Heinrich Wölfflin
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
Heinrich Wölfflin

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Einleitung

Jan van Goyen: Flußlandschaft

1.
Die doppelte Wurzel des Stils

Ludwig Richter erzählt in seinen Lebenserinnerungen, wie er in Tivoli einmal als junger Mensch, zusammen mit zwei Kameraden, einen Ausschnitt der Landschaft zu malen unternahm, er und die andern fest entschlossen, von der Natur dabei nicht um Haaresbreite abzuweichen. Und obwohl nun das Vorbild das gleiche gewesen war und jeder mit gutem Talent an das sich gehalten hatte, was seine Augen sahen, kamen doch drei ganz verschiedene Bilder heraus, so verschieden unter sich wie eben die Persönlichkeiten der drei Maler. Woraus dann der Berichterstatter den Schluß zog, daß es ein objektives Sehen nicht gäbe, daß Form und Farbe je nach dem Temperament immer verschieden aufgefaßt werden würden.

Für den Kunsthistoriker hat diese Beobachtung nichts Überraschendes. Man rechnet längst damit, daß jeder Maler »mit seinem Blute« male. Alles Unterscheiden der einzelnen Meister und ihrer »Hand« beruht im letzten Grunde darauf, daß man solche Typen individueller Formgebung anerkennt. Bei gleicher Orientierung des Geschmackes (uns würden jene drei Tivolilandschaften zunächst wahrscheinlich ziemlich gleich, nämlich nazarenisch vorkommen) wird die Linie hier mehr eckigen, dort mehr rundlichen Charakter haben, hier mehr stockend und langsam, dort mehr strömend und drängend in der Bewegung empfunden sein. Und wie die Proportionen bald 2 mehr ins Schlanke, bald mehr ins Breite fallen, so stellt sich die körperliche Modellierung dem einen vielleicht voll und saftig dar, während dieselben Vorsprünge und Eintiefungen von andern zurückhaltender, mit viel mehr Knappheit gesehen werden. Und so ist es mit dem Licht und mit der Farbe. Die redlichste Absicht, genau zu beobachten, kann nicht verhindern, daß eine Farbe das eine Mal mehr nach der warmen Seite hin, das andere Mal mehr nach der kalten aufgefaßt wird, daß ein Schatten bald weicher, bald härter, ein Lichtgang bald schleichend, bald mehr lebhaft und springend erscheint.

Botticelli: Venus (Ausschnitt)

       

Lorenzo di Credi: Venus

Läßt man die Verpflichtung auf ein gemeinsames Vorbild der Natur fallen, so treten diese individuellen Stile natürlich noch deutlicher auseinander. Botticelli und Lorenzo di Credi sind zeit- und stammverwandte Künstler, beides Florentiner des späteren Quattrocento, aber wenn Botticelli einen weiblichen Körper zeichnet, so ist es nach Gewächs und Formenauffassung etwas, das nur ihm eigentümlich ist und was von jedem Frauenakt des Lorenzo sich so grundsätzlich und unverwechselbar unterscheidet wie eine Eiche von einer Linde. In Botticellis ungestümer Linienführung gewinnt jede Form eine eigentümliche Verve und Aktivität, für den bedächtig modellierenden Lorenzo erschöpft sich der Anblick wesentlich im Eindruck der ruhenden Erscheinung. Nichts lehrreicher als den ähnlich gebogenen Arm hier und dort zu vergleichen. Die Schärfe des Ellenbogens, der zügige Strich des Unterarms und dann wie die Finger radiant über der Brust auseinandergehen, jede Linie geladen mit Energie, das ist Botticelli; Credi wirkt lahmer dagegen. Sehr überzeugend modelliert, das heißt im Volumen empfunden, besitzt seine Form doch nicht die Stoßkraft der Botticellischen Kontur. Das ist ein Temperamentsunterschied, und dieser Unterschied geht 3 durch, gleichgültig ob man das Ganze vergleicht oder die Teile. In der Zeichnung eines bloßen Nasenflügels müßte man schon das Wesentliche des Stilcharakters erkennen.

Bei Credi posiert eine bestimmte Person, was bei Botticelli nicht der Fall ist, trotzdem ist es nicht schwer zu erkennen, wie die Formauffassung beiderseits mit einer bestimmten Vorstellung von schöner Gestalt und schöner Bewegung zusammenhängt, und wenn Botticelli im schlanken Emporführen der Figur sich ganz seinem Formideal überläßt, so spürt man doch auch bei Credi, daß der besondere Fall von Wirklichkeit ihm kein Hindernis gewesen ist, in Tritt und Formenmaß seine Natur zum Ausdruck zu bringen.

Eine ganz besonders reiche Ausbeute bietet dem Formpsychologen das stilisierte Gefält in diesem Zeitalter. Mit verhältnismäßig wenigen Elementen ist hier eine ungeheure Mannigfaltigkeit stark differenzierten individuellen Ausdrucks erzeugt worden. Hunderte von Malern haben die sitzende Maria dargestellt mit dem zwischen den Knien sich einsackenden Gefält und es ist jedesmal eine Form gefunden worden, hinter der ein ganzer Mensch steckt. Allein auch in dem malerischen Stil holländischer Kabinettsbilder des 17. Jahrhunderts, nicht nur in den großen Linien italienischer Renaissancekunst hat die Draperie noch die gleiche psychologische Bedeutung.

