Heinrich Wölfflin
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
Heinrich Wölfflin

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Plastik

1.
Allgemeines

Man kann die Geschichte der Plastik als eine Geschichte der Entwicklung der Figur demonstrieren. Eine anfängliche Befangenheit wird abgeworfen, die Glieder regen sich und greifen aus, der Körper als Ganzes kommt in Bewegung. Aber eine solche Geschichte der objektiven Themen deckt sich nicht ganz mit dem, was wir hier unter Stilentwicklung verstehen. Wir meinen: es gibt ein flächiges Sichbeschränken, das nicht eine Unterdrückung des Bewegungsreichtums bedeutet, sondern nur eine andere Anordnung der Formen, und andererseits gibt es ein bewußtes Auflösen der betonten Fläche im Sinn einer ausgesprochenen Tiefenbewegung und diese Formenordnung wird zwar durch reiche Bewegungskomplexe begünstigt, kann sich aber auch mit ganz einfachen Motiven verbinden.

Linienstil und Flächenstil korrespondieren offenbar miteinander. Das 15. Jahrhundert, wie es im allgemeinen auf Linie hingearbeitet hat, ist auch im großen und ganzen ein Jahrhundert der Fläche gewesen, nur daß der Begriff nicht zur vollen Energie angespannt worden ist. Man hält sich an die Fläche, aber mehr unbewußt und es kommen beständig Fälle vor, wo man aus der Fläche herausfällt, ohne daß das besonders bemerkt worden wäre. Charakteristisch das Beispiel von Verrocchios Gruppe des ungläubigen Thomas: die Gruppe steht in einer Nische, aber der Jünger bleibt mit einem Bein außerhalb. 112

Mit dem 16. Jahrhundert aber wird es dann Ernst mit der Flächenempfindung. Bewußt und konsequent werden die Formen in eine Schicht gesammelt. Der plastische Reichtum hat zugenommen, die Richtungsgegensätze sind stärkere, jetzt erst scheinen die Körper vollkommen frei geworden zu sein in den Gelenken, die Gesamterscheinung aber hat sich zum reinen Flächenbild beruhigt. Das ist der klassische Stil mit seinen bestimmten Silhouetten.

Bernini: Grabmal Alexanders VII., Rom, St. Peter

Allein diese klassische Flächigkeit ist nicht von langer Dauer gewesen. Bald schien es, als ob man die Dinge in Fesseln schlüge, wenn man sie der reinen Fläche unterwarf; man löst die Silhouetten auf und führt das Auge um die Ränder herum; man steigert das Quantum verkürzt erscheinender Form und gibt mit Überschneidungen, übergreifenden Motiven stark sprechende Verhältnisse des Vor- und Rückwärts, kurz, es wird absichtlich vermieden, den Eindruck der Fläche aufkommen zu lassen, auch wenn eine Fläche faktisch noch vorhanden ist. So arbeitet Bernini. Hauptbeispiele: das Grabmal Urbans VIII. in St. Peter und (noch verschärft) ebenda das Grabmal Alexanders VII. Verglichen damit erscheinen Michelangelos Medicäergräber vollkommen scheibenhaft. Gerade im Fortgang der früheren Arbeit Berninis zur späteren kann man die eigentliche Gesinnung dieses Stils gut kennen lernen. Die Hauptfläche noch mehr zerklüftet. Die vorderen Figuren wesentlich von der schmalen Seite her gesehen. Rückwärtige Halbfiguren. Auch das alte Motiv des Betens mit emporgestellten Händen (beim Papst), das die profilmäßige Darstellung unweigerlich zu verlangen scheint, hier der verkürzten Ansicht unterstellt.

