Vaterstadt heimgekehrt, gedachte ich mich zunächst einmal mit Ernst und Eifer dem nun einmal erwählten Advokatenberufe zu widmen. Natürlich verhehlten weder mein Vater, dem ich nach wie vor völlig vertraute, noch ich uns die Zweifel, ob der Advokatenberuf und ich wirklich für einander geschaffen seien. Aber daß ich jetzt eine feste Tätigkeit beginnen müsse, erschien uns beiden als selbstverständlich; und die Entscheidung darüber, welchen anderen Beruf ich ergreifen könne, war noch nicht spruchreif. Im Sinne jener Philosophie des »Als ob« hielten wir es daher für das richtigste, daß ich den nun einmal eingeschlagenen Weg zunächst weiter verfolgte, »als ob« ich ihn zu Ende gehen wollte.

Wohnen blieb ich bei meinen Eltern; aber eine hübsche, aus zwei Zimmern bestehende Geschäftsstelle wurde gemietet und von meinem Vater dauerhaft und wohnlich ausgestattet. Ein junger Schreiber wurde angenommen und ein Advokatenschild an meiner Haustür befestigt. Da saß ich nun Tag für Tag in dem peinlichen Gefühl, daß mir jede Erfahrung auch in den kleinsten und äußerlichsten Dingen der Praxis fehle, an meinem Schreibtisch und wartete und wartete und lauschte gespannt, ob jemand bei mir anklopfen werde. Äußerst selten meldete sich einmal ein Zufallsklient. Mein Vater hatte in dem Winter keine Prozesse zu führen; und den Anschluß an eine ältere Firma hatte ich ja verschmäht. Ich begann bald, mich mehr um die Herausgabe meiner Gedichte, die Hoffmann & Campe endgültig übernommen hatten, als um die Möglichkeit, vor Gericht aufzutreten, zu kümmern.

Von eigentlichen wissenschaftlichen Winterarbeiten zog mich das glänzende Gesellschaftsleben Hamburgs ab, das sich in diesem Winter vor dem französischen Kriege üppiger entfaltete als je. In die ganz großen, gesellschaftlich tonangebenden Häuser, in denen ich nach damaliger Sitte nur hätte Karten abgeben zu brauchen, um eingeladen zu werden, zog es mich nicht. Aber auch in meinem Elternhause und in den uns verwandten und befreundeten Familien wechselten Bälle und abendliche Mittagsmahlzeiten mit literarischen und mit musikalischen Abendgesellschaften ab.

In besonderem Maße ließ meine Großmutter Weber, die nach dem Tode meines Großvaters jetzt wieder anfing, ihr Haus ihrem alten, halb weltlich, halb geistlich angehauchten, immer aber geistig gerichteten Kreise zu öffnen, es sich angelegen sein, eine verfeinerte, durchgeistigte Geselligkeit zu pflegen. Ägidis freilich, die immer anregenden, hatten meine Vaterstadt während meiner Reise verlassen, und Gustav Baurs, die immer Leben spendenden, waren im Begriff, Hamburg mit Leipzig zu vertauschen. Gustavs Bruder Wilhelm Baur aber, der als Prediger der Anscharkapelle nach Hamburg berufen worden war, siedelte erst 1872 als Hof- und Domprediger nach Berlin über. Er vor allen gab der Geselligkeit jenes Kreises während dieses und des nächsten Winters ihren geistlichen Einschlag, der zwar nichts Quäkerhaftes oder Puritanisches an sich hatte, sondern mit Luther »Wein, Weib und Gesang« fröhlichen Herzens gelten ließ, sich aber doch oft genug in Gepflogenheiten bemerkbar machte, die wenigstens in den herrschenden Hamburger Kreisen nicht üblich waren. Ich erinnere mich z. B., daß er eines Abends in meinem großelterlichen Hause eine größere Gesellschaft veranlaßte, gleich nachdem sie sich zum Abendessen niedergelassen hatte, einen Choral anzustimmen. Neben Wilhelm Baur aber trat in dem Weberschen Kreise jetzt Johannes Classen (1805 bis 1891) in den Mittelpunkt der Geselligkeit, der berühmte Philologe, der schon leitende Stellen im Schulleben Kiels, Berlins und Frankfurts bekleidet hatte, ehe er als Direktor der Gelehrtenschule nach seiner Vaterstadt Hamburg zurückberufen wurde. Classen war das Urbild eines feinsinnigen und liebenswürdigen Gelehrten, dessen menschliches Wohlwollen sich schon in seinen milden Zügen und reinen Blicken aussprach. Er und die Seinen gehörten jetzt zu den nächsten Freunden meines großelterlichen und meines elterlichen Hauses.

Den Kern der winterlichen Geselligkeit im Stadthause meiner Großmutter bildeten die alle vierzehn Tage wiederkehrenden wissenschaftlichen »Weber-Abende«, die anderthalb Jahrzehnte lang eine bemerkenswerte Erscheinung im Hamburger Gesellschaftsleben bildeten. Den Vortrag zu halten, der natürlich allgemeinverständlich sein mußte, wurden einheimische oder auswärtige Gelehrte eingeladen. Auf den Vortrag folgte ein einfaches Abendessen, an dem achtzig bis hundert Gäste teilnahmen. Den Trinkspruch auf den Redner des Abends selbst zu halten aber ließ meine Großmutter sich noch in ihrem neunzigsten Lebensjahre nicht nehmen.

Als namhafte Hamburger Gelehrte, die ich im Weberschen Hause kennen lernte, nenne ich noch Georg Neumayer, den mitteilsamen, kenntnisreichen Direktor der deutschen Seewarte, und Julius von Eckardt, den seinerzeit viel genannten, aus Livland stammenden »Publizisten«, der damals die politische Leitung des »Hamburgischen Correspondenten« hatte, später aber deutscher Generalkonsul in Marseille und Geheimer Legationsrat im Auswärtigen Amt in Berlin wurde. Er war ein Mann von selbständigen Überzeugungen; 1871 war er der einzige namhafte Deutsche, der von der Einverleibung Elsaß-Lothringens abriet, weil er meinte, sie würde ein Bündnis Frankreichs mit Rußland zur Folge haben, dem wir nicht gewachsen seien. Julius von Eckardt war eine anziehende, feine Persönlichkeit von umfangreichstem Wissen. Mich mit ihm unterhalten zu dürfen, empfand ich trotz mancher abweichenden Anschauungen stets als fördersam.

Der Künstlerkreis, der im Weberschen und großenteils auch in unserem Hause verkehrte, hatte sich namentlich durch den Bildhauer Fritz Neuber erweitert, mit dem ich mich nahe befreundete. Von der Kölner Dombauschule ausgegangen, war er in Hamburg an der bildnerischen Ausschmückung der neuen gotischen Nikolaikirche beteiligt, meißelte aber auch eine Büste meines Großvaters. Neuber war ein anziehender Gesellschafter und ein vielseitig gebildeter Künstler. Er war der erste Bildhauer, dem ich persönlich nahe trat; und ich verdankte ihm manche Aufschlüsse über das Wesen bildnerischen Schaffens.

Zu den Männern, deren Umgang ich außerhalb meiner Familie pflegte, aber gehörte Adolf Strodtmann (1829-1879), der schleswig-holsteinische Freiheitskämpfer, der als Kunstgelehrter und Dichter dem Gottfried Kinkelschen Kreise angehörte. Als »Literat« von außerordentlicher Vielseitigkeit, lebte er damals in Hamburg. Seine zahlreichen Dichtungen sind heute vergessen. Hauptsächlich als Biograph Heinrich Heines und Herausgeber seiner Werke lebt er weiter. Bebrillt und unbeholfen, spielte er an der Seite einer bildschönen, bestrickend liebenswürdigen jungen, blonden Gattin, die, wenn ich nicht irre, später die Gattin des dänischen Ästhetikers Georg Brandes wurde, eine etwas ungeschickte Rolle. Aber die Unterhaltung mit dem gesinnungstüchtigen und geistvollen Manne war immer anregend und fesselnd.

So kam das Jahr 1870 heran. Mit der Advokatur ging es nicht recht vorwärts. Mein Schreiber beschwerte sich, daß er statt Gerichtsverhandlungen und Rechtsanwaltsreden Gedichte abzuschreiben hätte, wobei er nichts lernen könne. Der Druck des Bandes sollte nämlich nach der letzten Feile beginnen; und ich freute mich, Gelegenheit zu haben, ihn ins Reine schreiben zu lassen.

Daß aber die lyrische Ader mir nicht reich genug quoll, um mein Leben auszufüllen, war mir, als der Winter sich seinem Ende nahte, ebenso klar geworden, wie, daß die Rechtswissenschaft oder gar Rechtspraxis erst recht nicht dazu imstande seien. Ich sprach mit meinem Vater jetzt wiederholt von meinem Wunsche, ganz zur Kunstgeschichte überzugehen. Mein Vater fragte, was ich als Kunsthistoriker denn werden könne; von der »akademischen Laufbahn« mit der Aussicht auf eine Universitätsprofessur konnte er sich kein klares Bild machen. Einmal sagte er, »ja, wenn du Direktor der Dresdener Gemäldegalerie werden könntest«, was um so auffallender war, als damals kein Gelehrter, sondern ein Maler Dresdener Galeriedirektor war. Erlebt hat mein Vater es nicht, daß ich es wirklich wurde. Meine Auseinandersetzungen überzeugten ihn aber doch bald, daß die »Venia legendi« an einer deutschen Universität der beste Ausgangshafen für erfolgreiche Fahrten auf dem Meere der Wissenschaft sei; und schließlich gab den Ausschlag, daß mir, vielleicht nicht ohne sein Zutun, ein juristisches Amt in Hamburg angeboten wurde, das ich ablehnte. Nunmehr erklärte er selbst den Zeitpunkt für gekommen, daß ich meine eigenen Wege ginge. Er setzte mir ein anständiges Jahresgehalt aus, mit dem ich freilich, was ich bisher noch nie getan, lernen mußte, mich nach meiner Decke zu strecken, und er wünschte mir Glück zu meinem Entschlusse, mich in Heidelberg als Privatdozent für Archäologie und Kunstgeschichte zu »habilitieren«.

