Heinrich Wölfflin
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
Heinrich Wölfflin

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Die Architektur

1.
Allgemeines

Die Untersuchung des Malerischen und Nicht-Malerischen in den tektonischen Künsten bietet das besondere Interesse, daß hier erst der Begriff, losgelöst aus der Vermischung mit den Forderungen der Imitation, als reiner Begriff der Dekoration sichtbar wird. Natürlich liegen die Verhältnisse nicht ganz gleich für Malerei und Architektur – die Architektur kann ihrer Natur nach nicht im selben Grade wie die Malerei zur Kunst des Scheins werden –, allein der Unterschied ist doch nur ein gradueller und die wesentlichen Momente der Definition des Malerischen können unverändert herübergenommen werden.

Das elementare Phänomen ist dieses: daß zwei ganz verschiedene Wirkungen der Architektur zustande kommen, je nachdem wir die architektonische Gestalt als etwas Bestimmtes, Festes, Bleibendes auffassen müssen, oder als etwas, das bei aller Stabilität doch umspielt ist von dem Schein ständiger Bewegung, das heißt Veränderung. Daß wir uns nicht mißverstehen! Natürlich rechnet alle Architektur und Dekoration mit gewissen Bewegungssuggestionen: die Säule steigt empor, in der Mauer sind lebendige Kräfte wirksam, die Kuppel hebt sich und die bescheidenste Ranke im Ornament hat ihr Teil von bald schleichender, bald lebhaft sich werfender Bewegung. Aber bei all dieser Bewegung bleibt in der klassischen Kunst das Bild dasselbe, während die nachklassische Kunst den Schein erweckt, als müßte es sich unter unseren Augen verändern. Das ist der Unterschied zwischen einer Rokokodekoration und einem Renaissanceornament. Eine Pilasterfüllung hier mag noch so lebendig gezeichnet sein, die Erscheinung bleibt, die sie ist, während das Ornament, wie es das Rokoko über die Flächen streut, den Eindruck 69 erweckt, als befinde es sich in ständiger Wandlung. Und ähnlich ist die Wirkung der großen Architektur. Die Gebäude laufen nicht davon und Mauer bleibt Mauer, aber es besteht ein sehr fühlbarer Unterschied zwischen der fertigen Erscheinung klassischer Baukunst und dem nie ganz faßbaren Bilde der späteren Kunst: es ist, als hätte der Barock sich gescheut, jemals ein letztes Wort auszusprechen.

Dieser Eindruck des Werdenden, Ungestillten hat verschiedene Gründe, alle späteren Kapitel werden uns zur Erklärung Beiträge liefern, hier soll nur das erörtert werden, was in einem spezifischen Sinne malerisch heißen kann, während der populäre Sprachgebrauch alles malerisch nennt, was sich irgendwie mit dem Eindruck des Bewegten verbindet.

Man hat mit Recht gesagt, die Wirkung eines schön proportionierten Raumes müßte empfunden werden, auch wenn man mit verbundenen Augen hindurchgeführt würde. Der Raum als etwas Körperliches kann nur wieder mit körperlichen Organen aufgefaßt werden. Diese Raumwirkung ist aller Architektur eigen. Wenn nun aber ein malerischer Reiz dazu kommt, so ist das etwas Rein-Optisches, Bildhaftes und darum auch jener allgemeinsten Art von Tastgefühl nicht mehr zugänglich. Ein Raumdurchblick ist malerisch nicht durch die architektonische Qualität der einzelnen Räume, sondern durch das Bild, das Augenbild, das der Beschauer empfängt. Jede Überschneidung wirkt durch das Bild, das aus der überschneidenden und der überschnittenen Form sich ergibt: die einzelne Form für sich läßt sich ertasten, das Bild aber, das aus dem Hintereinander der Formen entsteht, kann nur gesehen werden. Wo immer also mit »Ansichten« gerechnet wird, stehen wir auf malerischem Boden.

