Ernst von Wildenbruch
Der Astronom
Ernst von Wildenbruch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erstes Kapitel

Am Skattische, an dem seit zwei Stunden der Amtsrichter des Orts, der Kreisphysikus und der Wasserbauinspektor an der Arbeit saßen, war eine Pause eingetreten; die Karten lagen auf dem Tisch. Jeder der Kämpfenden benutzte die Ruhe des Waffenstillstandes nach seiner Art.

Der Amtsrichter hatte die Zigarrentasche geöffnet; mit der schmunzelnden Wichtigkeit des verwöhnten Rauchers hielt er Musterung über den Inhalt, und mit gespitzten Fingern hob er eine der braunen Jungfern aus der Reihe der übrigen heraus; der alte Kreisphysikus, seit zwanzig Jahren im Städtchen ansässig und im Amt, folgte altväterlicher Überlieferung und stopfte sich eine frische Pfeife Varinas; der Wasserbauinspektor widmete sich gröberem Genuß. Er hatte sich eine Portion italienischen Salat kommen lassen, denn es war 11 Uhr abends vorbei, und die Wirtschaftsküche gab keine warmen Speisen mehr her.

Alle drei hatten ihr Bier ausgetrunken; dem Kellner, welcher den Salat gebracht, wurden die leeren Krüge behufs frischer Füllung mit Pschorr-Bräu anvertraut. 2

Das Münchener Echte, welches sich jetzt in weitverzweigten Strömen über ganz Norddeutschland ergießt, hatte damals in der kleinen Stadt erst diese einzige Bierstube für sich erobert, und auch diese nur halb, denn neben ihm behauptete sich noch das einheimische Gebräu. Magerer von Körper und blässer von Gesicht als jenes, schien es vor Neid über den Erfolg des bayrischen Nebenbuhlers immer gelblicher und immer dünner zu werden, nur ein mächtiger Bundesgenosse war es, der es am Leben erhielt, ein mächtiger, wenn schon gemeiner, der billigere Preis.

In das kleine Hinterzimmer jedoch, in dem die Skat spielenden Herren saßen, wagte sich der untergeordnete Stoff nicht mehr hinein; hier floß nur der Quell des Echten, Wahren, Guten.

Wer in dieses, durch den Flur vom großen Ausschanksaale getrennte Zimmer eintrat, übernahm schweigend die Verpflichtung, höheren Bierzins zu erlegen; dafür genoß er aber sodann des Anrechts, zu den oberen Zehn des Städtchens gezählt zu werden.

Der Raum war dementsprechend mit einer gewissen vornehmen Ruhe ausgestattet; von der Decke hing eine einzige Gaslampe hernieder, die über dem Skattische schwebend, denselben hell beleuchtete, während die übrigen Teile des Zimmers, namentlich die Fensterecke hinter dem Tische, sich in Schatten hüllten.

Der Kellner war noch nicht zurückgekehrt, der Amtsrichter war eben dabei, mit einem Schneidemaschinchen neuester Art und Mode seine Zigarre an der Spitze kunstgerecht einzukerben, als auf dem Flur vor der Tür des Zimmers ein neuer Gast erschien. 3

Es war ein Mann, dem man etwa vierzig Jahre geben mochte, von kräftigem Körperbau, mit kurz gehaltenem blonden Vollbart und Haupthaar von derselben Farbe.

Er hatte den Raum einen Augenblick mit prüfendem Blick überschaut, dann, als er sah, daß der Tisch in der Fensterecke noch frei war, drehte er sich um und nickte einem, der anscheinend hinter ihm auf dem Flure stand, ermunternd zu; mit kurzem »Guten Abend!« trat er ein.

Beim Erscheinen des andern, der jetzt hinter dem ersten drein kam und mit schüchtern-höflicher Verbeugung an dem Spieltische vorüberging, blickten die Skatspieler unwillkürlich überrascht auf.

Es war ein junger, dem Anschein nach sehr junger Mann, und ein auffallend schöner Mensch.

Ein schlanker Körper trug einen herrlich geformten Kopf, und dieser war von langem, weichem, dunkelblondem, beinah schwarzem Haar umgeben.

Das Gesicht war blaß; aber seine Blässe war nicht die der Kränklichkeit, sondern des Wachstums; Blut und Säfte waren zu den inneren Organen geeilt, um die Entfaltung des blühenden Gewächses zu heizen und zu ernähren.

Alle Wärme und Glut aber, die so von der Oberhaut hinweggerufen war, schlug, wie in einer Flamme vereinigt, aus den Augen wieder zu Tage. Es waren zwei prachtvolle, dunkle Augen, die in schwärmerischer Weichheit aus dem Antlitz des Jünglings herausblickten.

Der Kellner, der mit drei Krügen gegangen war, kehrte mit fünfen zurück; zwei derselben trug er an den Tisch in der Fensterecke, an welchem die beiden Ankömmlinge Platz genommen hatten. 4

»Wer ist denn das?« fragte der Amtsrichter, der mit dem Rücken gegen die Fremden saß, halblaut über den Tisch.

»Kennen Sie die nicht?« kaute der Wasserbauinspektor, der den Teller in der linken Hand hielt und mit der gabelbewehrten Rechten sich den Salat in den Mund schaufelte, zur Antwort, »das ist der große und der kleine Lama vom Sonnenberg.«

»Was?« fragte der Amtsrichter, indem er die frisch angebrannte Zigarre aus dem Munde nahm, »wer? der – Lama?«

»Wissen Sie, was buddhistische Lamas sind?« erwiderte der Wasserbauinspektor, indem er den abgeräumten Teller in die Hände des harrenden Kellners zurückgab.

