Ernst von Wildenbruch
Der Astronom
Ernst von Wildenbruch

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Fünftes Kapitel

Wie tief die Erregungen dieses Nachmittags gewesen waren, das wurde Lucien erst ganz klar, als die Nacht gekommen war und sie im Bett lag.

Sie verfiel in jenen merkwürdigen, an das Wunderbare grenzenden Zustand, den man Halbschlaf nennt.

Wenn es eine Möglichkeit gäbe, sich die Seele eines Verstorbenen vorzustellen, die nach dem Tode umgeht, so müßte sich diese in solchem Zustande befinden; man empfindet sich selbst und sein Bewußtsein – und dennoch schläft man; man denkt – und das Denken ist Traum.

So erging es Lucien.

Ihre Gedanken kehrten zu den Dingen zurück, die heut an ihr vorübergezogen waren, aber diese Dinge wurden zu greifbaren Bildern, ihr Verstand vermochte sie nicht mehr zu beherrschen, und sie nahmen schreckende, wüste Gestalten an.

Sie sah sich am Rande einer endlos ungeheueren schwarzen Tiefe stehen und wußte, daß es der Sonnenfleck war, den sie heut im Teleskop gesehen hatte. Dazu vernahm sie eine bleierne, gleichgültige Stimme, die unaufhörlich die Worte 79 wiederholte: »Die Erde hätte zweimal Platz darin«, und was das Furchtbarste war, hinter ihr war es wie eine drängende Macht, wie eine Hand in ihrem Rücken, die sie näher und näher an die gähnende, unergründliche Tiefe schob.

Dann wieder sah sie sich einsam im öden, unermeßlichen Weltraum, ein heulendes Tosen durchschütterte die Lüfte und jeden ihrer Nerven, und dies Getöse ging von dem ungeheuren Ball aus, der sich mit fürchterlicher Gewalt dicht vor ihren Augen drehte – sie wußte, das war die Sonne. Und plötzlich war es, als zerbärste die riesige Kugel, und mit donnerndem Krachen und Sausen und Zischen schoß eine Feuergarbe daraus empor, eine Säule, ein Turm, immer weiter, immer höher, immer gewaltiger, daß es aussah, als müßte das ganze Weltall zerstoßen und in Brand gesteckt werden.

Und dann kam eine neue, schreckliche Erscheinung: der flammende Ball nahm menschliche Züge an, verwandelte sich in ein furchtbares menschliches Gesicht, in ein Gesicht, um welches lange Haare flatterten, und aus dem zwei vernichtende Augen auf sie starrten; sie las in diesen Augen eine stumme zermalmende Frage: »Was willst Du hier, warum drängst Du Dich in meine Nähe?« Und sie wußte plötzlich, daß es Klemens' Antlitz war, das sie vor sich sah, der Ausdruck seiner haßerfüllten Augen, der aus diesen Augen blickte. Und während der eisige Schreck ihr über den Leib schauerte, konnte sie doch nicht lassen, in dieses wunderbar herrliche Antlitz zu schauen, mit aller Kraft in der Tiefe dieser Seele zu forschen, um zu ergründen, warum er sie haßte. Dabei hatte sie ein Gefühl der Demut, wie sie es noch vor keinem Menschen empfunden hatte; es war ihr, als müßte sie niederknieen, die Hände zu ihm erheben und sprechen: »Hasse mich nicht, ich 80 habe Dir kein Leides getan.« Ein wildes Verlangen war in ihr, diesen Haß brechen, diese eisige, keusche Kälte schmelzen zu sehen, und als der wüste Traum sie dahin gebracht hatte, daß sie flehend die Arme nach ihm ausstreckte – da fuhr sie entsetzt im Bette empor. Sie war erwacht, zu sich selbst gekommen und schüttelte das Haupt, als wollte sie die Bilder des tollen Spuks hinausschütteln.