Wie sehr der alte Flächenstil erschüttert ist, muß aus diesen Beispielen um so deutlicher erhellen, als es sich im Grunde doch immer noch um den Typus des Wandgrabes handelt. Freilich ist die Flachnische zur Tiefform umgebildet und die Hauptfigur kommt uns (auf bauchigem Sockel) entgegen, aber auch das, was in einer Ebene zusammensteht, ist so behandelt, daß es sich gegenseitig kaum annimmt: man sieht das Nebeneinander und es gehen wohl Fäden herüber und hinüber, aber in dieses Gewebe ist der Reiz der tiefenwärts führenden Form eingeflochten und es muß dem Meister des Barock durchaus erwünscht gewesen sein, in der Mitte eine Tür vorzufinden, die, weit entfernt im Sinne des früheren Sarkophags eine horizontale Bindeform abzugeben, den Zwischenraum vertikal aufschlitzt, wodurch eine neue Tiefenform sich auftut: aus dem Schattendunkel stößt der Tod, das schwere Tuch emporhebend, hervor. 113

Man könnte meinen, der Barock habe die Wandkompositionen eher geflohen, da sie der Tendenz des Loskommens von der Fläche doch einen gewissen Widerstand leisten mußten. Allein es ist gerade umgekehrt. Er stellt die Figuren in Reihen, bringt sie in Nischen: er hat das größte Interesse, daß eine räumliche Orientierung da sei. Erst an der Ebene, im Widerspruch zur Ebene wird die Tiefe fühlbar. Die allseitig gedrehte Freigruppe ist für den Barock durchaus nicht typisch. Allerdings vermeidet er den Eindruck einer strengen Frontalität, als ob die Figur eine entschiedene Hauptrichtung hätte und in dieser Richtung gesehen werden wollte. Seine Tiefe ist immer mit dem Anblick unter verschiedenen Winkeln verbunden. Es schiene dem Barock eine Versündigung gegen das Leben, wenn die Plastik sich in einer bestimmten Fläche verfestigen wollte. Sie sieht nicht nur nach einer Seite, sondern besitzt einen größeren Streukreis.

Es ist an dieser Stelle notwendig, Adolf Hildebrand zu zitieren, der nicht im Namen eines besonderen Stils, sondern im Namen der Kunst die Fläche für die Plastik gefordert hat und dessen »Problem der Form« zum Katechismus einer neuen großen Schule in Deutschland geworden ist. Erst wenn das Körperlich-Runde, sagt Hildebrand, trotzdem es rund ist, in ein flächenmäßig faßbares Bild umgesetzt ist, ist es im künstlerischen Sinne sehbar geworden. Wo eine Figur nicht soweit gebracht ist, daß sie ihren Inhalt in einem Flächenbild gesammelt enthält, wo also der Beschauer, der ihrer habhaft werden will, um sie herumzugehen gezwungen ist und in einzelnen Bewegungsakten sich das Gesamtbild zusammensuchen 114 muß, da ist man mit der Kunst um keinen Schritt über die Natur hinausgekommen. Die Wohltat, die der Künstler mit seiner Arbeit dem Auge erweisen sollte, indem er das Zerstreute der natürlichen Erscheinung zum einheitlichen Bilde sammelt, ist ausgeblieben.

In dieser Theorie scheint für Bernini und die barocke Skulptur kein Platz zu sein. Allein man tut Hildebrand Unrecht, wenn man ihn (wie das geschehen ist) nur als Anwalt seiner eigenen Kunst betrachten will. Er opponiert gegen den Dilettantismus, der von dem Prinzip der Flächenforderung gar nichts weiß, Bernini aber – um den einen Namen als Vertreter der ganzen Gattung zu gebrauchen – ist durch die Fläche bereits durchgegangen und was er an Negation der Fläche gibt, hat also eine ganz andere Bedeutung, als was in einer Kunstübung vorkommt, die zwischen flächig und nichtflächig noch gar nicht unterscheiden kann.

Es ist zweifellos, daß der Barock stellenweise zu weit gegangen ist und unangenehm wirkt, eben weil keine gesammelten Bilder zustande kommen. Bei diesen ist die Kritik Hildebrands am Platze; aber man darf sie nicht ausdehnen wollen auf die Gesamtheit der nachklassischen Produktion. Es gibt auch untadeligen Barock. Und zwar nicht, wenn er archaisiert, sondern wenn er ganz sich selbst ist. In der Konsequenz einer ganz allgemeinen Entwicklung des Sehens hat die Plastik einen Stil gefunden, der etwas anderes will als die Renaissance und für den die alten Termini der klassischen Ästhetik nicht mehr zureichen. Es gibt eine Kunst, die die Fläche kennt, aber im Eindruck nicht laut zu Worte kommen lassen will.