Mein Freund Carl Lemcke, der inzwischen außerordentlicher Professor in Heidelberg geworden war, schrieb mir freilich, er begriffe bei meiner dichterischen Veranlagung nicht, daß ich mich nicht ganz der Literaturgeschichte widmete. Aber die bildenden Künste hatten bereits zu mächtig Besitz von mir genommen, als daß ich sie fallen lassen gekonnt hätte; und gerade weil es nicht in Frage kam, mich ihnen ausübend zu widmen, war es mir selbstverständlich, daß ich mich ihnen genießend, forschend und lehrend hingeben müsse. So ohne weiteres ging es aber natürlich nicht an, mich in der philosophischen Fakultät, zu der Archäologie und Kunstgeschichte gehörten, als Privatdozent niederzulassen. Ich mußte zuerst in aller Form durch die Erwerbung des Doktorhutes für die genannten Fächer in die Fakultät eintreten. Und so geschah's. Mitte April 1870 zog der Hamburger Rechtsanwalt und Doktor juris als Studiosus philosophiae, von seinem alten Lehrer, dem Archäologen Karl Bernhard Stark, seinem poetischen Mentor, Carl Lemcke und seinen jungen Verbindungsbrüdern in der Bolley-Oldenburgia freudig begrüßt, wieder in Alt-Heidelberg ein, das im herrlichsten Frühlingsblütenschmuck prangte. Schöne und inhaltsreiche Monate, die zwischen fleißiger Arbeit und froher Erholung geteilt waren, folgten. Alte Bekanntschaften wurden wieder aufgenommen, neue angeknüpft.

Im Hause Starks lernte ich Anselm Feuerbach (1829-1880), den großen Maler, kennen, der damals gerade anfing, eine Gemeinde zu bilden. Seine vortreffliche Mutter, die mir in liebenswürdigster Erinnerung steht, lebte damals in Heidelberg und verkehrte in denselben Häusern wie ich. Ihr Sohn, der Maler, dessen zierliche Gestalt mit dem klassisch-schönen, wenn auch nicht eben männlich kräftigen Kopfe jedem unvergeßlich sein wird, der ihn gesehen, hielt sich wiederholt bei seiner Mutter auf. Stark war ein begeisterter Anhänger seiner Kunst und teilte auch mir seine Begeisterung mit. Feuerbachs Iphigenie war damals in Heidelberg ausgestellt. Ich hatte wiederholt Gelegenheit, mich eingehend und freundschaftlich mit ihm zu unterhalten und fand ihn damals nicht so zugeknöpft, wie er später allen Kunstgelehrten gegenübertrat.

Bei aller Schaffens- und Lebensfreude machte das ferne Wetterleuchten und dumpfe Donnerrollen des herannahenden französischen Krieges mein Herz in banger Erwartung schlagen. Mir selbst galt diese freilich nicht. Von der allgemeinen Wehrpflicht, die von Preußen aus nach 1866 ganz Deutschland segensreich ergriffen hatte, war der Geburtsjahrgang, dem ich angehörte, als letzter, noch ausgeschlossen. Außerdem war ich bei der ärztlichen Untersuchung, der ich mich in meinem neunzehnten Lebensjahre unterziehen gemußt, für untauglich zum Militärdienst erklärt worden. Auf den Gedanken, mich trotzdem zu stellen, aber kam ich um so weniger, als unsere raschen Siege jedes Sonderaufgebot überflüssig machten. Ich blieb also ruhig in meinen Gleisen, obgleich mein Herz den stürmischsten Anteil an der Entwicklung der Dinge nahm.

Kurz vor Pfingsten war mein Gedichtband endlich erschienen. Die Aufnahme, die er trotz der Ungunst der Zeit bei der Kritik fand, war ermutigend. Am meisten freute mich, daß Johannes Scherr, der damals berühmte Züricher Literar- und Kulturhistoriker, mich in seiner zweibändigen allgemeinen Geschichte der Literatur zu den jüngeren Lyrikern stellte, die »gerechten Anspruch darauf haben, nicht übersehen zu werden«.

Ich hatte also doch schon etwas Gedrucktes, wenngleich nichts Wissenschaftliches, vorzuweisen, als ich mitten im Lärm des uns am 19. Juli von Frankreich erklärten Krieges, am 21. Juli 1871 die Würde eines Doktors der Philosophie erwarb. In meinem Hauptfach, der Archäologie und Kunstgeschichte, prüfte Stark mich. Meine Nebenfächer waren die Geschichte der Philosophie und Ästhetik. In der Geschichte der Philosophie prüfte mich kein Geringerer als Eduard Zeller (1814-1908), der berühmte Verfasser der »Philosophie der Griechen« und vieler anderen Schriften, der bald darauf von Heidelberg nach Berlin berufen wurde. Die hagere Gestalt des liebenswürdigen Schwaben mit den ausdrucksvollen Zügen und dem fragenden Forscherblick aus freundlichen braunen Augen ist mir unvergeßlich. Auf dem Gebiete der Ästhetik aber nahm der damals vielgenannte alte Professor Karl Alexander Freiherr von Reichlin-Meldegg (1801-77), der katholischer Priester gewesen war, ehe er 1832 zum Protestantismus und zur Philosophie übertrat, sich meiner an.

Nach der Prüfung wurde mir von der Fakultät mitgeteilt, daß mir, wenn ich mich in Heidelberg habilitieren wolle, das »Kolloquium« erlassen wäre, so daß ich nur noch eine Schrift einzureichen brauchte. Mein Vater aber meinte scherzhaft, als ich mich mühsam durch die beginnenden Truppenbewegungen von Heidelberg nach Hamburg durchgeschlagen hatte, wenn es so leicht sei, den philosophischen Doktorhut zu erwerben, so habe er gar keinen Respekt vor ihm.

Sei dem, wie ihm wolle: ich stand jetzt am Ziele meiner nächsten Lebenswünsche. Ich hatte als Dichter und als Kunstgelehrter die ersten Weihen erhalten; und ich sah mich jetzt öffentlich als Mitglied der Geistergemeinde anerkannt, als deren Gast nur ich mich bisher fühlen gedurft hatte. Der erste Hauptabschnitt meines Lebens war beendet. Daß er mit einem hoffnungsreichen Hauptabschnitt in der Geschichte meines heißgeliebten Vaterlandes zusammenfiel, hat meine Kräfte zum Weiterarbeiten gestählt.

 

Da der Krieg sich von Anfang an, Schlag auf Schlag, günstig für uns gestaltete und schon mit der Schlacht bei Sedan am 2. September entschieden schien, löste er, mit so leidenschaftlicher Spannung wir ihn weiterverfolgten, keine weiteren Besorgnisse in uns aus. Anfang Oktober sahen wir ihn tatsächlich als beendet an. Jeder, der nicht Soldat war, nahm seine alte Beschäftigung wieder auf. Auch ich legte das Kriegsfürsorgeamt, das ich in meiner Vaterstadt übernommen hatte, nieder, um die Wege einzuschlagen, die meine neue Laufbahn verlangte. Ich fühlte, daß ich noch viel zu lernen hatte und meine kunstgeschichtlichen Kenntnisse nach allen Seiten erweitern und vertiefen mußte, ehe ich zu lehren begann. Aber es war mir darum zu tun, die äußeren Vorbedingungen der akademischen Laufbahn, zu der man mich in Heidelberg sozusagen amtlich ermutigt hatte, so bald wie möglich zu erfüllen. Vor allem galt es also, die wissenschaftliche Abhandlung zu schreiben und einzureichen, die mir die Venia legendi, die Erlaubnis, Vorlesungen an der Universität Heidelberg zu halten, verschaffen sollte.

Übers Knie brechen ließ diese Arbeit sich aber doch nicht. Ein halbes Jahr Zeit mußte ich mir für sie gönnen; und ich wollte sie an einem Orte schreiben, wo ich mich im Anschluß an einen bewährten Universitätslehrer noch ein Semester für meinen neuen Beruf weiterschulen konnte. Ordentliche Professuren für neuere Kunstgeschichte gab es damals erst an den wenigsten deutschen Universitäten. Mein engerer Landsmann, der alte G. F. Waagen in Berlin, war 1868 gestorben. Zu Anton Springer nach Bonn zu gehen, dessen Vorträgen große Anregungskraft nachgerühmt wurde, hätte mich reizen gekonnt. Aber seine Art war, so hoch ich ihn verehrte, doch nicht so »exakt« aufs einzelne Kunstwerk gerichtet, wie es mir vorschwebte. Die beste wissenschaftliche Methode, Kunstwerke zum Reden zu bringen, besaßen damals die Lehrer der griechischen Kunstgeschichte, die sich als Archäologen zu bezeichnen pflegen. Ein noch berühmterer Archäologe als mein Gönner K. B. Stark in Heidelberg und als mein erster Lehrer auf diesem Gebiete, Christian Petersen in Hamburg, war damals Heinrich Brunn in München (1822-94), dessen Geschichte der griechischen Künstler ihm einen Weltruf verschafft hatte. Zu Brunn zog es mich; und ebenso mächtig zog es mich auch nach München, der deutschen Kunststadt, die ich noch nicht kannte. Es war eigentlich selbstverständlich, daß ich mich als angehender deutscher Kunstgelehrter in München heimisch machen mußte; und ich habe daher auch keinen Augenblick geschwankt, wo ich das nächste Halbjahr zubringen wollte.

Ehe ich mich auf den Weg machte, unternahm ich bei schönem Herbstwetter in Begleitung meines Oheims, des Bildersammlers Eduard Weber, der selbst noch ein junger Mann war, eine Fußwanderung durch das saftige, mit hundert Seenaugen aus grünem Waldantlitz dreinblickende östliche Holstein, das mir von klein auf lieb und vertraut war. Die Wanderung ist mir unvergeßlich geblieben, weil unsere Unterhaltung sich in der schönen Natur fast nur um die schönen Künste drehte, die uns beiden Herzenssache war, und hierbei wiederholt zutage trat, daß Eduard Weber damals noch fester in der klassizistischen Richtung befangen war als ich. Als wir durch den geräumigen Hof eines alten Gutes schritten, brach ich in Entzücken über zwei große alte Scheunen mit herrlich geschwungenen, eingerollt umrahmten Giebeln aus. Mein Begleiter aber schalt meinen Geschmack unbegreiflich: »Das sei doch abscheuliches Barock.« Also noch immer dieselbe Vorstellung, die mir in meinen Knabenjahren den Katharinenkirchturm zu verleiden gesucht hatte!