Terborch hat bekanntlich den Atlas besonders gern und gut gemalt. Man meint, der vornehme Stoff könne gar nicht anders aussehen als wie er hier erscheint, und doch ist es nur die Vornehmheit des Malers, die in seinen Formen zu uns spricht, und schon Metsu hat das Phänomen dieser Faltenbildungen wesentlich anders gesehen: das Gewebe ist mehr nach Seite des Schweren empfunden, des Schwerfallenden und Schwerfaltenden, der Grat hat weniger Feinheit, es fehlt der einzelnen Faltenkurve die Eleganz und der Faltenfolge die angenehme Lässigkeit, das Brio ist entwichen. Es ist noch immer Atlas und von einem Meister gemalt, aber neben Terborch gesehen, wirkt der Stoff Metsus beinahe dumpf. 4

Terborch: Häusliches Konzert

Und nun ist das in unserm Bild nicht etwa bloß der Zufall einer schlechten Laune: das Schauspiel wiederholt sich, und so sehr ist es typisch, daß man mit den gleichen Begriffen fortfahren kann, wenn man zur Analyse von Figur und Figurenanordnung weitergeht. Der entblößte Arm jener musizierenden Dame bei Terborch – wie fein ist er empfunden in Gelenk und Bewegung, und wie viel schwerer wirkt die Form bei Metsu, nicht weil sie schlechter gezeichnet wäre, sondern weil sie anders gefühlt ist. Die Gruppe dort ist leicht gebaut und die Figuren behalten viel Luft, Metsu gibt das massiger Zusammengedrängte. Eine Häufung wie den zusammengeschobenen dicken Tischteppich mit dem Schreibzeug darauf würde man bei Terborch kaum finden.

Metsu: Die Musikstunde

Und so kann man weitergehn. Und wenn von der schwebenden Leichtigkeit der malerischen Tonstufen bei Terborch in unserm Klischee nichts 6 mehr zu spüren ist, so spricht der Formenrhythmus des Ganzen doch noch eine vernehmliche Sprache und es wird keiner besonderen Überredung bedürfen, um in der Art, wie die Teile sich gegenseitig in Spannung halten, eine Kunst anzuerkennen, die der der Faltenzeichnung innerlich verwandt ist.

Das Problem bleibt identisch bei den Bäumen der Landschafter: ein Ast, das Fragment eines Astes – und man kann sagen, ob Hobbema oder Ruysdael der Autor ist, nicht nach einzelnen äußerlichen Merkmalen der »Manier«, sondern weil alles Wesentliche der Formempfindung schon im kleinsten Bruchteil vorhanden ist. Die Bäume Hobbemas, auch wo er dieselbe Spezies malt wie Ruysdael, werden immer leichter erscheinen, sie sind gelockerter im Umriß und stehen lichter im Raum. Ruysdaels ernstere Art belastet den Gang der Linie mit einer eigentümlich wuchtigen Schwere, er liebt das langsame Steigen und Fallen der Silhouette, er hält die Laubmassen kompakter zusammen und es ist überaus charakteristisch, wie er die einzelnen Formen nicht voneinander loskommen läßt in seinen Bildern, sondern ein zähes Ineinander gibt. Ein Stamm silhouettiert sich selten frei gegen den Himmel. Viel schwer wirkende Horizonthinterschneidung und dumpfe Berührung von Baum und Bergumriß. Wo Hobbema umgekehrt die anmutig springende Linie liebt, die aufgelichtete Masse, das geteilte Terrain, die lieblichen Ausschnitte und Durchblicke: jeder Teil wieder ein Bildchen im Bild.

Feiner und feiner werdend muß man in dieser Art den Zusammenhang des Einzelnen und des Ganzen bloßzulegen versuchen, um zur Bestimmung individueller Stiltypen zu gelangen, nicht nur in der zeichnerischen Form, auch in der Lichtführung und Farbe. Man wird begreifen, wie eine bestimmte Formauffassung sich notwendig mit einer bestimmten Farbigkeit verbindet und wird allmählich den ganzen Komplex persönlicher Stilmerkmale als Ausdruck eines bestimmten Temperamentes verstehen lernen. Für die beschreibende Kunstgeschichte ist hier noch sehr viel zu tun.

Nun zerfällt aber der Verlauf der Kunstentwicklung nicht in lauter einzelne Punkte: die Individuen ordnen sich zu größern Gruppen. Botticelli und Lorenzo di Credi, verschieden unter sich, sind sich doch ähnlich als Florentiner gegenüber jedem Venezianer, und Hobbema und Ruysdael, so sehr sie auseinandergehen, werden sofort gleichartig, sobald man ihnen, den Holländern, einen Flamen wie Rubens gegenüberstellt. Das heißt: neben den persönlichen Stil tritt der Stil der Schule, des Landes, der Rasse.

