Heinrich Wölfflin
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
Heinrich Wölfflin

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Die Zeichnung

Um den Gegensatz von linearem und malerischem Stil anschaulich zu machen, wird es sich empfehlen, die ersten Beispiele auf dem Felde der reinen Zeichnung zu suchen.

Dürer: Eva

       

Rembrandt: Weiblicher Akt

Wir stellen zunächst ein Blatt Dürers mit einem Blatt Rembrandts zusammen. Der Gegenstand beidemal derselbe: eine weibliche Aktfigur. Und nun möge man einen Augenblick davon absehen, daß wir es im einen Fall mit einer Naturstudie zu tun haben, im andern mit einer mehr abgeleiteten Figur, und daß Rembrandts Zeichnung zwar bildmäßig geschlossen, aber doch rasch hingestrichen ist, während die Arbeit von Dürer sorgfältig durchgeführt ist als die Vorzeichnung zu einem Kupferstich, auch der Unterschied des technischen Materials – dort Feder, hier Kreide – ist nur etwas Sekundäres. Was das Aussehen dieser Zeichnungen so 38 verschieden gestaltet, ist vor allem dies: daß der Eindruck dort auf Tastwerte und hier auf Sehwerte abgestellt ist. Eine Figur als Helligkeit vor dunklem Grund, ist die erste Empfindung bei Rembrandt; in der älteren Zeichnung ist die Figur auch auf eine schwarze Folie gebracht, aber nicht, um das Licht aus dem Dunkel hervorgehen zu lassen, sondern nur um die Silhouette noch schärfer herauszuheben: die ringsum laufende Randlinie hat den Hauptakzent. Bei Rembrandt hat sie ihre Bedeutung verloren, sie ist nicht mehr der wesentliche Träger des Formausdrucks und es liegt keine besondere Schönheit in ihr. Wer ihr entlang gehen wollte, würde bald merken, daß dies kaum mehr möglich ist. An Stelle der zusammenhängenden gleichmäßig durchlaufenden Konturlinie des 16. Jahrhunderts ist die gebrochene Linie des malerischen Stils getreten.

Und nun werfe man ja nicht ein, das sei eben Skizzenmanier und dasselbe suchend-tastende Verfahren könne man zu allen Zeiten finden. Gewiß wird die Zeichnung, die rasch nur die ungefähre Figur auf das Papier setzt, auch mit unzusammenhängenden Linien arbeiten, Rembrandts Linie bleibt aber gebrochen selbst in ganz durchgeführten Blättern. Sie soll sich nicht verfestigen zum tastbaren Umriß, sondern immer den schwebenden Charakter behalten.

Analysiert man die Striche der Modellierung, so bewährt sich das ältere Blatt auch darin als ein Produkt der reinen Linienkunst, daß die Schattenlagen vollkommen durchsichtig gehalten sind. Linie um Linie ist gleichmäßig klar gezogen und jede einzelne scheint zu wissen, daß sie eine schöne Linie ist und schön mit den Gespielen zusammengeht. In ihrer Gestalt aber schließen sie sich der Bewegung der plastischen Form an und nur die Linien der Schlagschatten gehen über die Form hinweg. Für den Stil des 17. Jahrhunderts gelten diese Rücksichten nicht mehr. Sehr verschiedenartig, bald mehr, bald weniger erkennbar nach Führung und Schichtung, haben die Striche jetzt nur das eine gemeinsam: daß sie als Masse wirken und daß sie bis zu einem gewissen Grad im Eindruck des Ganzen untergehen. Nach welcher Regel sie gebildet sind, wäre schwer zu sagen, nur das ist klar: Sie folgen nicht mehr der Form, das heißt, sie wenden sich nicht an das plastische Tastgefühl, sondern geben, ohne die Wirkung des Körperlichen zu schädigen, mehr die rein optische Erscheinung. Einzeln gesehen, müßten sie uns ganz sinnlos vorkommen, für den summierenden Blick aber, wie gesagt, schießen sie zu einer eigentümlich reichen Wirkung zusammen. 39