»Sind mir nicht näher vorgestellt,« versetzte der Amtsrichter, »aber ich denke, so nennt man die Mönche in Tibet?«

»Das stimmt,« sagte der Wasserbauinspektor, der seine Zigarre wieder anrauchte, »tibetanische Mönche, einigermaßen verrückte Heilige, die zu einem oder zweien in Einsamkeit und Abgeschiedenheit leben und ihr Leben damit hinbringen, die Gebettrommel zu drehen und dem Dalai-Lama, wie sich bekanntlich ihr Oberhaupt betitelt, göttliche Verehrung darzubringen. Da hinten, der große Blonde, sehen Sie, das ist der Dalai-Lama, und der kleine Schwarze, das ist der Lama-Novize, der seinen Herrn und Meister anbetet.«

»Erklären Sie sich etwas deutlicher,« sagte der Amtsrichter, indem er die Karten aufnahm und zum Spiel zu geben begann, »Sie scheinen zu vergessen, daß wir uns in den Hundstagen befinden, und daß es unerlaubt ist, den Menschen bei der Hitze mit Rätseln zu peinigen.«

»Sie sind noch nicht lange am Ort,« erklärte der 5 Wasserbauinspektor, »aber was der Sonnenberg ist, werden Sie doch wissen?«

»Meinen Sie die Anhöhe, auf der die Sternwarte steht?« fragte der Amtsrichter.

»Allerdings, und der große Blonde ist der Direktor von der ganzen Geschichte.«

»Ah so, dann weiß ich Bescheid,« sagte der Amtsrichter, »von dem habe ich schon gehört, wie heißt er doch gleich?«

»Professor Doppnau,« mischte sich jetzt der alte Kreisphysikus ins Gespräch, »und es soll ein sehr bedeutender Astronom sein.«

»Ein Licht der Wissenschaft,« fuhr der Wasserbauinspektor in seiner Erklärung fort, »eine Leuchte der Astronomie; darum hat ihm die Regierung auch die Warte da oben ganz nach seinen Angaben erbaut und ihm Vollmacht über Sonne, Mond und Sterne gegeben. Er führt Buch über die großen und kleinen Planeten, kreidet unpünktliche Kometen wegen Verspätung an, und mit der Sonne hat er ein ganz intimes Verhältnis.«

»Beobachtung der Sonne,« nahm der Kreisphysikus wieder das Wort, »darin soll er ganz Besonderes leisten.«

»Vollständig verheiratet soll er mit ihr sein,« sagte der Wasserbauinspektor, »ein ganz neues Fernrohr hat er erfunden, mit dem er sie photographiert, und seitdem wird sie nach allen Richtungen abkonterfeit; nächstens, sagt man, wird er hinaufsteigen und die Sonnenflecke putzen.« Der Wasserbauinspektor lachte laut und befriedigt über seinen Witz.

»Sie sind heute schauerlich geistreich,« sagte der Amtsrichter, »trotzdem verstehe ich noch immer nicht, wie Sie dazu kommen, ihn einen Lama zu nennen.« 6

»Die Sache ist aber sehr einfach,« erklärte der Wasserbauinspektor, »er lebt nämlich mit seinem Bruder, dem kleinen Lama, in totalster Weltabgeschiedenheit da oben auf seinem Sonnenturm.«

Der Amtsrichter war unwillkürlich halb mit dem Kopfe herumgefahren. »Wie denn?« sagte er überrascht, »der junge Mensch, das ist sein Bruder?«

»Na freilich,« nickte der Wasserbauinspektor.

»Das hätte ich aber nicht für möglich gehalten,« fuhr der Amtsrichter fort, »zwei Brüder, die sich so gar nicht ähnlich sehen – außerdem muß der andere ja beinahe zwanzig Jahre jünger sein als er?«

Der Kreisphysikus klemmte das Mundstück seiner Pfeife zwischen den Zähnen fest und beugte sich etwas weiter über den Tisch.

»Ungefähr kommt es auch so 'raus,« sagte er behutsam flüsternd. »Der Vater des Professors ist früh gestorben und die Mutter hat lange Jahre als Witwe gelebt; nachher hat sie sich noch einmal verheiratet.«

»Und das war das Signal für den kleinen Lama,« unterbrach der Wasserbauinspektor, »auf der Bildfläche der Welt zu erscheinen.«

»Zum Henker mit Ihrem ewigen Lama,« sagte fast ungeduldig der Amtsrichter, »leben denn die Eltern noch?«

»Beide längst mit Tode abgegangen,« erwiderte der Wasserbauinspektor.

»Und nach dem Tode der Eltern,« mischte sich der Kreisphysikus wieder ein, »hat der Professor die Erziehung des Jungen ganz allein in die Hand genommen. Vermögen scheint nur wenig dagewesen zu sein, und man sagt, er hätte 7 nicht geheiratet, bloß damit er alles an den Bruder wenden könnte.«

»Das ist ja aber ganz famos,« meinte der Amtsrichter.