Es ist selbstverständlich, daß auch die klassische Architektur gesehen werden will und daß ihre Tastbarkeit nur eine ideelle Bedeutung hat. Und ebenso kann man natürlich auch hier das Bauwerk auf vielerlei Art ansehen, verkürzt oder unverkürzt, mit viel oder mit wenig Überschneidung usw., allein es wird in allen Ansichten doch die tektonische Grundform als das Entscheidende durchschlagen und wo diese Grundform sich entstellt, da wird man das Zufällige einer bloßen Nebenansicht empfinden und nicht lange dulden wollen. Umgekehrt hat die malerische Architektur ein besonderes Interesse, die Grundform in möglichst vielen und verschiedenartigen Bildern erscheinen zu lassen. Während im klassischen Stil die bleibende Form den Akzent hat und die wechselnde Erscheinung daneben keinen selbständigen Wert besitzt, ist hier die Komposition von vornherein auf »Bilder« angelegt. Je vielfacher sie 70 sind und je mehr sie sich von der objektiven Form entfernen, für um so malerischer wird die Architektur geschätzt.

Im Treppenhaus eines reichen Rokokoschlosses sucht man nicht nach der festen, bleibenden, körperlichen Gestalt der Anlage, sondern man überläßt sich dem Wogen der wechselnden Ansichten, überzeugt, daß dies nicht zufällige Nebenwirkungen sind, sondern daß in diesem unendlichen Bewegungsschauspiel das eigentliche Leben des Baues zum Ausdruck gelangt.

Der Bramantesche St. Peter als Rundbau mit Kuppeln hätte auch viele Ansichten ergeben, allein die malerischen in unserem Sinne wären für den Architekten und seine Zeitgenossen die bedeutungslosen gewesen. Das Seiende war das Wesentliche, nicht die so oder so verschobenen Bilder. Im strengeren Sinne könnte die architektonische Architektur prinzipiell gar keinen Standpunkt des Beschauers anerkennen – es ergeben sich immer gewisse Verschiebungen der Form – oder alle; die malerische Architektur dagegen rechnet immer mit dem betrachtenden Subjekt und darum ist es ihr gar nicht erwünscht, allseitig umgehbare Gebäude zu bekommen, wie Bramante sich seinen St. Peter gedacht hatte; sie beschränkt den Platz für den Beschauer, um sicherer zu den Ansichtswirkungen zu kommen, die ihr am Herzen liegen.

Wenn die Frontansicht immer eine Art Ausschließlichkeit für sich in Anspruch nehmen wird, so trifft man jetzt doch überall Kompositionen, die deutlich darauf ausgehen, die Bedeutung dieser Ansicht zu entwerten. Sehr klar ist das etwa bei der Karl-Borromäus-Kirche in Wien mit den zwei der Front vorgestellten Säulen, deren Wert erst in den nichtfrontalen Ansichten sich offenbart, wenn die Säulen unter sich ungleich werden und die zentrale Kuppel überschnitten wird.

Aus demselben Grunde ist es nicht als Unglück empfunden worden, wenn eine Barockfassade in die Gasse so eingestellt war, daß sie überhaupt kaum frontal übersehen werden konnte. Die Theatinerkirche in München, ein berühmtes Beispiel einer Doppelturmfassade, ist erst von Ludwig I. im Zeitalter des Klassizismus freigelegt worden, ursprünglich steckte sie zur Hälfte in der engen Gasse. Die Erscheinung mußte also immer eine optisch-asymmetrische sein. –