Hobbema: Landschaft mit Mühle

Lassen wir holländische Art durch den Kontrast flämischer Kunst deutlich 7 werden! Die flache Wiesenlandschaft bei Antwerpen bietet an sich kein anderes Bild als die holländischen Weidegründe, denen die heimischen Maler den Ausdruck des ruhigsten Ausgebreitetseins gegeben haben. Wenn aber Rubens diese Motive behandelt, so scheint der Gegenstand ein ganz anderer zu sein: das Erdreich wirft sich in schwungvollen Wellen, Baumstämme winden sich leidenschaftlich empor und ihre Laubkronen sind so sehr als geschlossene Massen behandelt, daß Ruysdael und Hobbema jetzt gleichmäßig als äußerst feine Silhouettierer daneben erscheinen. Holländische Subtilität neben flämischer Massigkeit. Verglichen mit der Bewegungsenergie der Rubensschen Zeichnung wirkt alle holländische Form still, gleichgültig ob es sich um den Anstieg eines Hügels handelt oder um die Art, wie ein Blumenblatt sich wölbt. Kein holländischer Baumstamm hat das Pathos der flämischen Bewegung und selbst die mächtigen Eichen Ruysdaels erscheinen noch feingliedrig neben den Bäumen des Rubens. Rubens geht mit dem Horizont hoch hinauf und macht das Bild schwer, indem er es mit viel Materie belastet, bei den Holländern ist das Verhältnis von Himmel und Erde grundsätzlich anders: der Horizont liegt tief und es kann vorkommen, daß vier Fünftel des Bildes der Luft überlassen sind.

Rubens: Landschaft mit Vieh

Das sind Beobachtungen, die natürlich erst Wert gewinnen, wenn sie sich verallgemeinern lassen. Man muß die Feinheit holländischer Landschaften zusammenhalten mit verwandten Phänomenen und bis in das Gebiet der Tektonik hinein verfolgen. Die Schichtung einer Backsteinmauer oder das Flechtwerk eines Korbes ist in Holland ebenso eigentümlich empfunden worden wie das Laubwerk der Bäume. Es ist charakteristisch, daß nicht nur ein Feinmaler wie Dov, sondern auch ein Erzähler wie Jan Steen mitten in der ausgelassensten Szene für die reinliche Zeichnung eines Korbgeflechtes Zeit hat. Und das Liniennetz der weiß verstrichenen Fugen eines Backsteinbaues, die Konfiguration sauber gesetzter Pflastersteine, alle diese kleinteiligen Muster sind von den Architekturmalern recht eigentlich genossen worden. Von der wirklichen Architektur Hollands aber wird man sagen können, daß der Stein eine besondere spezifische Leichtigkeit gewonnen zu haben scheine. Ein typischer Bau wie das Amsterdamer Rathaus vermeidet alles, was im Sinne flämischer Phantasie die Erscheinung der großen Steinmasse ins Gewichtige drängen könnte.

Man stößt hier überall auf Grundlagen nationalen Empfindens, wo der Formgeschmack sich unmittelbar berührt mit geistig-sittlichen Momenten, und die Kunstgeschichte hat noch dankbare Aufgaben vor sich, sobald sie 8 diese Frage nationaler Formpsychologie systematisch aufnehmen will. Alles hängt zusammen. Die stillen Situationen der holländischen Figurenbilder bilden die Grundlage auch für Erscheinungen der architektonischen Welt. Zieht man aber Rembrandt heran und seine Empfindung für das Leben des Lichtes, das, jeder festen Gestalt sich entziehend, geheimnisvoll in unbegrenzten Räumen sich regt, so möchte man sich leicht verleiten lassen, die Betrachtung zu einer Analyse germanischer Art im Gegensatz zu romanischer überhaupt zu erweitern.

Allein schon gabelt sich das Problem. Wenn im 17. Jahrhundert holländisches und flämisches Wesen sehr deutlich sich voneinander scheidet, so kann man doch nicht ohne weiteres eine einzelne Kunstperiode zu generellen Urteilen über den nationalen Typus verwerten. Verschiedne Zeiten bringen verschiedne Kunst hervor, Zeitcharakter kreuzt sich mit Volkscharakter. Es muß erst festgestellt werden, wieviel ein Stil an durchgehenden Zügen enthält, bevor man ihn als nationalen Stil im besonderen Sinne ansprechen kann. So dominierend Rubens innerhalb seiner Landschaft erscheint und so viele Kräfte nach seinem Pole orientiert sind, man kann doch nicht zugeben, daß er in gleichem Maße Ausdruck »bleibenden« Volkscharakters gewesen sei, wie man das von der zeitgenössischen holländischen Kunst sagen kann. Der Zeiteinschlag spricht bei ihm stärker mit. Eine besondere 9 Kulturströmung, die Empfindung des romanischen Barock bedingt stark seinen Stil und so empfangen wir von ihm mehr als von den »zeitlosen« Holländern die Aufforderung, uns von dem, was man als Zeitstil bezeichnen muß, eine Vorstellung zu machen.

Man gewinnt diese Vorstellung am besten in Italien, weil hier die Entwicklung unabhängig von außen sich vollzogen hat und das Durchgehende des italienischen Charakters in allem Wechsel sehr wohl erkennbar bleibt. Der Stilwandel von der Renaissance zum Barock ist ein rechtes Schulbeispiel, wie ein neuer Zeitgeist sich eine neue Form erzwingt.

Hier kommen wir auf vielbegangene Wege. Nichts liegt der Kunsthistorie näher als Stil- mit Kulturepochen parallel zu setzen. Die Säulen und Bogen der Hochrenaissance reden so vernehmlich von dem Geist der Zeit wie die Figuren Raffaels und eine Barockarchitektur gibt die Vorstellung von dem Wandel der Ideale nicht minder deutlich, als wenn man die breit ausladende Gebärde Guido Renis mit der edlen Getragenheit und Größe der Sixtinischen Madonna vergleicht.