Man darf also, um den Barockstil zu charakterisieren, nicht eine beliebige Figur wie Berninis David mit der Schleuder einer Frontalfigur wie Michelangelos klassischem David (dem sog. Apoll, Bargello) gegenüberstellen. Allerdings bilden die zwei Arbeiten einen grellen Kontrast, bei dem aber auf den Barock ein schiefes Licht fällt. Berninis David ist eine Jugendarbeit und die Vielseitigkeit der Wendung ist erkauft mit dem Verlust aller befriedigenden Ansichten. Hier wird man wirklich »um die Figur herumgetrieben«, denn es fehlt einem immer etwas, was man aufzudecken sich gezwungen fühlt. Bernini hat das selbst empfunden und seine reifen Arbeiten sind viel gesammelter gehalten, mehr – nicht ganz – auf einen Blick gesammelt. Die Erscheinung ist beruhigter, behält aber etwas Oszillierendes.

Wenn die Primitiven unbewußt flächig gewesen sind und die klassische Generation bewußtflächig, so kann man die Kunst des Barock bewußt-unflächig nennen. Sie lehnt die Verpflichtung auf die zwingende Frontalität 115 der Erscheinung ab, weil nur in dieser Freiheit der Schein lebendiger Bewegung ihr erreichbar schien. Plastik ist immer etwas Rundes und kein Mensch wird glauben, man habe die klassischen Figuren nur von einer Seite angesehen, aber bei allen Betrachtungsweisen macht sich doch eben die Front als Norm geltend und man fühlt ihre Bedeutung, auch wenn man sie nicht gerade vor Augen hat. Nennt man den Barock unflächig, so will das nicht heißen, daß nun das Chaos eingebrochen sei und jedes Einstellen auf bestimmte Richtungen aufgehört habe, sondern nur das soll gesagt sein, daß man den blockmäßigen Flächenzusammenhang ebensowenig mehr wünscht, wie die Verfestigung der Figur in einer dominierenden Silhouette. Dabei kann die Forderung, daß die Ansichten sachlich erschöpfende Bilder liefern müßten, mit gewissen Modifikationen weiter geltend bleiben. Das Maß dessen, was man zur Formerklärung für unentbehrlich hält, ist nicht immer das gleiche.

 

2.
Beispiele

Die Begriffe, die unseren Kapiteln als Überschriften vorgesetzt sind, greifen natürlich zusammen, es sind die verschiedenen Wurzeln eines Gewächses oder anders ausgedrückt: es ist überall ein und dieselbe Sache, nur von verschiedenen Punkten aus gesehen. So kommen wir bei der Analyse des Tiefenhaften auf Dinge, die schon als Komponenten des Malerischen genannt werden mußten. Die Ersetzung der einen beherrschenden Silhouette, die mit der Sachform zusammenfällt, durch malerische Ansichten, in denen Sache und Erscheinung auseinandertreten, ist schon bei der malerischen Plastik und Architektur nach ihrer grundsätzlichen Bedeutung erörtert worden. Das Wesentliche ist, daß solche Ansichten nicht nur gelegentlich sich ergeben können, sondern daß von Anfang an darauf gerechnet ist und daß sie zahlreich und wie von selber sich dem Betrachter darbieten. Diese Wandlung ist durchaus gebunden an die Entwicklung vom Flächenhaften zum Tiefenhaften.

In der Geschichte des Reiterdenkmals läßt sich das gut anschaulich machen.

Der Gattamelata des Donatello und der Colleoni des Verrocchio sind beide so aufgestellt, daß die reine Breitenansicht betont ist. Dort steht das Pferd im rechten Winkel zur Kirche, in der Flucht der Frontwand, hier läuft es mit der Längsachse parallel, seitlich abgerückt: in beiden Fällen arbeitet die Aufstellung einer flächenmäßigen Auffassung vor und das Werk bestätigt die Richtigkeit einer solchen Auffassung, indem so ein restlos klares und in sich geschlossenes Bild zustande kommt. Man hat den Colleoni nicht 116 gesehen, wenn man nicht die reine Seitenansicht kennt. Und zwar ist es die Ansicht von der Kirche her, seine rechte Seite, auf die das Bild abgestellt ist, denn nur so wird alles deutlich: der Feldherrnstab und die Zügelhand, und der Kopf geht trotz der Linksdrehung nicht verlorenLeider sind die käuflichen Photographien alle falsch aufgenommen, mit unzulässigen Verdeckungen und mit abscheulicher Entstellung des Rhythmus in den Pferdebeinen.. Bei der Höhe des Sockels stellen sich natürlich perspektivische Verschiebungen rasch ein, aber die Hauptansicht schlägt doch siegreich durch. Und darauf allein kommt es an. Niemand wird so töricht sein, zu meinen, die alten Bildhauer hätten wirklich nur auf eine Ansicht hingearbeitet, dann wäre es ja überflüssig gewesen, ein vollkörperliches Werk zu machen; man soll das Runde genießen, indem man es rings umgeht, aber es gibt einen Ruhepunkt für den Betrachter und das ist hier die Ansicht der größten Breite.

