Heinrich Wölfflin
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
Heinrich Wölfflin

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Abschluß

1.
Die äußere und die innere Geschichte der Kunst

Es ist kein glücklicher Vergleich, wenn man die Kunst den Spiegel des Lebens nennt, und eine Betrachtung, die die Kunstgeschichte wesentlich als Ausdrucksgeschichte nimmt, ist der Gefahr unheilvoller Einseitigkeit ausgesetzt. Man kann zugunsten des Stofflichen vorbringen, was man mag, so muß doch damit gerechnet werden, daß der Ausdrucksorganismus nicht immer der gleiche geblieben ist. Natürlich bringt die Kunst im Lauf der Zeiten sehr verschiedene Inhalte zur Darstellung, aber das allein bedingt nicht ihre wechselnde Erscheinung: die Sprache selbst nach Grammatik und Syntax ändert sich. Nicht nur, daß sie an verschiedenen Orten verschieden gesprochen wird – dieses Eingeständnis ist leicht zu erreichen –, sondern sie hat überhaupt ihre eigene Entwicklung und die stärkste individuelle Begabung hat ihr zu bestimmten Zeiten immer nur eine bestimmte, nicht allzuweit über die allgemeinen Möglichkeiten hinausgehende Ausdrucksform abgewinnen können. Auch hier wird man freilich einwerfen, das sei selbstverständlich, die Mittel des Ausdrucks würden nur allmählich gewonnen. Indessen das ist es nicht, was wir meinen: bei vollkommen entwickelten Ausdrucksmitteln wechselt die Art. Anders ausgedrückt: der Inhalt der Welt kristallisiert sich für die Anschauung nicht in einer gleichbleibenden Form. Oder um auf das erste Bild zurückzukommen: die Anschauung ist eben nicht ein Spiegel, der immer derselbe bleibt, sondern eine lebendige Auffassungskraft, die ihre eigene innere Geschichte hat und durch viele Stufen durchgegangen ist.

Dieser Wechsel der Anschauungsform im Kontrast des klassischen und des barocken Typs ist hier beschrieben worden. Nicht die Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts wollten wir analysieren, diese ist etwas viel reicheres und lebensvolleres, nur das Schema, die Seh- und Gestaltungsmöglichkeiten, innerhalb deren die Kunst da und dort sich gehalten hat und halten mußte. Um zu exemplifizieren, konnten wir natürlich nicht anders verfahren als das einzelne Kunstwerk heranzuziehen, aber alles was von Raffael und Tizian, von Rembrandt und Velasquez gesagt wurde, sollte doch nur die allgemeine Bahn beleuchten, nicht den besonderen Wert des aufgegriffenen Stückes ins Licht setzen. Dazu müßte mehr und Genaueres gesagt werden. Andrerseits ist es aber unvermeidlich, gerade auf das Bedeutende sich zu beziehen: 238 die Richtung wird schließlich doch an den hervorragendsten Werken als den eigentlichen Schrittmachern am klarsten abgelesen.

Eine andere Frage ist, wie weit man überhaupt von zwei Typen zu sprechen das Recht hat. Alles ist Übergang und wer die Geschichte als ein unendliches Fließen betrachtet, dem ist schwer zu entgegnen. Für uns ist es eine Forderung intellektueller Selbsterhaltung, die Unbegrenztheit des Geschehens nach ein paar Zielpunkten zu ordnen.

Nach seiner Breite ist der ganze Prozeß des Vorstellungswandels fünf Begriffspaaren unterstellt worden. Man kann sie Kategorien der Anschauung nennen, ohne Gefahr der Verwechslung mit den Kantschen Kategorien. Obgleich sie offenbar eine gleichlautende Tendenz haben, sind sie doch nicht aus einem Prinzip abgeleitet. (Für eine Kantsche Denkart müßten sie als bloß »aufgerafft« erscheinen.) Es ist möglich, daß noch andere Kategorien sich aufstellen lassen – sie sind mir nicht erkennbar geworden –, und die hier gegebenen sind nicht so unter sich verwandt, daß sie in teilweis anderer Kombination undenkbar wären. Immerhin, bis zu einem gewissen Grade bedingen sie sich gegenseitig, und wenn man den Ausdruck nicht wörtlich nehmen will, kann man sie wohl als fünf verschiedene Ansichten ein und derselben Sache bezeichnen. Das Linear-Plastische hängt ebenso zusammen mit den kompakten Raumschichten des Flächenstils wie das Tektonisch-Geschlossene eine natürliche Verwandtschaft mit der Selbständigkeit der Teilglieder und der durchgeführten Klarheit besitzt. Andererseits wird die unvollständige Formklarheit und die Einheitswirkung mit entwertetem Einzelteil sich von selber verbinden mit dem Atektonisch-Fließenden und im Bereich einer impressionistisch-malerischen Auffassung am besten unterkommen. Und wenn es scheint, als ob der Tiefenstil nicht notwendig zur Familie gehöre, so ist dem entgegenzuhalten, daß seine Tiefenspannungen ja ausschließlich auf optische Wirkungen aufgebaut sind, die nur für das Auge, nicht aber für das plastische Gefühl eine Bedeutung haben.