Man weiß, daß der Barock den Reichtum der Form gesteigert hat. Die Figuren werden komplizierter, die Motive schieben sich ineinander, die Ordnung der Teile ist schwerer zu fassen. So weit das mit der grundsätzlichen Vermeidung des Absolut-Klaren zusammenhängt, wird später noch von diesen Dingen zu reden sein, hier soll das Phänomen nur insofern behandelt 71 werden, als darin die spezifisch malerische Umsetzung der reinen Tastwerte in Sehwerte zur Geltung kommt. Der klassische Geschmack arbeitet durchweg mit linienklaren, tastbaren Grenzen; jede Fläche ist bestimmt gerandet; jeder Kubus spricht als völlig tastbare Form, es ist nichts da, was nicht in seiner Körperlichkeit rein auffaßbar wäre. Der Barock entwertet die Linie als Grenzsetzung, er vervielfacht die Ränder und indem die Form an sich sich kompliziert und die Ordnung eine verwickeltere wird, wird es den einzelnen Teilen immer schwerer, als plastische Werte zur Geltung zu kommen: es entzündet sich, unabhängig von der besonderen Ansicht, eine (reinoptische) Bewegung über die Gesamtheit der Formen hin. Die Wand vibriert, der Raum zuckt in allen Winkeln.

Ausdrücklich soll hier davor gewarnt werden, diesen malerischen Bewegungseffekt mit der großen Massenbewegung gewisser italienischer Bauwerke gleichzusetzen. Das Pathos geschwungener Mauern und gewaltiger Säulenhaufen ist nur ein Sonderfall. Malerisch ist ganz ebensogut das leise Flimmern einer Front mit kaum merklichen Ausladungen. Was ist nun aber der eigentliche Antrieb bei dieser Stilwandlung? Mit dem bloßen Hinweis auf den Reiz gesteigerten Reichtums ist nicht auszukommen, es handelt sich ja auch nicht um eine Wirkungssteigerung auf gleicher Basis, auch im reichsten Barock sind nicht nur mehr Formen da, sondern Formen von einer generell anderen Wirkung. Offenbar haben wir dasselbe Verhältnis vor uns wie in der Entwicklung der Zeichnung von Holbein zu van Dyck und Rembrandt. Auch in der tektonischen Kunst soll sich nichts mehr verfestigen in tastbaren Linien und Flächen, auch in der tektonischen Kunst soll der Eindruck des Bleibenden aufgehoben werden durch den Eindruck des Sich-Verändernden, auch in der tektonischen Kunst soll die Form atmen. Das ist, abgesehen von allen Ausdrucksverschiedenheiten, die Grundidee des Barock.

Der Eindruck der Bewegung aber wird erst dann erreicht, wenn an Stelle der körperlichen Realität der optische Schein tritt. Das ist, wie schon bemerkt, in der tektonischen Kunst nicht im gleichen Maße möglich wie in der Malerei, man wird vielleicht von einer impressionistischen Ornamentik, aber nicht von einer impressionistischen Architektur sprechen können. Aber immerhin stehen der Baukunst genügende Mittel zur Verfügung, um dem klassischen Typ den malerischen Kontrast entgegenzusetzen. Immer kommt es darauf an, wie weit die Einzelform der (malerischen) Gesamtbewegung sich gefügig zeigt. Die entwertete Linie verflicht sich leichter in das große Formenspiel als die plastisch bedeutsame, grenzbezeichnende Linie. Licht und 72 Schatten, die an jeder Form hängen, werden in dem Moment zu einem malerischen Element, wo sie etwas Selbständiges neben der Form zu bedeuten scheinen. Im klassischen Stil sind sie an die Form gebunden, im malerischen erscheinen sie als entbunden und zu freiem Leben erwacht. Es sind nicht mehr die Schatten der einzelnen Pilaster und Gesimse und Fensterverdachungen, die man wahrnimmt oder wenigstens nicht mehr sie allein: die Schatten binden sich untereinander und die plastische Form kann auf Momente ganz untergehen in der Gesamtbewegung, die die Fläche überspielt. Bei Innenräumen kann diese freie Lichtbewegung in Kontrasten des Blendend-Hellen und des Nächtlich-Dunkeln geführt sein oder in lauter hellen Tönen erzittern: das Prinzip bleibt dasselbe. Dort wird man an die starke plastische Bewegung italienischer Kirchenräume denken, hier an die flimmernde Helligkeit eines ganz leise modellierten Rokokozimmers. Daß das Rokoko die Spiegelwände geliebt hat, heißt nicht nur, daß es die Helligkeit liebte, sondern daß es auch die Wand als körperliche Fläche durch den Schein der unfaßbaren Nicht-Fläche, des spiegelnden Glases, zu entwerten wünschte.

