Ernst von Wildenbruch
Der Astronom
Ernst von Wildenbruch

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Siebentes Kapitel

Die Hochzeit fand zu Berlin im engsten Kreise statt; der standesamtlichen Handlung folgte eine kirchliche Einsegnung. Lucie hatte es so gewünscht, weniger aus religiösem als aus ästhetischem Bedürfnis. Die Ziviltrauung sagte ihr dem Gedanken nach durchaus zu, in der äußeren Erscheinung aber war sie ihr abscheulich. Alles, was Zahl und juristische Form hieß, war ihr unverständlich und verhaßt, und sie wollte nicht durch eine halbunverstandene Vertragsformel ihr Leben dahingeben.

Auf ihren besonderen Wunsch fand die priesterliche Trauung in der Marienkirche statt; sie behauptete, daß die Kirchen Berlins so häßlich, ärmlich und stimmungslos wären, daß es völlig unmöglich sei, in Berlin fromm zu bleiben. Die alte Marienkirche war noch die einzige, die sie halb und halb gelten ließ; da war doch wenigstens ein Hauch von Geschichte, und der Genius Andreas Schlüters war hindurchgegangen und hatte das Denkmal seiner Schritte in Gestalt der marmornen Kanzel zurückgelassen.

Die übliche Schar neugieriger Frauen und Mädchen, 96 die bei keiner Trauung in Berlin fehlen, hatte sich in der Kirche und an der Tür derselben gesammelt und musterte die Ankommenden.

Die zunächst erscheinenden Hochzeitsgäste, unter denen sich Herr und Frau Doktor Allbach befanden, erweckten wenig Interesse; dann kam eine Kutsche, welcher eine auffallend alte Dame und ein auffallend junger Mann entstiegen; Luciens Tante und Klemens.

Die Ellbogen stießen aneinander und ein wisperndes »ach sieh doch bloß mal da!« ging wie ein leise rauschender Seufzer des Staunens und Verlangens durch die Schar der Zuschauerinnen, als Klemens erschien.

Der, welchem die Bewunderung galt, ging schweigend, die Augen zur Erde gesenkt, neben der Tante einher, offenbar ohne eine Ahnung des Eindrucks, den er erweckte.

Endlich kam das Brautpaar selbst.

Sobald der Wagen hielt, wurde der Schlag von innen aufgestoßen, dann sprang ein großer blonder, erregt aussehender Mann heraus, der sich beeiferte, der Gefährtin beim Aussteigen behilflich zu sein. Ein kleiner Fuß in weißseidenem Strumpf und weißem Atlasschuh senkte sich auf das Trittbrett nieder, und eine in prachtvollen weißen Stoff gehüllte Frauengestalt stieg langsam, vornehm und schön herab, den Arm des Bräutigams, den dieser hastig darbot, mit ruhiger Gemessenheit annehmend.

Ihr Antlitz war blaß wie das Kleid, das sie trug; heiß gerötet war das des Bräutigams.

Indem Lucie an Doppnaus Arm durch die Kirche dahin zum Hochaltare schritt, an welchem sich die Geladenen bereits versammelt hatten, schaute sie auf, und ihr Blick fiel auf eine 97 hochaufgerichtete schlanke Gestalt, welche dort vorn, das bleiche Antlitz düster zur Erde gerichtet, stand. Ein plötzlicher Schauer ging ihr durch Mark und Bein. Er erschien ihr verwandelt, gewachsen, bedeutender als früher. Und doch, gerade in dieser verwandelten Gestalt mußte sie ihn schon einmal gesehen haben – wo war das gewesen?

Dieser Gedanke, diese Frage hielt sie fest, wider ihren Willen, unablässig. Die Worte des Predigers gingen halb ungehört an ihrem Ohr vorüber – wo hatte sie diese Erscheinung bereits gesehen?

Jetzt fiel es ihr plötzlich ein, und sie zuckte beinah zusammen: auf einem alten italienischen Bilde hatte sie eine Darstellung des Todesengels gesehen, in der Gestalt eines wunderbar schönen, wunderbar trauervollen Jünglings. Tief hatte sich das geheimnisvolle Bild ihrer Seele eingeprägt; die erloschene Fackel zur Erde gesenkt, stumm auf sie niederblickend, so hatte der Furchtbare auf dem Bilde gestanden; ohne Erbarmen in den strengen, gewaltigen Zügen, und voll namenloser Trauer darüber, daß er erbarmungslos sein mußte.