Es sei erlaubt, diesmal ausschließlich auf architektonischem Boden zu bleiben. Der Zentralbegriff der italienischen Renaissance ist der Begriff der vollkommenen Proportion. Wie in der Figur, so hat diese Zeit im Bauwerk versucht, das Bild der in sich ruhenden Vollkommenheit zu gewinnen. Jede 10 Form zu abgeschlossener Existenz herausgebildet, frei in den Gelenken; lauter selbständig atmende Teile. Die Säule, der Flächenausschnitt an der Wand, das Volumen eines einzelnen Raumgliedes wie des Raumganzen, die Massen des Aufbaues insgesamt – es sind lauter Gestaltungen, die den Menschen ein in sich befriedigtes Dasein finden lassen, über menschliches Maß hinausgehend, aber der Phantasie noch immer zugänglich. Mit unendlichem Wohlgefühl empfindet der Sinn diese Kunst als Bild eines erhöhten freien Daseins, an dem ihm teilzunehmen vergönnt ist.

Der Barock bedient sich desselben Formensystems, aber er gibt nicht mehr das Vollkommene und Vollendete, sondern das Bewegte und Werdende, nicht das Begrenzte und Faßbare, sondern das Unbegrenzte und Kolossale. Das Ideal der schönen Proportion verschwindet, das Interesse hängt sich nicht an das Sein, sondern an das Geschehen. Die Massen kommen in Bewegung, schwere, dumpfgegliederte Massen. Die Architektur hört auf – was sie in der Renaissance im höchsten Grade gewesen ist – eine Gelenkkunst zu sein und die einst zum Eindruck höchster Freiheit getriebene Durchgliederung des Baukörpers weicht einer Zusammenballung von Teilen ohne eigentliche Selbständigkeit.

Diese Analyse ist gewiß nicht erschöpfend, aber sie kann genügen, um zu zeigen, in welcher Weise Stile Zeitausdruck sind. Es ist deutlich ein neues Lebensideal, das aus der Kunst des italienischen Barock spricht und wenn wir die Architektur vorangestellt haben, weil sie die eindrücklichste Verkörperung dieses Ideals gibt, so sagen die zeitgenössischen Maler und Bildhauer in ihrer Sprache doch dasselbe und wer die psychischen Grundlagen des Stilwandels auf Begriffe bringen will, wird hier wahrscheinlich rascher das entscheidende Wort erfahren als bei den Architekten. Das Verhältnis des Individuums zur Welt hat sich verändert, ein neues Gefühlsreich hat sich aufgetan, die Seele drängt nach Auflösung in der Erhabenheit des Übergroßen und Unendlichen. »Affekt und Bewegung um jeden Preis«, so gibt der Cicerone in kürzester Formel die Charakteristik dieser Kunst. –

Wir haben mit der Skizzierung der drei Beispiele von individuellem Stil, von Volksstil und von Zeitstil die Ziele einer Kunstgeschichte illustriert, die den Stil in erster Linie als Ausdruck faßt, als Ausdruck einer Zeit- und Volksstimmung wie als Ausdruck eines persönlichen Temperaments. Es ist offenbar, daß damit die künstlerische Qualität der Hervorbringung nicht angerührt ist: das Temperament macht wohl kein Kunstwerk, aber es ist das, was man den stofflichen Teil der Stile nennen kann, in dem weiten Sinne, 11 daß auch das besondere Schönheitsideal (des Einzelnen wie einer Gesamtheit) darunter befaßt wird. Die kunsthistorischen Arbeiten dieser Art sind noch weit entfernt von dem Grad der Vollendung, den sie haben könnten, aber die Aufgabe ist lockend und dankbar.

Künstler freilich sind für historische Stilfragen nicht leicht zu interessieren. Sie nehmen das Werk ausschließlich von seiten der Qualität: ist es gut? ist es in sich geschlossen? ist die Natur zu einer starken und klaren Darstellung gekommen? Alles andere ist mehr oder weniger gleichgültig. Man lese, wie Hans von Marées von sich berichtet, daß er immer mehr lerne, von Schulen und Persönlichkeiten abzusehen, um nur die Lösung der künstlerischen Aufgabe im Auge zu behalten, die im letzten Grunde dieselbe sei für Michelangelo wie für Bartholomäus van der Helst. Kunsthistoriker, die umgekehrt von der Verschiedenheit der Erscheinungen ausgehen, haben sich den Spott der Künstler immer wieder gefallen lassen müssen: sie machten die Nebensache zur Hauptsache, sie hielten sich, indem sie die Kunst eben nur als Ausdruck verstehen wollten, gerade an die nichtkünstlerischen Seiten im Menschen. Man könne das Temperament eines Künstlers analysieren und habe damit doch nicht erklärt, wieso ein Kunstwerk zustande gekommen sei, und der Nachweis aller Verschiedenheiten von Raffael und Rembrandt sei doch nur eine Umgehung des Hauptproblems, denn es käme nicht darauf an zu zeigen, worin sich die beiden unterschieden, sondern wie beide auf verschiedenem Wege das gleiche hervorbrachten, nämlich große Kunst.

Es wird hier kaum nötig sein, für die Kunsthistoriker einzustehen und ihre Arbeit vor einem zweifelnden Publikum zu verteidigen. So natürlich für den Künstler der Standpunkt ist, das allgemein Gesetzliche in den Vordergrund zu rücken, so wenig wird man dem historischen Betrachter das Interesse an der Verschiedenartigkeit der Form verargen dürfen, unter der die Kunst auftritt und es bleibt ein unverächtliches Problem, die Bedingungen aufzudecken, die als stofflicher Einschlag – man nenne es Temperament oder Zeitgeist oder Rassencharakter – den Stil von Individuen, Epochen und Völkern formen.