Man kann die Probe machen: es wird unter unseren Abbildungsbelegen kaum ein Stück sich finden, das nicht auch unter jedem der andern Gesichtspunkte als Beispiel verwertbar wäre.

 

2.
Formen der Imitation und der Dekoration

Alle fünf Begriffspaare lassen sich deuten im dekorativen und im imitativen Sinne. Es gibt eine Schönheit des Tektonischen und es gibt eine Wahrheit des Tektonischen, eine Schönheit des Malerischen und einen 239 bestimmten Weltinhalt, der im Malerischen und nur im Malerischen zur Darstellung kommt, usw. Aber wir wollen nicht vergessen, daß unsere Kategorien nur Formen sind, Auffassungs- und Darstellungsformen und daß sie darum an sich ausdruckslos sein müssen. Hier handelt es sich nur um das Schema, innerhalb dessen eine bestimmte Schönheit sich gestalten kann, und nur um die Schale, in der Natureindrücke aufgefangen und gefaßt werden. Ist die Auffassungsform einer Zeit tektonisch geartet, wie im 16. Jahrhundert, so genügt das noch lange nicht, um die tektonische Kraft der Figuren und Bilder eines Michelangelo und eines Fra Bartolommeo zu erklären. Da muß erst eine »knochige« Empfindung ihr Mark in das Schema gegossen haben. Das, wovon wir sprechen, ist in seiner Ausdruckslosigkeit das schlechthin Selbstverständliche für die Menschen gewesen. Als Raffael die Kompositionen für die Villa Farnesina entwarf, gab es für ihn gar keine andere Denkmöglichkeit als daß die Figuren in »geschlossener« Form die Flächen zu füllen hätten und als Rubens den Zug der Kinder mit dem Früchtekranz zeichnete, war ihm die »offene« Form, daß die Figuren nicht füllend in den Rahmen gesetzt sind, ganz ebensosehr das Einzig-Mögliche, obwohl es sich beidemal um das gleiche Thema von Anmut und Lebensfreude handelt.

Es kommen schiefe Urteile in die Kunstgeschichte hinein, wenn man von dem Eindruck ausgeht, den Bilder verschiedener Epochen, nebeneinander gelegt, auf uns machen. Man darf ihre verschiedene Ausdrucksweise nicht rein stimmungsmäßig interpretieren. Sie sprechen eine verschiedene Sprache. Es ist ebenso falsch, die Architektur eines Bramante und eines Bernini auf Stimmung hin unmittelbar miteinander vergleichen zu wollen. Bramante verkörpert nicht nur ein anderes Ideal, seine Vorstellungsweise ist von vornherein anders organisiert als die Berninis. Dem 17. Jahrhundert ist die klassische Architektur nicht mehr als ganz lebendig vorgekommen. Das liegt nicht an der Ruhe und Abgeklärtheit der Stimmung, sondern an der Art, wie sie ausgedrückt ist. Man kann auch als Zeitgenosse des Barock in denselben Sphären der Empfindung sich ergehen und doch modern sein, wie das etwa aus gewissen französischen Bauten des 17. Jahrhunderts erhellt.

Natürlich wird jede Anschauungs- und Darstellungsform von Hause aus nach einer gewissen Seite neigen, auf eine gewisse Schönheit, auf eine gewisse Weise der Naturerklärung gestimmt sein (wir kommen gleich darauf zu sprechen) und insofern scheint es wieder falsch, die Kategorien ausdruckslos zu nennen. Allein es sollte doch nicht schwer sein, das 240 Mißverstehen hier auszuschalten. Gemeint ist eben die Form, in der man das Lebendige sieht, ohne daß dieses Leben seinem Inhalt nach schon bestimmt wäre.

Ob es sich um ein Bild handle oder um ein Bauwerk, um eine Figur oder um ein Ornament: der Eindruck des Lebendigen wurzelt, unabhängig von dem besonderen Gefühlston, hier und dort in einem andern Schema. Aber gewiß ist die Umgewöhnung des Sehens von einer verschiedenen Einstellung des Interesses nicht wohl abzulösen. Auch wenn keine bestimmten Gefühlsinhalte in Frage kommen, so wird eben doch Wert und Bedeutung des Seins auf einer verschiedenen Seite gesucht. Für die klassische Anschauung liegt das Wesentliche in der festen und bleibenden Gestalt, die mit höchster Bestimmtheit und allseitiger Deutlichkeit bezeichnet wird, für die malerische Anschauung liegt Reiz und Garantie des Lebens in der Bewegung. Auch das 16. Jahrhundert hat selbstverständlich auf das Motiv der Bewegung nicht verzichtet und die Zeichnung eines Michelangelo mußte darin sogar als etwas Unüberbietbares erscheinen, allein erst das Sehen, das auf den bloßen Schein einging, das malerische Sehen, gab der Darstellung die Mittel in die Hand, den Eindruck der Bewegung im Sinne eines Sichveränderns zu erzeugen. Das ist der entscheidende Gegensatz zwischen klassischer und barocker Kunst. Das klassische Ornament hat seine Bedeutung in der Form, wie sie ist, das barocke Ornament wandelt sich dem Beschauer unter den Augen. Das klassische Kolorit ist eine festgegebene Harmonie einzelner Farben, das Kolorit des Barock ist immer eine Farbenbewegung und mit dem Eindruck des Werdens verbunden. In einem andern Sinne als vom klassischen Bildnis muß man vom Bildnis des Barock sagen, nicht das Auge, sondern der Blick sei sein Inhalt, und nicht die Lippen, sondern das Sprechen. Der Körper atmet. Der ganze Bildraum ist erfüllt von Bewegung.