Im wesentlichen hat sich darin auch bei den Großherzögen des Giovan Bologna in Florenz noch nichts geändert, obwohl sie mit strengerem tektonischem Gefühl jeweilen in die Mittelachse des Platzes gestellt sind und so vom Raum gleichmäßiger umspült werden. Die Figur erschließt sich in ruhigen Breitansichten, wobei die Gefahr der perspektivischen Verzerrung durch Erniedrigung des Sockels vermindert ist. Neu aber ist, wie durch die Orientierung der Denkmäler neben der Breitansicht auch die verkürzte Ansicht legitimiert ist. Der Künstler nimmt jetzt deutlich Bezug auf einen Beschauer, der den Reitern entgegenkommt.

So hatte es schon Michelangelo gehalten bei der Aufstellung des Marc Aurel auf dem Kapitol: in der Mitte des Platzes stehend, auf niedrigem Sockel, läßt sich die Figur zwar bequem von den Seiten fassen, wer aber auf der breiten Prachttreppe den kapitolinischen Hügel ersteigt, dem ist das Pferd mit der Stirnseite zugewendet. Und die Ansicht wirkt nicht zufällig, die spätantike Figur ist darauf eingerichtet. Soll man das nun schon barock nennen? Offenbar liegt hier der Anfang. Die ausgesprochene Tiefenwirkung des Platzes würde unter allen Umständen dahin drängen, die breite Ansicht des Reiters zugunsten der kurzen oder halbkurzen zu entwerten.

Den rein barocken Typus zeigt der Große Kurfürst Schlüters auf der Langen Brücke in Berlin. Er steht zwar rechtwinklig zur Gehbahn, aber hier ist es überhaupt nicht mehr möglich, dem Pferde von der Flanke her beizukommen. Die Erscheinung bleibt für jeden Standpunkt eine verkürzte und gerade darin liegt ihre Schönheit, daß sich für den Betrachter beim Gehen über die Brücke eine Fülle von Ansichten abwickeln, die alle gleichmäßig 117 bedeutungsvoll sind. Die Art der Verkürzung kompliziert sich durch die nahe Distanz. Man wollte es nicht anders: das verkürzte Bild ist reizvoller als das unverkürzte. In welcher Weise der Formenaufbau des Denkmals auf diese Erscheinungsweise eingestellt ist, braucht hier nicht im einzelnen erörtert zu werden, genug, was den Primitiven als ein notwendiges Übel erschien und was die Klassiker möglichst vermieden, die optische Formenverschiebung ist hier mit Bewußtsein als Kunstmittel aufgenommen worden.

Als ähnlichen Fall kann man die Gruppe der antiken Rossebändiger auf dem Quirinal nennen, die, mit einem Obelisken zusammengeordnet und (später) durch eine Schale zum Brunnen ergänzt, eines der charakteristischsten Bilder des barocken Rom darstellen. Die zwei Kolossalfiguren der ausschreitenden Jünglinge, über deren Verhältnis zu ihren Pferden wir uns hier nicht auszusprechen brauchen, gehen schräg nach vorn, von dem zentralen Obelisken aus, das heißt sie bilden unter sich einen stumpfen Winkel. Dieser Winkel öffnet sich gegen den Hauptzugang des Platzes und nun ist das stilgeschichtlich Wichtige, daß die Hauptformen in der Hauptansicht verkürzt erscheinen, was um so überraschender wirkt, als sie von Haus aus sehr bestimmte Frontflächen besitzen. Es ist alles getan, daß diese Frontalität nicht durchschlägt und das Bild nicht festgelegt wird.