Wir trennten uns in Lübeck, der unvergleichlichen »Stadt mit den goldenen Türmen«, wie Gustav Falke sie nennt, den hohen, schlichten Türmen, die jedem ans Herz wachsen, sobald er ihre gleichmäßig schlanken, geschlossenen Spitzpyramiden aus der Ferne hinter waldigen Höhen und wogenden Feldern auftauchen sieht. Ich vertiefte mich noch einige Tage in die baulichen Reize und künstlerischen Anregungen der früheren Hansahauptstadt und benutzte zugleich die Gelegenheit, den alten Emanuel Geibel zu besuchen, der sich, von München wegen seiner preußisch-deutschen Gesinnung moralisch vertrieben, seit kurzem in seine poesiedurchwobene Vaterstadt zurückgezogen hatte. Als Gegengabe für meine Gedichte, die ich ihm gleich nach ihrem Erscheinen geschickt, hatte er mir die gerade erschienene zweite Auflage seines Trauerspiels »Sophonisbe« mit einer Widmung in seiner klaren, großzügigen Handschrift gesandt. Ich war also bei dem gefeierten Alten, der doch mehr als nur der Backfischdichter war, als der er schon damals oft hingestellt wurde, bereits eingeführt und wurde als guter Bekannter von ihm empfangen. Ich hatte mir das Äußere Geibels nicht so männlich gedacht, wie ich es fand. Die kräftigen Züge, der kurze Knebelbart und das klar und fest dreinblickende Auge hatten sogar etwas Martialisches. Damals war mein Besuch bei dem Dichter des Maiwanderliedes, das wir so oft gesungen, mir ein Erlebnis.

Auf der Reise nach München hielt ich mich einige Tage in Stuttgart auf; und hier machte ich zufällig Bekanntschaften, die auf weite Strecken meines Lebens nachwirkten. Im Hotel Marquardt, in dem ich wohnte, traf ich eines Abends einen kleinen Kreis Stuttgarter Männer, die an der Gasttafel in angeregten Gesprächen ihren Rheinwein tranken. Da ihre Unterhaltung mich in hohem Grade anzog, wagte ich es, mich bescheiden in sie einzumischen; und sie mochten an der Art, in der dies geschah, auch erkennen, daß ich berechtigt dazu war. Bald waren wir in lebhaften Wechselgesprächen, und nachdem wir uns einander vorgestellt, verkehrten wir rasch wie alte Bekannte miteinander. Der Hauptwortführer, ein ungemein sympathisch dreinblickender Sechziger, dessen feine Züge vom ergrauenden Vollbart umrahmt waren, war kein Geringerer als Friedrich Theodor Vischer (1807-87), der große Ästhetiker, der nach vielseitig bewegter Jugend seit 1866 Professor an der Technischen Hochschule in Stuttgart war. Auch wer den hegelianisch trilogischen Panzer seiner großen Ästhetik nur als Modeschrulle versteht, wird aus diesem Buche mehr echtes Natur- und Kunstempfinden empfangen als aus den meisten anderen schönwissenschaftlichen Schriften. »Auch einer!«, wie der Titel eines seiner letzten Bücher lautet, war er in vollstem Maße. Auch sein Jugendmartyrium für Gedankenfreiheit hatte mich diesen Mann nach meinem Herzen längst bewundern lassen. Ihm jetzt persönlich nahezukommen, beglückte mich; und wir haben die an jenem Tage angeknüpften freundschaftlichen Beziehungen erneuert, sooft wir uns auf unseren ferneren Wegen wieder begegneten.

Von den übrigen Herren, deren Bekanntschaft ich an jenem Abend in Stuttgart machte, erinnere ich mich namentlich noch Otto Brauns (1824-1900), der damals Schriftleiter der berühmten Beilage der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« war und später, von 1891-1900, den wiedererstandenen Cottaschen Musenalmanach herausgab. Auch meine Beziehungen zu ihm, die hier angeknüpft wurden, bewährten sich auf die Dauer.

Auf der Fahrt von Stuttgart nach München ging mir alles durch den Kopf, was ich in der süddeutschen Kunsthauptstadt in mich aufnehmen, aber auch schaffen wollte und sollte. Weniger selbstverständlich, als daß ich nach München ging, aus meiner bisherigen Entwicklung heraus aber doch leicht erklärlich war, daß ich für meine Habilitationsschrift einen Gegenstand aus der antiken Kunstgeschichte wählte, mit der ich mich bisher doch am schulgerechtesten beschäftigt hatte. Wenn ich aber die Landschaft in der Kunst der alten Völker als das erste Sondergebiet meiner Betätigung wählte, so geschah das einerseits, weil dieser Gegenstand damals noch nicht zusammenfassend behandelt worden war, anderseits aber auch, weil ich mir für die landschaftliche Natur, mit der ich mich schon in vier Weltteilen verwachsen gefühlt hatte, ein gereifteres Verständnis zutraute als für die menschliche Gestalt, deren unverhüllte Schönheit ich damals in natura doch noch mehr geahnt und gefühlt als studiert hatte. Schließlich hatte ich aber auch das Bedürfnis, mit den Anfängen anzufangen. Meine Schrift, die 1871 bei Theodor Ackermann in München erschien, behandelte daher zunächst nur den landschaftlichen Natursinn der Griechen und Römer, wie er in deren Schrifttum, vor allem in ihrer Dichtkunst zutage trat, und bezeichnete sich dementsprechend als »Vorstudien zu einer Archäologie der Landschaftsmalerei«. Meine ausgesprochen philologische Ader und meine Vorliebe für die griechische Sprache kamen mir dabei zustatten. Ich trug eine Fülle von Einzelstellen, die auf eine künstlerische Auffassung des Lebens und Webens in der Landschaft deuteten, aus den griechischen und römischen Schriftstellern zusammen und betonte die Wandlungen, die sich im Naturgefühl der verschiedenen Zeitabschnitte der altgriechischen, hellenistischen und hellenistisch-römischen Kulturentwicklung vollzogen hatten. Der »epagogischen« oder »induktiven« Methode im Sinne des Aristoteles, die ihre Schlüsse aus zahlreichen Einzelbeobachtungen zieht, aber bin ich für wissenschaftliche Untersuchungen mein Leben lang treu geblieben. Daß Kunstschöpfungen, die uns auf Adlerschwingen über das Alltagsleben hinausheben oder, vom Himmel herabgeschwebt, mit göttlicher Begeisterung erfüllen, bald von der »Idee«, bald von der Wirklichkeit, oder sagen wir, bald von unserer Innenwelt, bald von der Außenwelt ausgingen, habe ich nie verkannt, wissenschaftlich aber auch nur durch Einzelbeobachtungen wahrgenommen.

Die sieben Monate vom Herbst 1870 bis zum Frühjahr 1871, die ich in München verlebte, gehören zu den schönsten, sorgenfreiesten, inhaltreichsten und fördersamsten meines ganzen Lebens. In München fand ich mich vollends zu mir selbst. Weilte ich hier doch zum erstenmal in einer der großen Kunststädte zu dem ausgesprochenen Zweck, in ihr der Kunst zu leben. Verkehrte ich in einer der Hauptstädte des deutschen Geisteslebens doch zum erstenmal als Mitstrebender mit Meistern der Wissenschaft, der Dichtkunst und der bildenden Künste.

Daß auch München als Stadt mit ihren vielgestaltigen öffentlichen Bauten, ihrer herrlichen, schon Alpenluft atmenden Umgebung und ihrem frischen und eigenartigen Volksleben mich mächtig anzog, versteht sich von selbst. Absichtlich ließ ich nichts unbeachtet. Ich glaube, daß ich keine Stadt jemals so geliebt habe, wie damals München. Aber so sehr mich der alte gotische Kern der Stadt mit seiner ehrwürdigen Frauenkirche, so sehr mich das saftige Leben ihrer Renaissance-, Barock- und Rokokobauten anzog, zunächst war es doch die Stadt Ludwigs I. und Maximilians II., die sich mir auftat und mich in ihren Bannkreis zog.

Wenn das München von damals in seinen Grundzügen auch schon das München von heute war, so fehlten seiner baulichen Erscheinung damals doch noch eine Reihe der Prachtgebäude und öffentlichen Denkmäler, wie die Bauten Thierschs, Gedons, Theodor Fischers, Gabriel und Emanuel Seidls und die Denkmäler Adolf Hildebrands und seiner Schule, die ihm seitdem ein volleres und üppigeres Ansehen verliehen haben. Wurden die strengen, keuschen Stadtbilder und Einzelbauten der Zeit Ludwigs I. noch nicht durch die Nachbarschaft der Schöpfungen einer prunkhafteren Nachzeit in den Schatten gestellt, so war freilich ein Wandel des Geschmacks schon von ihnen zu denen Maximilians II. doch nicht zu verkennen. Wie anders blickt die Ludwigstraße drein, wie anders die Maximilianstraße! Jene zieht sich, so lang und breit sie ist, von der Feldherrnhalle, der verunglückten Nachbildung der Loggia dei Lanzi in Florenz, mit kalten Nachahmungen fremdländischer Bauten verschiedener Stilarten besetzt, bis zum Siegestor hinab, das noch am günstigsten wirkt, weil es eine nahezu wörtliche Wiederholung des römischen Konstantinsbogens ist. Die Maximilianstraße dagegen, die sich, am Max-Joseph-Platz vom Nationaltheater begrenzt, in ihrer unteren Hälfte zu einem rechteckigen »Forum« erweitert, bis zur Isar hinabzieht, um jenseits des Flusses auf der Gasteighöhe von dem Schmuck- und Kulissenbau des Maximilianeums beherrscht zu werden, ist großzügig und einheitlich in einem neuen, eigens zu diesem Zwecke erfundenen Baustil angelegt, der damals, zunächst weil er kein kunstgeschichtlich beglaubigter Stil war, verspottet wurde. Freilich war die Zeit, die alten Stilarten aus allgemeiner Überzeugung durch eine selbständige neue baukünstlerische Auffassung zu ersetzen, noch nicht gekommen. Aber schon dem Stil der Maximilianstraße, dessen trocken dünne Liniengliederungen und der englischen Spätgotik entlehnte Tür- und Fensterumrahmungen ohne sprechende Einzelheiten keinen Kunstfreund begeistern werden, fehlt es doch nicht an dem ruhigen, selbständigen Zusammenschluß, den wir heute wieder würdigen können.