»Der dumme Junge,« murmelte sie ärgerlich vor sich hin. Es fiel ihr ein, was Doktor Allbach ihr gesagt hatte, daß er sich bei den Arbeiten zum Abiturientenexamen übernommen hätte – ein Schuljunge – war es möglich? Das hatte sie von ihrem gutmütigen Mitleid, daß sie sich mit solchen abgeschmackten Bildern herumschlagen mußte! Und noch dazu ein recht ungezogener Schuljunge, denn als sie die Sternwarte verließen, war er einfach verschwunden gewesen, statt, wie es sich geziemt hätte, den Gästen Adieu zu sagen. Sie ärgerte sich aufrichtig; der Ärger schlug die Wallungen ihres erregten Blutes nieder; sie drehte sich auf die Seite und schlief tief und fest ein. –

 

Zwei Tage nach dem Besuche auf der Sternwarte, als Lucie, die bereits ihre Rückkehr nach Berlin vorzubereiten begann, vormittags mit Anna unter der Veranda saß, ertönte am Allbachschen Hause die Klingel.

Die Augen der beiden Freundinnen huschten gleichzeitig zueinander hinüber, um sofort wieder niederzusinken, ein und derselbe Gedanke schien sie bewegt zu haben. Professor Doppnau wurde gemeldet.

Jedes entscheidende Ereignis kommt, auch wenn es erwartet wurde, im letzten Augenblick doch überraschend; Lucie 81 fühlte, wie sich ihr das Herz eine Sekunde lang zusammenzog, sie wurde leichenblaß, und die Gedanken stürmten ihr durch den Kopf.

In dem krampfhaften Bestreben, sich einen Halt in der wirbelnden Flucht zu verschaffen, tauchte ihr, kaum daß sie wußte, wie und woher, das Bild der alten Tante in Berlin auf, mit faltig zerknittertem, grämlichem Gesicht, mit einem endlosen Strickstrumpf in Händen – eine Verkörperung der Langeweile – und dieses Bild wiederholte sich, ungefähr wie in der durch zwei gegenüberhängende Spiegel hervorgerufenen Perspektive, bis ins Unendliche; hinter der Tante saß die Tante wieder und dann wieder und dann noch einmal und immerfort, hundertmal, tausendmal, unzähligemal, immer dasselbe Gesicht, immer derselbe Strickstrumpf – o schrecklich! nein! nein! nein!

Die Tür des Vorsaals klappte; Professor Doppnau erschien im langen schwarzen Gehrock, den hohen Zylinderhut in der Hand und die Hände in hellilafarbene Glacéhandschuhe eingeknöpft.

Er war im Sonntags-Ausgeh-Anzuge; Luciens erste Empfindung war, daß ihn der Alltag besser kleidete, sie mußte unwillkürlich an ihren Tischlermeister in Berlin denken, wenn ihr derselbe Sonntags Nachmittags im Tiergarten begegnete.

Man befand sich noch im Juli; vielleicht war es die Hitze, die den Professor nötigte, sich mehrmals, nachdem er Platz genommen, die Stirn zu wischen, möglicherweise aber auch die Verlegenheit, denn er war sehr verlegen, sehr.

Frau Annas Anwesenheit hatte jedenfalls mit dem Zwecke seines Besuchs wenig oder nichts zu schaffen, dennoch wäre es ihm schrecklich gewesen, wenn sie nicht dagewesen wäre, 82 und er richtete seine ersten Worte und Fragen ausschließlich an sie.

Der neuliche Besuch würde den Damen hoffentlich gut bekommen sein?

»Vortrefflich,« versicherte Frau Anna, »und es war ja so interessant.«

Würden sich auch hoffentlich nicht auf der Plattform erkältet haben?

»O nein, aber man müßte sich in der Tat etwas in acht nehmen da oben; es wäre etwas zugig.«

Ja, ja, es wäre etwas zugig.

»Aber so schön! die Aussicht!«

»Jawohl, ein außerordentlich schöner Blick.«

Nachdem sich das Gespräch in dieser bewegten Weise noch eine Strecke weitergequält hatte, stand Frau Anna auf, ›um doch einmal zu sehen, ob ihr Mann zu Hause wäre‹, von dem sie eben so genau wie der Professor und Lucie wußte, daß der Doktor erst in einer Stunde heimkehren würde.

Wie ein Alp legte es sich auf die beiden Menschen – sie waren allein.

Nach endloser Pause gelang es dem Professor, die ersten Worte aus der Kehle zu würgen.