Der Todfeind des Malerischen ist die Isolierung der einzelnen Form. Damit die Bewegungsillusion zustande kommt, müssen die Formen zusammenrücken, sich verflechten, ineinander verschmelzen. Ein malerisch komponiertes Möbel braucht immer Atmosphäre: man kann eine Rokokokommode nicht an einer beliebigen Wand aufstellen, die Bewegung muß weiterklingen. Es ist der besondere Reiz einheitlicher Rokokokirchen, daß jeder Altar, jeder Beichtstuhl in das Ganze eingeschmolzen ist. Wie weit in folgerichtiger Weiterentwicklung der Forderung auch die tektonischen Schranken aufgehoben werden, lernt man mit Erstaunen an Beispielen höchster malerischer Bewegung, wie etwa der Johann-Nepomuk-Kapelle der Brüder Asam in München.

Sobald der Klassizismus wieder erscheint, treten die Formen augenblicklich auseinander. An der Palastfront sieht man wieder Fenster neben Fenster, einzeln faßbar. Der Schein ist zerstoben. Die körperliche Form, die feste und bleibende, soll sprechen und das heißt, daß die Elemente der tastbaren Welt wieder die Führung bekommen, die Linie, die Fläche, der geometrische Körper. Alle klassische Architektur sucht die Schönheit in dem, was ist, barocke Schönheit ist Schönheit der Bewegung. Dort haben die »reinen« Formen ihre Heimat und man sucht der Vollkommenheit ewig-gültiger Proportionen sichtbare Gestalt zu geben, hier verblaßt der Wert des vollendeten Seins vor der Vorstellung des atmenden Lebens. Die Beschaffenheit des Körpers ist nicht 73 gleichgültig, aber das erste ist, daß er sich bewege: in der Bewegung vor allem liegt der Reiz des Lebendigen.

Das sind Grundunterschiede der Weltanschauung. Was wir hier über malerisch und nichtmalerisch auseinandergesetzt haben, bildet einen Teil des Ausdrucks, den die Weltanschauung sich in der Kunst gegeben hat. Der Geist des Stiles ist aber gleichmäßig gegenwärtig im großen wie im kleinen. Ein bloßes Gefäß genügt, den weltgeschichtlichen Gegensatz zu illustrieren. Wenn Holbein einen Krug zeichnet, so ist es die plastisch-geschlossene Gestalt in absoluter Vollendung; eine Kanne des Rokoko gibt die malerisch unbegrenzte Erscheinung; sie legt sich in keinem faßbaren Umriß fest und die Flächen sind von einer Lichtbewegung überspielt, die ihre Greifbarkeit illusorisch macht; die Form erschöpft sich nicht in einer Ansicht, sondern behält für den Betrachter etwas Unendliches.

Mag man noch so haushälterisch mit den Begriffen umgehen, die zwei Worte malerisch und nichtmalerisch genügen schlechterdings nicht, die zahllosen Nuancen der geschichtlichen Entwicklung zu bezeichnen.

Zunächst scheiden sich landschaftliche und nationale Charaktere; der germanischen Rasse steckt von vornherein das malerische Wesen im Blute und sie hat in der Nähe der »absoluten« Architektur sich nie lange wohl gefühlt. Man muß nach Italien gehen, um den Typus kennen zu lernen. Jener Baustil, der die neuere Zeit beherrscht und im 15. Jahrhundert seinen Anfang genommen hat, ist in der klassischen Epoche von allen malerischen Nebenabsichten befreit und zu einem reinen »Linear«-Stil ausgebildet worden. Bramante hat, dem Quattrocento gegenüber, immer folgerichtiger die architektonische Wirkung auf rein körperliche Werte zu stellen unternommen. Aber schon im Italien der Renaissance gibt es wieder Unterschiede. Oberitalien, im besondern Venedig, ist immer malerischer gewesen als Toskana und Rom, und es hilft nichts, man muß den Begriff schon innerhalb der linearen Epoche verwenden.

