Heinrich Wölfflin
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
Heinrich Wölfflin

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Architektur

Die Übertragung der Begriffe flächenhaft und tiefenhaft scheint bei der Architektur auf Schwierigkeiten zu stoßen. Architektur ist immer auf Tiefe angewiesen und flächenhafte Architektur klingt wie hölzernes Eisen. Andrerseits: selbst wenn man zugibt, daß ein Bauwerk als Körper denselben Bedingungen unterstehen werde wie eine plastische Figur, wird man sich doch sagen müssen, daß ein tektonisches Gebilde, das der Plastik selbst erst Rahmen und Rückwand zu geben gewohnt ist, sich nie, auch nur vergleichsweise, so der Frontalität entfremden könne, wie die barocke Plastik es tut. Und doch liegen die Beispiele nicht fern, die unsere Begriffe rechtfertigen. Was ist es anders als ein Heraustreten aus der Fläche, wenn die Pfosten eines Villenportals nicht mehr frontal ausgerichtet sind, sondern sich einander zuwenden? Mit welchen Worten sonst soll man den Prozeß bezeichnen, den der Altar durchmacht, wo ein rein frontales Gebilde mehr und mehr mit Tiefe sich durchsetzt, so daß in den reichen Barockkirchen schließlich Gehäuse dastehen, die ihren wesentlichen Reiz aus dem Hintereinander der Formen ziehen? Und wenn man eine Treppen- und Terrassenanlage des Barock analysiert, etwa die Spanische Treppe in Rom, so ist, um von allem andern zu schweigen, durch die vielseitige Orientierung der Stufen allein schon das Räumlich-Tiefe in einer Weise wirksam geworden, daß die klassisch-strengen Anlagen mit geraden Läufen daneben flach erscheinen. Das Treppen- und Rampensystem, das Bramante für den Vatikanischen Hof projektiert hatte, wäre das cinquecentistische Gegenbeispiel. An seiner Stelle mag man in Rom die klassizistisch-geradwandige Anlage der Pincioterrassen mit der Spanischen Treppe vergleichen. Beides ist Raumgestaltung, aber dort spricht die Fläche, hier die Tiefe.

Mit andern Worten, das objektive Vorhandensein von Kuben und 122 Räumen enthält noch kein stilistisches Indizium. Die klassische Kunst der Italiener verfügt über ein vollkommen ausgebildetes Gefühl für das Volumen, aber sie formt das Volumen in einem andern Geist, als der Barock es tut. Sie sucht das Flächig-Geschichtete und alle Tiefe ist hier eine Folge solcher Schichten, während der Barock von vornherein den Eindruck des Flächigen vermeidet und die eigentliche Essenz der Wirkung, das Salz der Erscheinung, in der Intensität der Tiefenperspektive sucht.

 

Man darf sich nicht beirren lassen, wenn man im »Flächenstil« auch dem Rundbau begegnet. Er scheint zwar im besondern Maß die Aufforderung zu enthalten, ihn zu umschreiten, aber es ergibt sich dabei doch kein Tiefeneffekt, weil er von allen Seiten her das gleiche Bild liefert, und mag auch die Eingangsseite mit aller Deutlichkeit bezeichnet sein, so markiert sich doch kein Verhältnis zwischen vorderen und rückwärtigen Teilen. Eben hier setzt der Barock ein. Wo immer er die Zentralform aufnimmt, da ersetzt er das Allseitig-Gleiche durch eine Ungleichheit, die Richtung gibt und ein Vorn und Hinten herstellt. Der Pavillon im Münchner Hofgarten ist keine reine Zentralkomposition mehr. Sogar der abgeplattete Zylinder ist nicht selten. Für den großen Kirchenbau aber gilt die Regel, dem Kuppelrund eine Front mit Ecktürmen vorzulegen, der gegenüber die Kuppel als das Zurückliegende erscheint und an der für den Beschauer, bei jeder Verschiebung des Standpunktes, das räumliche Verhältnis abgelesen werden kann. Es war durchaus konsequent gedacht, wenn Bernini die Kuppel des Pantheons nach der Front zu mit solchen Türmchen, den berüchtigten, im 19. Jahrhundert wieder abgetragenen »Eselsohren«, begleitete.