Die Vorstellung vom Wirklichen hat sich ebenso verändert wie die Vorstellung vom Schönen.

 

3.
Das Warum der Entwicklung

Es läßt sich nicht leugnen: die Abwicklung des Prozesses hat etwas Psychologisch-Einleuchtendes. Man versteht durchaus, daß der Begriff der Klarheit zuerst ausgebildet sein mußte, bevor man in einer stellenweise getrübten Klarheit einen Reiz finden konnte. Man findet es ebenso begreiflich, daß die Auffassung einer Einheit von Teilen, deren Selbständigkeit in der Gesamtwirkung untergegangen ist, dem System mit selbständig 241 durchgebildeten Teilen erst nachgefolgt ist, daß das Spiel mit dem Versteckt-Gesetzmäßigen (Atektonischen) die Stufe der offenkundigen Gesetzmäßigkeit zur Voraussetzung hat usw. Alles umfassend bedeutet die Entwicklung vom Linearen zum Malerischen den Fortschritt von einer tastmäßigen Begreifung der Dinge im Raum zu einer Anschauung, die sich dem bloßen Augeneindruck anzuvertrauen gelernt hat, mit andern Worten, den Verzicht auf das Handgreifliche zugunsten der bloß optischen Erscheinung.

Der Ausgangspunkt freilich muß gegeben sein, wir sprachen nur von der Abwandlung einer klassischen Kunst ins Barocke. Daß aber eine klassische Kunst überhaupt entsteht, daß das Streben nach einem plastisch-tektonischen, klar und allseitig durchdachten Weltbild vorhanden ist, das ist durchaus nicht selbstverständlich und ist nur zu bestimmten Zeiten und an einzelnen Orten in der Menschheitsgeschichte vorgekommen. Und wenn wir den Ablauf der Dinge als einleuchtend empfinden, so erklärt das natürlich noch nicht, warum er überhaupt statthat. Aus welchen Gründen kommt es zu dieser Abwickelung?

Wir stoßen hier an das große Problem, ob die Veränderung der Auffassungsformen Folge einer inneren Entwicklung ist, einer gewissermaßen von selber sich vollziehenden Entwicklung im Auffassungsapparat, oder ob es ein Anstoß von außen ist, das andere Interesse, die andere Stellung zur Welt, was die Wandlung bedingt. Das Problem führt weit hinaus über das Gebiet der beschreibenden Kunstgeschichte und wir wollen nur andeuten, wie wir uns die Lösung denken.

Beide Betrachtungsweisen scheinen zulässig d. h. jede für sich allein einseitig. Gewiß hat man sich nicht zu denken, daß ein innerer Mechanismus automatisch abschnurrt und die genannte Folge von Auffassungsformen unter allen Umständen erzeugt. Damit das geschehen kann, muß das Leben in einer bestimmten Art erlebt sein. Die menschliche Vorstellungskraft aber wird immer ihre Organisation und ihre Entwicklungsmöglichkeiten in der Kunstgeschichte geltend machen. Es ist wahr, man sieht nur, was man sucht, aber man sucht auch nur, was man sehen kann. Zweifellos sind gewisse Formen der Anschauung als Möglichkeiten vorgebildet: ob und wie sie zur Entfaltung kommen, hängt von äußeren Umständen ab.

Es geht in der Geschichte von Generationen nicht anders als in der Geschichte des Einzelnen. Wenn ein großes Individuum wie Tizian in seinem letzten Stil völlig neue Möglichkeiten verkörpert, so kann man wohl sagen, 242 eine neue Empfindung habe diesen neuen Stil verlangt. Aber diese neuen Stilmöglichkeiten sind für ihn doch nur in Sicht gekommen, weil er so viel alte Möglichkeiten bereits hinter sich gebracht hatte. Keine noch so bedeutende Menschlichkeit hätte zugereicht, ihn diese Formen fassen zu lassen, wenn er nicht vorher den Weg zurückgelegt hätte, der eben die notwendigen Vorstationen enthielt. Die Kontinuität der Lebensempfindung ist notwendig gewesen hier wie bei den Generationen, die in der Geschichte zu einer Einheit sich zusammenschließen.

Die Formengeschichte steht niemals still. Es gibt Zeiten verstärkten Antriebes und Zeiten mit langsamer Phantasietätigkeit, aber auch dann wird ein Ornament, beständig wiederholt, allmählich seine Physiognomie ändern. Nichts behält seine Wirkung. Was heute lebendig erscheint, wird es morgen schon nicht mehr ganz sein. Dieser Vorgang ist nicht nur negativ zu erklären mit der Theorie der Reizabstumpfung und einer dadurch bedingten Notwendigkeit einer Reizsteigerung, sondern auch positiv dadurch, daß jede Form zeugend weiterarbeitet und jede Wirkung einer neuen ruft. Man sieht das deutlich in der Geschichte der Dekoration und Architektur. Aber auch in der Geschichte der darstellenden Kunst ist die Wirkung von Bild auf Bild als Stilfaktor viel wichtiger als das, was unmittelbar aus der Naturbeobachtung kommt. Die bildliche Imitation hat sich aus der Dekoration entwickelt – die Zeichnung als Darstellung ist einst aus dem Ornament hervorgegangen – und dieses Verhältnis wirkt durch die ganze Kunstgeschichte nach.