Die barocke Wandlung ins Malerische hat in Italien ebenfalls in einer glänzenden Entwicklung sich vollzogen, aber man darf nicht vergessen, daß die letzten Konsequenzen erst im Norden gezogen worden sind. Hier scheint die malerische Empfindung am Boden zu haften. Schon in der sogenannten deutschen Renaissance, die doch mit soviel Ernst und Nachdruck die neuen Formen auf ihren plastischen Gehalt hin empfand, ist der malerische Effekt oft das Beste. Die fertige Form bedeutet der germanischen Phantasie zu wenig, sie muß immer überspielt sein von dem Reiz der Bewegung. So kommt 74 es, daß innerhalb des Bewegungsstiles Deutschland Bauten von unvergleichlicher malerischer Art hervorgebracht hat. Gemessen an solchen Mustern, läßt der Barock in Italien immer noch die plastische Grundempfindung durchspüren und für die in lauter Lichtblitzen versprühende Kunst des Rokoko ist die Heimat Bramantes nur in sehr bedingter Weise zugänglich gewesen.

Was die zeitliche Folge anbetrifft, so sind die Tatsachen natürlich auch nicht mit zwei Begriffen zu fassen. Die Entwicklung verläuft in unmerklichen Übergängen und was ich im Vergleich zu einem älteren Beispiel malerisch nenne, kann mir im Vergleich zu einem jüngeren unmalerisch vorkommen. Besonders interessant sind die Fälle, wo innerhalb einer malerischen Gesamtanschauung lineare Typen auftreten. Das Rathaus von Amsterdam z. B. mit seinen glatten Mauern und den nackten Rechtecken seiner Fensterreihen scheint ein unüberbietbares Muster von Linearismus zu sein. In der Tat ist es einer klassizistischen Reaktion entsprungen, aber die Verbindung nach dem malerischen Pol fehlt doch nicht: wie die Zeitgenossen den Bau gesehen haben, darauf kommt es an und das erfährt man aus den vielen Bildern, die im 17. Jahrhundert darnach gemalt worden sind und die alle ganz anders aussehen, als wenn etwa später ein entschlossener Linearist sich des Themas bemächtigt. Lange Reihen von gleichmäßigen Fensterscheiben sind an sich nicht unmalerisch, es fragt sich nur, wie sie gesehen werden. Der eine sieht nur die Linien und die rechten Winkel, für den anderen sind es die höchst reizvoll in Hell und Dunkel vibrierenden Flächen.

Jede Zeit faßt die Dinge mit ihren Augen auf und niemand wird ihr das Recht dazu bestreiten, der Historiker aber muß jedesmal fragen, wie ein Ding von sich aus gesehen zu werden verlangt. In der Malerei ist das leichter als in der Architektur, wo der willkürlichen Auffassung keine Schranken gesetzt sind. Unser kunsthistorisches Abbildungsmaterial ist durchsetzt mit falschen Ansichten und falschen Wirkungsinterpretationen. Hier hilft nur die Kontrolle durch das zeitgenössische Bild.

Ein vielformiger, spätgotischer Bau, wie das Rathaus von Löwen, darf nicht so gezeichnet werden, wie ein modernes, impressionistisch erzogenes Auge ihn sieht (wenigstens ergibt das keine wissenschaftlich brauchbare Aufnahme) und eine flachgeschnitzte, spätgotische Truhe darf nicht in der gleichen Art aufgefaßt werden wie eine Rokokokommode: beide Objekte sind malerisch, allein der zeitgenössische Bildervorrat gibt dem Historiker genügend deutliche Weisungen, wie das eine Malerische vom andern unterschieden bleiben soll. 75

 

2.
Beispiele

Von dem Unterschied malerischer und nichtmalerischer (oder strenger) Architektur wird man eine anschauliche Vorstellung am bequemsten da gewinnen können, wo der malerische Geschmack mit einem Bauwerk des alten Stils sich hat auseinandersetzen müssen, das heißt wo ein Umbau ins Malerische vorliegt.