Wie aber? Ist nicht schon der klassischen Kunst die Zentralkomposition mit diagonal zur Mitte stehenden Figuren durchaus geläufig? – Der große 118 Unterschied ist der, daß die quirinalischen Rossebändiger eben nicht zu einer Zentralkomposition zugehören, wo jede Figur einen eignen Standpunkt vom Beschauer verlangt, sondern daß sie als ein Bild zusammengesehen werden wollen.

Wie in der Architektur der reine, allseitig-sichtbare Zentralbau kein barockes Motiv ist, so sind es auch die rein zentrischen Gruppierungen in der Plastik nicht. Der Barock hat ein Interesse an ausgesprochener Orientierung, gerade weil er die Orientierung mit Gegenwirkungen teilweise wieder aufhebt. Um den Reiz der überwundenen Fläche zu gewinnen, muß doch erst eine Fläche da sein. Der Brunnen Berninis mit den vier Weltströmen sieht nicht gleichmäßig nach allen Himmelsrichtungen, sondern hat eine vordere und eine hintere Front, je zwei der Figuren sind unter sich zusammengenommen, so freilich, daß sie auch wieder um die Ecke herumgreifen. Flächiges und Nichtflächiges spielen zusammen.

In gleicher Weise hat Schlüter die Gefangenen am Sockel des Großen Kurfürsten behandelt. Es scheint, als ob sie gleichmäßig diagonal vom Sockelblock losgingen, in Wirklichkeit sind die vorderen und die hinteren unter sich verbunden, sogar im wörtlichen Sinne, mit Ketten nämlich. Das andere Schema ist das Renaissanceschema. So stehen die Figuren am Tugendbrunnen in Nürnberg oder am Herkulesbrunnen in Augsburg. Als italienisches Beispiel kann der bekannte »Schildkröten«-Brunnen des Landini in Rom gelten: die vier Knaben, die in den vier Achsen nach den (später zugefügten) Tieren der oberen Schale emporgreifen.

Die Orientierung kann mit ganz leisen Mitteln angegeben werden. Wenn bei zentrischer Anlage eines Brunnens ein Obelisk in der Mitte nur um ein weniges breit geschlagen ist, so ist sie schon da. Und ebenso kann bei einer Figurengruppe oder sogar bei einer einzelnen Figur die Behandlung beliebig den Effekt nach dieser oder jener Seite schieben.

Bernini: Die selige Albertona, Rom, S. Francesco a ripa

Das Umgekehrte tritt ein bei Flach- oder Wandkompositionen. Während der Barock die Zentralkomposition der Renaissance mit Fläche durchsetzt, um seine Tiefe wirksam zu machen, muß er natürlich innerhalb eines gegebenen Flächenmotivs für Tiefenwirkungen derart sorgen, daß der Eindruck der Fläche nicht aufkommen kann. Das ist schon bei der einzelnen Figur der Fall. Die liegende Beata Albertona des Bernini hält sich vollständig in einer Ebene parallel zur Wand, allein sie ist so zerklüftet in der Form, daß die Fläche unscheinbar geworden ist. Wie der Flächencharakter eines Wandgrabes aufgehoben wird, ist ebenfalls mit Berninischen Arbeiten 119 oben bereits belegt worden. Ein Prachtbeispiel größten Stils ist der barocke Wandbrunnen, wie wir ihn in Fontana Trevi haben. Gegeben ist eine haushohe Wand und davor ein tiefliegendes Bassin. Daß das Bassin bauchig auslädt, ist ein erstes Motiv, das von renaissancemäßiger Flächenschichtung abführt, das wesentliche aber liegt in jener Welt von Formen, die mit dem Wasser, von der Mitte der Wand her, nach allen Seiten vordrängen. Der Neptun in der Zentralnische hat sich von der Fläche schon völlig abgelöst und gehört mit zu dem strahlenförmig auseinandergehenden Formenschwall des Beckens. Die Hauptfiguren – die Seepferde – erscheinen verkürzt und zwar unter verschiedenem Winkel. Man soll nicht auf den Gedanken kommen, daß irgendwo eine Hauptansicht liege. Jede Ansicht ist ein Ganzes und reizt doch zu einem beständigen Wechseln des Standpunktes. Die Schönheit der Komposition liegt in ihrer Unerschöpflichkeit.