Es ist eine dilettantische Vorstellung, daß ein Künstler jemals voraussetzungslos sich der Natur habe gegenüberstellen können. Was er aber als Darstellungsbegriff übernommen hat und wie dieser Begriff in ihm weiter arbeitet, ist viel wichtiger als alles, was er der unmittelbaren Beobachtung entnimmt. (Wenigstens so lange die Kunst eine dekorativ-schöpferische und nicht eine wissenschaftlich-analysierende gewesen ist.) Naturbeobachtung ist ein leerer Begriff, solange man nicht weiß, unter welchen Formen beobachtet wird. Alle Fortschritte der »Naturnachahmung« sind verankert in der dekorativen Empfindung. Das Können spielt dabei nur eine sekundäre Rolle. So wenig wir uns das Recht verkümmern lassen dürfen, qualitative Urteile über die Epochen der Vergangenheit abzugeben, so ist es doch gewiß richtig, daß die Kunst immer gekonnt hat, was sie wollte, und daß sie vor keinem Thema zurückschreckte, weil sie »das nicht konnte«, sondern daß man immer nur ausließ, was nicht als bildlich reizvoll 243 empfunden wurde. Darum ist die Geschichte der Malerei nicht nur nebenbei, sondern ganz wesentlich auch eine Geschichte der Dekoration.

Alle künstlerische Anschauung ist an gewisse dekorative Schemata gebunden oder – um den Ausdruck zu wiederholen – die Sichtbarkeit kristallisiert sich für das Auge unter gewissen Formen. In jeder neuen Kristallisationsform aber wird auch eine neue Seite des Weltinhalts zutage treten.

 

4.
Periodizität der Entwicklung

Unter diesen Umständen hat es eine große Bedeutung, daß sich in allen architektonischen Stilen des Abendlandes gewisse gleichbleibende Entwicklungen beobachten lassen. Es gibt eine Klassik und einen Barock nicht nur in der neueren Zeit und nicht nur in der antiken Baukunst, sondern auch auf einem so ganz fremdartigen Boden wie der Gotik. Trotzdem hier die Kräfterechnung eine völlig verschiedene ist, kann die Hochgotik im allgemeinsten der Formgebung doch mit den Begriffen bezeichnet werden, die wir für die klassische Kunst der Renaissance entwickelten. Sie hat einen rein »linearen« Charakter. Ihre Schönheit ist eine Flächenschönheit und ist tektonisch, insofern als auch sie das Gesetzlich-Gebundene darstellt. Das Ganze geht auf in einem System selbständiger Teile: so wenig das gotische Ideal sich deckt mit dem Ideal der Renaissance, so sind es doch lauter Teile, die eine in sich geschlossene Erscheinung besitzen, und überall ist es innerhalb dieser Formenwelt auf eine absolute Klarheit abgesehen.

Demgegenüber sucht die Spätgotik die malerischen Effekte der vibrierenden Form. Nicht im modernen Sinne, aber verglichen mit der strengen Linearität der Hochgotik ist die Form dem starr-plastischen Typ entfremdet und nach der bewegten Erscheinung hinübergedrängt worden. Der Stil entwickelt Tiefenmotive, Motive der Überschneidung wie im Ornament so im Raum. Er spielt mit dem Scheinbar-Gesetzlosen und erweicht sich stellenweise ins Fließende. Und wie nun die Rechnungen mit den Masseneffekten kommen, wo die einzelne Form nicht mehr als ganz selbständige Stimme spricht, so gefällt sich diese Kunst im Geheimnisvollen und Unübersehbaren, mit andern Worten, in einer teilweisen Verdunkelung der Klarheit.

In der Tat, wie soll man es anders nennen als barock, wenn wir – immer unter der Voraussetzung eines ganz andern Struktursystems – genau denselben Abwandlungen der Form begegnen, die wir aus der neuern Zeit kennen (vgl. die angeführten Beispiele im dritten und fünften Kapitel), bis auf die einwärtsgedrehten Fronttürme – Ingolstadt, Frauenkirche –, die die 244 Brechung der Fläche ins Tiefenmäßige sogar in unerhört kühner Weise vortragen!

Aus ganz allgemeinen Erwägungen heraus sind schon Jakob Burckhardt und Dehio dafür eingetreten, daß eine Periodizität der Formabwicklungen in der Architekturgeschichte anzunehmen sei. Daß jeder abendländische Stil, wie er seine klassische Epoche hat, so auch seinen Barock habe, vorausgesetzt, daß man ihm Zeit läßt, sich auszuleben. Man mag den Barock so oder so definieren – Dehio hat seine eigene Meinung darüberDehio & Bezold, Kirchliche Baukunst des Abendlandes II. 190. –, das Entscheidende ist, daß auch er an eine innerlich weiterarbeitende Formengeschichte glaubt. Die Entwicklung wird sich aber nur da vollziehen, wo die Formen lange genug von Hand zu Hand gegangen sind oder, besser gesagt, wo die Phantasie lebhaft genug sich mit den Formen beschäftigt hat, um die barocken Möglichkeiten herauszulocken.