Den vornehmsten baukünstlerischen Eindruck Münchens empfing man aber schon damals, wie noch heute, wenn man auf der Brienner Straße, den Obelisken im Rücken, zur Rechten die Glyptothek Klenzes mit ihrer ionischen Achtsäulenvorhalle, zur Linken Zieblands Altertumsmuseum (der jetzigen Modernen Galerie) mit seinem von acht korinthischen Säulen getragenen Vorbau, über den Königsplatz den Klenzeschen Propyläen, dem klar gegliederten dorischen Torbau zuschritt, einem der wenigen Bauten, in denen der Klassizismus uns überzeugt, als sei er eine baugesetzliche Selbstverständlichkeit. Damals hinderte die Liebe zur Gotik, zu der ich mich bereits bekehrt hatte, mich nicht, auch diese Wiederaufnahme und Verwendung der drei antiken Stilarten als künstlerische Tat des Zeitalters Ludwigs I. zu feiern. Zu Klenzes dorischer Ruhmeshalle, deren rein abgemessene Säulenreihen nur als Hintergrund für Schwanthalers Standbild der Bavaria wirken, aber zog es mich hauptsächlich dieser ehernen Riesengestalt wegen, deren Errichtung schon in räumlicher Beziehung, wie die des Hermannsdenkmals auf der Grotenburg, von künstlerischem Großsinn zeugte; zur Bavaria aber zog es mich noch mehr, als um sie künstlerisch auf mich einwirken zu lassen, um in ihrem Innern ihren Bronzekopf zu ersteigen, von dessen Augen man ganz München und die Ebene bis zu den Alpen übersieht, die sich in langer Kette am Horizont entlangziehen. Ich benutzte dazu den ersten klaren Herbsttag, der mir in München strahlte. Bläulich schneeweiß reihten sich die zackigen Gipfel in anscheinend unerreichbarer Ferne aneinander. Die Alpen sah ich zum erstenmal; aber ich sah sie wie ein fernes Märchenreich der Sehnsucht, von dem mich zunächst noch der nahende Winter und die tägliche Arbeit trennten.

Übrigens gehörten die Jahre 1870 und 1871 in München in Wirklichkeit schon recht eigentlich zur Zeit Ludwigs II. und Richard Wagners. Von beiden war viel die Rede, aber sie wohnten beide nicht in München, und man sah sie selten. Ludwig II. meine ich in München überhaupt nicht gesehen zu haben. Die einen sprachen mit schwärmerischer Begeisterung von ihm; andere rümpften schon damals die Nase über seine Weltfremdheit, Absonderlichkeit und Verschwendung. Seine Schlösser in Linderhof und in Neuschwanstein, die der Kunst nichts hinzugefügt haben, waren schon damals im Bau. Sein tragisches Ende sah doch wohl noch niemand voraus. Seinen großen Freund Richard Wagner habe ich nicht kennengelernt. Doch wurde er mir einmal im Café Maximilian gezeigt, wo er im Kreise seiner Verehrer saß.

Große, für die deutsche Geschichte inhaltreiche Monate waren es, die ich in München verlebte. Lebendige Erinnerungen weckte in mir die feierliche Verkündigung des deutschen Kaisertums in dem langgestreckten Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles, zu dessen riesigen Bogenfenstern ich noch vor acht Monaten ahnungslos in den weitgedehnten Garten hinausgeschaut hatte. Das Hochgefühl, auch in München die Luft des neuen Deutschen Reiches zu atmen, gab dem ganzen, großenteils aus Norddeutschland stammenden Gelehrten-, Dichter- und Künstlerkreis, in dem ich mich dort bewegte, einen innigeren Verband, einen festeren Halt und eine freudigere Schaffenskraft.

Hand in Hand mit diesem Hochgefühl ging aber die Aufregung über die Anmaßungen der römischen Geistlichkeit, deren Konzil einen Tag vor der französischen Kriegserklärung die Unfehlbarkeit des Papstes verkündet hatte. Während der Spannung, die der Krieg geschaffen, war die Aufregung hierüber in den Hintergrund getreten. Jetzt, nachdem der Krieg zu Ende war, loderte sie um so mächtiger wieder empor. Unter den Männern, mit denen ich in München verkehrte – gehört doch auch Döllinger, der Vater des Altkatholizismus, zu ihnen –, war keiner, der diese Aufregung nicht geteilt hätte. Wie alles, was mich innerlich ergriff, machte auch diese Aufregung in mir sich wieder in Rhythmen und Reimen Luft. Ich schrieb mein »Anathema sit«, zwölf Zeit- und Streitsonette, die ebenfalls bei Theodor Ackermann in München – und jetzt, im Gegensatz zu meinen ersten »Geharnischten Sonetten« von 1866, mit meinem Namen – 1871 erschienen. Formenstärker, leidenschaftlicher und heftiger als die von 1866 waren sie. Ob aber weiser? Damals empfanden wir die Ausrufung der Unfehlbarkeit der Lehren eines Menschen als unerträglich. Aber hielten im Grunde die Propheten jeder Religion sich nicht für unfehlbar? Hatte ich nicht immer die Religionen als unentbehrlich für die Menschheit empfunden? Und ging es uns denn wirklich so viel an, wenn das Haupt eines Bekenntnisses, das nicht das unsere war, sich für unfehlbar erklärte? Doch in der Jugend denkt man eben anders als im Alter; und Bismarck, der Gründer des Reiches, den wir vergötterten, stand auf unserer Seite. Unter seiner Führung entbrannte im nächsten Jahr der sogenannte Kulturkampf, in dem der eiserne Kanzler schließlich unterlag. Jedenfalls wäre es besser fürs junge Reich gewesen, wenn es von diesem inneren Kampf verschont geblieben wäre.

Den Mittelpunkt des Münchener Universitätsgelehrtenkreises, in dem ich damals verkehrte, bildete natürlich Heinrich Brunn (1822-1894), ein Mann, der alle, die ihm nahen durften, mit herzlicher Verehrung erfüllte. Seine Schüler wußten nicht, ob ihr Herz höher für den berühmten, in manchen Stücken bahnbrechenden Gelehrten oder den klarsichtigen Lehrer, für den feinfühligen Kunstkenner oder den warmherzigen Menschen schlug. Als Student war er flotter Korpsbursche bei den Bonner Pfälzern gewesen; und in Bonn hatte er auch als Privatdozent für die Altertumswissenschaft seine Lehrtätigkeit begonnen; in Rom, wohin er 1856 als Sekretär des archäologischen Instituts berufen wurde, hatte er sich zu einem der namhaftesten Archäologen Europas entwickelt. Seine zweibändige grundlegende »Geschichte der griechischen Künstler« war schon 1857 erschienen. Seit 1865 war er Professor der Archäologie in München. Der Vortrag floß ihm nicht leicht von den Lippen; Schönredner war er nicht; man fühlte, wie er um die treffsichersten Worte rang; aber er fand sie immer und ließ die Dinge schließlich anschaulich, stark und anmutig zugleich vor den Augen seiner Hörer erstehen. Ich besuchte seine regelmäßigen Vorlesungen über die Geschichte der griechischen Kunst, die ich nun zum drittenmal vortragen hörte, nahm aber auch an den archäologischen Übungen seines »Seminars«, wie man später sagte, teil; und hier lernte ich zum erstenmal, Kunstwerke methodisch sehen, vergleichen und deuten.

Am schönsten aber waren die geselligen Unterhaltungsabende in Brunns gastlichem Hause, zu denen er jeden Dienstag einen Kreis seiner bevorzugten Schüler vereinigte. Bei einem Glase Bier wurden hier alle Fragen des geistigen und staatlichen Lebens, hauptsächlich aber doch der Altertumswissenschaft erörtert. An ihnen nahm auch sein geistvollster Schüler und späterer Nachfolger Adolf Furtwängler teil, der die Methode Brunns sozusagen umkehrte. Hatte Brunn zunächst die Geschichte der griechischen Künstler geschrieben und sich unter den erhaltenen Kunstschöpfungen nach den zu ihnen oder doch zu ihrem Kreise gehörenden Werken umgesehen, so ging Furtwängler später wieder von den erhaltenen antiken Kunstwerken aus, deren jedem er bereits seine richtige Stelle im Künstlerkreise anweisen zu können glaubte. Auch Furtwängler hat der griechischen Kunstgeschichte unvergängliche Dienste erwiesen. Damals war er ein schlanker, dunkeläugiger junger Mann von süddeutsch anheimelnden Umgangsformen, wogegen Brunn selbst seiner Erscheinung und seinem Wesen nach durchaus Norddeutscher, aber Norddeutscher angenehmster Art geblieben war. Auch Wilhelm Schmidt, der treffliche Kenner altdeutscher Malerei und Graphik, der nachmals langjährige Direktor des Münchener Kupferstichkabinetts, mit dem ich später gern zusammenarbeitete, gehörte zu den Getreuen der Unterhaltungsabende in der Wohnung Brunns, an denen schließlich dessen liebenswürdige Gattin mit »Hermännchen«, ihrem blondlockigen Söhnchen, erschien. Sie war aus Dessau gebürtig. Die Brunnsche Ehe machte auf mich den Eindruck vollkommenen Einklangs. Brunn selbst sagte mir einmal: Das beste Zeichen, daß Mann und Frau füreinander geschaffen sind, ist es, wenn sie einander gleich beim ersten Begegnen minutenlang in die Augen sehen können, ohne zu erröten oder wegzublicken. So habe er auch seine Frau gefunden.

Brunn führte mich auch in den Münchener Altertumsverein ein, dessen Mitglied ich wurde. Er tagte des Montags abends. Manchen lehrreichen Vortrag habe ich hier gehört, und manchem bedeutenden Gelehrten durfte ich hier nähertreten. Vor allem nenne ich Jakob Heinrich von Hefner-Alteneck (1811-1903), den berühmten Meister der Geschichte der Trachten und des Hausrats, der seit 1868 Generalkonservator der Kunstdenkmäler Bayerns und Direktor des bayrischen Nationalmuseums war. Der stattliche Sechziger, der in früher Jugend einen Arm verloren hatte, sprühte von Kenntnissen und innerem Leben; er gehörte zu Brunns nächsten Freunden und war daher auch mir freundlich gesinnt. Im Altertumsverein lernte ich auch den berühmten Theologen, den Stiftspropst und Reichsrat Johann Joseph Ignaz Döllinger (1799-1890) kennen, dessen Name damals von allen, die sich an der päpstlichen Unfehlbarkeit stießen, gefeiert wurde. Sein machtvoller Prälatenkopf, den Lenbach einige Jahre später in dem berühmten Bilde der Münchener Pinakothek festgehalten, wird jedem unvergeßlich sein, der ihm jemals gegenübergesessen. Ich traf Döllinger später öfter in Hausgesellschaften, habe ihn aber meist aus scheuer, ehrfurchtsvoller Entfernung bewundert und kann mich nicht rühmen, ihm nähergetreten zu sein. Nähergetreten aber bin ich dem alten Ernst Foerster (1800-85), dem feingebildeten Kunstschriftsteller, der als Maler Schüler des großen Peter Cornelius gewesen, aber, nachdem er eingesehen, daß seine Begabung nicht ausreichte, ein großer Künstler zu werden, zur Kunstgeschichte übergegangen war. Seine kunstwissenschaftlichen Schriften trugen ihm den Doktortitel der Universität Tübingen ein. Seine mehrbändigen Geschichten der italienischen und der deutschen Kunst, die durchaus auf eigener Anschauung aufgebaut sind, enthalten manche selbständig-anschauliche Schilderung und manche noch heute lesenswerte Erörterung. In jenem Winter hielt er im Altertumsverein einen Vortrag über Masaccios Fresken in der Carminekirche zu Florenz, dem ich es zuschreibe, daß auch ich mich später eingehend mit ihnen befaßte. Auch einen Band Gedichte hatte Ernst Foerster veröffentlicht. Wir fanden viele Anknüpfungspunkte. War seine erste Gattin eine Tochter des Dichters Jean Paul gewesen, so stammte seine liebenswürdige zweite Frau, die an der Seite des rüstigen Siebzigjährigen mit dem vornehm scharfgeschnittenen, von kurzem weißen Vollbart umrahmten Kopfe als dessen Tochter gelten konnte, aus dem hamburgischen Senatorenkreise, aus dem ich auch eine Empfehlung an sie mitbrachte. Ich habe im Foersterschen Hause manchen anregenden und anheimelnden Abend verlebt.