Rom, Fontana Trevi

Wenn man aber nach den Anfängen dieser Flächenzersetzung sich umsieht, so möchte der Hinweis auf den späten Michelangelo nicht unangebracht sein. Am Juliusgrab hat er den Moses so weit aus der Fläche 120 vorspringen lassen, daß man diese Figur nicht mehr als »Relief-Figur, sondern als mehrseitig sichtbare Freifigur, die nicht in einer Ebene aufgeht, auffassen muß.

Damit kommen wir auf das allgemeine Verhältnis von Figur und Nische. Die Primitiven behandeln es als ein schwankendes; bald ist die Figur in der Nische geborgen, bald tritt sie aus der Nische vor. Für die Klassiker ist es die Norm, alle Plastik in die Tiefe der Mauer zurückzulegen. Die Figur ist dann nichts als eben ein Stück lebendig gewordener Wand. Das ändert sich, wie gesagt, schon zuzeiten des Michelangelo und bei Bernini ist es bald selbstverständlich, daß die füllende Plastik aus der Nische vorquillt. So ist es z. B. gehalten bei den Einzelfiguren der Magdalena und des Hieronymus im Dom zu Siena und das Grab Alexanders VII., weit entfernt auf den Raum sich zu beschränken, der in die Wand eingetieft ist, bricht bis auf die Fluchtlinie der vorgestellten rahmenden Halbsäulen vor, die teilweise noch überschnitten werden. Natürlich sprechen dabei Gelüste nach dem Atektonischen mit, aber das Verlangen, von der Fläche loszukommen, ist doch nicht zu verkennen. So hat man gerade dieses Alexandergrab nicht ganz unrichtig als ein in eine Nische hineingeschobenes Freigrab bezeichnen können (Sobotka).

Bernini: Entzückung der hl. Theresia

Es gibt aber noch eine andere Art, die Ebene zu überwinden und das ist die Ausgestaltung der Nische zu einem realen Tiefraum, wie es bei der hl. Therese des Bernini geschehen ist. Hier ist der Grundriß ein ovaler und öffnet sich – wie eine aufgesprungene Feige – nach vorn, nicht in ganzer Breite, sondern so, daß seitliche Überschneidungen sich ergeben. Die Nische bildet ein Gehäuse, in dem die Figuren sich scheinbar frei regen können, und so beschränkt die Möglichkeiten sind, der Beschauer wird doch zum Anblick von verschiedenen Punkten her aufgefordert. Ebenso sind z. B. die Apostelnischen im Lateran behandelt. Für die Komposition der Hochaltäre war das Prinzip von unermeßlicher Bedeutung.

Von hier aus war es dann nur ein Schritt, und zwar ein kleiner, die plastischen Figuren hinter einer selbständigen Rahmenarchitektur als etwas Zurückgeschobenes, Fernes erscheinen zu lassen, mit eignem Licht, wie das schon bei der hl. Therese der Fall ist. Der leere Raum ist dann mit als Faktor in die Komposition aufgenommen. Eine Wirkung von dieser Art hatte Bernini bei seinem Konstantin (unterhalb der Scala regia im Vatikan) im Sinne: man sollte ihn von der Vorhalle von St. Peter her sehen, durch den Schlußbogen hindurch. Dieser Bogen ist aber jetzt zugemauert und so können wir nur auf der anderen Seite, bei einer geringwertigen Reiterfigur 121 Karls des Großen, uns von Berninis Absicht eine Vorstellung machenDas ähnliche Projekt mit einem Standbild Philipps IV. in der Vorhalle von S. Maria maggiore ist ebenfalls nicht realisiert worden. Vgl. Fraschetti, Bernini, p. 412.. Auch hier hat der Altarbau zugegriffen und gerade der nordische Barock enthält schöne Beispiele. Vergleiche den Hochaltar von Weltenburg.

Mit dem Klassizismus aber hat die Herrlichkeit rasch ein Ende. Der Klassizismus bringt die Linie und mit ihr die Fläche. Alle Erscheinung ist wieder vollkommen festgelegt. Überschneidungen und Tiefeneffekte gelten als eitles Trugwerk der Sinne, unvereinbar mit dem Ernste der »wahren« Kunst.

 


 


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