Des weiteren soll »flächenhaft« nicht bedeuten, daß der Bau als Körper keine Vorsprünge haben solle. Die Cancelleria oder die Villa Farnesina sind vollkommene Beispiele des klassischen Flächenstils, dort sind es leise Eckrisalite, hier springt der Bau – und zwar auf beiden Fronten – um zwei Achsen vor, jedesmal aber bekommt man den Eindruck flächiger Schichten. Und dieser Eindruck würde sich nicht ändern, wenn es Halbkreise im Grundriß wären, statt Rechtecke. Inwiefern hat der Barock dieses Verhältnis umgewandelt? Insofern als er die zurückliegenden Teile als etwas generell anderes den vorgelagerten entgegensetzt. Bei der Villa Farnesina ist es dieselbe Folge von Pilasterfeldern mit Fenstern, sowohl im Mitteltrakt, wie an den Flügeln, beim Palazzo Barberini oder bei dem Kasino der Villa Borghese sind es ganz anders geartete Flächen und der Beschauer wird notwendig dazu 123 kommen, das Vordere und das Rückwärtige zusammenzubeziehen und in der Entwickelung nach der Tiefe zu die besondere Pointe der architektonischen Erscheinung zu suchen. Dies Motiv hat namentlich im Norden eine große Bedeutung erreicht. Die Schloßanlagen in Hufeisenform, das heißt mit offenem Ehrenhof, sind alle in dem Sinne konzipiert, daß das Verhältnis zwischen den vorgestreckten Flügeln und der Hauptfront aufgefaßt sein will. Dieses Verhältnis beruht auf einer Raumdifferenz, die für sich allein noch nicht im barocken Sinne tiefenhaft wirken würde und als Disposition zu jeder Zeit denkbar ist, die aber durch die besondere Formbehandlung die Kraft der Spannung nach der Tiefe zu erhält.

 

Für kirchliche Innenräume hat natürlich nicht erst der Barock den Reiz der Tiefenperspektive entdeckt. So gewiß der Zentralbau mit Recht als Idealform der Hochrenaissance in Anspruch genommen werden kann, hat es daneben doch immer Langschiffe gegeben und der Bewegungszug gegen den Hochaltar hin ist so sehr das Wesentliche bei diesen Bauten, daß man unmöglich behaupten dürfte, er sei nicht empfunden worden. Allein wenn ein Barockmaler eine solche Kirche in der Längsperspektive aufnimmt, so ist diese Tiefenbewegung an sich für ihn noch kein befriedigendes Motiv, er schafft mit der Beleuchtung sprechendere Verhältnisse des Vor- und Rückwärts, die Strecke bekommt Cäsuren, kurzum, der räumliche Tatbestand wird künstlich im Sinne eines intensiveren Tiefeneffekts geschärft. Und genau das ist es, was in der neuen Architektur nun wirklich geschieht. Es ist eben doch kein Zufall, daß der Typus der italienischen Barockkirche mit der ganz neuen Wirkung des rückwärtigen großen Kuppellichts nicht früher schon da ist. Es ist kein Zufall, daß die Architektur nicht früher schon die Motive der vortretenden Kulisse, das heißt der Überschneidung, benützt hat, daß erst jetzt auf der Tiefenachse die Interpunktionen vorgenommen wurden, die das Schiff nicht in einzelne Raumschichten zerlegen, sondern die Einwärtsbewegung zu einer einheitlichen und zwingenden machen sollen. Nichts ist weniger barock als eine Folge in sich geschlossener Raumkompartimente in der Art von S. Giustina in Padua, andrerseits wäre aber auch die gleichmäßige Jochfolge einer gotischen Kirche diesem Stil unsympathisch gewesen. Wie er sich gegebenenfalls zu helfen wußte, kann man etwa aus der Geschichte der Münchner Frauenkirche erfahren, wo durch Einziehung eines Querbaues im Mittelschiff, dem Bennobogen, der Reiz der Tiefe im barocken Sinne erst herausgeholt wurde. 124

Rom, Scala regia des Bernini im Vatikan

Es ist derselbe Gedanke, wenn einheitliche Treppenläufe nun durch Podeste unterbrochen werden. Es dient der Bereicherung, sagt man; gewiß, aber es wird eben durch diese Interpunktion auch der Tiefenerscheinung der Treppe genützt, das heißt die Tiefe wird interessant durch Cäsuren. Vergleiche die Scala regia des Bernini im Vatikan mit dem charakteristischen Lichteinfall. Was dann derselbe Bernini in der Nische der hl. Therese gemacht hat, daß die rahmenden Pfeiler über den Nischenraum vorspringen, das heißt daß die Nische immer als eine überschnittene erscheint, wird auch in der großen Architektur wiederholt. Man kommt zu Kapellen- und Chorformen, wo bei verengtem Eingang ein Anblick ohne Rahmenüberschneidung nie möglich ist. Und in folgerichtiger Fortführung des Prinzipes wird dann auch der Hauptraum zunächst im Rahmen eines Vorraumes sichtbar gemacht. Aus dem gleichen Gefühl heraus ist vom Barock das Verhältnis von Bauwerk und Platz reguliert worden.