Keineswegs soll aber damit behauptet werden, daß der Stil nicht auch in dieser barocken Phase Ausdrucksorgan der Zeitstimmung sein könnte. Was an neuen Inhalten vorgetragen werden soll, muß dann nur eben in den Formen eines Spätstils seinen Ausdruck suchen. Der Spätstil an sich hat noch keinen besonderen Charakter, es ist, wie wir wissen, nur die Form des Lebendigen damit angegeben. Gerade die Physiognomie der nordischen Spätgotik ist sehr stark bedingt durch neue inhaltliche Elemente. Aber auch der römische Barock ist als bloßer Spätstil nicht zu charakterisieren, sondern muß auch als Träger neuer Gefühlswerte verstanden werdenDer Verfasser hat Anlaß, sich hier selbst zu korrigieren. In einer Jugendschrift »Renaissance und Barock« (1888 u. ö.) ist dieser letztere Gesichtspunkt einseitig durchgeführt und alles auf unmittelbaren Ausdruck gedeutet worden, während doch eben dem Umstand Rechnung zu tragen gewesen wäre, daß diese Formen die weitergewälzten Formen der Renaissance sind und als solche, auch ohne Anstoß von außen, nicht mehr die gleichen hätten bleiben können..

Wie sollten solche Prozesse der architektonischen Formengeschichte nicht auch in der darstellenden Kunst ihre Analogie haben? Wirklich ist es eine unbestrittene Tatsache, daß sich, mit engerer oder weiterer Wellenlänge, gewisse gleichlautende Entwicklungen vom Linearen zum Malerischen, vom Strengen zum Freien usw. schon mehrfach im Abendland abgespielt haben. Die antike Kunstgeschichte arbeitet mit denselben Begriffen wie die moderne und – unter wesentlich verschiedenen Verhältnissen – wiederholt sich das Schauspiel im Mittelalter. Die französische Plastik vom 12. bis zum 15. Jahrhundert bietet ein außerordentlich klares Beispiel einer solchen Entwicklung, 245 dem auch die Parallele der Malerei nicht fehlt. Man muß nur, der modernen Kunst gegenüber, mit einem grundsätzlich verschiedenen Ausgangspunkt rechnen. Die mittelalterliche Zeichnung ist nicht die perspektivisch-räumliche der Neuzeit, sondern eine mehr abstrakt-flächige, die erst zuletzt zur Tiefe der perspektivisch-dreidimensionalen Bilder durchbricht. Man wird unsere Kategorien nicht unmittelbar auf diese Entwicklung übertragen können, aber die Gesamtbewegung läuft offenbar parallel. Und nur darauf kommt es an, nicht daß die Entwicklungskurven der verschiedenen Weltperioden sich absolut decken müßten.

Auch innerhalb einer Periode wird der Historiker nie mit einer gleichmäßig fortflutenden Strömung rechnen dürfen. Völker und Generationen treten auseinander. Hier ist die Entwicklung eine langsamere, dort eine schnellere. Es kommt vor, daß begonnene Entwicklungen abgebrochen und erst später wieder aufgenommen werden oder es gabeln sich die Richtungen und neben einer fortschrittlichen behauptet sich eine konservative, deren Stil dann durch den Kontrast einen besonderen Ausdruckscharakter bekommt. Das sind Dinge, die hier füglich außer Betracht bleiben dürfen.

Auch die Parallelität der einzelnen Künste ist keine vollständige. Daß sie so geschlossen marschieren, wie im neueren Italien, kommt streckenweise auch im Norden vor, allein sobald z. B. irgendwo eine Anlehnung an ausländische Formmuster stattfindet, trübt sich die reine Parallelität. Es tritt dann ein Stofflich-Fremdes in den Gesichtskreis, das sofort eine besondere Akkommodation des Auges nach sich zieht, wofür die Geschichte der deutschen Renaissancearchitektur ein bezeichnendes Beispiel bietet.

Etwas anderes ist, daß die Architektur grundsätzlich die elementaren Stufen der Formdarstellung festhalten wird. Wenn man vom malerischen Rokoko spricht und sich der Übereinstimmung von Architektur und Malerei erfreut, so darf man doch nicht vergessen, daß es neben jenen Innendekorationen, für die der Vergleich stimmt, immer eine sehr viel zurückhaltendere Außenarchitektur gegeben hat. Das Rokoko kann sich ins ganz Freie und Ungreifbare verflüchtigen, aber es muß es nicht tun und hat es in Wirklichkeit auch nur bei seltenen Anlässen getan. Darin beruht ja gerade der Sondercharakter der Baukunst den andern Künsten gegenüber, die aus ihrem Schoß hervorgehend sich allmählich völlig freigemacht haben: sie behält immer ihr eignes Maß von Tektonik, von Klarheit und Tastbarkeit. 246

 

5.
Das Problem des Neu-Anfangens.

Der Begriff der Periodizität schließt die Tatsache eines Aufhörens und Neuanfangens von Entwicklungen ein. Man wird auch da nach dem Warum fragen müssen. Warum springt die Entwicklung je wieder zurück?