Ganz wie das Bild hatte Klemens in diesem Augenblick ausgesehen, es war keine Täuschung ihrer Sinne. Und mit Gewalt mußte sie ihre Seele auf das richten, was vor ihr vorging, denn es war wie eine Hand in ihrem Nacken, die ihr das Haupt umwenden wollte nach dem Bilde, vor dem ihr graute, und nach dem sie verlangte.

Nach Beendigung der Feierlichkeit fuhr man nach dem Kaiserhof, wo durch die Fürsorge Doktor Allbachs ein Hochzeitsmahl bereitet war.

Es sollte kein großes, lärmendes Fest, sondern, wie es den Verhältnissen entsprach, eine mehr freundschaftliche 98 Vereinigung sein; man versammelte sich in einigen kleineren Zimmern, an welche sich der geschmückte Speisesaal anschloß.

Als die Neuvermählten erschienen, drängten sich Herren und Damen nochmals grüßend und beglückwünschend um sie; die Damen umarmten Lucie, die Herren küßten ihr die Hand. Als letzter trat auch Klemens heran.

Lucie entfernte rasch den Handschuh und streckte ihm die nackte rechte Hand zu.

»Nun, Klemens,« sagte sie, »von heut an müssen wir uns Du nennen, und man kann sich nicht Du nennen, wenn man nicht gut Freund ist – also gute Freundschaft? Ja?«

Der Professor hatte den Arm um sie geschlungen, er freute sich des ernsten, ruhigen Tons, mit dem sie sprach und des ernsten Ausdrucks ihres bedeutenden Gesichts.

Klemens ergriff ihre Hand und hielt sie einen Augenblick in der seinigen. Er drückte sie nicht, aber Lucie war es, als wenn er sie, beinah prüfend, mit der seinigen umspannte. So war es in der Tat; er fühlte mit unwillkürlichem Staunen, wie klein diese Hand war. Dann beugte er sich nieder, um sie mit den Lippen zu berühren. Auf der zarten Haut des Handrückens hatte sich die Naht des Handschuhs wie ein Muster abgedrückt – einen Moment ruhten die Augen des Jünglings auf dem eigentümlichen Anblick, dann trat er, ohne die Augen zu den ihrigen zu erheben, zurück.

Doktor Allbach, der die Plätze verteilt, hatte es sich nicht nehmen lassen, an der schmalen länglichen Tafel dem jungen Paare gerade gegenüber zu sitzen. Als Hausfreund fühlte er sich dazu berechtigt.

An seine rechte Seite hatte er Klemens genommen, so daß dieser der neuen Schwägerin schräg gegenübersaß. 99

Das seltsame Wesen, das der junge Mann in letzter Zeit zur Schau trug, machte dem Doktor, der zugleich ärztlicher Berater auf der Sternwarte war, Gedanken. Er war der Ansicht, daß er sich von der Überanstrengung der Examenarbeiten erholen müsse, und meinte, daß sich kein besserer Anfang für diese Kur finden ließe, als das heutige Fest, bei dem er den Jungen einmal lustig machen wollte. Wenn er auch wirklich ein Glas Champagner über den Durst tränke, es würde kein Unglück sein.

Die Unterhaltung kam bald in muntersten Fluß; der Prediger hatte die übliche Tischrede gehalten, Doktor Allbach hatte einen Riesentoast in die Welt gesetzt, bei dem er von den Planeten des Himmels ausgehend, allmählich zur Erde hinabgestiegen war, um auf der Sternwarte bei der Familie Doppnau zu enden; noch andere Toaste waren gefolgt; Lucie war angeregt, heiter und liebenswürdig geistvoll wie selten.

Mitten im Gespräch wandte sie sich plötzlich halb zur Seite – es war ihr gewesen, als wenn jemand sie von dort mit langem, ernstem Blick betrachtet hätte. Es waren Klemens' Augen, die sich jetzt eilend zurückzogen, die sie aber noch auf der Flucht erhaschte. Sein Blick hatte stumm beobachtend auf ihr geruht, in seinen Wangen begann ein leises Lebensrot aufzusteigen, der Ausdruck seines Gesichts war heller geworden als zuvor.