Rom. Ss. Apostoli

Die Kirche Ss. Apostoli in Rom besitzt einen Vorbau, der im Stil der Frührenaissance als zweigeschossige Bogenhalle ausgebildet war, mit Pfeilern unten und dünnen Säulen oben. Im 18. Jahrhundert ist die obere Halle geschlossen worden. Ohne das System zu zerstören wurde eine Wand geschaffen, die, durchaus auf den Eindruck der Bewegung abgestellt, in typischem Gegensatz zum strengen Charakter des Erdgeschosses steht. Insofern dieser Eindruck der Bewegung mit Mitteln der Atektonik erreicht ist (Hinaufrücken der Fenstergiebel über die Linie des Bogenansatzes) oder aus dem Motiv der rhythmischen Gliederung sich herleitet (ungleiche Akzentuierung 76 der Felder durch die Statuen der Balustrade), lassen wir die Sache auf sich beruhen; auch die eigentümliche Gestaltung des Mittelfensters, das aus der Fläche herausdrängt – am Rande unserer Abbildung –, darf uns hier noch nicht beschäftigen; wurzelhaft malerisch aber ist das, daß die Formen hier durchweg das Isolierte und Tastbar-Körperliche verloren haben, so daß die Pfeiler und Bogen der unteren Halle daneben wie etwas ganz anderes, als die einzigen wirklich-plastischen Werte erscheinen. Das liegt nicht an der stilistischen Einzelbildung, der Geist der Formgebung ist ein anderer. Nicht die bewegte Führung der Linie an sich (in der Brechung der Giebelecken) ist das Entscheidende, noch die Vervielfachung der Linie an sich (in den Bogen und den Trägern), sondern daß eine Bewegung sich erzeugt, die über das Ganze hinzittert. Diese Wirkung setzt voraus, daß der Beschauer von dem bloß tastbaren Charakter der architektonischen Formen abzusehen vermag und imstande ist, dem optischen Schauspiel sich hinzugeben, wo Schein mit Schein sich verflicht. Die Formbehandlung leistet dieser Auffassung allen denkbaren Vorschub. Es ist schwer, fast unmöglich, der alten Säule als plastischer Form habhaft zu werden und die ursprünglich einfache Archivolte ist der unmittelbaren Greifbarkeit nicht minder entzogen. Durch Ineinanderschachtelung der Motive – Bogen und Giebel – kompliziert sich die Erscheinung vollends derart, daß man immer mehr die Gesamtbewegung der Fläche als die einzelne körperliche Form aufzufassen getrieben wird.

In der strengen Architektur wirkt jede Linie als Kante und jedes Volumen als fester Körper; in der malerischen Architektur setzt der Eindruck der Körperlichkeit nicht aus, aber mit der Vorstellung des Tastbaren verbindet sich jene Illusion von durchgehender Bewegung, die sich gerade aus den nichttastmäßigen Momenten des Eindruckes herleitet.

Eine Balustrade des strengen Stils ist die Summe von soundso viel Balustern, die sich als tastbare Einzelkörper im Eindruck behaupten, bei einer malerischen Balustrade dagegen ist es das Geflimmer des Formganzen, das in der Wirkung voransteht.

Eine Decke der Renaissance ist ein System von klar begrenzten Feldern; im Barock, auch wo die Zeichnung sich nicht verwirrt und die tektonischen Grenzen nicht aufgehoben sind, ist es die Bewegung des Ganzen, auf die die künstlerische Absicht eingestellt ist.