Im Altertumsverein machte ich auch die Bekanntschaft des vielseitigen und gründlichen Kunsthistorikers Franz Reber (1834-1919), der damals gerade Professor an der Münchener Technischen Hochschule geworden war, 1878 aber Direktor der Staatsgalerien Bayerns wurde und in seinem Kreise eine einflußreiche und maßgebende Persönlichkeit war. Ich habe mich stets gefreut, wenn ich dem vortrefflichen Mann, der seine Persönlichkeit niemals hervorkehrte, wieder begegnete.

Zu den bedeutenden Gelehrten dieses Kreises, denen ich nähertrat, gehörten aber auch der bekannte Lateiner Karl von Halm, der Direktor der Münchener Staatsbibliothek war und mir als solcher meine Arbeit in liebenswürdigster Weise erleichterte, Hermann von Schlagintweit (1826-82), der berühmte Himalaja-Reisende, dem seine Überschreitung des Kuenluen-Gebirges den amtlichen Beinamen Sakünlünski eingetragen hatte, und schließlich Moriz Carriere (1817-95), der vielgenannte Philosoph und Ästhetiker Hegelianischer Richtung, den ich noch früher in Paul Heyses Poetennachmittagen als im Altertumsverein kennenlernte. Carriere, der als außerordentlicher Professor in Gießen Schwiegersohn Justus Liebigs, des großen Chemikers, geworden war, war schon 1853 einem Rufe nach München gefolgt, in dessen geistigem Leben er als ausgesprochene, wenn auch nicht besonders scharf umrissene Persönlichkeit eine Rolle spielte. Damals schrieb er noch an seinem fünfbändigen, wohl allzu rasch vergessenen Werke »Die Kunst im Zusammenhang der Kulturgeschichte und die Ideale der Menschheit«. Wir stellten uns durchaus freundschaftlich zueinander, wenngleich er gern den Ton Hegelianischer Überlegenheit gegen den jungen Aristoteliker und Skeptiker anschlug, der von den philosophischen Systemen nicht viel wissen wollte.

Hermann von Schlagintweit, mit dessen Bruder Robert ich 1869 in Neuyork freundschaftlich verkehrt hatte, führte mich auch in eine andere berühmte Münchener Abendgesellschaft, die der » Zwanglosen«, ein, in der ich manche anregende Stunde verbracht habe. Wie schon ihr Name besagte, kamen Künstler, Dichter und Gelehrte jeder Art in dieser Gesellschaft zu geistiger Unterhaltung bei einem Glase guten Weins zwanglos und darum nur um so anregender und gemütlicher zusammen. Bei den Zwanglosen meine ich zuerst mit Wilhelm Riehl (1823-97), einem der bekanntesten und sympathischsten Münchener Gelehrten und Schriftsteller jener Tage, gesprochen zu haben. Er gehörte zu den wenigen Schriftstellern, die mein Vater las und liebte. Einige seiner Hauptwerke, wie »Land und Leute«, »Die Familie« und »Die kulturgeschichtlichen Novellen« hatten zu meiner frühsten Geistesnahrung gehört. Ich verehrte ihn aufrichtig, und wir haben uns, sooft wir im späteren Leben uns wiedergetroffen haben, freundlich berührt.

Außerhalb dieser Kreise aber wurde ich mit Rochus Freiherrn von Liliencron (1820-1912) befreundet, dem vielgewandten und vielgewanderten, um die Geschichte des deutschen Volksliedes so hochverdienten Holsteiner, der 1848 Freiheitskämpfer für sein engeres Vaterland, 1852 Professor der Philosophie in Jena, später meiningischer Kammerherr und Bibliotheksvorstand gewesen war, 1869 aber nach München übersiedelte, wo er im Auftrage der bayrischen Akademie der Wissenschaften die »Allgemeine deutsche Biographie« leitete. Später zog er sich als Prälat und Propst des protestantischen Johannesklosters nach Schleswig zurück, wo er im hohen Alter von 92 Jahren starb. In München führte er damals mit seiner feinsinnigen Gattin, die aus Kopenhagen stammte, ein vornehmes Haus, dessen aristokratischer Zuschnitt von Kunst und Wissenschaft durchgeistigt und von deutscher Herzenswärme beseelt war. Der alte Herr mit dem kräftigen, bartlosen rotblonden Kopfe, eine glückliche Mischung von Gelehrtem, Künstler und Edelmann, war in jeder Hinsicht eine kernige und liebenswerte Erscheinung.

Bei Liliencrons lernte ich auch den geistesverwandten Siegmund Riezler, der nach Halms Tode Oberbibliothekar der dortigen Staatsbibliothek wurde, und den Westfalen Franz von Löher (1818-92), den fein beobachtenden Reiseschriftsteller kennen, dessen »Amerikanische Studien« ich schon gelesen hatte, ehe ich meine Reise nach Neuyork antrat.

Wahrlich, in den Männern der Wissenschaft, mit denen ich damals als Sechsundzwanzigjähriger in München in Verkehr und großenteils in freundschaftlichen Verkehr trat, der noch lange aufrechterhalten wurde, verkörperte sich ein gutes Stück des geistigen Lebens der schönen Isarstadt.

Strahlend ergänzt aber wurde meine Teilnahme an dem geistigen Leben Münchens durch meinen Eintritt in den Münchener Dichterkreis, der sich mir gastlich öffnete. Nachdem Emanuel Geibel sich kurz vor dem französischen Kriege, in Bayern wegen seines Bekenntnisses zum preußisch-deutschen Einheitsstaat verketzert, nach seiner ehrwürdigen Vaterstadt Lübeck zurückgezogen hatte, war Paul Heyse das anerkannte Haupt dieses Dichterkreises. Mit Geibel und anderen von König Maximilian 1854 nach München berufen, an dessen Poetentafelrunde er zu den Sternen erster Größe gehört hatte, war er, der Berliner, in seinem Herzen, wie Geibel, doch Norddeutscher geblieben. Als auch er 1866 in München deswegen angegriffen wurde, verzichtete er auf das ihm von König Max ausgesetzte Gehalt, blieb aber in München wohnen und sammelte hier nach wie vor einen Kreis namhafter Dichter um sich. Die Sänger der maximilianischen Tafelrunde hatten unter sich einen besonderen Poetenverein gebildet, der sich » Das Krokodil« nannte, wie auch seine einzelnen Mitglieder sich als »Krokodile« zu bezeichnen pflegten. Schon 1856 gegründet, hatte er seine Blütezeit bis 1866. In seiner Nachblütezeit, die ich erlebte, versammelte Paul Heyse seine Getreuen einmal in jeder Woche in seiner eigenen Wohnung. Außer Geibel fehlten in jenem Winter noch einige andere der alten Säulen der Vereinigung. Julius Große (1828-1912), der auf allen Gebieten der Dichtkunst Bewanderte und Bewährte, war gerade im Herbst 1870 als Sekretär der deutschen Schillerstiftung nach Weimar übergesiedelt. Heinrich Leuthold (1827-79), auf den die größten Hoffnungen gesetzt wurden, war schon damals schwer leidend. Adolf Friedrich von Schack (1815-94), der berühmte Gemäldesammler, Forscher und Dichter, zu dem ich erst später in freundschaftliche Beziehungen trat, war auf Reisen.

Aber der Kreis damals bekannter und geschätzter Dichter, der sich jeden Sonnabend nachmittag um Heyses gastlichen Kaffeetisch zusammenfand, war immer noch bedeutend genug, um einen festen Kern im Geistesleben Münchens zu bilden. Ich hatte eine warme Empfehlung von meinem Gönner Carl Lemcke, der ebenfalls dem Kreise der Krokodile angehört hatte, an Paul Heyse mitgebracht, dem ich natürlich meine Gedichte überreichte. Ich wurde sofort in den Kreis ausgenommen, als hätte ich immer zu ihm gehört. Für »Revolutionäre der Literatur« war in diesem Kreise, der doch wohl selbst dem Geschlecht Platens, Uhlands, Rückerts und Lenaus gegenüber einen Epigonenanstrich hatte, kein Platz. Aber an poetischer Gestaltungskraft gehörten seine Mitglieder zu den stärksten Kräften im damaligen Deutschland. Sinnliche Anschaulichkeit und menschliche Leidenschaft galten noch mehr als feinfühlige Naturbetrachtung und sinnige Lebensweisheit, an der es in den Schöpfungen dieses Kreises nicht fehlte. Ein geschichtlicher oder fremdländischer Hintergrund wurde, wie in allen Künsten jener Tage, als Vorzug angesehen. Eine gewisse Abgeklärtheit der Formensprache, wie namentlich Geibel, der sich offen zu Platen bekannte, sie erreicht hatte, galt als selbstverständlich. Heyse selbst fühlte sich als Klassiker, nicht etwa als Romantiker; und als letzter Klassiker galt er auch in weiten Kreisen seiner Verehrer.

Paul Heyse hatte, wie Geibel, zu den neueren Lieblingsdichtern meiner Großmutter Weber gehört. »Die Braut von Cypern«, »Syritha« und namentlich »Thekla« hatte ich ihr wiederholt vorgelesen. Seine Novellen der letzten zehn Jahre hatte ich alle verschlungen. »L'Arrabiata« hielt die junge Welt damals für die schönste deutsche Novelle. Von seinen Schauspielen hatte ich »Hans Lange« wiederholt auf verschiedenen Bühnen gesehen, »Colberg« wurde in jenem Winter im Münchener Nationaltheater gegeben. Ich hatte also längst für Heyse geschwärmt und war stolz, daß er mich freundschaftlich in seinen Poetenkreis aufnahm.

