Ernst von Wildenbruch
Der Astronom
Ernst von Wildenbruch

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Achtes Kapitel

Nach den Erregungen dieser letzten Stunden wirkte die tiefe Ruhe und Stille, welche die jungen Eheleute auf der einsamen Sternwarte empfing, wohltätig und erquickend. Man befand sich in der zweiten Hälfte des Oktobers, aber die Tage waren noch schön, und der Herbst kleidete die Landschaft in prächtige Farben. Lucie richtete ihre Zimmer im oberen Stockwerke ein, und nachdem sie die tausend Sachen und Sächelchen, die ihre Umgebung bildeten, untergebracht hatte, machte sie sich daran, dem ganzen Hause, welches junggesellenmäßig öde und verwahrlost aussah, Häuslichkeit und Behaglichkeit zu verleihen. Flure und Treppen wurden mit Teppichläufern belegt, an den kahlen Flurfenstern Gardinen angebracht, Hängelampen an den Decken befestigt.

Endlich wagte sie sich bis in die Gemächer ihres Mannes, um zu sehen, was sich diesen Gutes antun ließe; aber sie zog sich von solchen Versuchen wieder zurück, als sie bemerkte, wie wenig dem Professor damit gedient war. In seinem Arbeitsraum sollte alles genau so bleiben, wie es gewesen war; kein Stück durfte umgestellt, kein Fetzen Tuch neu 106 angenagelt werden; schon das Gehen und Klopfen, das der Tapezier auf dem Flur verursacht hatte, war ihm lästig gewesen. Lucie beschied sich, aber sie tat es nicht gern; sie fand, daß es ungepflegt bei ihm aussah und überlegte, daß es überhaupt für die Bedürfnisse des Haushalts zweckmäßiger wäre, wenn sein Arbeitszimmer im oberen Stock läge. Der einzige Salon, in dem sie unter Umständen Gäste empfangen konnte, war durch ihn in Beschlag genommen und für die Geselligkeit unmöglich gemacht.

Vorläufig freilich sah es mit der Geselligkeit noch sehr dürftig aus, und es war auch nicht die geringste Aussicht vorhanden, daß es in absehbarer Zeit anders damit werden würde. Der Professor hatte seine Arbeit und seine Bücher und brauchte keine Menschen; Lucie war lediglich auf den Professor angewiesen. Allbachs waren zu den Eltern Annas gereist und sollten erst im November zurückkehren.

Zunächst empfand Lucie die Einsamkeit nicht gerade lästig. Die Neuheit ihres Zustandes gab ihr Beschäftigung, sie hatte den schönen ausgedehnten Garten, in dem sich in dieser Jahreszeit freilich nicht mehr viel tun ließ, für den sie aber, sobald es Frühling sein würde, alle möglichen Pläne schmiedete. Dazu kam der herrliche Blick von der Plattform, den sie täglich mehrmals mit immer neuer Freude genoß, und endlich hatte sie noch einige unaufgeschnittene englische und französische Romane auf ihrem Zimmer, zu denen sich schlimmstenfalls flüchten ließ.

Der Professor widmete sich ihr mit Eifer, beinah mit Anstrengung. Er ging mit ihr im Garten auf und ab, er saß mit ihr auf der Plattform, und nachmittags nach dem Essen setzte er den runden Filzhut auf, hing eine 107 Botanisiertrommel um und führte sie in den Wäldern spazieren. Lucie verstand nichts von Botanik; um so mehr Gelegenheit für ihn, sie darin zu unterrichten. Die Spaziergänge wurden zu Wandervorträgen.

Anfänglich staunte sie über die Unerschöpflichkeit der Natur und das allumfassende Wissen ihres Mannes. Jede Fichtennadel gewann Bedeutung, jedes Sandkorn wurde ihr lebendig. Dann regte sich verstohlen die Sehnsucht, daß die Natur weniger unerschöpflich sein möchte, damit sie einmal ein Ende der unaufhörlichen Belehrung absähe, und schließlich ging sie zu den Spaziergängen mit dem Gefühl eines Schulmädchens, das tagaus tagein denselben Weg zur Schule trottet – sie wurden ihr langweilig.