Wo immer es möglich war, hat die Barockarchitektur für einen Vorplatz gesorgt. Das vollkommenste Muster ist der Vorplatz Berninis vor dem römischen St. Peter. Und wenn dieses Riesenunternehmen auch einzig dasteht in der Welt, so kann man den gleichen Antrieb doch in einer Menge von kleineren Ausführungen wiederfinden. Entscheidend ist, daß Bau und Platz in eine notwendige Beziehung kommen, daß einer ohne den anderen gar nicht aufgefaßt werden kann. Und da der Platz als Vorplatz behandelt ist, so ist diese Beziehung natürlich eine Tiefenbeziehung.

Durch den Kolonnadenplatz Berninis erscheint die Peterskirche von vornherein als etwas im Raum Zurückgeschobenes, die Kolonnaden sind eine rahmende Kulisse, sie markieren einen Vordergrund, und der so gefaßte Raum wird auch noch empfunden, wenn man ihn schon im Rücken hat und der Fassade allein gegenübersteht. 125

Ein Renaissanceplatz wie die schöne Piazza della Sa. Annunziata in Florenz läßt den gleichen Eindruck nicht aufkommen. Obwohl er deutlich als eine Einheit gedacht ist und, mehr tief als breit, auf die Kirche zu steht, bleibt es bei einem räumlich unentschiedenen Verhältnis.

 

Tiefenkunst geht nie in reinen Frontalanblick ein. Sie reizt zur Seitenansicht, im Innen- und im Außenbau.

Natürlich hat man dem Auge nie verwehren können, auch eine klassische Architektur mehr oder weniger übereck anzusehen, allein sie verlangt nicht darnach. Wenn ein Reizzuwachs dabei eintritt, so ist es kein innerlich vorbereiteter und die gerade Stirnansicht wird immer als die in der Natur der Sache liegende fühlbar bleiben. Ein Barockbau dagegen, auch wenn kein Zweifel sein kann, wohin sein Gesicht steht, spielt immer mit einem Bewegungsantrieb. Er rechnet von Anfang an mit einer Folge wechselnder Bilder und das kommt daher, daß die Schönheit nicht mehr in rein planimetrischen Werten liegt und daß die Tiefenmotive erst im Wechsel der Standpunkte ganz wirksam werden.

Eine Komposition wie die Karl-Borromäus-Kirche in Wien, mit den zwei Freisäulen vor der Front, sieht am wenigsten gut aus im geometrischen Aufriß. Zweifellos ist es dabei auf die Überschneidungen der Kuppel durch die Säulen abgesehen und diese ergeben sich erst für den halbseitlichen Anblick und die Konfiguration wird bei jedem Schritt eine neue.

Das ist auch der Sinn jener Ecktürme, die, niedrig gehalten, bei Zentralkirchen die Kuppel zu flankieren pflegen. Es sei an S. Agnese in Rom erinnert, wo – bei begrenztem Platz – für den die Piazza Navona durchwandelnden Betrachter eine Fülle reizender Bilder sich ergeben. Das cinquecentistische Turmpaar von S. Biagio in Montepulciano ist dagegen offenbar noch nicht in dieser (malerisch-bildhaften) Intention konzipiert worden.

Die Aufstellung des Obelisken auf dem Platz vor S. Peter in Rom ist ebenfalls eine barocke Disposition. Er bezeichnet zwar zunächst das Platzzentrum, nimmt aber doch auch Bezug auf die Achse der Kirche. Nun kann man sich denken, daß die Nadel überhaupt unsichtbar bleibt, wenn sie mit der Mitte der Kirchenfront zusammenfällt; das beweist, daß dieser Anblick nicht mehr als Norm angesehen worden ist. Schlagender aber ist folgende Überlegung: Nach Berninis Plan sollte die jetzt offene Eingangspartie des Kolonnadenplatzes ebenfalls noch geschlossen werden, wenigstens 126 teilweise, mit einem Mittelstück, das zu beiden Seiten breite Zugänge offen ließ. Diese Zugänge sind aber natürlich schräg zur Kirchenfront orientiert, das heißt, man mußte mit einer Seitenansicht anfangen. Vergleiche die Zufahrten zu Schlössern wie Nymphenburg: sie halten sich seitlich, in der Hauptachse liegt ein Wasserlauf. Auch hier gibt die Architekturmalerei die Parallelbeispiele.