»Sie äußerten neulich, gnädiges Fräulein,« sagte er mit heiserer Stimme, »daß es ein wunderbares Leben sein müsse, so immer unter der Last des unermeßlich Großen zu leben.«

Lucie wandte das Haupt nach dem Garten und nickte stumm; so genau hatte er ihre Worte bewahrt.

Er sammelte Kraft zu einem zweiten Satze.

»Ich erlaubte mir – Sie zu fragen, ob Sie sich – 83 ein solches Leben schön denken könnten – mein gnädiges Fräulein –«

Lucie bestätigte mit schweigender Neigung des Hauptes.

»Und Sie sagten darauf, Sie meinten, es gehörte viele Kraft dazu.«

Sie wußte wohl, daß sie so gesprochen hatte.

Er holte aus zum letzten, entscheidenden Anlauf.

»Und – und – würden Sie mir die Kraft zutrauen, Ihnen Stütze zu sein, um ein solches Leben zu ertragen?«

Lucie hatte plötzlich ein Gefühl, als wäre in der ganzen unermeßlichen Welt eine tiefe Stille eingetreten, in der man nur einen Laut hören würde: die Antwort, die sie gab. An ihr war es jetzt, zu sprechen – der Mann hatte seine Frage gestellt.

Und wie gut hatte er das gemacht, wie trefflich hatte seine Verlegenheit ihn geleitet. Wenn es auf der Welt einen Mann gab, dem sie die Kraft zutraute, ihre Stütze zu sein in dem Leben, das ihr dort oben aufgegangen, so war es er; wenn es eine Frage gab, die sie ehrlichen Herzens mit »ja« beantworten konnte, so war es diese. Eine freudige Sicherheit erfüllte ihr Herz, sie wandte das Haupt zu dem harrenden Mann herum, und indem sie ihn mit feurigen, mutigen Augen ansah, sprach sie laut und bestimmt »ja«.

Doppnau sprang auf. »Fräulein Lucie,« rief er. »Ich – ich –« er wollte noch mehr sagen, schluckte aber alles hinunter und endete mit einem nochmaligen »Lucie!« und ergriff ihre beiden Hände, die er küßte und wieder küßte. Ein Strom von Wonne, Herzensgüte und Liebe brach aus seinen Augen und floß wie eine warme Lebenswelle über Lucie dahin, sie umhüllend von Kopf bis zu Füßen, und als 84 sich ihre schöne Gestalt langsam, halb widerstrebend zu Anfang, zu ihm beugte und, von seinen Armen umfangen, an seine Brust senkte, da fühlte sie, daß sie eingegangen war in das große Herz eines trefflichen, bedeutenden, guten und gütigen Mannes.

Die haarscharfe Pünktlichkeit, mit der Frau Anna gerade in diesem Augenblick zurückkam, hätte den Verdacht erwecken können, daß sie nicht übermäßig weit von der Außenseite der Tür fortgewesen sei, und ein müßiger Beobachter hätte auch daraus verdächtige Schlüsse ziehen können, daß sie, in der Verstellung ungeübt, die Tür schon mit einem Jubelschrei aufriß, eigentlich bevor sie noch etwas wissen konnte; aber die beiden Leutchen unter der Veranda befanden sich in einem jener seltenen Augenblicke des Lebens, da der Mensch keine Zeit und keine Lust zur Kritik hat, und dankbar und erfreut nahmen sie die Küsse und die Händedrücke der lieben Frau hin.

Unnötig und unmöglich ist es, den Freudenorkan zu beschreiben, der bald darauf ausbrach, als der Doktor nach Haus kam. Er stürzte auf Lucie zu, ergriff sie an beiden Händen und schaute ihr mit feuchtglänzenden Augen ins Gesicht; dann fiel er auf den Professor, umarmte ihn, hielt ihn an beiden Schultern von sich ab, blickte ihn mit feuchtglänzenden Augen an und erklärte, daß er ihm den Glauben an das männliche Geschlecht Deutschlands zurückgäbe. Dann fühlte er sich veranlaßt, Frau Anna einen Kuß zu geben und im Gebietertone »sofort eine Flasche Champagner« zu verlangen.