Der wenigst angenehme Teil des Tages waren die Abendstunden. Beide Gatten saßen sich nach dem Abendessen ziemlich wortkarg gegenüber. Doppnau besaß keine Gabe für die Unterhaltung, und Lucie getraute sich nicht recht heraus. Über wissenschaftliche Dinge wagte sie nicht mit ihm zu sprechen, und alles andere erschien ihr ihm gegenüber so unbedeutend. Für Literatur hatte er ja leider kein Interesse. Sie hatte einmal den Versuch gemacht, ihn dazu zu bekehren und aus ihrer kleinen Bücherei Goethes Gedichte hervorgeholt. »Da«, sagte sie, indem sie das Gedicht ›An den Mond‹ aufschlug und ihm das Buch hinschob, »lies mir das einmal vor.«

»Aber wozu denn?« erwiderte er, indem er das Buch zurückschob, »Du kannst es ja sicherlich auswendig.«

Aber sie bestand darauf; es wäre so schön, und sie hörte es so gern.

Er sträubte sich darauf noch etwas, dann wurde er rot 108 wie ein Schuljunge, und mit einem verlegenen Lächeln ergriff er schließlich das Buch.

Er hatte die erste Strophe kaum zu Ende gelesen, als Lucie ihm das Buch aus der Hand riß.

»Hör' auf,« rief sie, »Du verdirbst mir das ganze Gedicht!«

Er hatte die Verse wirklich trostlos abgeleiert. Doppnau lachte, aber der Ärger klang durch sein Lachen hindurch.

»So sind die Frauen,« sagte er, »immer inkonsequent; ich hatte Dir ja gesagt, daß das nicht für mich wäre.«

Seitdem gab sie weitere Versuche in dieser Richtung auf. Sie hatte Goethe erwählt, weil das ihrer Meinung nach der einzige Dichter war, den die Männer der Wissenschaft noch gelten ließen – wie würden ihre modernen Lieblinge erst weggekommen sein.

Von da an trat eine schweigende Vereinbarung zwischen ihnen ein, daß, wenn das Abendessen beendigt war, jeder der Gatten ein Buch für sich nahm, und daß sie lesend eine oder zwei Stunden bei der gemeinsamen Lampe saßen.

Mit den ersten Tagen des November meldete sich der Winter in Gestalt des ersten Schneefalls an. Es war nur eine leichte Decke, die sich über Höhen und Tiefen breitete und der Landschaft einen neuen Reiz verlieh, der Lucie entzückte; kurze Zeit darauf hing er in glitzernde Tropfen verwandelt an Sträuchern und Bäumen.

Acht Tage später aber wurde es wirklicher ernsthafter Winter. Ein eisiger trockner Wind machte die Erde im Frost erstarren und blies alles, was von verkrümmten, verkümmerten Blättern noch an den Bäumen hing, herunter, dann kam 109 ein mächtiger, dichtflockiger Schneesturm, und diesmal blieb der Schnee liegen.

Als Lucie eines Morgens zum Fenster hinausblickte, sah sie die Fichtenkronen im nahen Walde mit schweren weißen Haufen belastet und rings um das Haus eine glatte weiße Fläche.

Zuerst schlug sie bei dem blendenden Anblick vergnügt wie ein Kind in die Hände – dann bekam sie einen Schreck. Man war ja völlig eingeschneit hier oben und konnte keinen Schritt mehr aus dem Hause tun! Doppnau, dem sie ihre Not klagte, lächelte sie schmunzelnd an und meinte, daran müsse sie sich nun eben gewöhnen, das wäre hier im Winter nicht anders.

Lucie schlug abermals die Hände zusammen.

»Aber was soll man denn nun machen?« rief sie.