Im ganzen Verlauf unsrer Darlegungen haben wir das Beispiel der Stilerneuerung um 1800 ins Auge gefaßt. Mit einer außerordentlich eindrücklichen Schärfe setzt sich dort eine neue »lineare« Art, die Welt zu sehen, der malerischen des 18. Jahrhunderts gegenüber. Mit der allgemeinen Erklärung, daß jede Erscheinung ihren Gegensatz erzeugen müsse, ist nicht viel anzufangen. Das Abbrechen bleibt etwas »Unnatürliches« und wird immer nur im Zusammenhang mit durchgreifenden Veränderungen der geistigen Welt vorkommen. Wenn das Sehen unmerkbar und fast wie von selber vom Plastischen zum Malerischen sich wandelt, so daß man fragen kann, ob es sich nicht in der Tat um eine rein interne Entwicklung handle, so liegt bei der Umkehr vom Malerischen zum Plastischen der Hauptanstoß sicher in äußeren Verhältnissen. Der Nachweis in unserem Fall ist nicht schwer. Es ist die Epoche einer neuen Wertung des Seins auf allen Gebieten. Die neue Linie kommt im Dienst einer neuen Sachlichkeit. Man will nicht mehr den allgemeinen Effekt, sondern die einzelne Form, nicht mehr den Reiz einer ungefähren Erscheinung, sondern die Gestalt, wie sie ist. Die Wahrheit und Schönheit der Natur beruht in dem, was sich greifen und messen läßt. Von Anfang an spricht das die Kritik aufs deutlichste aus. Diderot bekämpft in Boucher nicht nur den Maler, sondern den Menschen. Die reine menschliche Gesinnung sucht das Einfache. Und nun kommen die Forderungen, die wir kennen: Die Figuren im Bild sollen isoliert bleiben und ihre Schönheit dadurch bewähren, daß sie vom Relief übernommen werden könnten, worunter natürlich das lineare Relief verstanden ist, usw.Diderot, Salons (Boucher): il n'y a aucune partie de ses compositions, qui, separée des autres, ne vous plaise . . . . il est sans goût: dans la multitude de figures d'hommes et de femmes qu'il a peintes, je défie qu'on en trouve quatre de caractère propre au bas relief, encore moins à la statue (Oeuvres choisies II, 326ff.).. Im gleichen Sinn hat sich später, als Wortführer der Deutschen, Friedrich Schlegel ausgesprochen: »Keine verworrene Haufen von Menschen, sondern wenige und einzelne Figuren, aber mit Fleiß vollendet; ernste und strenge Formen in scharfen Umrissen, die bestimmt heraustreten; keine Malerei aus Helldunkel und Schmutz in Nacht und Schlagschatten, sondern reine Verhältnisse und Massen von Farben, wie in deutlichen Akkorden 247 . . . in den Gesichtern aber durchaus und überall jene gutmütige Einfalt . . , die ich geneigt bin für den ursprünglichen Charakter des Menschen zu halten; das ist der Stil der alten Malerei, der Stil, welcher mir . . . ausschließend gefälltF. Schlegel, Gemäldebeschreibungen aus Paris und den Niederlanden in den Jahren 1802–1804. (Sämtliche Werke VI². 14f.)

Was hier in nazarenischer Färbung sich ausspricht, ist natürlich nichts anderes als was, im Reich einer allgemeinern Menschlichkeit, der neuen Andacht zur »Reinheit« der antik-klassischen Formen zugrunde liegt.

Aber der Fall der Kunsterneuerung um 1800 ist einzigartig, so einzigartig, wie es die begleitenden Zeitumstände gewesen sind. Innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne hat die abendländische Menschheit damals einen durchgreifenden Regenerationsprozeß durchgemacht. Das Neue setzt sich dem Alten unmittelbar entgegen und zwar auf der ganzen Linie. Es scheint hier wirklich, als ob man noch einmal von vorne habe anfangen können.