Und merkwürdig: sogar über die Art der Materie weiß diese Zeichnungsweise Mitteilung zu machen. Je mehr sich die Aufmerksamkeit von der plastischen Form als solcher zurückzieht, um so lebhafter regt sich das Interesse für die Oberfläche der Dinge: wie sich die Körper anfühlen. Das Fleisch ist bei Rembrandt deutlich als ein weicher Stoff kenntlich gemacht, dem Druck nachgebend, während die Figur Dürers in dieser Hinsicht neutral bleibt.

Und nun mag man ruhig eingestehen, daß Rembrandt nicht ohne weiteres mit dem 17. Jahrhundert gleichgesetzt werden kann und daß es noch weniger zulässig wäre, die deutsche Zeichnung der klassischen Zeit nach dem einen Muster zu beurteilen, aber gerade durch seine Einseitigkeit ist es für eine Vergleichung lehrreich, die den Gegensatz der Begriffe zunächst recht grell wirksam machen möchte.

Was der Stilwandel für die Formauffassung im einzelnen bedeutet, wird deutlicher werden, wenn wir vom Thema der ganzen Figur zum Thema eines bloßen Kopfes übergehen. 40

Das Besondere einer Dürerschen Kopfzeichnung hängt durchaus nicht nur an der künstlerischen Qualität seiner individuellen Linie, sondern daß überhaupt Linien herausgearbeitet worden sind, große, gleichmäßig führende Linien, in denen alles steckt und die man bequem fassen kann, diese Eigenschaft, die Dürer mit seinen Zeitgenossen gemein hat, ergibt den Kern des Schauspiels. Die Primitiven haben die Aufgabe auch zeichnerisch behandelt und ein Kopf kann in der allgemeinen Anlage sehr ähnlich sein, aber die Linien kommen nicht heraus; sie haben nicht das in die Augen Springende der klassischen Zeichnung; die Form ist nicht auf die Linie hin gepreßt worden.

H. Aldegrever: Männliches Bildnis (Ausschnitt)

Wir exemplifizieren mit einer Porträtzeichnung Aldegrevers, die, verwandt mit Dürer, noch mehr mit Holbein, die Form in entschiedenen und sicher führenden Umrissen festlegt. In ununterbrochener, rhythmischer Bewegung, als lange, gleichmäßig starke Linie fließt der Gesichtsumriß von der Schläfe zum 41 Kinn; Nase und Mund und die Lidspalten sind ebenso mit einheitlich durchlaufenden Linien gezeichnet; das Barett fügt sich als reine Silhouettenform dem System ein, und selbst für den Bart ist ein homogener Ausdruck gefunden.Gewisse Unsauberkeiten in der Reproduktion kommen von einer farbigen Tönung des Blattes an einzelnen Stellen. Die gewischte Modellierung aber schließt sich vollständig der tastmäßig kontrollierbaren Form an.

Jan Lievens: Bildnis des Dichters Jan Vos (Ausschnitt)

Den vollkommensten Gegensatz dazu bietet dann ein Kopf des Lievens, Rembrandts Altersgenossen. Aller Ausdruck ist von den Rändern zurückgezogen und sitzt in den Binnenteilen der Form. Zwei dunkle, lebhaft blickende Augen, ein Zucken der Lippen, da und dort blitzt die Linie auf, aber gleich verschwindet sie wieder. Die langen Bahnen des linearen Stils fehlen völlig. Einzelne Linienfragmente charakterisieren die Form des Mundes, ein paar versprengte Striche die Form der Augen und der Brauen. Manchmal setzt die Zeichnung völlig aus. Die modellierenden Schatten haben keine objektive Gültigkeit mehr. In der Behandlung des Konturs von Wange und Kinn aber ist alles getan, um zu verhindern, daß die Form sich silhouettiere, das heißt, auf Linien hin abgelesen werden könne.