Er sah sie an, als verstände er sie nicht. »Wieso? Was man machen soll?«

»Nun ja, wenn man abgeschieden ist von aller Welt?«

»Sehr einfach,« entgegnete er, »man arbeitet.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Du denkst an Dich,« sagte sie.

Er schaute sie prüfend von der Seite an. »Ich denke, im Wörterbuch der Frau steht das Wort Arbeit auch,« meinte er, »und beschäftigen kann sich eine Frau auch!«

Er sprach etwas gedehnt; Lucie fühlte sich zur Rede gestellt, geschulmeistert; die Röte der Ungeduld stieg ihr in die Stirn.

»Ich bin Dir sehr dankbar für Deine guten Lehren,« sagte sie mit einem kurzen Lachen, »aber man kann nicht den ganzen Tag kochen, waschen, stricken und sticken.« 110

»Man kann auch lesen,« gab er kurz zur Antwort.

»Man kann auch nicht immer lesen,« erklärte sie, »man muß als Mensch mit Menschen verkehren.«

Der Professor strich sich durch den Bart. »Allbachs kommen ja nächstens zurück.«

»Ja, um Gottes willen,« rief sie, »sollen wir denn immer und immer nur mit Allbachs verkehren? Werden wir mit gar niemand anderem zusammenkommen?«

Er ging eine Zeitlang schweigend im Zimmer auf und ab.

»Vorläufig nicht,« sagte er.

»Aber warum denn nicht?«

Er unterbrach seinen Gang, blieb vor ihr stehen und sah ihr in das ärgerlich erregte Gesicht.

»Weil ich diesen Winter zu arbeiten habe, viel zu arbeiten, und weil das in erster Linie kommt; ich hoffe, daß wir darüber einig sind.«

Er hatte mit scharfer Betonung gesprochen; Lucie wandte sich ab und erwiderte nichts.

Doppnau ging in sein Arbeitszimmer und blieb gedankenvoll an seinem Schreibtische stehen. Die düsteren Sorgen, die ihn in schlaflosen Nächten heimgesucht hatten, kehrten zurück: Die verwöhnte Frau aus der großstädtischen Welt, war sie die Gefährtin im arbeitsvollen Dasein eines einsamen Gelehrten?

Dann schob er mit energischem Ruck den Stuhl zurück und setzte sich an den Tisch; mit der flachen Hand schlug er darauf, als gäbe er sich selbst eine stumme Beteuerung; mochte es kommen, wie es wollte, hier war sein Reich, und daran sollte ihm niemand rühren! 111

Er schob die Papiere zurecht; ihr Rauschen und Knistern tönte ihm wie eine bekannte Stimme; seine Arbeit sprach zu ihm, und sie war mit ihm zufrieden. Er hatte für sie gekämpft und gesiegt, er hatte sich den Winter erobert und nun konnte er arbeiten, arbeiten, arbeiten.

Dieser Gedanke gab ihm die Seelenruhe wieder und stimmte ihn schließlich ganz heiter. Nun brauchte er nicht mehr auf der Plattform zu sitzen und nach Unterhaltungsstoffen zu suchen, nicht mehr im Walde spazieren zu gehen und über Botanik Vorträge zu halten, während er an Ekliptik und Parallaxen dachte.

Ein ganzer Haufe von Tätigkeit lag vor ihm: neben seinen täglich fortlaufenden Beobachtungen und Aufzeichnungen wollte er neue Sonnentafeln entwerfen, zur Vervollständigung der vorhandenen Himmelsatlanten neue Sternkarten zeichnen, dazu Aufsätze für verschiedene astronomische Jahrbücher schreiben und mit beinah lüsterner Vorfreude tasteten seine Gedanken bereits an einem großen allgemeinen Werke herum, in dem er die Sonne in Bezug auf ihre stoffliche Zusammensetzung, ihren Umfang, ihre Bewegung und ihr Verhältnis zum Weltraum umfassend darzustellen beabsichtigte.