Paul Heyse wohnte damals noch nicht in seiner schönen Villa in der Luisenstraße, sondern in dem geräumigen Stockwerk eines Miethauses im Pinakothekenviertel. Aber seine Wohnung atmete Behaglichkeit und Geschmack. Seine schöne und liebenswürdige zweite Gattin, eine Münchenerin aus wohlhabendem Hause, schloß sich seiner oft gerühmten zeusartigen Erscheinung, die für eine solche freilich etwas zu Weiches hatte, ebenbürtig an. Sie waren damals erst drei Jahre verheiratet. Die Mutter der beiden netten heranwachsenden Söhne des Dichters, Margareta Kugler, die Tochter des seinerzeit berühmten Berliner Kunstgelehrten und Dichters Franz Kugler, des Sängers des Liedes »An der Saale hellem Strande«, war 1862 gestorben. Der Verlust der geistvollen und sinnigen Gefährtin war Heyse lange unersetzlich erschienen. Aber seine zweite Gattin hatte neuen warmen Sonnenschein ins Haus gebracht. Bei den eigentlichen Zusammenkünften der »Krokodile« war sie nicht zugegen; aber sie waltete als spendende Hausfrau hinter den Kulissen. Vor und nach den Sitzungen pflegten wir sie und die Ihren im Nachbarzimmer zu begrüßen; und manchmal sahen wir bei der Gelegenheit auch die ehrwürdige, ganz durchgeistigte Gestalt der alten Frau Kugler, der ersten Schwiegermutter Heyses, und ihren hochbegabten, schon damals schwer leidenden Sohn Johannes Kugler, der nur selten imstande war, in den Sitzungen der »Krokodile« zu erscheinen.

Johannes Kugler war in seiner ätherisch-durchsichtigen, ganz durchgeistigten rotbraunen Schönheit eine Erscheinung von magischer, fast mystischer Anziehungskraft. Sein geistiges Ringen mit einer unheilbaren Krankheit hat er in seiner Novelle »Im Fegefeuer«, die Adolf Wilbrandt nach seinem Tode herausgab, erschütternd geschildert und doch mit dem glücklichen Ausgang versehen, auf den er nicht hoffen durfte; und Wilbrandt hat in der Einleitung zu dieser 1875 in Wien erschienenen Novelle das über alle novellistische Erfindung hinaus tragische Ende geschildert, das Johannes Kugler und seine Mutter, lebensmüde, wie sie waren, drei Jahre, nachdem ich sie kennengelernt, gleichzeitig gefunden haben.

Damals hatte dieses fürchterliche Erlebnis, dessen Einzelheiten Heyse mir später selbst erzählt hat, noch kaum seine Schatten vorausgeworfen. Heyse freute sich bei allem Mitempfinden des Leidens seines jungen Schwagers an der Wärme, die seine Seele ausstrahlte. Die feine, zarte, wenngleich nicht ganz ebenmäßige Gestalt des armen Lazarus Johannes Kugler mit dem strahlenden Blick aus tief umschatteten Augen aber ist mir unvergeßlich geblieben.

Der Nestor der eigentlichen Dichter des Kreises war damals der tief empfindende und naturfrische Erzähler Melchior Meyr (1810 bis 1871), dessen »Erzählungen aus dem Ries« ihn bekannter gemacht hatten als seine Dramen, seine lyrischen Gedichte und seine religions-philosophischen Schriften: ein kleines, zartes Männchen mit ausdrucksvollem, bereits leicht gerunzeltem süddeutschen Kopfe. Er starb am 24. April dieses Jahres: am 26. stand ich mit an seinem offenen Grabe; Heyse rief ihm namens der »Krokodile« freundliche Worte in die Ewigkeit nach. Zehn Jahre jünger als Meyr war Hermann Lingg (1820-1905), der von der Medizin zur Dichtkunst übergegangen war, ein damals mit Recht bewunderter Lyriker, dessen Völkerwanderungsepos heute schwerlich noch jemand lesen wird, während seine Einzelgedichte, die gedrängten, eigenartig treffenden Ausdruck mit lebendiger Anschaulichkeit und heißer Empfindung verbinden, immer wieder hervorgeholt zu werden verdienen. Lingg selbst war ein wortkarger, etwas verärgert dreinblickender Herr, dem schwer nahezukommen war. Zehn Jahre jünger als Lingg war Paul Heyse selbst (1830-1915), der aber doch das älteste der übrigen, noch nicht genannten »Krokodile« war.

Fünf Jahre jünger als Heyse war der liebenswerte Schwabe Wilhelm Hertz (1835-1902), der seine Laufbahn als wissenschaftlicher mittelalterlicher Germanist in der Schule Uhlands begonnen hatte, in seinen eigenen, damals vielgelesenen Epen, wie »Hugdietrichs Brautfahrt«, die mittelhochdeutsche Stoffe und Weisen verwerteten, aber doch einen selbständigen, schon klanglich fesselnden Ton anschlug. Damals war er Professor der Literaturgeschichte am Münchener Polytechnikum. In die treuherzigen grauen Augen des starkknochigen, frischwangigen Kopfes zu sehen, war ein Vergnügen. Dann folgte der Mecklenburger Adolf Wilbrandt (1837-1911), der besondere Freund Heyses und Johannes Kuglers, der spätere Direktor des Wiener Burgtheaters (1881-87), der damals schon seit sechs Jahren in München lebte, das er mit mir zugleich verließ. Außerordentlich vielseitig als Dichter und literarischer Schriftsteller, war er der erfolgreichste Dramatiker der Münchener Schule. Nach einem Mecklenburger sah der schwarzhaarige, dunkeläugige Dichter von nicht großer, doch feiner Gestalt eigentlich nicht aus; aber die Hamburger und Mecklenburger fühlen sich innerlich verwandt. Ich glaube, wir hatten uns gern.

Am nächsten persönlich befreundet aber wurde ich mit Max Haushofer (1840-1907), dem Professor der Nationalökonomie am Münchener Polytechnikum, der später eine Reihe bekannter staatswissenschaftlicher Bücher schrieb, sich aber durch seine ersten, 1864 erschienenen Gedichte den Eintritt in den Orden der »Krokodile« erworben hatte. Von seinen späteren poetischen Werken fanden die dramatische Dichtung »Der ewige Jude« und die »Geschichten zwischen diesseits und jenseits« den größten Beifall. Er war eine außergewöhnlich angenehme Persönlichkeit von schlankem, aber echt süddeutschem Typus mit großen, ausdrucksvollen, dunklen Sammetaugen.

In allem das Gegenteil von Haushofer, aber nicht weniger sympathisch als er war mir Karl Stieler (1842-85), ein Sohn des seinerzeit berühmten Münchener Hofbildnismalers Joseph Karl Stieler, der blonde und blauäugige, damals erst 28jährige, liebenswürdige Dichter des oberbayrischen Volkslebens, der sich durch seine »Bergbleameln« schon einen Ruf als Dialektdichter erworben hatte. Haushofer und Stieler waren die einzigen »Krokodile«, mit denen ich auch außerhalb der Heyse-Abende öfter verkehrte. Altersgenosse Stielers war Ludwig Schneegans, der begabte Straßburger, der schon lange vor dem Kriege in Deutschland seine geistige Heimat wiedergefunden hatte, nach der Aufführung seines Trauerspiels »Maria von Schottland« in München aber ganz hierher übergesiedelt war. Jünger als ich war von den Mitgliedern der Krokodilgesellschaft nur Ludwig Laistner (1845-96), der Tübinger Theologe, dessen Äußeres sogar eher auf einen katholischen als einen protestantischen Geistlichen deutete. Er wurde gerade damals in München als feinsinniger Lyriker bewillkommnet, bewährte sich später aber mehr als Kritiker und Sammler denn als Dichter.

Das »Krokodil« war, wenigstens damals, kein eigentlich geselliger, sondern ein wirklich literarischer Verein. Die Mitglieder trugen eigene Dichtungen vor, die dann in der Aussprache von den anderen offenherzig und oft herb genug besprochen wurden. Daß das in solcher Gesellschaft der künstlerischen Weiterbildung der einzelnen zugute kam, braucht kaum gesagt zu werden. Am Abend, an dem ich eintrat, las Hermann Lingg den letzten Akt seines Schauspiels »Violante« vor. Ich selbst las eines Abends mein »Märchen vom Ganges«, ein anderes Mal Sonette, ein drittes Mal Gedankendichtungen. Das Gedicht »Im Louvre«, das mit den Worten beginnt:

»Welch Heiligtum! Die Götter aller Zeiten
Und aller Zonen unter einem Dach ...«,

fand allgemeine Zustimmung; nur Carriere, der Philosoph, der Hegelianer, widersprach lebhaft der Schlußwendung:

»Die Wahrheit wechselt; aber unvergänglich
Und ewig bricht die Schönheit durch die Nacht.«

»Die Wahrheit wechselt nicht«, rief er. Natürlich hatte ich nur unsere Vorstellung von der unerkennbaren Wahrheit gemeint; und da hätte mir freilich vorgehalten werden können, daß unsere Vorstellungen von dem, was schön ist, genau so wechseln, wie unsere Vorstellungen von dem, was wahr ist. Als ich aber meine neuen, gegen Rom gerichteten Sonette »Anathema sit« vorlas, meinte man, diese seien das Beste, was ich bis dahin geschrieben habe.

Paul Heyse nahm sich meiner übrigens auch persönlich mit väterlichem Wohlwollen an. Um mir zu raten, schlug er mir einmal vor, mit ihm einen Spaziergang im Englischen Garten zu machen, der, von den raschen Wassern der Isararme durchrauscht, Gedanken anregt und mitteilsam macht. Heyse meinte, wenn ich als Dichter Erfolg haben wolle, müsse ich mich noch sehr verstärken und vertiefen; das werde aber schwer halten, wenn ich meine Hauptzeit der Wissenschaft widmen wolle. Kunst und Wissenschaft setzten nun einmal zwei Tätigkeiten verschiedener Art voraus, die sich nur schlecht miteinander vertrügen. Wenn ich meine dichterischen Kräfte nicht fester anspanne, werde man später von mir doch nur sagen: »er hat auch Gedichte gemacht«. Über meine späteren Dichtungen hat Heyse sich mir gegenüber dann freilich sehr viel günstiger geäußert. Aber recht hat er doch behalten. Nur etwa anderthalb Jahrzehnte lang wurde ich später in den Kreisen, die sich mit deutscher Lyrik beschäftigten, als Dichter allgemein genannt; später fand ich mich einmal wörtlich zu den »Auch-Dichtern« gestellt, und schließlich geriet ich als Dichter, von engeren Kreisen abgesehen, völlig in Vergessenheit.