Allein mit einer Analyse auf Qualität und auf Ausdruck hin ist der Tatbestand überhaupt noch nicht erschöpft. Es kommt ein drittes hinzu – und damit sind wir zu dem springenden Punkt dieser Untersuchung gelangt –: die Darstellungsart als solche. Jeder Künstler findet bestimmte »optische« Möglichkeiten vor, an die er gebunden ist. Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich. Das Sehen an sich hat seine Geschichte und die Aufdeckung 12 dieser »optischen Schichten« muß als die elementarste Aufgabe der Kunstgeschichte betrachtet werden.

Versuchen wir durch Beispiele uns deutlich zu machen. – Es gibt kaum zwei Künstler, die, obwohl Zeitgenossen, ihrem Temperament nach weiter auseinanderstehen als der italienische Barockmeister Bernini und der holländische Maler Terborch. Unvergleichbar wie die Menschen, sind denn auch ihre Werke. Vor den stürmischen Figuren Berninis wird niemand an die stillen feinen Bildchen Terborchs denken. Und doch: wer etwa Zeichnungen der beiden Meister zusammenhielte und das Generelle der Mache vergliche, müßte zugeben, daß darin eine vollkommene Verwandtschaft vorliegt. Es ist beidemal jene Manier eines Sehens in Flecken statt in Linien, etwas, was wir malerisch nennen und was ein unterscheidendes Merkmal des 17. Jahrhunderts gegenüber dem 16. Jahrhundert ist. Wir stoßen also hier auf eine Art von Sehen, an der die heterogensten Künstler teilnehmen können, weil sie zu einem bestimmten Ausdruck offenbar nicht verpflichtet. Gewiß, ein Künstler wie Bernini hat des malerischen Stils bedurft, um das zu sagen, was er zu sagen hatte, und es ist absurd zu fragen, wie er sich im Linienstil des 16. Jahrhunderts ausgedrückt haben würde. Aber offenbar handelt es sich hier um wesentlich andere Begriffe, als wenn man etwa von dem Schwung barocker Massenbehandlung im Gegensatz zu der Ruhe und Gehaltenheit der Hochrenaissance spricht. Größere oder geringere Bewegtheit sind Ausdrucksmomente, die mit einheitlichem Maßstab gemessen werden können: malerisch und linear aber sind wie zwei verschiedene Sprachen, in denen man alles mögliche sagen kann, wenn auch jede nach einer gewissen Seite hin ihre Stärke haben und aus einer besonderen Orientierung zur Sichtbarkeit hervorgegangen sein mag.

Ein anderes Beispiel. Man kann die Linie Raffaels auf Ausdruck hin analysieren, ihren großen edlen Gang beschreiben gegenüber der kleineren Geschäftigkeit des quattrocentistischen Konturs; man kann in dem Linienzug der Venus des Giorgione die Nachbarschaft der Sixtinischen Madonna empfinden und, auf die Plastik übergreifend, etwa in Sansovinos jugendlichem Bacchus mit der hochgehobenen Schale die neue, langhinlaufende Linie aufweisen, und niemand wird widersprechen, wenn man in dieser großen Formgebung den Hauch der neuen Empfindung des 16. Jahrhunderts verspürt: es ist kein äußerliches Historisieren, Form und Geist in dieser Art zusammenzubinden. Allein das Phänomen hat noch eine andere Seite. Wer die große Linie erklärt, hat noch nicht die Linie an sich erklärt. Es ist 13 keineswegs selbstverständlich, daß Raffael und Giorgione und Sansovino Ausdruck und Schönheit der Form in der Linie suchten. Wieder aber handelt es sich um internationale Zusammenhänge. Die gleiche Epoche ist auch für den Norden die Epoche der Linie und zwei Künstler, die gewiß als Persönlichkeiten wenig Verwandtschaft haben, Michelangelo und der jüngere Hans Holbein, sind sich darin gleich, daß sie den Typus der ganz strengen Linearzeichnung vertreten. Mit andern Worten: es läßt sich in der Stilgeschichte eine untere Schicht von Begriffen aufdecken, die sich auf die Darstellung als solche beziehen, und es läßt sich eine Entwicklungsgeschichte des abendländischen Sehens geben, für die die Verschiedenheit des individuellen und nationalen Charakters von keiner großen Bedeutung mehr ist. Diese innere optische Entwicklung herauszuholen, ist freilich nicht ganz leicht, deswegen nicht, weil die darstellerischen Möglichkeiten eines Zeitalters nie in abstrakter Reinheit sich zeigen, sondern, wie natürlich, immer an einen gewissen Ausdrucksgehalt gebunden sind, und der Betrachter ist dann meistens geneigt, im Ausdruck die Erklärung für die ganze Erscheinung zu suchen.

Wenn Raffael seine Bildarchitekturen aufführt und mit strenger Gesetzlichkeit den Eindruck von Gehaltenheit und Würde in unerhörtem Maße gewinnt, so kann man auch dafür in seinen besonderen Aufgaben den Anstoß und das Ziel finden und doch ist die »Tektonik« Raffaels nicht ganz auf Rechnung einer Stimmungsabsicht zu setzen, es handelt sich vielmehr um eine Darstellungsform seiner Zeit, die er nur in besonderer Weise ausgebildet und seinen Zwecken dienstbar gemacht hat. An ähnlich feierlichen Ambitionen hat es auch später nicht gefehlt, ohne daß man auf seine Schemata hätte zurückgreifen können. Der französische Klassizismus des 17. Jahrhunderts ruht auf einer anderen »optischen« Grundlage und ist deshalb bei ähnlicher Absicht notwendig zu andern Resultaten gelangt. Wer alles nur auf Ausdruck bezieht, macht die falsche Voraussetzung, daß jeder Stimmung immer dieselben Ausdrucksmittel zur Verfügung gestanden hätten.