Weniger auffällig als bei dem Beispiel des Rembrandtschen Frauenaktes ist doch auch hier das Visieren auf Lichtzusammenhänge auf das Gegenspiel heller und dunkler Massen entscheidend für den Habitus der Zeichnung. Und während der ältere Stil im Interesse der Formenklarheit die Erscheinung verfestigt, verbindet sich mit dem malerischen Stil von selber der Eindruck der Bewegung und er folgt seinem innersten Wesen, wenn er die Darstellung des Sichverändernden und Vorübergehenden zu seinem besonderen Problem macht.

Ein weiterer Fall: das Gewand. Für Dürer war der Faltenwurf eines Stoffes ein Schauspiel, dem mit Linien beizukommen er nicht nur für möglich hielt, sondern das ihm in linearer Fassung seinen Sinn erst eigentlich auszusprechen schien. Unser Auge steht auch hier zunächst auf entgegengesetzter Seite. Was sehen wir anderes als wechselnde Helligkeiten und Dunkelheiten, in denen sich eben die Modellierung zu erkennen gibt? Und wenn schon einer mit Linien kommen wollte, so könnte damit, scheint es, nur etwa der Verlauf des Randes bezeichnet werden. Aber auch dieser Rand spielt keine wesentliche Rolle: bald mehr, bald weniger wird man an den einzelnen Stellen das Aufhören der Fläche als etwas Besonderes wahrnehmen, keinesfalls das Motiv als führendes Motiv empfinden. Es ist offenbar wieder eine 42 grundsätzlich andere Anschauung, wenn die Zeichnung dem Verlauf des Randes für sich nachgeht und ihn mit gleichmäßig durchgeführter Linienmarkierung zur Sichtbarkeit zu bringen unternimmt. Und nicht nur den Rand des Stoffes, da wo er zu Ende ist, sondern ebenso die Binnenformen der Faltengräben und Faltenhügel. Überall klare, feste Linien. Licht und Schatten ausgiebig verwendet, aber – und daran liegt der Unterschied zum malerischen Stil – durchaus der Botmäßigkeit der Linie unterstellt.

Van Dyck: Bildnis des Lucas Vorstermann (Radierung)

Eine malerische Kostümierung – wir bringen als Beispiel eine Radierung van Dycks – wird umgekehrt das Element der Linie zwar nicht ganz eliminieren, aber ihm nicht die Führung überlassen: das Auge wird grundsätzlich zuerst für das Leben der Fläche interessiert. Man kann daher mit Umrissen den Inhalt nicht mehr exzerpieren. Und die Hebungen und Senkungen dieser Flächen gewinnen sofort eine andere Beweglichkeit, sobald die Binnenzeichnung sich in freien Massen von Hell und Dunkel ergeht. Man merkt, daß die geometrische Figur solcher Schattenflecken nicht streng verbindlich ist; es erzeugt sich die Vorstellung einer Form, die innerhalb gewisser Grenzen veränderlich bleibt und eben damit dem beständigen Wechsel der Erscheinung gerecht wird. Dazu kommt, daß der stoffliche Charakter der Materie stärker mitspricht als früher. Dürer hat zwar schon manche Beobachtung verwertet, wie man die Art des Sichanfühlens geben könne, doch neigt der klassische Zeichnungsstil eher zu einer neutralen Stoffangabe. Für das 17. Jahrhundert aber ergibt sich mit dem Interesse für das Malerische wie selbstverständlich auch das Interesse für die Qualität der Oberflächen. Man zeichnet nichts, ohne Weichheit und Härte, Rauhigkeit und Glätte mit anzudeuten.