»Na ja,« sagte der Wasserbauinspektor, indem er den Stummel seiner Zigarre aus der Bernsteinspitze pustete, »geheiratet hätte er aber so wie so nicht, dazu hat er ja gar keine Zeit.«

»Der junge Mensch,« fuhr der Kreisphysikus fort, »besucht jetzt das Gymnasium hier; er sitzt in Prima und wird zu Michaelis, wie ich gehört habe, sein Examen machen; er soll ebenfalls sehr begabt sein.«

»Ein vierdimensionaler Hecht,« ergänzte der Wasserbauinspektor, »er tut den ganzen Tag nichts als arbeiten und hilft dem Dalai-Lama, wie ich mir habe sagen lassen, schon bei seinen astronomischen Rechnungen. Er soll nämlich ganz toll mit seinem Bruder, dem Professor, sein und ihm geradezu abgöttische Verehrung darbringen. ›Mein Bruder hat das gesagt – mein Bruder hat das gesagt‹ – das ist sein drittes Wort; wenn der Professor morgen zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften gemacht würde, der kleine Lama würde es nur ganz in der Ordnung finden.«

»Nach dem, was der Bruder an ihm getan hat, finde ich das ganz begreiflich,« wendete der Amtsrichter ein, »aber Sie sagten, daß die beiden in klösterlicher Abgeschiedenheit dort oben leben? Das scheint doch nicht ganz zu stimmen, da man sie beim Biere trifft.«

»Das notier' ich auch nachher in meinem Kalender,« sagte der Wasserbauinspektor, »solange ich in die Kneipe komme, habe ich den Großen nur ein einziges Mal hier 8 gesehen, den Kleinen noch nie; Sie haben Glück, daß Ihnen gleich beide in den Schuß laufen.«

»Ich denke mir beinah,« nahm der Kreisphysikus das Wort, »sie werden heute abend bei meinem Kollegen Doktor Allbach gewesen sein; er ist mit dem Professor befreundet von der Universität her, und ich weiß, daß er heute Gesellschaft gehabt hat; ich sollte auch dabei sein, habe aber abgesagt.«

»Was sehr achtungswert von Ihnen ist, da es mir Gelegenheit gibt, Ihnen ein Grand ouvert anzukündigen,« sagte der Wasserbauinspektor, indem er seine Karten offen auf den Tisch legte.

Die beiden Gäste in der Fensterecke waren unterdessen so gänzlich ineinander versunken gewesen, daß sie nicht geahnt haben würden, wie angelegentlich man sich am Skattisch mit ihnen beschäftigte, auch wenn das Gespräch daselbst weniger gedämpft geführt worden wäre, als es geschah.

Professor Doppnau hatte aus der Westentasche ein Stück Bleistift hervorgeholt, dessen abgegriffener Form man ansah, daß es ihn selten oder nie verließ, und mit diesem schrieb er auf der glatt gescheuerten Fläche der Tischplatte Zahlenreihen auf, die zu irgend einer astronomischen Berechnung dienen mochten. Den Kopf in die Hand gelehnt und den Ellbogen auf den Tisch gestützt, folgte der jüngere Bruder in schweigender Aufmerksamkeit der schreibenden Hand.

Der Professor richtete den Kopf auf. »Den Rest«, sagte er, »erkläre ich Dir zu Hause, ich wollte Dir nur andeuten, wie ich dazu gekommen bin – ist es Dir klar geworden?«

Das dunkle Haupt des Jünglings beugte sich noch einmal tief auf die Zifferreihen nieder, dann erhob er das 9 Gesicht mit einem Blick der vor stummer Bewunderung leuchtete, und nickte dem Professor zu.

Doppnau ließ den Bleistiftrest in die Tasche zurückgleiten, dann tat er einen tiefen Zug aus seinem Bierkruge. Mit der linken Hand griff er darauf zu dem des Bruders hinüber und schlug den Deckel zurück. »Dacht' ich es doch,« sagte er lächelnd, indem er in das Gefäß hineinblickte, »da sitzt der Junge wieder die ganze Zeit und hat noch nicht einen Schluck getan. Klemens, Klemens, wie soll das werden, wenn Du unter die Studenten kommst. Prost, Junge, trink' einmal.« Er stieß mit seinem Kruge an den des Bruders. Klemens erhob seinen Krug und senkte die gespitzten Lippen in den Schaum des Bieres, indem er dem Bruder lächelnd zunickte.

»Das ist ja aber gar nichts,« sagte dieser, als er sah, daß der andere absetzen wollte, »das heißt doch nicht Bescheid tun? Einen langen, ordentlichen, gehörigen Schluck will ich sehen.«

Klemens stieß einen Seufzer aus, dann hob er zum zweiten Male den Krug zum Munde, während des Trinkens zu dem Bruder hinüberschielend, ob dessen Strenge sich nicht erweichen würde.

Der Professor aber blieb unerbittlich und ließ ihn saugen und saugen. »Geschenkt,« sagte er endlich, und nun setzte der andere den Krug nieder, indem er sich mit dem ganzen Leibe schüttelte.

»Siehst Du,« fuhr der Professor fort, »das nennt man bei den Studenten ›jemand in die Kanne steigen lassen‹; das werden sie Dir schon beibringen, wenn Du erst Fuchs in Heidelberg bist.« 10

Klemens schüttelte den Kopf, so daß die dunklen Locken ihm um Stirn und Schläfen flogen.

Doppnau brach in ein gedämpftes Lachen aus.

»Aber da hört doch alles auf,« sagte er, »schüttelt sich der Junge wie ein Pudel, der aus dem Wasser kommt, bloß weil er Bier trinken soll. Klementine hätte man Dich taufen sollen, als Du geboren warst, nicht Klemens, denn Du bist wirklich, glaub' ich, ein zimpferes Mädchen. Wie ist's, willst Du eins rauchen? Versuch's, Du mußt es doch einmal lernen!«

Er hielt ihm die geöffnete Zigarrentasche hin; beinah entsetzt stieß Klemens sie zurück.

»Aber Peter,« sagte er mit verlegenem Lächeln, »wie bist Du denn heute nur?«

»Wie bin ich denn?« fragte der Professor, »anders als gewöhnlich?«

Klemens schaute ihm einen Augenblick stumm lächelnd ins Gesicht, dann, als er sah, daß der Bruder sich eine Zigarre aus der Tasche genommen hatte, riß er eilfertig ein Schwefelholz aus dem Behälter, der auf dem Tische stand, strich es an und hielt es ihm zum Anrauchen hin. Seine Finger waren lang, weiß und zart.