Zu dem allen gehört Zeit und Ruhe, aber Gott sei Dank, er hatte ja nun beides. Seine Nerven waren durch die letztvergangenen Monate tiefer erregt worden, als er anfänglich geglaubt hatte; er spürte das an manchen äußeren Anzeichen – jetzt sollten sie durch regelmäßige Arbeit wieder in Ordnung gebracht werden. Und so puppte er sich in Arbeit und Behaglichkeit wie eine Raupe in ihrem Gehäuse ein. 112

Anders war es mit Lucie bestellt.

Mit Mühe und Not hatte sie sich in unmittelbarer Nähe des Hauses und auf den nächsten Wegen des Gartens den dicken Schnee zur Seite fegen lassen, so daß eine Wandelbahn entstanden war, auf der sie wenigstens einige Schritte ins Freie tun konnte. Sie benutzte die kärgliche Freiheit, so oft sie vermochte, aber schließlich mußte sie doch immer wieder ins Haus zurück, und dieses Haus gähnte sie an.

So spät wie möglich stand sie des Morgens auf, um dem Tag nur nicht zu früh ins Antlitz blicken zu müssen; sie wußte ja, daß es genau so aussehen würde wie das des vorigen. Doppnau war dann schon lange aus den Federn, hatte sein Frühstück genommen und saß bereits seit Stunden an der Arbeit.

Zum Mittagessen sahen sich die Gatten zum erstenmal, denn sie fühlte, daß sie dem Professor kaum einen Gefallen bereitet hätte, wenn sie ihn vormittags in seinem Zimmer aufsuchte und begrüßte.

Doppnau brach alsdann aus seinem Zimmer hervor, begrüßte Lucie mit einem Kusse und setzte sich mit ihr zu Tisch. Wohlwollend erkundigte er sich nach ihrem Befinden, ob sie die Nacht gut geschlafen hätte, – aber er brachte seine Arbeit im Kopfe mit, sie verließ ihn keinen Augenblick, und beinah mechanisch aß er hinunter, was Lucie ihm vorsetzte.

Wie für alle feineren Genüsse des Lebens, hatte Lucie auch für Speise und Trank einen entwickelten Sinn, daher betrübte es sie, daß ihre Kochkünste so achtlose Aufnahme fanden. Wenn sie ihrem Mann täglich Rindfleisch mit 113 Brühkartoffeln vorgesetzt hätte, er würde kaum bemerkt haben, daß er immer dasselbe aß.

Es gibt für eine Frau kaum etwas Schrecklicheres als einen ganz bedürfnislosen Mann; für das, was sie liebt, muß die Frau sorgen können. –

Der Haushalt, den Lucie zu führen hatte, war an sich nicht groß; nun wurde die Beschäftigung mit demselben natürlich noch geringfügiger.

Sie hatte sich im stillen so darauf gefreut, sich so viel hübsche kleine Augenblicke warmer häuslicher Tätigkeit davon versprochen. Als sie die schönen ungepflegten Räume das erste Mal gesehen, hatte ihre Phantasie ihr ein Bild vorgezaubert, wie sie das ganze Haus umschaffen, mit dem weiblichen Sinn der Behaglichkeit erfüllen, wie sie es aus seiner Behausung in ein Heim verwandeln wollte – und aus dem allen sollte nun nichts werden.

Schüchtern hatte sie einmal während des Mittagessens bei ihrem Manne anzurühren gewagt, wie es wäre, wenn er sein Arbeitszimmer nach oben verlegte? Doppnau aber war geradezu entsetzt vor diesem Vorschlage zurückgeprallt.

Jetzt, wo er seine Sternkarten aufgenagelt hatte, umziehen? Der Gedanke war gräßlich an sich, aber jetzt vollständig unmöglich! Als er Luciens üble Laune bemerkte, faßte er beschwichtigend ihre Hand: »Meinetwegen wollen wir es zum Frühjahr noch überlegen, aber nur jetzt laß mich mit solchen Geschichten in Ruhe. Übrigens«, fuhr er nach einer Zeit fort, »können wir die Sache dann zum Frühjahr so einrichten, daß wir ganz und gar mit den Stockwerken tauschen; Du wohnst und schläfst hier unten, ich oben; bist Du einverstanden damit?« 114

Lucie blickte lächelnd auf ihren Teller.