Und wenn man von den Fortschritten im Imitativen spricht, von dem, was ein Zeitalter an neuen Naturbeobachtungen gebracht hat, so ist auch das ein Stoffliches, das an primär gegebene Darstellungsformen gebunden ist. Die Beobachtungen des 17. Jahrhunderts werden nicht einfach in das Gewebe der cinquecentistischen Kunst eingetragen, die Gesamtunterlage ist eine andere geworden. Es ist ein Fehler, daß die Kunstgeschichtsschreibung so unbedenklich mit dem stumpfen Begriff der Naturnachahmung operiert: als ob es sich dabei um einen gleichartigen Prozeß zunehmender 14 Vervollkommnung handelte. Alle Steigerung in der »Hingabe an die Natur« erklärt nicht die Art, wie sich eine Landschaft des Ruysdael von einer Landschaft des Patenier unterscheidet, und die »fortgeschrittene Bewältigung des Wirklichen« macht den Gegensatz zwischen einem Kopf des Frans Hals und einem Kopf Albrecht Dürers noch nicht verständlich. Der stofflich-imitative Gehalt mag an sich noch so verschieden sein, das Entscheidende bleibt, daß der Auffassung da und dort ein anderes »optisches« Schema zugrunde liegt, ein Schema, das aber viel tiefer verankert ist als in den bloß imitativen Entwicklungsproblemen: es bedingt die Erscheinung der Architektur ebensogut wie die der darstellenden Kunst und eine römische Barockfassade hat denselben optischen Nenner wie eine Landschaft des van Goyen.

 

2.
Die allgemeinsten Darstellungsformen

Mit der Erörterung dieser allgemeinsten Darstellungsformen beschäftigt sich unsere Schrift. Sie analysiert nicht die Schönheit Lionardos oder Dürers, wohl aber das Element, in dem diese Schönheit Gestalt gewonnen hat. Sie analysiert nicht die Naturdarstellung nach ihrem imitativen Gehalt und wie sich etwa der Naturalismus des 16. Jahrhunderts unterscheidet von dem des 17., wohl aber die Art der Auffassung, die den darstellenden Künsten in den verschiedenen Jahrhunderten zugrunde liegt.

Auf dem Gebiet der neueren Kunst wollen wir versuchen, diese Grundformen herauszusondern. Man bezeichnet die Folge der Perioden mit den Namen Frührenaissance – Hochrenaissance – Barock, Namen, die wenig besagen und in ihrer Anwendung auf Süden und Norden notwendig zu Mißverständnissen führen müssen, die aber kaum mehr zu verdrängen sind. Unglücklicherweise spielt noch die Bildanalogie: Knospe – Blüte – Verfall eine irreführende Nebenrolle. Wenn zwischen 15. und 16. Jahrhundert in der Tat ein qualitativer Unterschied besteht, indem das 15. Jahrhundert sich ganz allmählich erst die Wirkungseinsichten hat erarbeiten müssen, über die das 16. frei verfügt, so steht doch die (klassische) Kunst des Cinquecento und die (barocke) Kunst des Seicento dem Werte nach auf einer Linie. Das Wort klassisch bezeichnet hier kein Werturteil, denn es gibt auch eine Klassizität des Barock. Der Barock, oder sagen wir die moderne Kunst, ist weder ein Niedergang noch eine Höherführung der klassischen, sondern ist eine generell andere Kunst. Die abendländische Entwicklung der neuen Zeit läßt sich nicht auf das Schema einer einfachen Kurve mit Anstieg, Höhe und Abstieg bringen, sie hat zwei Höhepunkte. Man mag seine Sympathien dem 15 einen oder dem andern zuwenden: jedenfalls muß man sich bewußt sein, dabei willkürlich zu urteilen, wie es willkürlich ist, zu sagen, der Rosenstrauch erlebe seine Höhe in der Bildung der Blüte und der Apfelbaum in der Bildung der Frucht.

Im Interesse der Einfachheit müssen wir die Freiheit in Anspruch nehmen, vom 16. und 17. Jahrhundert als Stileinheiten sprechen zu dürfen, trotzdem diese Zeitabschnitte keine homogene Produktion bedeuten und namentlich die Züge der seicentistischen Physiognomie schon lang vor dem Jahre 1600 sich zu bilden begonnen hatten, wie sie andrerseits noch weithin das Aussehen des 18. Jahrhunderts bedingen. Unsere Absicht geht darauf, Typus mit Typus zu vergleichen, das Fertige mit dem Fertigen. Natürlich gibt es im strengen Sinne kein »Fertiges«, alles Geschichtliche ist einer beständigen Wandlung unterworfen, aber man muß sich entschließen, die Verschiedenheiten an einer fruchtbaren Stelle festzuhalten und als Kontraste gegeneinander sprechen zu lassen, wenn einem nicht die ganze Entwicklung zwischen den Fingern verlaufen soll. Die Vorstufen der Hochrenaissance dürfen nicht ignoriert werden, aber sie stellen eine altertümliche Kunst dar, eine Kunst der Primitiven, für die eine sichere Bildform noch nicht existiert. Die einzelnen Übergänge aber darzulegen, die vom Stil des 16. Jahrhunderts zum Stil des 17. führen, muß der speziellen historischen Schilderung vorbehalten bleiben, die freilich ihrer Aufgabe auch erst gerecht werden kann, wenn sie die entscheidenden Begriffe in der Hand hat.