»Na also?« nahm Doppnau das Gespräch wieder auf, »was ist denn heute so Besonderes an mir? Wie bin ich denn?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Klemens stockend, »so – wie soll ich sagen – so lustig.«

»Bin ich denn sonst ein Kopfhänger?« fragte der Professor.

»Nein, nein,« fiel der andere ein, »aber – ich weiß nicht – so wie heute habe ich Dich noch nie gesehen.« 11

Der Professor hatte den Kopf hintenüber geworfen und lächelte stumm vor sich hin.

»Sprich Dich nur aus,« sagte er, als der Bruder schwieg.

»Daß Du plötzlich durchaus noch in die Kneipe gehen wolltest –« fuhr dieser zögernd fort.

»Wenn man aus einer Gesellschaft kommt,« erwiderte Doppnau, »in der man so viel süße Bowle hat trinken müssen; und Du versäumst doch auch nichts; Du hast ja Ferien.«

Er trommelte mit den Fingern der rechten Hand leise auf die Tischplatte. Ein längeres Stillschweigen trat ein, Klemens blickte ihn stumm von der Seite an und wagte nicht, seine Gedanken zu stören.

Der Professor war kein schöner Mann; eher hätte man ihn häßlich nennen können. Der kunstlos gehaltene blonde Bart umrahmte ein eckiges, nüchternes Gesicht. Das Gesicht eines Arbeiters, eines harten Arbeiters. Die Nase, die kurz und stumpf aufgesetzt war, ritt in die Welt hinaus, wie ein Gaul, der besser Trab als Galopp geht, freilich ein guter Traber und ein ausdauernder, der mit der Zeit weiter kommen möchte, als mancher rasch aufpringende, feingliedrige Hengst. Kopf und Stirn waren stark, beinah mächtig ausgearbeitet; aber es war grobes Holzschneidewerk, ein Baukasten für mathematische Gedanken-Bausteine, ohne die weichen Rundungen, welche die Phantasie am Haupte des Menschen wölbt, um darin zu ruhen und zu träumen.

Die wasserblauen Augen hatten einen festen, geraden Blick; Augen des Beobachters, die keinen Schleier zwischen sich und dem Gegenstand duldeten, den sie ergriffen hatten. 12

Heute abend aber war etwas darin, was ihnen für gewöhnlich fremd sein mochte, ein weiches Sinnen, ein lächelndes Träumen.

Er hatte jetzt die Beine übereinander geschlagen, so daß sein Rücken an der Stuhllehne lag, die Hände in die Hosentaschen versenkt und sein Kopf wiegte, wie im Selbstgespräch, auf und nieder.

Plötzlich fuhr er auf, es sah aus, als käme er aus weiter Ferne zurück. Seine Hand griff nach der Uhr, dann tippte er den Bruder auf das Knie. »Na, Klemens, alter Junge?« sagte er, indem er ihm lächelnd ins Gesicht sah. Der kurze Satz blieb unvollendet; es war wie ein unartikulierter Laut des Herzens, arm an Worten, reich an Gehalt; wohlwollende Güte verklärte sein ganzes breites Gesicht und strömte wie eine warme, weite Welle zu dem jungen Bruder hinüber.

»Was meinst Du?« fuhr er fort, »es ist Zeit, wollen wir nach Hause gehen?«

Er hatte noch kaum geendet, als Klemens schon aufgesprungen war. Mit einer beinah drolligen Hast riß er seinen und des Professors Hut vom Nagel. »Freilich,« sagte er, »wir wollen gehn, wir wollen gehn.«

Als die Brüder auf die nachtdunkle Gasse hinausgetreten waren, hing Klemens sich in den Arm des Älteren. »So,« sagte er, indem er sich mit weicher Zärtlichkeit an ihn schmiegte, und dieses »so« klang, als hätte er sagen wollen: »nun hab' ich Dich endlich wieder.«

Schweigend verfolgten sie ihre Straße, die langsam steigend, aus der Stadt zu dem Berge hinaufleitete, auf dem die Sternwarte stand. 13

»Wie hat es Dir denn eigentlich heute abend bei Allbachs gefallen?« unterbrach Doppnau endlich die Stille.

»Langweilig,« erwiderte Klemens kurzweg.

»Langweilig? warum denn?«

»Ich habe gar nicht gewußt, was ich da sollte,« antwortete Klemens, »gegessen und getrunken hab' ich, weiter nichts.«

»Nun, nun, es gibt auch noch schlechtere Beschäftigungen im Leben,« begütigte der Professor.

»Und Du warst gar nicht für mich da,« fuhr Klemens schmollend wie ein eifersüchtiges Mädchen fort, »Du böser Peter Du!«

Doppnau brach in ein lautes Gelächter aus.

»Du brauchst nicht zu lachen, es ist mein Ernst,« murrte Klemens.

»Ich lache gar nicht über Dich,« versetzte Doppnau; »ich mußte nur daran denken, wie Fräulein Lucie heut abend lachte, als sie erfuhr, daß ich Peter hieße.«

Klemens ruckte unwillkürlich am Arme des Bruders. »Darüber hat sie gelacht?« fragte er mit dem Tone vorwurfsvollen Staunens; »was ist denn aber dabei zu lachen?«

»Sie besitzt nämlich einen Dompfaffen,« fuhr der Professor fort, der in seiner guten Laune die Betroffenheit des Bruders gar nicht bemerkt hatte; »ein unglaublich possierliches Kerlchen, wie sie mir erzählte, und der heißt auch Peter, und als sie hörte, daß wir Namensvettern wären, wollte sie sich ausschütten vor Lachen.«

Klemens blieb plötzlich stehen und sah den Bruder mit großen Augen an. »Das finde ich aber unglaublich taktlos,« sagte er. 14

»Ach mach doch keine Geschichten,« erwiderte Doppnau, »es war ja ganz reizend und allerliebst, wie sie es herausbrachte.«

Er hatte den Arm des Bruders, der ihm entschlüpft war, wieder fester in den seinigen geklemmt und setzte den Weg mit ihm fort. Klemens ging in schweigender Erregtheit neben ihm her.