Zu Weihnachten schickte mein Vater mir einige Kisten besonders feiner echter Havannazigarren und gab mir anheim, Münchener Freunden, denen ich Dank schuldete, davon mitzuteilen. Paul Heyse schickte ich eine der Kisten, die eine besonders seltene, mit gepreßten Rillen versehene Sorte enthielt. Ich begleitete meine bescheidene Gabe mit einem Gedichte, das, da es an die Zigarren-Hendekasyllaben des Sängers des »Liebesfrühlings« anknüpfte, selbst in diesem antiken Versmaß geschrieben war. Heyse antwortete mir darauf unterm 26. Dezember mit leicht hingeworfenen sinnigen Strophen. Ob sie irgendwo in seine gesammelten Werken aufgenommen sind, weiß ich nicht. In meinen Lebenserinnerungen aber dürfen sie nicht fehlen. Heyse schrieb mir:

»Werter Freund, die edlen Gaben,
Die du mir zum Fest geschickt,
Mit der Hendekasyllaben
Blütenreichem Kranz geschmückt,
Meine Kennerseele haben
Sie begeistert und entzückt.

Ach, wenn mit den Lächelmienen
Uns die holde Jugend schwand,
Kann nur eins zum Troste dienen:
Gäste von Havannas Strand,
Wie ich schon in den »Terzinen«
(Seite so und so) gestand.

Und nun diesen, dran zu spüren,
Daß sie Meeresluft gestreift,
Mit antiken Kannelüren
(Dorisch? ionisch?) zart gereift –
Verse hohem Schwungs gebühren
Dem, was kein Verstand begreift.

Ja, so viel an Deinen Blättern
Ich gekrittelt dann und wann,
Wenn auch von den frischern, glättern
Manches schon den Preis gewann,
Diese trocknen – bei den Göttern! –
Nehm, ich ganz kritiklos an.

Doch des Dithyrambus Funken
Sprühen nicht aus meinem Kiel.
Träg in Weihnachtstraum versunken
Liegt das alte Krokodil,
Neben ihm, von Freude trunken,
Seiner Jungen Lärm und Spiel.

Und er selbst in heitrem Schweigen
Überblickt der Jahre Kluft.
Aus der Bernsteinspitze steigen
Blaue Wölkchen in die Luft.
Mit dem Duft von Tannenzweigen
Mischt sich der Zigarre Duft.

Und er spricht: des Lebens Krone
Trägt allein, wer Echtes ehrt,
Wer aus jeder Erdenzone
Fromm genießt, was freudenwert.
Heil dem Vater und dem Sohne,
Die so Echtes mir beschert!«

Daß meine freundschaftlichen Beziehungen zu Paul Heyse meinen Münchener Winter überdauerten, versteht sich von selbst. Wir haben bei ihm in München, bei mir in Dresden und an anderen Orten noch oft in alter Freundschaft zusammengesessen. In Fasano am Gardasee hat er mich sogar einmal gezeichnet. Zu seinem 80. Geburtstage habe ich ihn in Oktavstanzen gefeiert, die in den »Grenzboten« gedruckt wurden. Heyses Dank dafür ist der letzte Brief, den ich von ihm erhalten habe.

Natürlich gab es neben den führenden Münchener Kreisen auch noch andere, in denen geistige Güter gehegt wurden. Mancher mehr oder weniger zufällig zusammengeratene »Stammtisch« wurde von dem Geiste der tiefsten Fragen des Lebens, des Wissens und des Könnens umspielt. Mit besonderer Liebe erinnere ich mich eines Stammtisches im Cafe Maximilian, dem Karl Stieler und Max Haushofer mich zugeführt hatten. Die Abendstunden nach dem Besuch der Theater brachte ich fast regelmäßig an diesem Stammtisch zu. Hier lernte ich unter anderen einige Dichter kennen, die keine Gnade vor den Augen der Krokodilgewaltigen gefunden hatten. Ich nenne den Österreicher Otto Leixner von Grünberg (1847-1907), dem allerdings nicht sowohl seine 1868 in Graz erschienenen Gedichte und seine Novellenbücher als seine spätere Leitung der »Deutschen Romanzeitung« eine literarische Stellung verschaffte. Der zierliche, liebenswürdig und anregend plaudernde junge Mann war mir damals ein angenehmer Gesellschafter. Ich nenne ferner G. Siegert, den Verfasser eines Trauerspiels »Klytämnestra«, das sich wirklich sehen und hören lassen konnte, aber den Dichter, der ein sinniger und unterhaltender Tafelgenosse war, nicht bekannt gemacht hat. Vor allem aber nenne ich den Pfälzer Martin Greif (1839-1911), dessen eigentlicher Name Friedrich Hermann Frey war. Als bayrischer Offizier hatte er 1867 seinen Abschied genommen, um sich in München ganz der Dichtkunst zu widmen. In dem Heyseschen Kreise wollte man damals nicht viel von ihm wissen; Geibel hatte ihm sogar abgeraten, seine Gedichte drucken zu lassen; erst später machte er sich als Lyriker von ungemeiner Schlichtheit und Natürlichkeit der Motive und ihrer Gestaltung einen guten Namen. Er traf in der Unterhaltung oft den Nagel auf den Kopf und gehörte jedenfalls zu den regelmäßigsten und willkommensten Gästen unseres Tisches.

Nah befreundet mit Greif war der bedeutendste Gast dieser Tafelrunde, der nicht eben als Dichter, ja, kaum als Schriftsteller, da er nur wenig geschrieben, doch aber als Kenner und Empfinder sich später einen solchen Namen machte, daß er zu den bedeutendsten Zeitgenossen gerechnet wurde. Arnold Böcklin und Hans Thoma haben ihn gemalt. Ich meine Adolf Bayersdorfer, den eigenartigen Menschen, mit dem mich sein Leben lang gute Kameradschaft verband. Damals war er noch ein unbekannter, mit sich und anderen ringender junger Mann, der sich auf seiner Besuchskarte selbst als »Literat« bezeichnete. Schlank, schwarzhaarig und dunkeläugig, hatte er in seinem durch starke Brillengläser scharf beobachtenden Blick zugleich etwas ironisch Überlegenes und doch menschlich Mildes. Seinen Freund Martin Greif hat er in einer besonderen Schrift »Ein elementarer Lyriker« gefeiert. Im übrigen hatte er sich schon damals als Kritiker hauptsächlich den bildenden Künsten zugewandt. Er stand immer auf der Seite der selbstempfindenden Persönlichkeiten. Während eines mehrjährigen Aufenthalts in Italien erwarb er sich nach dieser Zeit im Anschluß an den baltischen Baron Karl von Liphart in Florenz den Ruf, auch einer der besten Kenner alter Bilder zu sein; und er betätigte diesen Ruf später zuerst als Direktor der Schleißheimer Gemäldegalerie, dann aber als »Konservator« der alten Pinakothek. Er war ein merkwürdiger, ein seltener Mensch, der mich schon damals unwiderstehlich fesselte, ohne daß ich ihm innerlich recht nahegekommen wäre. Jedenfalls war er die Seele des Stammtisches im Café Maximilian während des Winters 1870 bis 1871.

Anders als zu den Gelehrten und Dichtern gestalteten sich meine Beziehungen zu den Malern und Bildhauern Münchens. Für so voll wie die Gelehrten und Dichter sahen die Künstler mich natürlich nicht an; natürlich nicht; denn einerseits sind die meisten »Kunstschreiber« den meisten »Künstlern« an sich Dornen im Auge, und anderseits hatte ich als Kunstgelehrter damals doch noch nicht das allergeringste geleistet. Auch hatte ich nicht so viele gute Empfehlungen an die Künstler wie an die Gelehrten und Dichter. Immerhin aber gelang es mir, zu manchem von ihnen in freundliche Beziehungen zu treten. Eine erfolgreiche Empfehlung hatte ich vor allem an Wilhelm von Kaulbach, den Meister des Berliner Treppenhauses, dessen Wandgemälde man, als sie 1866 enthüllt wurden, den Stanzen Rafaels verglich. Die Hunnenschlacht! Die Zerstörung Jerusalems! Homer und die Griechen! Noch waren diese Schöpfungen auf aller Lippen. Aber schon war ihr Ruhm im Verblassen begriffen; und Kaulbachs nüchterne, jetzt verblichene Fresken an den Außenwänden der neuen Pinakothek hatten auch begeisterte Bewunderer irre an ihm gemacht. Aus Paul Heyses Mund hörte ich seine Kunst zum erstenmal als »papierene Kunst« bezeichnen; und ich lernte bald, obgleich ich die freundlichste Aufnahme in Kaulbachs Werkstatt und in seinem Hause fand, seine Kunst mit den Augen der jungen Münchener Schule ansehen, in der schon damals Heyses Freund Franz Lenbach den Ton angab. Aber Kaulbach war damals noch Münchener Akademiedirektor; sein Haus war immer noch das angesehenste Künstlerhaus Münchens, und die norddeutsche Gastlichkeit, die in ihm herrschte, führte ihm Freunde aus allen Kreisen der Isarstadt zu. Ich erinnere mich besonders einer großen Mittagsgesellschaft in seinem Hause, auf der der große Döllinger mir schräg gegenübersaß und eine Reihe der namhaftesten Münchener Maler und Bildhauer mit ihren schönen Frauen sich an der langen, festlich geschmückten Tafel aneinanderreihten. Wie da in leichter, launiger Weise über Staats-, Kirchen- und Kunstpolitik geplaudert wurde, war mir neu und förderte meine Einsicht in Menschen, Dinge und Verhältnisse.

Auch in München und gerade in München hatte sich die Übergangszeit von der klassizistisch-romantischen zur realistisch-koloristischen Art damals eigentlich schon vollzogen. Die Schule Karl Pilotys (1826-86), der die Art des Belgiers Gallait und des Franzosen Delaroche nach Deutschland verpflanzte, stand damals schon in vollster Blüte; und es war kein Geheimnis, daß Piloty der Nachfolger Kaulbachs als Akademiedirektor werde, sobald dieser, der 1874 an der Cholera starb, das Zeitliche gesegnet haben werde. Ich traf Piloty in jener Gesellschaft bei Kaulbach, habe ihm auch einen Atelierbesuch gemacht, aber keine lebhaftere Erinnerung an seine Persönlichkeit behalten. Franz Lenbach hatte ich bei den »Zwanglosen« kennengelernt und machte auch ihm, nachdem ich ihn um Erlaubnis gefragt, einen Besuch in seiner Werkstatt, erregte aber sein Mißfallen durch meine unvorsichtige Bemerkung, daß mir sein schönes Jugendbild in der Schackschen Galerie, das den im Rasen liegenden Hirtenjungen darstellt, noch besser gefalle als die meisten seiner Bildnisse, durch die er sich doch den Weltruhm verschaffte, der erst jetzt im Verblassen begriffen ist.