Wolf Huber: Golgatha

Am interessantesten bewährt sich das Prinzip des Linienstils da, wo das Objekt ihm am wenigsten entgegenkommt, ja ihm eigentlich widerstrebt. Das ist der Fall beim Baumschlag. Man kann das einzelne Blatt linear 43 fassen, aber die Laubmasse, das Laubdickicht, in dem die Einzelform als solche unsichtbar geworden ist, bietet der linearen Auffassung kaum eine Grundlage. Nichtsdestoweniger ist diese Aufgabe vom 16. Jahrhundert nicht als unlösbar empfunden worden. Man findet bei Altdorfer, Wolf Huber und anderen prachtvolle Lösungen: das scheinbar Unfaßbare ist auf eine Linienform gebracht, die sehr energisch spricht, und das Charakteristische des Gewächses vollkommen wiedergibt. Wer solche Zeichnungen kennt, dem wird die Wirklichkeit sehr oft die Erinnerung daran wecken und sie werden ihr Recht behalten neben den frappantesten Leistungen einer mehr malerisch orientierten Technik. Sie repräsentieren nicht eine unvollkommenere Stufe der Darstellung, sondern es ist nur eben die Natur von einer andern Seite gesehen.

J. Ruysdael: Eichen (Ausschnitt)

Als Vertreter der malerischen Zeichnung soll Ruysdael figurieren. Hier geht die Absicht nicht mehr darauf, das Phänomen auf ein Schema mit klarem verfolgbarem Strich zu bringen, hier ist das Unbegrenzte Trumpf und die Linienmasse, die es ganz unmöglich macht, die Zeichnung nach ihren einzelnen Elementen zu fassen. Mit einer Strichführung, die mit der objektiven Form kaum mehr einen erkennbaren Zusammenhang bewahrt und nur intuitiv gewonnen sein kann, ist die Wirkung erreicht, daß wir das bewegliche Blattwerk großer Bäume von einer bestimmten Dichtigkeit vor uns zu sehen glauben. Und es ist ganz genau gesagt, daß es Eichen sind. Das Unbeschreibliche einer Formenunendlichkeit, die sich jeder Festlegung zu versagen scheint, ist hier mit malerischen Mitteln bewältigt.

Jan van Goyen: Flußlandschaft (datiert 1646)

Wirft man den Blick endlich auf die Zeichnung eines landschaftlichen Ganzen, so ist das Aussehen eines rein linearen Blattes, das die Gegenstände auf Weg und Steg, in Nähe und Ferne mit sauber sonderndem Umriß gibt, leichter zu erraten als jene Form der Landschaftszeichnung, die das Prinzip der malerischen Verschmelzung der Einzeldinge konsequent durchführt. Es gibt solche Blätter z. B. von van Goyen. Sie sind die Äquivalente seiner tonigen und fast monochromen Bilder. Und wie die dunstige Verschleierung der Dinge und ihrer Lokalfarben als ein malerisches Motiv im ausgezeichneten Sinne gilt, so darf eine solche Zeichnung als besonders typisch für malerischen Stil hier angezogen werden.

Die Schiffe auf dem Wasser, das Ufer mit Bäumen und Häusern, Figürliches und Nichtfigürliches – es ist alles in ein nicht leicht zu entwirrendes Liniengewebe verflochten. Nicht daß die Formen der einzelnen Gegenstände unterdrückt wären – man sieht vollkommen, was man zu sehen braucht –, 44 allein sie greifen in der Zeichnung so ineinander, als ob alle aus demselben Elemente wären und von derselben Bewegung durchzittert würden. Es kommt auch gar nicht darauf an, daß man das eine oder das andere Schiff sieht und wie das Haus am Ufer beschaffen ist: das malerische Auge ist auf die Wahrnehmung der Gesamterscheinung eingestellt, in der das einzelne Objekt als Gegenstand keine wesentliche Bedeutung mehr hat. Es geht unter im Ganzen und das Vibrieren aller Linien befördert den Prozeß der Verflechtung zu einer gleichartigen Masse. 45

 


 


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