»Das begreife ich aber nicht,« sagte er nach einiger Zeit, »wie man auf solche Vergleiche kommen kann, wenn man die Ehre hat, neben einem großen Gelehrten zu sitzen.«

»Dummes Zeug.« versetzte der Professor, »es gibt für den großen Gelehrten wie für den Menschen überhaupt gar nichts Gesunderes, als sich von Zeit zu Zeit in liebenswürdiger Weise auslachen zu lassen.«

Klemens wagte keine Einwendungen mehr; schweigend gingen sie einige hundert Schritte weiter; der Professor räusperte sich einige Male, wie jemand, der zum Sprechen ansetzen will und das, was er auf dem Herzen hat, nicht herausbringt. Mit möglichst gleichgültigem Tone sagte er endlich: »Du hast Fräulein Lucie Immenhof heute zum ersten Male gesehen? Hm?«

»Ja,« antwortete Klemens einsilbig.

»Na, was hat sie für einen Eindruck auf Dich gemacht?«

»Gar keinen,« versetzte Klemens trotzig.

»Rede doch nicht solches Zeug,« fuhr der Professor, unwillkürlich aus seinem gleichgültigen Tone herausfallend, auf.

»Schlecht hat sie mir gefallen,« rief jetzt ganz hitzig Klemens, »schlecht!«

»Ach, was das heißen soll!« sagte Doppnau, indem er 15 seinerseits stehen blieb und den Arm des Bruders fahren ließ. »Das ist doch der reine Trotz, der aus Dir spricht, der geradezu kindische Trotz!«

Klemens ließ den Kopf hängen und stand, ohne ein Wort zu erwidern, regungslos an seinem Fleck.

»Na komm, wir wollen vernünftig sein,« sagte der Professor, gutmütig lachend. Er schob den Arm des Bruders wieder in den seinen, und abermals setzten sie schweigend ihren Weg fort.

»Daß sie aber auffallend hübsch ist, das kannst Du doch nicht leugnen,« brach er nach längerer Stille wieder heraus; seine Gedanken waren also noch immer bei demselben Gegenstand.

»Mag ja sein, daß sie manchem gefällt,« maulte der Gefragte zur Antwort.

Der Professor räusperte sich wieder; es ließ ihm offenbar keine Ruhe, er mußte von Fräulein Lucie sprechen, aber es wurde ihm nicht leicht, das merkte man.

»Herrliche Augen,« sagte er vor sich hin, laut aber kühl, als teilte er einem Kreise von Hörern das Ergebnis eines Rechenexempels mit.

»Furchtbar grell,« stieß Klemens kurz und borstig heraus.

Abermalige Pause im Gespräch, beiden Brüdern stieg die Hitze in den Kopf; mit geröteten Wangen trotteten sie stumm nebeneinander hin.

»Eine ganz reizende Figur,« vertraute sich nach einiger Zeit abermals ganz laut, aber so, als ob der Bruder gar nicht vorhanden gewesen wäre, der Professor an.

»Sehr lang,« kam es sofort, wie ein Federball vom Rackett, knurrend von Klemens' Seite zurück. 16

Dem Professor riß wieder die Geduld.

»Wenn ich nur begriffe, was eigentlich mit Dir ist,« sagte er, abermals stehen bleibend.

»Und wenn ich nur begriffe, warum Du mich so quälst,« erwiderte mit weinerlich verzweifeltem Tone Klemens, »was in aller Welt geht mich denn Fräulein Lucie Immenhof an?«

Doppnau sah ihn einen Augenblick stumm verwundert an, dann schritten sie, ohne sich unterzufassen, weiter.

Der Abhang des Berges, auf welchem die Sternwarte stand, war mit buschigem Strauchwerk bedeckt, das, je höher hinauf, um so dichter wurde; die Sternwarte selbst stand inmitten eines ausgedehnten Gartens.

Die reine Luft, die den beiden Wanderern von Blättern und Bäumen entgegenrauschte, kühlte ihre erhitzten Nerven; nachdem sie noch einige Schritte getan, standen sie vor einer Gitterpforte am Eingange des Gartens.

Klemens sprang voraus, stieß die Tür nach innen auf, und sobald der Bruder nach ihm eingetreten war, drehte er den Schlüssel zweimal im Schlosse herum und schob einen Riegel vor die Planken.

Es sah aus, als hätte er einen Überfall erwartet, gegen den er den Garten schützen wollte.

Sobald dies besorgt war, riß er den leichten Sommerrock, den er trug, von den Schultern, und nun, in Hemdsärmeln, lief er wie ein junges Füllen an dem Professor vorbei, den Laubgang, in dem sie sich befanden, entlang, den Rock über dem Kopf schwingend und ausschüttelnd, wie man ein Tischtuch nach vollbrachter Mahlzeit ausschwenkt.

Doppnau blieb laut lachend stehen.