Da ich, um mich zu üben, »Münchener Skizzen« für den »Hamburgischen Correspondenten« schrieb, hielt ich es für meine Pflicht, außer den Ausstellungen so viele Künstlerateliers zu besuchen wie möglich. Ich erinnere mich meiner Atelierbesuche bei Gabriel Max (1840-1915), der sich schon einen Ruf erworben hatte, bei Franz Defregger (1835-1921), der damals eben anfing, genannt zu werden, und bei Hermann Kaulbach, dem liebenswürdigen Sohne W. Kaulbachs, der, wie Max und Defregger, Pilotyschüler gewesen war. Von den Bildhauern erinnere ich mich namentlich, den alten Max von Widnmann (1812-95), den Schöpfer des Reiterbildes Ludwigs I. in München, und den damals noch jungen Kaspar Zumbusch (1830-1915), der bald darauf nach Wien berufen wurde, besucht zu haben. Dieser arbeitete damals an seinem großen ehernen Standbild Maximilians II., das 1875 aufgestellt wurde. Mit Zumbusch, der Westfale war, fühlte ich mich stammverwandt, und er scheint dieses Gefühl geteilt zu haben. Wir haben uns gut verstanden.

Wirklich herzlichen und häuslichen Verkehr hatte ich aber, außer mit dem alten, zu den Kunstgelehrten übergegangenen Ernst Foerster, nur mit einem jungen, erst 23jährigen Künstler norddeutscher Abkunft, der sich an der Seite seiner liebenswürdigen jungen Frau bereits als gastfreier Hausherr betätigte: mit herzlicher Dankbarkeit denke ich an die gemütlichen und angeregten Abende zurück, die ich im Hause des gesund fühlenden Landschaftsmalers Karl Ernst Morgenstern verleben durfte. Er war der Sohn des seinerzeit hochgeschätzten Hamburger Landschaftsmalers Christian Morgenstern (1805-67), der eine Übergangsstufe zwischen seinem Lehrer Karl Rottmann und seinem Schüler Eduard Schleich bezeichnet. Von Hamburg nach München übergesiedelt, galt Christian Morgenstern hier als Entdecker der malerischen Reize der bayrischen Hochebene. Sein Sohn Karl, von dem ich rede, hatte sich auf Reisen durch das Studium der alten Niederländer selbständig weiterentwickelt und erfreute sich bald eines solchen Rufes, daß er 1881 an die Kunstakademie zu Breslau berufen wurde. Damals drang ich durch die zahlreichen freundschaftlichen Kunstgespräche, die ich mit ihm und seinem Freunde, dem dänischen Mondschein- und Marinemaler Wilhelm Xylander (1840-1917), hatte, immer tiefer in die Art ein, wie die Maler selbst über ihre Kunst denken und sprechen.

Auf der Straße begegnete mir einmal aber auch Anselm Feuerbach, den ich von Heidelberg her kannte. Ich wollte auf ihn zugehen und ihn herzlich begrüßen. Aber als er mich kommen sah, bog er rasch in die nächste Seitenstraße ein. Sehr bestürzt hierüber, fragte ich mich und andere, womit ich ihn wohl gekränkt haben könnte, beruhigte mich aber, als ich von allen Seiten hörte, daß das so die Gewohnheit des immer menschenscheuer werdenden, tief empfindsamen Meisters sei, der schon damals unter der Vorstellung litt, in seinem Ringen um Wahrheit und Schönheit nicht verstanden zu werden.

siehe Bildunterschrift

Paul Heyse (Um 1875)

Der Besuch der großen Münchener Kunstsammlungen der alten und der neuen Pinakothek, der Glyptothek, der antiken Vasensammlung, die damals unter Brunns eigener Leitung stand, und der Schackschen Gemäldegalerie, die damals noch nicht in ihrem späteren, von Gedon erbauten Eigenpalast, sondern in der schlichten alten Villa des Grafen hauste, nahm in der Regel meine ganzen Vormittage in Anspruch. Noch nie hatte ich Kunstschätze so gründlich angesehen, wie ich sie jetzt in den Münchener Sammlungen pflicht- und triebgemäß in mich aufnahm. Stück für Stück suchte ich mir ihre Bildwerke und ihre Gemälde anzueignen.

Ich hatte nun freilich schon so viele andere Sammlungen gesehen, namentlich die Londoner, die Pariser, die Berliner, die Amsterdamer und die Dresdener – Dresden hatte ich als Student von Göttingen aus besucht –, daß es sich für mich in München eigentlich nur um die Ausfüllung von Lücken in meiner Kenntnis der Meister und der einzelnen Schulen handelte. Aber doch gingen manche Meister und Schulen mir hier erst ins Bewußtsein über. In der Glyptothek ging mir die Bedeutung der alten, herben vorphidiasischen Bildwerke der alten Griechen namentlich vor den »Ägineten«, den Bildwerken vom Ostgiebel und vom Westgiebel des Tempels der Insel Ägina, dann aber auch vor dem noch älteren »Apollo von Tenea« auf, in dessen frontaler Steifheit wir damals noch nur ein mangelndes Können sahen, während man heute über der Betonung des anders gerichteten »Kunstwollens« die Entwicklungsgeschichte des künstlerischen Könnens nur allzu leicht vergißt. In der alten Pinakothek lernte ich Rubens, den gewaltigen Flamen, erst kennen und verstehen, traten mir aber auch zum ersten Male die Altdeutschen des 15. und 16. Jahrhunderts in ihrer zugleich naturnahen und innerlich oft doch naturfernen spröden Eigenart künstlerisch und menschlich näher. Zum ersten Male nahm ich mir auch die Zeit, die altgriechische Vasenmalerei, in der sich die ganze Entwicklung der griechischen Zeichenkunst von der ältesten Zeit bis weit in den nachalexandrinischen Hellenismus hinein so still und sinnig widerspiegelt, in all ihrer Schönheit, ihrem feierlichen Ernst und in ihrer lebensfrohen Heiterkeit zu genießen und zu verarbeiten, zum erstenmal aber auch im Kupferstichkabinett die altdeutsche Kunst in ihren eigensten Fächern, ihren Holzschnitten und Kupferstichen in mich einziehen zu lassen. Will der Südländer, der im Freien oder doch in der Öffentlichkeit lebt, seine Kunst sich an den Wänden seiner Gebäude entfalten sehen, so kann der Nordländer, dessen Klima ihn mehr ans Haus fesselt, seine eigenste Kunst eben nur in seinem Eigenheim genießen, in das sie auf losen Einzelblättern hereinflattert. Was wußte ich von Dürer, ehe ich mich hier in seine Holzschnitte und seine Kupferstiche vertiefte, in denen Natur und Geist in unergründlichen Tiefen vermählt erscheinen!

Abends arbeitete ich in der Regel an meiner Abhandlung, die gegen Frühling so weit fertig war, daß ich sie der Heidelberger philosophischen Fakultät einschicken konnte. Da ich auch gesellig oft in Anspruch genommen war, blieben für den Besuch der Theater, so leidenschaftlich ich mich nach ihm sehnte, nicht so viele Abende übrig, wie ich wohl gewollt hätte. Aber alles in allem habe ich doch wohl wenige Winter das Theater so viel besucht wie in diesem. In der Münchener Oper glänzte damals Franz Nachbaur als einer der großen Tenöre seiner Zeit. Im Münchener Schauspiel waren Ernst Possart und Klara Ziegler die großen Sonnen, um die sich alles drehte. Auch das reiche, warme, farbige geistige Leben, das von den Münchener Theatern ausging, strahlt beglückend in meine Erinnerungen an den herrlichen Winter nach, den ich in München verleben durfte.

Als aber der Frühling kam und die Alpen, wenigstens von dem schon öfter von mir besuchten Starnberger See aus gesehen, am Südhorizont immer höher und klarer emportauchten, hielt es mich nicht länger. Ich durfte München nicht verlassen, ohne die Offenbarung ihrer Majestät in mich aufgenommen zu haben. Für Hochtouren war es freilich zu früh; auch war ich eigentlichen Alpengipfelbesteigungen schon wegen meiner Neigung zum Schwindel nicht gewachsen. Aber in den Tälern und auf den mir erreichbaren Höhen ging die Schönheit und Größe der Alpenwelt in diesem Frühling mir in ihrer dunklen und lichten Herrlichkeit auf.

 

Im Mai 1871 verließ ich München und wandte mich geradeswegs nach Heidelberg. Nachdem meine Schrift angenommen und gedruckt worden war, gab es nur noch zwei Formen zu erfüllen: die öffentliche Verteidigung einiger aufgestellter Thesen und die Probevorlesung. Nachdem beide glatt erledigt waren, erhielt ich noch im Juni die Venia legendi, gleich darauf aber einen Urlaub für das nächste Wintersemester, der mir im Frühling 1872, als ich noch in Rom weilte, um ein halbes Jahr verlängert wurde.

Ja! im Winter 1871 bis 1872 hielt ich mich in der alten, der ewigen Großstadt am Tiber auf. Daß ich nach meinen bisherigen beiden Weltreisen, deren erste meiner Gesundheit, deren zweite meiner allgemeinen Bildung gegolten hatte, jetzt, wo ich die Kunstgeschichte zu meinem Lebensberuf gewählt hatte, noch eine eigentliche kunstgeschichtliche Studienreise machen mußte, fand mein Vater ebenso selbstverständlich wie ich; und da mein erstes Sonderfach, zu dem ich bisher nur die »Vorstudien« gemacht und veröffentlicht hatte, die Landschaft in der Kunst der alten Völker war, so war es ebenso selbstverständlich, daß ich in das Bereich der Kunst dieser Völker ziehen und zunächst ein Jahr in Italien und Griechenland die Augen aufmachen und meine Notizbücher füllen mußte. Mindestens ebenso selbstverständlich aber war es auch, daß ich mich beim Besuch dieser Länder nicht auf mein Sonderfach beschränken durfte. Kamen meine besonderen Studien zunächst meiner Gesamtkenntnis der antiken Kunst, namentlich der antiken Malerei, zugute, so galt es natürlich gleichzeitig, von der ganzen christlichen Kunstgeschichte, namentlich von der christlichen Kunst in Italien von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, so viel in mich aufzunehmen, wie meine Zeit und meine Kräfte mir erlaubten. Italien und Griechenland! Wie lange waren sie das Ziel meiner Sehnsucht gewesen! Ich glaubte, geradeswegs in den Himmel zu fahren, als ich im Herbst 1871 meine Reise in die gelobten Länder der Kunst antrat.


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