Irren wir uns nicht, so läßt sich die Entwicklung in provisorischer Formulierung auf folgende fünf Begriffspaare bringen.

1. Die Entwicklung vom Linearen zum Malerischen, das heißt die Ausbildung der Linie als Blickbahn und Führerin des Auges und die allmähliche Entwertung der Linie. Allgemeiner gesagt: die Begreifung der Körper nach ihrem tastbaren Charakter – in Umriß und Flächen – einerseits und andrerseits eine Auffassung, die dem bloßen optischen Schein sich zu überlassen imstande ist und auf die »greifbare« Zeichnung verzichten kann. Dort liegt der Akzent auf den Grenzen der Dinge, hier spielt die Erscheinung ins Unbegrenzte hinüber. Das plastische und konturierende Sehen isoliert die Dinge, für das malerisch sehende Auge schließen sie sich zusammen. In einem Fall liegt das Interesse mehr in der Begreifung der einzelnen körperlichen Objekte als fester, faßbarer Werte, im andern Fall mehr darin, die Sichtbarkeit in ihrer Gesamtheit als einen schwebenden Schein aufzufassen.

2. Die Entwicklung vom Flächenhaften zum Tiefenhaften. Die klassische 16 Kunst bringt die Teile eines Formganzen zu flächiger Schichtung, die barocke betont das Hintereinander. Die Fläche ist das Element der Linie, flächenhaftes Nebeneinander die Form der größten Schaubarkeit; mit der Entwertung des Konturs kommt die Entwertung der Fläche und das Auge bindet die Dinge wesentlich im Sinne des Vor- und Rückwärts. Das ist kein qualitativer Unterschied: mit einer höhern Fähigkeit, räumliche Tiefe darzustellen, hat diese Neuerung direkt nichts zu tun, sie bedeutet vielmehr eine grundsätzlich andere Art der Darstellung, wie denn auch der »Flächenstil« in unserem Sinne nicht der Stil der primitiven Kunst ist, sondern erst im Moment einer völligen Beherrschung der Verkürzung und des Raumeindrucks erscheint.

3. Die Entwicklung von der geschlossenen zur offenen Form. Jedes Kunstwerk muß ein geschlossenes Ganzes sein und es ist ein Mangel, wenn man findet, es sei nicht in sich begrenzt. Allein die Interpretation dieser Forderung ist eine so verschiedene gewesen im 16. und 17. Jahrhundert, daß man gegenüber der aufgelösten Form des Barock die klassische Fügung als die Kunst der geschlossenen Form überhaupt bezeichnen kann. Die Lockerung der Regel, die Entspannung der tektonischen Strenge oder wie immer man den Vorgang bezeichnen mag, bedeutet nicht eine bloße Reizsteigerung, sondern ist ein konsequent durchgeführter, neuer Darstellungsmodus und darum ist auch dieses Motiv unter die Grundformen der Darstellung aufzunehmen.

4. Die Entwicklung vom Vielheitlichen zum Einheitlichen. In dem System einer klassischen Fügung behaupten die einzelnen Teile, so fest sie dem Ganzen eingebunden sind, doch immer noch ein Selbständiges. Es ist nicht die herrenlose Selbständigkeit der primitiven Kunst: das Einzelne ist bedingt vom Ganzen und doch hat es nicht aufgehört, ein Eigenes zu sein. Für den Betrachter setzt das ein Artikulieren voraus, ein Fortschreiten von Glied zu Glied, das eine sehr verschiedene Operation ist gegenüber der Auffassung im ganzen, wie sie das 17. Jahrhundert anwendet und fordert. In beiden Stilen handelt es sich um eine Einheit (im Gegensatz zu der vorklassischen Zeit, die den Begriff in seinem eigentlichen Sinn noch nicht verstand), allein das eine Mal ist die Einheit erreicht durch eine Harmonie freier Teile, das andere Mal durch ein Zusammenziehen der Glieder zu einem Motiv oder durch Unterordnung der übrigen Elemente unter ein unbedingt führendes.

5. Die absolute und die relative Klarheit des Gegenständlichen. Es ist ein Gegensatz, der sich zunächst berührt mit dem Gegensatz von linear und 17 malerisch: die Darstellung der Dinge, wie sie sind, einzeln genommen und dem plastischen Tastgefühl zugänglich, und die Darstellung der Dinge, wie sie erscheinen, im ganzen gesehen und mehr nach ihren nichtplastischen Qualitäten. Allein es ist etwas Besonderes, daß die klassische Zeit ein Ideal vollständiger Klarheit ausbildete, das das 15. Jahrhundert nur unbestimmt geahnt hatte, das 17. aber freiwillig preisgab. Nicht daß man unklar geworden wäre, was immer ein widriger Eindruck ist, allein die Klarheit des Motivs ist nicht mehr Selbstzweck der Darstellung; es braucht nicht mehr die Form in ihrer Vollständigkeit vor dem Auge ausgebreitet zu werden, es genügt, die wesentlichen Anhaltspunkte gegeben zu haben. Komposition, Licht und Farbe stehen nicht mehr unbedingt im Dienste der Formaufklärung, sondern führen ihr eigenes Leben. Es gibt Fälle, wo eine solche teilweise Verdunkelung der absoluten Klarheit im Sinn bloßer Reizsteigerung verwendet worden ist, allein als große, alles umfassende Darstellungsform tritt die »relative« Klarheit in dem Moment in die Kunstgeschichte ein, wo man die Wirklichkeit auf eine generell andere Erscheinung hin ansieht. Auch hier ist es nicht ein Qualitätsunterschied, wenn der Barock von den Idealen Dürers und Raffaels abfiel, sondern eben eine andere Orientierung zur Welt.