»Aber Du närrischer Kauz Du,« sagte er, als Klemens 17 in langen Sätzen vom Ende des Laubgangs zu ihm zurückkam, »welcher Teufel regiert Dich? Was treibst Du?«

»Fort Tabaksqualm,« rief Klemens, ganz außer Atem, »fort Biergeruch, fort Kneipenluft, fort der ganze Abend! Ihr gehört nicht herein in unseren Garten, bleibt draußen! Hier ist es rein, hier ist es schön, hier bist Du, hier bin ich, unsere Bäume, unsere Pflanzen und unsere Sterne! Hier soll nichts weiter herein und niemand anderes und nichts!«

Er hatte die starken jungen Arme um die Schultern des Bruders geschlungen und preßte ihn an sich; der Hut war ihm beim Laufen vom Kopf geglitten, das lange Haar hing über sein Gesicht; er war wie besessen von einer wilden Leidenschaft.

»Hehehe,« sagte Doppnau, indem er sich lachend gegen diese erdrückende Zärtlichkeit wehrte, »laß mich aus, Du erstickst mich.«

»Nur, daß ich recht habe, sollst Du sagen,« schrie Klemens, noch immer keuchend vor Atemlosigkeit, »daß Du fühlst, daß es hier besser ist als in der Gesellschaft und in der Kneipe und irgendwo anders!«

»Ja doch, ja, ich ergebe mich,« antwortete Doppnau, indem er die Arme des jungen Wilden von sich losmachte, »mit Dir ist ja heute einmal nicht zu rechten.«

Er stand vor ihm mit schweigendem, kopfschüttelndem Lächeln; dann strich er ihm die Locken aus dem glühenden Gesicht. Das Licht der Sterne spiegelte in den großen, schwärmerischen Augen; das schöne Antlitz leuchtete im Helldunkel der Sommernacht.

»Du seltsames Kind,« sagte Doppnau, »Du sonderbares Kind.« 18

Aus dem offenen Hausflur, zu dem sie jetzt über einige Stufen hinaufstiegen, leuchtete wie ein verlorenes Glühwürmchen die Flamme eines Lichtes in die Nacht hinaus, das in einer kleinen, blankgeputzten Laterne auf einem Tisch aufgestellt war.

»Aha,« sagte der Professor, »die alte Agathe hat sich über unser langes Ausbleiben gewundert und offenbar gemeint, solchen Nachtschwärmern müsse man heimleuchten.« Er nahm die kleine Leuchte auf, deren Vorhandensein in der Tat der Vorsorge der Alten zu danken war, welche als einziges dienendes Wesen die Wirtschaft für die beiden Brüder führte; dann öffnete er die gegenüberliegende Tür und trat mit Klemens ein.

Es war das Arbeitszimmer des Professors, in dem sie sich befanden, ein großer Raum mit drei Fenstern, die sich auf den, dem Flureingange entgegengesetzten Teil des Gartens öffneten.

Während der Professor den Hut auf einen Stuhl warf, hatte Klemens die Hängelampe, die von der Mitte der Decke niederhing, herabgezogen; ein Schwefelholz flammte über dem Zylinder, und mit einem dumpfen »buff« schlug die Gasflamme empor. Ihr rotgelbes Licht strömte auf die viereckige Platte eines mächtigen Schreibtisches nieder, der so massig inmitten des Raumes stand, daß man hätte denken können, das Zimmer sei um ihn herum gebaut worden. Die Wände ringsumher waren von Bücherregalen eingenommen, die bis an die Decke hinaufreichten.

Auf dem Schreibtische sah es ungefähr wie auf einer Schiffswerft aus, wo in scheinbarer Verworrenheit tausend Bestandteile umherliegen, aus denen schließlich zum Staunen 19 des Uneingeweihten ein wohlgeordnetes, festes Ganze hervorgeht.

Papiere in allen Formen, welche das erfinderische Bedürfnis des Augenblicks gebiert, lagen kunterbunt in Massen verstreut. Große Foliobogen, auf denen sich ungeheuere Zahlensäulen türmten, größere und kleinere Papierfetzen mit angefangenen Berechnungen, mit hieroglyphenartig hingekritzelten Notizen. Und mitten auf diesem Papiermeer schwamm etwas, das Klemens jetzt aufgefischt hatte und emporhielt.

»Sieh doch hier,« rief er aufgeregt, »eine telegraphische Depesche!«

»Donner –,« fuhr der Professor auf, »das kommt aus Madras.«

Mit einem Schritt war er heran und hatte die Depesche dem Bruder aus der Hand gerissen; beinah zitternd vor Aufregung verfolgte dieser das Gesicht des Lesenden.

Die Züge des Professors hatten sich verwandelt; seine Nasenflügel weiteten sich; wie mit Zangen packten seine Augen den Inhalt des Telegramms an.

Mit einem »Hurra« schwang er das Blatt empor; »es ist gelungen,« rief er, »höre das an.« Mit einer vor Erregung stockenden Stimme las er dem atemlos Lauschenden in hastiger Übersetzung des englischen Textes den Inhalt der Depesche vor. Derselbe lautete: »Habe gestern abend, Ihren Anweisungen entsprechend, beobachtet und den Kopf eines Kometen im Sternbild des Kentauren gefunden; grüße und beglückwünsche Sie.«

Klemens stieß einen jauchzenden Schrei aus, flog auf den Bruder zu, umarmte ihn voll stürmischer Freude und küßte ihn. »Peter!« stammelte er, »Peter, großer Mann!« 20

Diesmal wehrte Doppnau der Zärtlichkeit des Jünglings nicht; ein stolzes Lächeln ging über sein Gesicht; die Depesche brachte ihm Kunde von einem großen Siege, den er für die Wissenschaft errang.