Canaletto: Schloß mit Park

Der Barock will nicht, daß der Baukörper in bestimmten Ansichten sich verfestige. Durch Abstumpfung der Ecken gewinnt er Schrägflächen, die das Auge weiterführen. Ob man sich der Vorder- oder Seitenfront gegenüberstelle, immer gibt es im Bild verkürzte Teile. Sehr allgemein wird das Prinzip im Mobiliar durchgeführt: Der rechteckige Schrank mit geschlossener Fassade bekommt abgeschrägte Ecken, die in die Fassade hineinspielen, die Truhe mit der in sich begrenzten Dekoration der Vorder- und Seitenfelder, wird in der moderneren Gestalt der Kommode zu einem Körper, der alsbald die Ecken zu eigenen, diagonal gerichteten Flächen ausbildet, und wenn der Wand- oder Spiegeltisch es als selbstverständlich erscheinen läßt, daß er geradeaus blickt, und nur geradeaus, so erlebt man es jetzt überall, daß er der Frontorientierung die diagonale beimischt, die Beine wenden sich halbseitlich. Wo der Form die menschliche Figur untergelegt ist, könnte man wörtlich sagen: Der Tisch blicke nicht mehr frontal, sondern diagonal, das Wesentliche dabei ist aber nicht die Diagonalität an sich, sondern ihre Vermischung mit der Frontalität: Daß man dem Körper von keiner Seite ganz beikommen kann oder – um den Ausdruck zu wiederholen – daß der Körper sich nicht in bestimmten Ansichten verfestige. 127

Die Abschrägung der Ecken und ihre Besetzung mit Figur sagt an sich noch nichts aus für den Barock. Wenn aber die Schrägfläche mit der Frontfläche zu einem Motiv zusammengezogen ist, dann stehen wir auf barockem Boden.

Was von den Möbeln gilt, gilt auch, aber nicht im gleichen Umfang, von der großen Architektur. Man darf nicht vergessen, daß ein Möbel immer noch die richtunggebende Zimmerwand im Rücken hat, das Bauwerk muß selber Richtung schaffen.

Es ist ein Schwebend-Halten der räumlichen Erscheinung, wenn bei der Spanischen Treppe die Stufen von Anfang an, mit leiser Brechung, auch seitlich blicken und nachher die Richtung wiederholt ändern, aber das ist doch nur möglich dadurch, daß die Treppe ihre feste Orientierung durch die Umgebung bekommt.

An Kirchentürmen kommt es oft vor, daß die Ecken abgeschrägt sind, aber der Turm ist nur ein Teil des Ganzen und die Abschrägung des Gesamtbaukörpers, etwa an Palästen, ist auch dann nicht häufig, wenn die Fluchtlinie absolut festgelegt ist.

Daß die Träger einer Fensterverdachung oder die Säulen, die das Hausportal flankieren, aus der natürlichen Frontstellung heraustreten, sich einander zu- oder voneinander abwenden, ja daß eine ganze Wand sich bricht und Säulen und Gebälk unter verschiedenen Winkeln erscheinen, gehört ebenfalls zu den Fällen, die, durchaus typisch, aus dem Grundprinzip sich ergeben mußten, aber doch, auch innerhalb des Barock, das Ausnahmsweise und Auffällige bezeichnen.

 

Auch die Flächendekoration wird vom Barock ins Tiefenhafte umgebildet.

Die klassische Kunst besitzt das Gefühl für die Schönheit der Fläche und genießt eine Dekoration, die in allen Teilen flächenhaft bleibt, sei es als flächenfüllende Ornamentik, sei es als bloße Feldereinteilung.

Die Sixtinische Decke des Michelangelo, bei all ihrer plastischen Wucht, ist doch eine rein planimetrische Dekoration, die Decke der Galerie Farnese dagegen, von den Carracci, geht nicht mehr auf in reinen Flächenwerten, die Fläche an sich bedeutet wenig, sie wird erst interessant durch übereinandergeschobene Formen. Das Motiv der Deckung und Überschneidung tritt ein und damit der Reiz des Tiefenhaften.

Daß eine Gewölbemalerei ein Loch in die Decke schlägt, kommt schon früher vor, es ist dann aber eben ein Loch in der sonst zusammenhängenden 128 Form der Decke; die barocke Gewölbemalerei charakterisiert sich als barock dadurch, daß sie den Reiz des Hintereinander in den der Illusion erschlossenen Tiefenräumen ausbeutet. Correggio hat diese Schönheit zuerst geahnt – mitten in der Hochrenaissance –, immerhin sind erst im Barock die eigentlichen Konsequenzen der neuen Anschauung gezogen worden.