 

3.
Imitation und Dekoration

Die Darstellungsformen, die hier beschrieben worden sind, bedeuten etwas von so allgemeiner Art, daß auch weit auseinanderliegende Naturen wie Terborch und Bernini – um das schon gebrauchte Beispiel zu wiederholen – unter einem und demselben Typus Platz finden. Die Stilgemeinsamkeit dieser Künstler beruht auf dem, was für Menschen des 17. Jahrhunderts eben das Selbstverständliche ist: gewisse Grundbedingungen, an die der Eindruck des Lebendigen geknüpft ist, ohne daß ein bestimmterer Ausdruckswert daran hinge.

Man kann sie als Darstellungsformen oder als Anschauungsformen behandeln: in diesen Formen sieht man die Natur und in diesen Formen bringt die Kunst ihre Inhalte zur Darstellung. Aber es ist gefährlich, nur von gewissen »Zuständen des Auges« zu sprechen, von denen die Auffassung bedingt sei: jede künstlerische Auffassung ist schon nach bestimmten Gesichtspunkten des Gefallens organisiert. Darum haben unsere fünf Begriffspaare sowohl eine imitative wie eine dekorative Bedeutung. Jede Art der Naturwiedergabe bewegt sich schon innerhalb eines bestimmten dekorativen Schemas. Das 18 lineare Sehen ist mit einer gewissen, nur ihm eigenen Vorstellung von Schönheit dauernd verknüpft und das malerische ebenso. Es geschieht nicht nur im Interesse einer neuen Naturwahrheit, wenn eine fortgeschrittene Kunst die Linie auflöst und die bewegte Masse dafür einsetzt, sondern auch im Interesse einer neuen Schönheitsempfindung. Und ebenso muß man sagen, daß die Darstellung im Flächentyp allerdings einer gewissen Stufe der Anschauung entspricht, aber auch hier hat die Darstellungsform offenbar eine dekorative Seite. Das Schema an sich gibt freilich noch nichts, aber es enthält die Möglichkeit, Schönheiten der Flächenordnung zu entwickeln, wie sie der Tiefenstil nicht mehr besitzt und nicht mehr besitzen will. Und so kann man die ganze Reihe entlang fortfahren.

Wie aber? wenn auch diese Begriffe der untern Schicht auf eine bestimmte Schönheit zielen, kommen wir dann nicht auf den Anfang zurück, wo der Stil als unmittelbarer Temperamentsausdruck gefaßt worden war, sei es des Temperaments einer Zeit oder des Temperaments eines Volkes oder eines Individuums? Und das Neue wäre nur dieses, daß der Schnitt weiter unten gemacht worden ist, die Phänomene gewissermaßen auf einen größeren, gemeinsamen Nenner gebracht sind?

Wer so spricht, der verkennt, daß unsere zweite Reihe von Begriffen insofern von Haus aus einer anderen Gattung angehört, als diese Begriffe in ihrer Wandlung eine innere Notwendigkeit an sich haben. Sie stellen einen rationellen psychologischen Prozeß dar. Der Fortgang von der handgreiflichen, plastischen Auffassung zu einer rein optisch-malerischen hat eine natürliche Logik und könnte nicht umgekehrt werden. Und ebensowenig der Fortgang vom Tektonischen zum Atektonischen, vom Streng-Gesetzlichen zum Frei-Gesetzlichen, vom Vielheitlichen zum Einheitlichen.

Um ein Gleichnis zu gebrauchen: der Stein, der den Berghang herabrollt, kann im Fallen ganz verschiedene Bewegungen annehmen je nach der Neigungsfläche des Berges, dem härteren oder weicheren Boden usw., aber alle diese Möglichkeiten unterstehen einem und demselben Fallgesetz. So gibt es in der psychologischen Natur des Menschen bestimmte Entwicklungen, die man im selben Sinn wie das physiologische Wachstum als gesetzliche bezeichnen muß. Sie können aufs mannigfaltigste variiert, sie können teilweise oder ganz gehemmt werden, aber wenn der Prozeß ins Rollen kommt, so wird eine gewisse Gesetzmäßigkeit überall beobachtet werden können.

Es ist eine weitere Frage, inwiefern »das Auge« Entwicklungen für sich durchmachen kann und inwiefern es dabei bedingt und bedingend in die 19 anderen geistigen Sphären übergreift. Gewiß gibt es kein optisches Schema, das, nur aus eignen Prämissen hervorgegangen, der Welt gewissermaßen wie eine tote Schablone aufgelegt werden könnte; man sieht wohl jederzeit so, wie man sehen will, aber das schließt doch die Möglichkeit nicht aus, daß in allem Wandel ein Gesetz wirksam bleibe. Dieses Gesetz zu erkennen wäre ein Hauptproblem, das Hauptproblem einer wissenschaftlichen Kunstgeschichte.

Wir kommen am Ende dieser Untersuchung darauf zurück.

Rom, S. Agnese an Piazza Navona


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