Rom. S. Andrea della Valle

Was solch eine Bewegung im großen bedeutet, erhellt nun ganz überzeugend aus einem Beispiel wie der Prachtfassade von S. Andrea in Rom. Unnötig, das klassische Gegenstück daneben abzubilden. Form um Form ist hier 77 gleich einzelnen Wellen derart in das Gesamtgewoge übergeführt, daß sie darin vollständig untergeht. Ein Prinzip, das dem der strengen Architektur direkt zuwiderläuft. Man kann absehen von den besonderen dynamischen Mitteln, die hier zugunsten der starken Bewegung aufgeboten sind – das Vortreten der Mitte, die Häufung der Kraftlinien, die Brechung von Gesimsen und Giebeln –, als unterscheidendes Merkmal gegenüber aller Renaissance bleibt immer übrig, wie die Formen ineinander spielen, so daß unabhängig vom einzelnen Wandfeld, unabhängig von den besonderen füllenden, rahmenden, gliedernden Formen ein Bewegungsschauspiel entsteht, das rein optischer Art ist. Man stelle sich vor, wie viel von dem wesentlichen Eindruck dieser Fassade in einer Zeichnung mit bloßen Pinseltupfen aufgefangen werden könnte und wie umgekehrt alle klassische Architektur die bestimmteste Wiedergabe von Proportion und Linie verlangt.

Die Verkürzung tut ein übriges. Der malerische Bewegungseffekt wird um so leichteres Spiel haben, wenn die Flächenproportionen sich verschieben und der Körper als Erscheinungsform von seiner wirklichen Form sich scheidet. Barockfassaden gegenüber fühlt man sich immer aufgefordert, den Standpunkt seitlich zu nehmen. Indessen ist hier nochmals daran zu erinnern, daß jede Epoche ihr Maß in sich selbst trägt und daß nicht alle Ansichten zu allen Zeiten erlaubt sind. Wir sind immer gern geneigt, die Dinge noch malerischer zu nehmen als sie gemeint sind, ja das ausgesprochen Zeichnerische, wenn es irgend geht, ins Malerische hinüberzudrängen. Man kann eine Fassade wie den Otto-Heinrichsbau des Heidelberger Schlosses auf das Flimmernde hin sehen, aber es ist zweifellos, daß für seine Erbauer diese Möglichkeit keine Bedeutung gehabt hat.

Rom, S. Agnese an Piazza Navona

Mit dem Begriff der Verkürzung haben wir das Problem der perspektivischen Ansicht angeschnitten. Es spielt in der malerischen Architektur – wie gesagt – eine 78 wesentliche Rolle. Wir verweisen für das früher Ausgeführte auf das Beispiel von S. Agnese in Rom. Eine Zentralkirche mit Kuppel und zwei Fronttürmen. Der reiche Formenapparat begünstigt eine malerische Wirkung, ist aber an sich noch nichts Malerisches. S. Biagio in Montepulciano setzt sich aus denselben Elementen zusammen, ohne stilistisch verwandt zu sein. Was hier den malerischen Charakter der Komposition ausmacht, ist jenes Einbeziehen der wechselnden Ansicht in die künstlerische Rechnung, das natürlich nie ganz fehlt, aber bei einer von vornherein auf optische Effekte gerichteten Formbehandlung ganz anders legitimiert ist als bei einer Architektur des reinen Seins. Jede Abbildung bleibt unzulänglich, weil auch das überraschendste perspektivische Bild eben nur eine Möglichkeit darstellt und der Reiz gerade in der Unerschöpflichkeit der möglichen Bilder liegt. Während die klassische Architektur ihre Bedeutung im Körperlich-Wirklichen sucht und die Schönheit der Ansicht nur als das selbstverständliche Resultat aus dem baulichen Organismus hervorgehen läßt, ist hier die optische Erscheinung von Anfang an etwas Bestimmendes für die Konzeption: die Ansichten, nicht bloß die Ansicht. Das Gebäude geht in sehr verschiedene Gestalten ein und dieser Wechsel der Erscheinungeweise wird als Bewegungsreiz genossen. Die Ansichten drängen einander entgegen und das Bild mit Verkürzung und Überschneidung einzelner Teile wird so wenig als ungehöriger Nebenfall beurteilt wie etwa die perspektivisch ungleiche Erscheinung von zwei symmetrischen Türmen. Die Kunst sorgt dafür, das Bauwerk für den Beschauer in bildmäßig ergiebigen Situationen festzulegen. Das bedingt immer eine Beschränkung der Standpunkte. Es liegt nicht im Interesse der malerischen Architektur, den Bau allseitig umgehbar, das heißt betastbar hinzustellen, wie das das Ideal der klassischen Architektur gewesen ist.