Vor einigen Tagen hatte er einen ungewöhnlich starken Sternschnuppenfall beobachtet. Eine solche, im Monat Juli an sich ungewöhnliche Erscheinung hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt. Die ganze Nacht hindurch hatte er das Phänomen beobachtet und den Gang der Sternschnuppen so genau als möglich, ihrem Anfangs- und Ausgangspunkte nach, in die Sternkarte eingezeichnet. Mit unermüdlicher Ausdauer war ihm Klemens dabei zur Hand gegangen, und erst der helle, lichte Morgen hatte die beiden Brüder von der Warte fort in die Betten geschickt. Das Ergebnis war gewesen, daß sämtliche Sternschnuppen aus einem und demselben Punkt am nordwestlichen Himmel hervorbrachen und mit geringen Abweichungen in der Richtung nach Ostsüdost verschwanden. Diese Wahrnehmung hatte den Astronomen auf die Vermutung gebracht, daß der Sternschnuppenfall den Schweif eines Kometen darstellte, dessen Bahn dicht bei der Erdbahn vorübergezogen sein müsse, und nach wenigen Stunden Schlafs hatte er sich daran gemacht, die Bahn des Vermuteten zu berechnen. Wie Herkules mit dem Riesen, so hatte er einen ganzen Tag lang mit der furchtbaren Aufgabe gerungen; es war ein Tag gewesen – die alte Agathe meinte, »so einen Tag würde sie Zeit ihres Lebens nicht mehr vergessen. Mittags war der Herr Professor gar nicht zum Essen gekommen, und was der junge Herr Klemens gegessen habe – das trug auch die Katze auf dem Schwanz fort.«

Klemens war in der Tat den ganzen Tag hindurch nicht 21 aus der Aufregung herausgekommen; auf den Fußspitzen schlich er im Hause hin und her, und mit verhaltenem Atem lauschte er von Zeit zu Zeit an der Tür zu des Bruders Arbeitszimmer. Hineinzutreten und ihn zu stören, wäre ihm wie Tempelschändung erschienen.

Am Nachmittage endlich war die Tür des Heiligtums von innen aufgetan worden und der Professor, ganz rot im Gesicht von der Anstrengung, auf der Schwelle erschienen. Er hatte den Hut bereits auf dem Kopfe gehabt, zum Ausgange fertig. »Komm mit,« sagte er zu Klemens, »ich telegraphiere nach Madras; dort muß der Kopf des Kometen zu erblicken sein, wenn meine Rechnung stimmt.«

Und sie stimmte. Heute abend beim Biere hatte Doppnau sie dem Bruder in kurzen Andeutungen skizziert, und jetzt hielt er die Bestätigung des Gelingens in Händen.

Wie zu einem höheren Wesen blickte Klemens zu ihm auf; er war zurückgetreten und seine Augen ruhten mit dem milden Ausdruck unbegrenzter Ehrfurcht auf dem Gelehrten.

Doppnau hatte die Depesche wieder zusammengelegt und auf den Tisch geworfen.

»Na aber jetzt«, sagte er, »zu Bett, zu Bett, es ist hoch Schlafenszeit.« Der Sturm der Erregung war vorübergebraust, sein Gesicht hatte wieder den einfachen Ausdruck gewöhnlicher Stunden angenommen.

Klemens kam wie aus einer Verzückung zu sich.

»Schlafen?« murmelte er, »kann man denn nach so etwas schlafen?«

»Erst recht,« erwiderte Doppnau kräftig, »bei Nacht soll der Mensch schlafen und meinetwegen träumen, und bei Tage 22 wachen und arbeiten.« Er legte die Hand auf des Jünglings Haupt und strich über das lange, weiche Haar hinunter, »hast Du gehört, Kerlchen? bei Tage nicht träumen, nicht träumen!«

Klemens nickte stumm.

»Übrigens dank' ich Dir noch für die Assistentendienste,« fuhr der Professor fort, »Du hast Deine Sache famos gemacht, sicher beobachtet und richtig eingezeichnet – Du weißt, ich lobe nicht leicht.«

Daß letzteres wahr sein mochte, sah man an der freudigen Überraschung, die leuchtend über des Jünglings Gesicht ging. Er faßte die Hand des Bruders mit beiden Händen.

»Wirklich?« sagte er leise, »bist Du zufrieden mit mir gewesen? Mühe habe ich mir redlich gegeben, das kann ich bezeugen.«

»Ja wirklich, ich bin zufrieden gewesen,« versicherte Doppnau, »und ich bin überzeugt, daß einmal ein tüchtiger Astronom aus Dir wird; darum aber jetzt zu Bett, Du hast bei der Gelegenheit eine Nacht um die Ohren geschlagen, und das ist noch nichts für solchen jungen Spatz, wie Du einer bist, – also gute Nacht.«

Er hatte ein Licht angezündet, die Lampe ausgelöscht und ging auf sein Schlafzimmer zu, das an den Arbeitsraum stieß; die Flurtür schloß sich hinter Klemens, welcher zum oberen Stockwerk hinaufstieg, wo sein Wohn- und Schlafzimmer lag.

Tief in der Nacht wachte Doppnau auf. Er griff nach dem Schnupftuch, das er auf den Nachttisch neben dem Bett zu legen pflegte, und bemerkte, daß er es im Rock hatte 23 stecken lassen, der im Arbeitszimmer lag. Er stand auf, und als er in das Arbeitszimmer trat, glaubte er zu hören, wie jemand von der Treppe her mit leisen Schritten bei der Tür vorüberschlich. Lauschend stand er; die Schritte verloren sich den Flur entlang, und nach einigen Augenblicken hörte er in der Ferne eine Tür gehen; es war dem Schalle nach die Pforte, die in den großen Kuppelsaal führte, wo die Fernrohre und sonstigen astronomischen Instrumente aufgestellt waren.

»Was hat denn das zu bedeuten?« sprach er vor sich hin. Hastig kleidete er sich an, dann trat er auf den Flur hinaus, um dem nächtlichen Wanderer nachzugehen. So behutsam als möglich öffnete er die Tür des Saales, und betroffen blieb er auf der Schwelle stehen.