Eine Wand gliedert sich für das klassische Gefühl in Felder, die, verschieden nach Höhe und Breite, eine Harmonie darstellen, auf der Basis eines reinflächigen Nebeneinanders. Kommt eine räumliche Differenz hinein, so verschiebt sich das Interesse sofort, dieselben Felder würden dann nicht mehr dasselbe bedeuten. Die Flächenproportionen werden nicht gleichgültig, aber neben der Bewegung der Vor- und Rücksprünge können sie sich nicht mehr als das Primäre in der Wirkung behaupten.

Für den Barock gibt es keinen Reiz der Wanddekoration ohne Tiefe. Was früher im Kapitel der malerischen Bewegung erörtert wurde, läßt sich auch unter diesen Gesichtspunkt bringen. Keine malerische Fleckenwirkung kann das Element der Tiefe ganz entbehren. Wer immer es gewesen ist, der im 18. Jahrhundert den alten Grottenhof in München umzubauen hatte, ob Cuvilliés oder ein anderer: es schien dem Architekten unumgänglich, ein mittleres Risalit vorzuziehen, um der Fläche das Tote zu nehmen.

Die klassische Architektur hat die Risalite auch gekannt und gelegentlich verwertet, aber in ganz anderm Sinne und mit ganz anderer Wirkung. Die Eckrisalite der Cancelleria sind Vorlagen, die man sich auch losgelöst von der Hauptfläche denken könnte, bei der Fassade des Münchner Hofes wüßte man nicht, wie man den Schnitt machen sollte. Das Risalit wurzelt in der Fläche, von der es nicht getrennt werden kann, ohne mit tötlicher Verletzung in den Körper einzugreifen. So ist das vorspringende Mittelstück am Palazzo Barberini zu verstehen und noch typischer, weil unauffälliger, die berühmte Pilasterfront des Palazzo Odescalchi in Rom, die um ein weniges vor den ungegliederten Flügeln vortritt. Das faktische Tiefenmaß kommt hier gar nicht in Betracht. Die Behandlung von Mittelstück und Flügeln ist der Art, daß der Eindruck der durchgehenden Fläche ganz untergeordnet bleibt dem dominierenden Tiefenmotiv. So hat auch der bescheidene Privatbau jederzeit mit minimalen Vorsprüngen das Bloß-Flächige der Wand zu nehmen gewußt, bis dann um 1800 eine neue Generation kommt, die sich wieder rückhaltlos zur Fläche bekennt und alle Reize, die die einfachen tektonischen Verhältnisse mit einem Schein von Bewegung umspielen, ablehnt, wie das schon im Kapitel des Malerischen dargetan werden mußte. 129

Nun kommt auch jene Ornamentik des Empire, die mit ihrer absoluten Flächenhaftigkeit die Rokokodekoration mit ihrem Tiefenreiz ablöst. Daß es und inwieweit es antike Formen gewesen sind, deren sich der neue Stil bediente, ist gleichgültig neben der Grundtatsache, daß sie eine neue Proklamation der Flächenschönheit bedeuteten, derselben Flächenschönheit, die schon einmal in der Renaissance dagewesen war und dann dem zunehmenden Verlangen nach Tiefenwirkungen hatte weichen müssen.

Eine Pilasterfüllung des Cinquecento mag in der Stärke des Reliefs und im Reichtum der Schattenwirkung noch so weit über die dünnere und durchsichtigere Zeichnung des Quattrocento hinausgehen: ein genereller Stilgegensatz ist das noch nicht. Dieser kommt erst in dem Moment, wo der Eindruck der Fläche untergraben wird. Man wird auch dann noch nicht gleich vom Verderb der Kunst reden dürfen. Zugegeben, daß die Qualität der dekorativen Empfindung früher durchschnittlich höher stand: prinzipiell ist auch der andere Standpunkt möglich. Und wer am pathetischen Barocco keine Freude haben kann, für den bietet die Grazie des nordischen Rokoko ja Entschädigung genug.

Ein besonders instruktives Feld der Beobachtung liegt im Schmiedewerk der Garten- und Kirchengitter, Grabkreuze, Wirtshausschilder vor, wo man die planen Muster für unüberwindbar zu halten versucht ist und wo doch durch Mittel aller Art eine Schönheit verwirklicht ist, die jenseits des Reinflächigen liegt. Je Brillanteres hier geleistet wurde, um so schlagender ist dann der Gegensatz, wenn der neue Klassizismus auch hier die Ebene und damit die Linie mit einer Entschiedenheit wieder zur Herrschaft bringt, als ob eine andere Möglichkeit gar nicht denkbar wäre. 130

 


 


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