Eine heiße Freudigkeit schwoll jählings in Lucie empor und einer unwillkürlichen Eingebung gehorchend, riß sie aus dem Strauße von weißen Rosen, die sie an die Brust gesteckt hatte, eine Rose heraus und warf sie zu Klemens hinüber. Die Blume fiel gerade auf den Teller, der vor ihm stand; eine glühende Röte überflammte plötzlich sein ganzes Gesicht. 100 Er war so verlegen, daß er nicht wußte, was er tun sollte; endlich ergriff er sein mit Champagner gefülltes Spitzglas, erhob es, gegen Lucie gewandt, und indem er sich über das Glas hin verneigte, trank er es aus.

Der Professor fuhr lachend auf.

»Lucie!« rief er, »Du hast es fertig gebracht, daß der Junge jemand zutrinkt? – Du bist eine Zauberin!«

Alles stimmte ihm jubelnd zu; der Doktor, dessen Begeisterung wuchs, füllte alles, was von Gläsern in seinen Bereich kam.

»Doppnau,« rief er, »Sie sind ein großer Astronom, aber diesen Stern habe ich zuerst entdeckt! Frau Lucie soll leben! Hoch! Hoch! Hoch!«

Lucie war der strahlende Mittelpunkt der hier versammelten kleinen Menschenwelt; sie fühlte es mit Entzücken. In ihren Adern glühte das Blut, in ihrer Seele war ein tief innerliches Jauchzen, in ihren Nerven ein süßes Sehnen, über dem von ferne, von ferne wie ein Traum die Ahnung einstiger Gewährung schwebte. War es das Bewußtsein, daß sie die vergötterte Frau eines Mannes geworden war, den sie verehrte? Vielleicht. Aber sie konnte jetzt, wollte jetzt darüber nicht nachdenken – sie war wie im Rausch, und über den Rausch denkt man erst nach, wenn er vorüber ist.

Sie erhob das Glas und streckte den Arm über den Tisch zu Klemens hinüber. Der weite Ärmel schob sich zurück; bis an das Ellbogengelenk entblößt lag der prachtvolle weiße Arm auf dem weißen Tafeltuch.

»Komm,« rief sie, »stoß' mit mir an, daß es Dir gut ergehe im alten Heidelberg, Du junges Blut!« 101

Ihre leuchtenden Augen lagen wie die Sonne auf seinem Antlitz.

Verwirrt erhob er das Glas, um an das ihrige zu stoßen; es zitterte in seiner Hand, der Doktor hatte es bis an den Rand gefüllt, eine Champagnerwelle floß über und auf Luciens Handgelenk.

»O, ich bitte um Verzeihung,« murmelte er, indem er hastig nach der Serviette griff, um ihr die Hand zu trocknen.

Lucie aber setzte ihr Glas aus der Hand und hielt lachend die Serviette fest.

»Pfui doch!« sagte sie, »so etwas trocknet man mit den Lippen.«

Glühend stand Klemens von seinem Sessel auf, hob vorsichtig ihre Hand in beiden Händen empor und sog mit den Lippen die perlenden Schaumtropfen von dem weißen schlanken Handgelenk.

Die ganze Tischgesellschaft hatte dem eigentümlichen Schauspiele zugesehen, jetzt klatschte der Doktor laut in die Hände.

»Bravo«, rief er, »bravo! Frau Lucie zähmt die Gebrüder Doppnau! Erst den großen, und jetzt auch den kleinen!«

Der Professor aber wandte sich zu ihr und drückte ihr unter dem Tische die Hand.

»O Du Engel,« sagte er leise und zärtlich, »ich verstehe Dich und danke Dir.«

Hatte er ihr vielleicht die Hand zu stark gepreßt? Bei seinem »ich verstehe Dich« war etwas wie der Hauch eines Schattens über Luciens Gesicht gehuscht.

Die Mahlzeit war beendigt, man erhob sich, um in den anstoßenden Gemächern den Kaffee zu nehmen. 102

Die Gespräche wurden ruhiger.