Seine höchste Steigerung erfährt der malerische Stil in Innenräumen. Die Möglichkeiten, das Tastbare mit dem Reiz des Untastbaren zu verbinden, liegen hier am günstigsten. Hier erst kommen die Motive des Unbegrenzten und Unübersehbaren recht zur Geltung. Hier ist der eigentliche Platz für Kulissen und Durchblicke, für Lichteinfälle und Tiefendunkel. Je mehr das Licht als selbständiger Faktor in die Komposition aufgenommen ist, um so mehr wird die Architektur eine optisch-bildmäßige.

Nicht als ob die klassische Baukunst auf Lichtschönheit und auf die Wirkung reicher Raumkombinationen verzichtet hätte. Aber da steht das Licht im Dienst der Form und auch bei der reichsten perspektivischen Erscheinung 79 ist der räumliche Organismus, die Daseinsform das durchschlagende, und nicht das malerische Bild. Der Bramantesche S. Peter ist herrlich in seinen Durchblicken, allein man wird deutlich spüren, wie aller bildmäßige Effekt nur Nebensache ist gegenüber der gewaltigen Sprache, die die Massen als Körper sprechen. Das Wesentliche dieser Architektur ist das, was man gewissermaßen mit dem Leib erlebt. Für den Barock aber ergeben sich neue Möglichkeiten gerade dadurch, daß neben der Wirklichkeit für den Körper auch eine Wirklichkeit für das Auge anerkannt wird. Man braucht nicht an eigentliche Scheinarchitekturen zu denken, Architekturen, die etwas anderes vortäuschen wollen als was da ist, sondern nur an das grundsätzliche Ausbeuten von Wirkungen, die nicht mehr plastisch-tektonischer Natur sind. Im letzten Grunde geht die Absicht darauf, die schließende Wand und die deckende Decke ihres tastbaren Charakters zu entkleiden. Dadurch entsteht ein höchst merkwürdiges Illusionsprodukt, das die Phantasie des Nordens noch unvergleichlich viel »malerischer« ausgebildet hat als die Phantasie des Südens. Es bedarf nicht der überraschenden Lichteinfälle und der geheimnisvollen Tiefen, um einen Raum malerisch erscheinen zu lassen. Auch bei übersichtlichem Grundriß und völlig klarer Lichtführung hat das Rokoko verstanden, seine Schönheit des Ungreifbaren zu gestalten. – Für Abbildungen sind diese Dinge unzugänglich.

Wenn dann um 1800 im neuen Klassizismus die Kunst wieder einfach wird, das Verworrene sich schlichtet, die gerade Linie und der rechte Winkel wieder zu Ehren kommt, so hängt das allerdings mit einer neuen Andacht zur »Simplizität« zusammen, allein gleichzeitig hat sich die Basis der gesamten Kunst verschoben. Einschneidender als die Wandlung des Geschmackes zum Einfachen war die Wandlung des Gefühls vom Malerischen zum Plastischen. Jetzt ist die Linie wieder ein Tastwert und jede Form findet ihre Reaktion in den Berührungsorganen. Die klassizistischen Häuserblöcke der Ludwigstraße in München mit ihren großen, einfachen Flächen sind der Protest einer neuen Tastkunst gegenüber der sublimierten Augenkunst des Rokoko. Die Architektur suchte ihre Wirkung wieder im reinen Kubus, in der bestimmt-faßbaren Proportion, in der plastisch-klaren Form und aller Reiz des Malerischen fiel als Afterkunst der Verachtung anheim. 80

 


 


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