»Gewiß,« sagte sie, »auf die Art bist Du vor mir am sichersten.«

So blieb denn nichts übrig, als auf das einsame Zimmer hinaufzugehen und die Romane aufzuschneiden, die unaufgeschnitten dort oben lagen. Wenn sie dann so in dem behaglichen Raume, im bequemen Lehnstuhl am Fenster saß, überlegte sie wohl, daß es jetzt gerade wieder so war, wie vor ihrer Verheiratung; nur, daß sich die Tante in ihren Mann verwandelt hatte.

Über die Seiten des Buches, in dem sie las, gingen ihre Blicke in die verschneite Landschaft hinaus, und die Öde, welche draußen lastete, zog hinein in ihr Zimmer und in ihr Gemüt, und es ward darin öde, dumpf und leer. Über ihrem Leben stand, wie mit großen, grauen Buchstaben ein Wort geschrieben, ein häßliches Wort: Langeweile.

Nachdem die Romane ausgelesen waren, griff sie wieder nach ihren alten Büchern, und dabei fiel ihr das schreckliche Stück wieder in die Hände: »Die Gespenster«. Noch einmal las sie die schauerlichen Worte des Schlusses: »gib mir die Sonne.« Einst hatte sie geglaubt, er würde sie ihr geben – war es geschehen? Sie fühlte, daß die Wissenschaft kalte Hände hat, und daß die Gaben, die aus diesen Händen kommen, nicht für das Herz bestimmt sind.

Allbachs waren von ihrer Reise zurückgekehrt, und weiß wie ein Schneemann trat Frau Anna eines schönen Tages bei Frau Lucie ein.

Sie hatte die Freundin seit der Hochzeit nicht gesehen und stürzte nun, strotzend von Lebensfreudigkeit, mit einem Schwall neugierig wohlgemeinter Fragen über Lucie her. 115

Lucie beantwortete sie, so gut es ging; aber ihr war nicht wohl dabei: Sie fühlte das Unbehagen der feineren Natur, die sich mit ihrem Leiden der gröberen, gesunden nicht verständlich machen kann.

»Na und Dein Mann?« fragte Anna, »bis über die Ohren in der Arbeit, nicht wahr?«

Lucie nickte stumm.

»Das hab' ich mir gedacht,« sagte Anna, »es ist nur ein Glück für den Mann, daß er eine so bedeutende Frau bekommen hat; spricht er oft mit Dir von seinen Arbeiten?«

»Nicht sehr viel,« entgegnete Lucie, der es widerstrebte, zu sagen, daß Doppnau nie ein Wort zu ihr über sein Schaffen verlor.

»Das muß Dich nicht grämen,« meinte Anna, »so sind die Gelehrten; Allbach erzählt mir auch nicht viel von seinen Patienten.«

Sie blickte im Zimmer umher. »Wie das wieder reizend und gemütlich bei Dir ist!« sagte sie, »was liesest Du denn da?«

Sie hatte das aufgeschlagene Buch vom Tische aufgenommen und ließ es fallen. »Dantes Hölle? Aber Lucie?«

Lucie lachte unwillkürlich über das Entsetzen auf, das sich in ihren Zügen malte; dann ging ein Schatten über ihr Gesicht.

»Ich habe gefunden,« sagte sie, »daß Dante bei all seiner Phantasie doch etwas ausgelassen hat.«

Anna sah sie stumm erstaunt an.

»Er hätte einen Kreis schildern müssen,« fuhr Lucie fort, »in dem die Verdammten nichts weiter tun, als sich 116 langweilen – das wäre die allerschlimmste Höllenstrafe gewesen.«

Sie klappte das Buch zu und lachte laut. Frau Anna fand, daß ihr Lachen eigentlich nicht hübsch klang.