Nach einiger Zeit trat Klemens an den Bruder heran. Es war beschlossen, daß er unmittelbar nach der Hochzeit nach Heidelberg abreisen sollte – in einer Stunde ging der Zug. Er kam, um dem Bruder Lebewohl zu sagen; es war das erste Mal im Leben, daß beide sich auf längere Zeit voneinander trennten.

Mitten in aller Freude griff dem Professor der Schmerz in das Herz, als er die dunklen Augen des Jünglings in tiefer Wehmut auf sich gerichtet sah. Er umschlang ihn mit beiden Armen, und die Brüder lagen sich einen Augenblick schweigend Brust an Brust.

»Mein Junge, mein alter Junge,« sagte der Professor, »Du weißt ja, daß da, wo Dein Bruder ist, Du eine Heimat hast, und daß es immer die alte Heimat ist, und daß es immer so ist, wie es früher war. Nicht wahr? Das weißt Du? Das weißt Du?«

Klemens nickte stumm.

Der Professor wandte sich zu Lucie; sie trat heran; währenddessen zogen sich die Gäste, um den ernsten Vorgang nicht zu stören, in das Nebenzimmer zurück.

Der Professor legte den rechten Arm um Lucie, den linken um Klemens' Schultern.

»Lucie, mein geliebtes Weib,« sagte er, »ich habe Dir zu danken, Du hast mir heute meinen Bruder wiedergegeben. Er weiß, daß er zu uns gehört, er hat es mir gesagt, er wird sich nicht wieder verlieren. Ihr seid jetzt Bruder und Schwester; Ihr seid so weit auseinander gewesen, kommt, zeigt mir, daß Ihr jetzt um so näher beieinander seid, gebt Euch einen Kuß.«

103 Als er dies gesprochen hatte, fühlte er, wie die beiden Menschen, auf denen seine Arme ruhten, zu gleicher Zeit zusammenzuckten.

Klemens senkte in lautloser Befangenheit das Haupt; zitternd drängte sich Lucie an ihren Gatten.

»Das mußt Du nicht verlangen,« flüsterte sie kaum hörbar in sein Ohr, »das nicht.«

Doppnaus Gesicht umwölkte sich.

»Habe ich Dich denn so falsch verstanden?« wandte er sich halblaut an Lucie, »ich glaubte, Du hättest Dich überzeugt, daß er Dich nicht hat kränken wollen, und hättest ihm alles verziehen?«

Lucie gab keinen Laut von sich – was sollte sie auf solche Frage antworten?

Eine Pause entstand; kopfschüttelnd betrachtete Doppnau die beiden, die voneinander abgewandt, ratlos gesenkten Hauptes standen.

»Kommt doch,« sagte er dann laut, »wenn Ihr mir nicht die schönste Stunde meines Lebens verderben wollt, so zeigt mir, daß zwischen Euch Friede und Freundschaft ist, gebt Euch einen Kuß.«

Nun warf Lucie das Haupt in den Nacken und trat einen halben Schritt auf Klemens zu. »Also komm,« hauchte sie.

Noch immer zögerte Klemens.

»Klemens!« mahnte der Professor. Ein Schauer ging dem Jüngling über den Leib, er trat auf Lucie zu und legte beide Hände um ihren Leib. Zuerst so leise, daß er sie kaum berührte, dann stärker, dann drückte er sie an seine Brust. Er hörte das leise Knistern ihres Gewandes an seiner Brust, es überkam ihn wie ein Taumel, wie ein Rauschen des Meeres; 104 der süße Duft, den er geatmet hatte, als er den Brief erbrach, umströmte ihn wie ein laues Gewölk.

Totenblaß waren ihrer beider Gesichter; ihre Lippen senkten sich aufeinander, dann wandten sie gleichzeitig das Haupt und traten zurück.

Alles dies war das Werk eines Augenblicks gewesen; mit einer letzten leidenschaftlichen Umarmung stürzte Klemens auf den Bruder zu; dann schloß sich die Tür hinter ihm.

Doppnau lachte laut und zufrieden.

»Na, war es denn nun so schrecklich?« fragte er, indem er Lucie in die Arme schloß.

Sie gab keine Antwort, sie blickte nicht zu ihm auf, sie zitterte am ganzen Leibe. 105



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