Ein genaueres Zusehen freilich erweist bald, daß die Kunst auch hier nicht an einen Punkt zurückgekehrt ist, wo sie schon einmal gestanden hatte, sondern daß nur das Bild einer Spiralbewegung den Tatsachen nahe käme. Fragt man aber nach den Anfängen der vorausgehenden Entwicklung, so sucht man umsonst nach einer entsprechenden Situation, wo sich ein Wille zum Linearen und Strengen allgemein und rasch entschlossen einer malerisch-freien Tradition in den Weg gestellt hätte. Gewiß, es gibt Analogien im 15. Jahrhundert, und indem man die Quattrocentisten als Primitive bezeichnet, will man eben sagen, dort läge der Anfang der modernen Kunst. Allein Masaccio fußt auf dem Trecento und die Bilder des Jan van Eyck sind gewiß nicht der Beginn einer Richtung, sondern die Blüte einer weit zurückreichenden spätgotisch-malerischen Entwicklung. Trotzdem ist es ganz in der Ordnung, wenn – unter gewissen Gesichtspunkten – diese Kunst uns als die Vorstufe der klassischen Epoche des 16. Jahrhunderts erscheint. Nur verzahnt sich eben Altes und Neues hier so, daß es schwer ist, den Schnitt zu machen. Wie denn die Historiker immer wieder schwanken, wo sie das Kapitel von der neueren Kunstgeschichte beginnen lassen sollen. Mit strengen Ansprüchen an die »Reinlichkeit« der Periodenteilungen kommt man nicht weiter. In der alten Form ist die neue schon enthalten, wie neben dem welkenden Laub der Keim des jungen schon da ist. Italien erlaubt eine etwas klarere Rechnung, vom nordischen Quattrocento aber muß 248 man sagen, daß es nur teilweise eine Vorbereitung auf den Stil des 16. Jahrhunderts gewesen ist. In gotisch-barocken Schöpfungen wie Adam Kraffts Sakramentshäuschen von St. Lorenz berührt sich eine malerische Spätkunst sehr merkwürdig mit jener wesentlich anders gearteten Kunst der Klarheit, zu der schon der junge Dürer durchgebrochen ist. Ja der Konflikt liegt in der Seele Adam Kraffts selbst und man wird gut tun, auch den gesamten Begriff der Spätgotik noch mehr zu spalten und auf dasjenige durchzuprüfen, was jung ist im »Verfall«.

Für jeden aber, der den Primitivismus als Stil bestimmen möchte, bleibt zu bedenken, daß es nicht nur einen Primitivismus des Anfangs gibt, sondern unter Umständen auch einen Primitivismus des Endes. Es ist das, was man als die Kindlichkeit des Alters kennt, die Einfachheit der Ermüdung, ein Erstarren des Malerischen ohne die Kraft einer plastischen Neubildung. Für uns hier liegen diese Probleme abseits der Strecke. Wir sprechen von Primitiven in dem beschränkten Sinne jener Kunst, die dem klassischen Stil der Renaissance unmittelbar vorangeht.

 

6.
Nationale Charaktere

Trotz aller Ausweichungen und Sondergänge ist die Entwicklung des Stils in der neueren abendländischen Kunst eine einheitliche gewesen, wie die Kultur des modernen Europa als eine einheitliche gefaßt werden kann. Aber innerhalb dieser Einheit ist mit der durchgehenden Verschiedenheit der nationalen Typen zu rechnen. Wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, wie die Schemata des Sehens national gebrochen erscheinen. Es gibt eine bestimmte Art von italienischer oder von deutscher Vorstellungsweise, die sich gleichbleibend in allen Jahrhunderten behauptet. Natürlich sind es nicht konstante Größen im mathematischen Sinn, aber die Aufstellung eines nationalen Typs der Phantasie ist eine notwendige Hilfskonstruktion für den Historiker. Es wird an der Zeit sein, daß die geschichtliche Darstellung der Baukunst Europas nicht mehr bloß einteilt nach Gotik, Renaissance usw., sondern die nationalen Physiognomien herausarbeitet, die auch durch importierte Stile nicht ganz verwischt werden kann. Die italienische Gotik ist ebenso ein italienischer Stil, wie die deutsche Renaissance sich nur aus der Gesamtüberlieferung nordisch-germanischer Formbildung verstehen läßt.

In der darstellenden Kunst liegt das Verhältnis noch klarer zutage. Es gibt eine germanische Phantasie, die zwar die allgemeine Entwicklung vom 249 Plastischen zum Malerischen durchmacht, aber doch von allem Anfang an stärker auf malerische Reize reagiert als die südliche. Nicht die Linie, sondern das Liniengeflecht. Nicht die festgelegte Einzelform, sondern die Formbewegung. Man glaubt auch an die Dinge, die sich nicht mit Händen fassen lassen.

Die in reiner Fläche gesammelte Form spricht nicht auf lange zu diesen Menschen, sie wühlen die Gründe auf, suchen die Unterschneidung, den aus der Tiefe heraus wirkenden Bewegungszug.

Auch die germanische Kunst hat ihr tektonisches Zeitalter gehabt, aber doch nicht in dem Sinn, daß jemals die strengste Ordnung auch als die lebendigste empfunden worden wäre. Hier ist immer noch Raum für den Einfall des Augenblicks, für das Scheinbar-Willkürliche, die verschobene Regel. Über das Gesetzmäßige hinaus drängt die Vorstellung nach dem Ungebundenen und Unbegrenzten. Die rauschenden Wälder bedeuten der Phantasie mehr als das in sich geschlossene tektonische Gefüge.

Was für romanische Empfindung so charakteristisch ist, die gegliederte Schönheit, das durchsichtige System mit klar gesonderten Teilen, ist der deutschen Kunst als Ideal zwar nicht unbekannt, aber alsbald sucht der Gedanke das Eine und Allesfüllende, wo die Systematik aufgehoben und die Selbständigkeit des Teils im Ganzen untergegangen ist. So ist es mit aller Figur. Wohl hat die Kunst sie auf eigene Füße zu stellen unternommen, aber im geheimen ist immer der Phantasiereiz lebendig, sie in allgemeinere Zusammenhänge zu verflechten und ihren Eigenwert in einer neuen Gesamterscheinung aufgehen zu lassen. Und eben darin liegen auch die Voraussetzungen der nordischen Landschaftsmalerei. Man sieht nicht Baum und Hügel und Wolke für sich, sondern alles ist aufgenommen in den Atemzug der einen großen Natur.