Dieser erste Besuch Annas blieb für längere Zeit ihr letzter. Der fußtiefe Schnee, der nicht wankte noch wich, lag wie eine trennende Schranke zwischen den beiden fern voneinander belegenen Wohnungen; Doppnau zeigte immer weniger Bedürfnis nach geselligem Verkehr, und Doktor Allbach ging von der Ansicht aus, daß man junge Eheleute nicht zu oft durch Besuch stören dürfte.

»Endlich ein Brief von Klemens,« sagte der Professor eines Tages, als er zum Mittagessen aus seinem Zimmer trat. Es war das erste Mal, daß der Name wieder genannt wurde.

»Kommt er zu Weihnachten?« fragte Lucie.

»Nein,« erwiderte Doppnau, in dem Briefe lesend, »er will uns zu den Pfingsttagen besuchen.« Dann lächelte er. »Sieh, sieh,« sagte er, »der Junge wird immer menschlicher, er bittet, daß wir ihm als Weihnachtsgeschenk unsere Bilder schicken.«

»Unsere?« fragte Lucie etwas gedehnt.

»Ja, ja,« versicherte der Professor, »und er läßt Dich auch grüßen.«

»Sehr gnädig,« meinte Lucie mit einem leichten Lächeln.

»Ich muß wirklich überlegen,« sagte Doppnau, »ich glaube, mein letztes Bild ist vor fünf Jahren gemacht; aber Du hast Dich ja nach unserer Verlobung photographieren lassen; ein reizendes Bild, willst Du ihm das schicken?« 117

»Gewiß,« erwiderte sie, »aber komm jetzt, die Suppe wird kalt.«

Sie hatte in gleichgültigem Tone gesprochen; als sie nun aber auf ihrem Zimmer droben den Kasten öffnete, in dem die Photographien lagen, empfand sie ein eigentümliches Behagen. Die Bilder, auf denen sie munter und keck in die Welt hinausblickte, sahen ziemlich eines wie das andere aus; dennoch wählte sie lange, bis sie sich entschied, und nachdem sie endlich gewählt hatte, hielt sie das Bild sinnend in der Hand.

Wenn man sie gefragt hätte, ob sie während dieser letzten Wochen an Klemens gedacht, sie würde es kaum gewußt haben. Jetzt aber kam ihr die Erinnerung an jenen Augenblick nach dem Hochzeitsmahl zurück, an jenen merkwürdigen Augenblick; und wie die Vorgänge jener Stunde in ihren Einzelheiten vor ihrer Seele wieder auftauchten, fühlte sie, wie eine schwüle Glut aus ihrem Innern bis in ihre Wangen emporstieg, und heiß errötet, als ob hundert fremde Augen auf sie blickten, saß sie in ihrem einsamen, weltfernen Zimmer. Sie hielt das Bild unablässig in Händen, und unwillkürlich malte sie sich den Augenblick aus, wenn er es in die seinigen nehmen und die Augen darauf richten würde. Ob er sie wieder mit jenem düsteren Blicke des Hasses anschauen würde wie damals? Seltsam, daß ihre Gedanken immer und immer wieder zu jenem Augenblick zurückkehren mußten, und doppelt seltsam, daß sie bei der Erinnerung immer wieder denselben unheimlich-süßen Schauer durch ihre Nerven rieseln fühlte.

War es ihr doch gewesen, als ob ihr ganzer Leib in eine Flut getaucht würde, von der sie nicht sagen konnte, ob 118 sie heiß oder kalt war, von der sie nur empfand, daß sie darin eingehüllt war von Kopf bis zu den Füßen wie in einem umstrickenden Wirbel.

Wäre es Liebe gewesen, die aus diesem Blicke auf sie niederströmte, so hätte sie die wollüstige Wärme ja begriffen, die er in ihr weckte – aber so – konnte man sich denn am Haß sonnen?