Der ganze weite Raum war von einer mächtigen, drehbaren Glaskuppel überwölbt, durch welche hindurch man in den sternfunkelnden Nachthimmel hinausblickte, der wie eine zweite ungeheure Wölbung die Kuppel umfing.

Es war ein wunderbarer Anblick, der das Gefühl erweckte, als befände man sich hier im Vorgemach des Himmels. Die riesigen Teleskope, die wie schwarze Schatten regungslos in der Nacht standen, sahen aus wie Sprachrohre, emporgerichtet, um die Stimme der Erde aufzunehmen und hinauszusenden in den unermeßlichen Weltraum, hinüber zu den Planeten, die lautlos, die glühenden Augen auf die Erde gerichtet, durch den Weltraum dahinzogen.

Und an einem dieser großen Rohre saß Klemens, in den Himmel blickend, so ganz in sein Tun versunken, daß er nicht hörte, wie sich die Pforte in seinem Rücken öffnete.

Doppnau blickte in der Richtung des Teleskops empor; 24 in grünlich flimmerndem Licht schwamm dort oben der Jupiter. Das nächtlich geheimnisvolle Treiben des Bruders machte ihn selbst für einige Augenblicke sprachlos.

»Aber Klemens!« sagte er dann mit lauter Stimme.

Der Angerufene fuhr auf, Überraschung und Schreck durchzuckte seine Glieder, sein Antlitz erschien leichenblaß.

»Bei Nacht aufstehen und hierher schleichen?« fuhr Doppnau herantretend fort, »und sich halb angekleidet hersetzen und in den Himmel starren? Junge, Junge, was machst Du mir für Geschichten?«

Es war, wie der Professor sagte: so wie er aus dem Bett gesprungen, war Klemens, so schien es, hergeeilt, in Unterbeinkleidern und Strümpfen, nur einen leichten Rock über das auf der Brust offene Nachthemd geworfen.

Er legte beide Hände an die Stirn und strich sich langsam über die Schläfen hinunter. »O, Peter,« sagte er, »Peter, die Sterne lassen mich nicht schlafen.«

»Und da sitzt er und beobachtet den Jupiter,« sagte der Professor, »als hätte er ihn nicht hundertmal schon durch das Teleskop betrachtet.«

»Aber sieh ihn doch nur an!« rief Klemens, »und sieh, wie wunderbar er aussieht! Peter, ich glaube, die Sterne wachsen, sie werden alle Tage größer und herrlicher.«

Seine laut gesprochenen Worte widerhallten in der Wölbung, es gab einen verworrenen Schall, der wie in einem großen, dumpfen Seufzer endete.

Doppnau hatte sich unter das Fernrohr gesetzt und blickte hindurch; in wundervoller Klarheit erschien die grünlich leuchtende Kugel des Planeten, von seinen Trabantenmonden umtanzt. Nach einiger Zeit erhob er sich. »Es ist aber wirklich 25 gar nichts Außergewöhnliches heute zu sehen,« sagte er ruhig, indem er sich von seinem Sitz erhob.

Klemens trat auf ihn zu, legte die Hände auf seine Schultern und blickte ihn mit den leuchtenden Augen an, während ein geheimnisvolles Lächeln seinen Mund umspielte.

»Nichts Außergewöhnliches zu sehen?« fragte er, die Worte des Bruders wiederholend, langsam und schwer, »o ja doch, Peter, doch. Es sind die Augen der unermeßlichen Welt – kann man denn noch an andere Augen denken, wenn man einmal da hineingesehen hat?« Der Professor wollte etwas erwidern, aber Klemens ließ ihm nicht Zeit dazu. Er beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Weißt Du, was mir klar geworden ist, Peter? Die Sterne sind Götter und dulden keine anderen Götter neben sich; wer sich ihrem Dienste geweiht hat, muß sich ihnen ganz hingeben, ganz und ausschließlich und darf nicht –«

Er stockte, der Professor machte sich ärgerlich los. »Träumer!« sagte er verweisend, »Träumer und Phantast! Wenn Du zu den Sternen hinauffliegen willst, wirst Du Dir das Genick brechen. Ich habe Dir die Leiter gezeigt, auf der man hinaufklettert, sie heißt: die Wissenschaft. Daß es unbequemer und prosaischer sein mag, Stufe nach Stufe zu erklimmen, anstatt sich mit einem Flügelschlage der Phantasie hinauf zu versetzen, mag sein; jedenfalls aber ist es sicherer. Man weiß, wohin man gelangt, und verläuft sich nicht da oben; man behält seinen Zusammenhang mit der Erde, zu der man wieder zurückkehrt, und vergißt nicht, daß man der Erde und der Wirklichkeit angehört.« Er hatte seinerseits den Bruder an der Schulter gefaßt und schüttelte ihn; »verstehst Du, Herr Nachtwandler? Der Wirklichkeit, wie sie war 26 und ist und sein wird! Deren Anforderungen sich jeder zu beugen hat, jeder, mag er sein, wer er will und was er will! Und nun zur Ruh und zu Bett! Es ist mein Ernst. Du siehst jetzt schon aus, als hättest Du Dir ein Fieber an den Leib erkältet.«

Er knöpfte dem Jüngling, dessen halbnackter Körper in der kühlen Luft des dämmernden Morgens zu schauern begann, wie einem Kinde den Rock über der Brust zusammen, dann trat er mit ihm auf den Flur hinaus und verschloß hinter sich die Tür des Saales.

Mit einem leisen »Gute Nacht« schlüpfte Klemens der Treppe zu und verschwand nach den oberen Räumen des Gebäudes. 27



 << zurück weiter >>