Merkwürdig früh überläßt man sich hier den Wirkungen, die nicht von den Dingen selbst ausgehen, sondern überdinglicher Art sind, jenen Bildern, wo nicht die einzelne Sachform und der rationelle Zusammenhang der Dinge Träger des Eindrucks ist, sondern das, was sich sozusagen über den Kopf der Einzelform hinweg als zufällige Konfiguration ergibt. Wir verweisen darauf zurück, was oben als Inhalt des Begriffes der künstlerischen »Unklarheit« auseinandergesetzt worden ist.

Damit hängt wohl auch zusammen, daß in der nordischen Architektur Bildungen zugelassen worden sind, die für die südländische Phantasie nichts Verständliches d. h. Erlebbares mehr besaßen. Dort ist der Mensch 250 das »Maß aller Dinge« und jeder Träger, jede Fläche, jeder Kubus ist ein Ausdruck dieser plastisch-anthropozentrischen Auffassung. Hier gibt es keine verbindlichen Maße, die vom Menschen genommen sind. Die Gotik rechnet mit Kräften, die aller menschlichen Vergleichbarkeit sich entziehen, und wenn die neuere Baukunst sich des italienischen Formenapparates bedient, so sucht sie ihre Wirkungen doch in einem so geheimnisvollen Leben der Form, daß jeder alsbald erkennen muß, wie grundsätzlich andere Forderungen an die nachschaffende Einbildungskraft gestellt sind.

 

7.
Verschiebung des Schwerpunktes in der europäischen Kunst

Es ist immer ein wenig bedenklich, Zeitalter gegen Zeitalter auszuspielen. Trotzdem wird man um die Tatsache nicht herumkommen, daß jedes Volk in seiner Kunstgeschichte Epochen hat, die vor anderen als die eigentümliche Offenbarung seiner nationalen Tugenden erscheinen. Für Italien ist es das 16. Jahrhundert, das am meisten Neues und nur diesem Lande Eigenes hervorgebracht hat, für den germanischen Norden ist es das Zeitalter des Barock. Dort eine plastische Begabung, die auf der Basis des Linearismus ihre klassische Kunst gestaltet, hier eine malerische Begabung, die im Barock sich erst ganz eigentümlich ausspricht.

Daß Italien einmal die hohe Schule Europas werden konnte, hat natürlich noch andere als kunstgeschichtliche Gründe, aber es ist begreiflich, daß bei einer gleichartigen künstlerischen Entwicklung des Abendlandes der Schwerpunkt sich nach der besonderen Begabung der einzelnen Völker verschieben mußte. Italien hat einmal allgemeine Ideale in einer besonders klaren Weise behandelt. Nicht der Zufall der italienischen Reisen Dürers oder anderer Künstler hat den Romanismus für den Norden geschaffen, die Reisen waren die Folge der Anziehungskraft, die das Land bei der damaligen Orientierung des europäischen Sehens notwendig auf die anderen Nationen ausüben mußte. So verschieden die nationalen Charaktere sein mögen: das Allgemein-Menschliche, das bindet, ist stärker als das Trennende. Es findet ein beständiger Ausgleich statt. Und dieser Ausgleich bleibt ein befruchtender, selbst wenn zunächst das Wasser sich trübt und, was bei jeder Nachahmung unvermeidlich ist, anfänglich auch Unverstandenes und Dauernd-Fremdes mit herüberkommt.

Die Verbindung mit Italien hat im 17. Jahrhundert nicht aufgehört, aber das Eigentümlichste des Nordens ist ohne Italien entstanden. Rembrandt hat die übliche Künstlerreise über die Alpen nicht gemacht und selbst wenn 251 er sie gemacht hätte, würde er vom damaligen Italien kaum berührt worden sein. Es konnte seiner Vorstellung nichts geben, was er nicht in viel höherem Maße schon besaß. Aber – kann man fragen – warum hat denn damals nicht die umgekehrte Bewegung eingesetzt? Warum ist im malerischen Zeitalter der Norden nicht zum Lehrer des Südens geworden? Darauf wäre zu antworten, daß wohl die abendländischen Schulen alle durch die Zone des Plastischen durchgegangen sind, daß aber für die weitere Entwickelung ins Malerische hinein von vornherein nationale Schranken gesetzt waren.

 

Wie alle Sehgeschichte über die bloße Kunst hinausführen muß, so ist es selbstverständlich, daß auch solche nationalen Verschiedenheiten des Auges mehr sind als nur eine Angelegenheit des Geschmacks: bedingend und bedingt enthalten sie die Grundlagen des ganzen Weltbildes eines Volkes. Daran liegt es, daß die Kunstgeschichte, als die Lehre von den Sehformen, nicht nur ein entbehrlicher Begleiter in der Gesellschaft der historischen Disziplinen zu sein beansprucht, sondern daß sie notwendig ist wie das Gesicht.

 

 

Dürer: Christus vor Kaiphas

 


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