Aber dann der Blick, den sie über die Tafel hin beim Hochzeitsmahle erhascht hatte. Und dann endlich jener letzte, geheimnisvolle Augenblick, von dem sie sich jetzt fragte, ob sie ihn wirklich erlebt hätte, jenes bewußtlose Zittern, als sie fühlte, wie seine Hände sich um ihren Leib legten und seine Lippen die ihrigen berührten. Wie anders war das gewesen, als jetzt, wenn Doppnau sie küßte! Wie anders!

Bei den Küssen ihres Mannes fühlte sie kaum dessen Mund, nur seinen harten Bart, der ihr in die Haut stach; in Klemens' Berührung war etwas so Weiches gewesen, etwas so Sprödes und unbewußt Verlangendes; – sein Hauch war zu ihr hinübergeweht, rein und kühl wie die Luft, die durch den knospenden Frühlingswald geht, und wie er sie fester und fester an sich gepreßt hatte, war es ihr gewesen, als hielte sie ein marmornes Götterbild in den Armen, das allmählich zum Leben erwachte.

Sie schüttelte das Haupt, steckte die Photographie in ein Kuvert und ging zu ihrem Mann hinunter.

»Hier,« sagte sie, »die kannst Du ihm schicken, und wenn Du ihm schreibst –«

»Soll ich ihn von Dir grüßen?« fragte er.

»Ja,« sagte sie kurz. Sie trat an die Bücherregale 119 und musterte mit scheinbarer Aufmerksamkeit die Titel der Bücher. –

 

Zum Weihnachtsfest bot sich für Lucie die Gelegenheit, dem Professor klar zu machen, daß es nötig sei, sein Arbeitszimmer nach oben und die Gesellschaftsräume nach unten zu verlegen. Sie hatte einen Weihnachtsbaum besorgt und stellte denselben in ihren Zimmern auf. Die Zimmer aber waren so viel niedriger als die im unteren Stock, daß sie ein beträchtliches Stück von dem schönen Baum absägen mußte.

Sie machte ihn auf »diesen Fingerzeig der Natur« aufmerksam, und Doppnau versprach ihr lachend als Weihnachtsgeschenk, daß, sobald er mit seinen Sternkarten fertig sein würde, und spätestens zum kommenden Frühjahr die Verlegung der Räume nach ihrem Wunsche stattfinden sollte.

Das Fest ging im übrigen ziemlich ruhig vorüber; die einzige Aufregung, die es dem Professor brachte, bestand darin, daß er sich den Kopf darüber zerbrach, was er seiner Frau schenken sollte.

Er hatte keine Ahnung von ihren Wünschen und Bedürfnissen und natürlich auch keine Zeit, um allzulange darüber nachzudenken. In seiner Not flüchtete er schließlich zu Frau Allbach, und mit deren Hilfe kam dann ein Kleiderstoff für den nächsten Sommer, ein Paar niedlich gestickte Morgenschuhe und der Stoff zu einem Türvorhange zustande. Im letzten Augenblick fügte der Professor noch Rankes Weltgeschichte hinzu.

Lucie war in Bezug auf ihren Mann in nicht geringerer Ratlosigkeit; auf seinem Platze erschien am Abende der 120 Bescherung ein gefütterter Schlafrock, ein Fußteppich vor den Schreibtisch, eine neue Studierlampe und gleichfalls ein Paar Morgenschuhe.

Am ersten Feiertage waren Doppnaus bei Allbachs, am zweiten Allbachs bei Doppnaus.

Der Professor unterhielt sich mit dem Doktor über seine Arbeiten; Frau Anna strickte, Lucie stickte, und wenn sie merkte, daß ihr das Gähnen kam, bot sie der Freundin Süßigkeiten und Pfefferkuchen an und steckte selbst Pfefferkuchen in den Mund. Es wurde auf diese Weise viel Pfefferkuchen gegessen. 121



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