Daß der Professor zum Essen dableiben mußte, verstand sich von selbst. Bei der Tafel wurde beraten, wann, wo und wie die Hochzeit stattfinden sollte.

»Im Herbst,« sagte der Professor, »geht mein Bruder 85 auf die Universität, dann werden seine Zimmer frei, und es würde sich dann ganz von selbst machen, wenn Sie –«

»Du! Du! Du!« unterbrach ihn der Doktor.

»Wenn also – Du«, fuhr Doppnau etwas stockend und errötend fort, »dann einzögest.«

Allen leuchtete es ein, daß zum Herbste Hochzeit sein müßte. Nur Lucie empfand ein peinliches Gefühl bei dem Vorschlage.

»Das würde mir vorkommen,« sagte sie, »als ob ich ihn verdrängte und mich gewissermaßen an seine Stelle setzte.«

»Ah, kein Gedanke,« beruhigte der Doktor.

»Aber ich fürchte wirklich, daß er es so empfinden wird,« fuhr sie fort; »er scheint mir von großer Zartfühligkeit zu sein.«

Doppnau, der ihr gegenüber am Tische saß, blickte sie in schweigendem Staunen an; wer hatte sie gelehrt, so in der Seele des seltsamen Jungen zu lesen? Er streckte ihr die Hand über die Tafel zu. »Klemens ist noch ein Kind,« sagte er, »ein schwärmerisches Kind, und Du weißt, daß die Schwärmer die weichsten und zugleich die sprödesten Naturen sind; es bedarf nur eines Augenblicks, und sie springen von Abneigung zur Verehrung über.«

Lucie hörte ihm leise nickenden Hauptes zu.

»Siehst Du,« sagte sie, »ich habe also doch recht gehabt, als ich glaubte, er könne mich nicht leiden.«

Doppnau faßte ihre Hand fester. »Trage ihm das von neulich nicht nach,« sagte er erschrocken, »ich habe wohl bemerkt, wie seltsam er sich benahm; aber glaube mir, er ist gut, seelensgut angelegt. Er ist rein und durchsichtig wie Kristall, und darum sieht man in jedem Augenblick jede 86 Regung seiner Seele. Es ist möglich, und ich glaube es beinah selbst, daß er sich noch nicht recht an den Gedanken einer Schwägerin, und daß ich nicht mehr für ihn allein auf der Welt bin, gewöhnen kann, aber siehst Du, ich bin ganz außer Sorge, er ist an Liebe gewöhnt und durch Liebe zu allem Guten zu bringen, Du mußt ihn eben zu Dir bekehren.«

Lucie hatte mit gesenkten Augen zugehört, wie er so warm und liebevoll für den törichten jungen Bruder sprach, und ein tiefes Gefühl ging in ihr auf, in welcher Innigkeit diese beiden reinen Menschen bisher zusammengelebt haben mochten. Sie drückte leise die Hand des Verlobten. »Er ist an Liebe gewöhnt,« wiederholte sie leise seine Worte, »das soll gewiß nicht anders werden.« Tränen traten in ihre Augen, indem sie ihn anblickte.

Der Doktor aber ließ keine Sentimentalität aufkommen. Er riß die Champagnerflasche aus dem Eiskühler, daß es klapperte und füllte die Gläser.

»Kurz und gut,« rief er, »es kommt darauf hinaus, daß Sie den Jungen ein wenig in sich verliebt machen, Fräulein Lucie! Und wenn ich nach mir urteilen darf, so wird Ihnen das nicht schwer fallen – nicht wahr, Annchen, wir verstehen uns?«

Frau Anna drohte mit gerecktem Zeigefinger über den Tisch, der Professor lachte laut auf.

»Na komm, Alte,« sagte der Doktor, »Du siehst ja selbst, daß leider keine Gefahr mehr dabei ist; unser Brautpaar soll leben!«

Die Gläser klangen aneinander; Lucie war bei den Worten des Doktors bis über die Stirn errötet.

Es blieb also dabei, daß sie in den nächsten Tagen nach 87 Berlin zurückkehren, und daß ihr Frau Anna in acht Tagen dahin folgen sollte, sie würde bei Lucie wohnen und beide Freundinnen wollten dann im Verein die Beschaffung der Aussteuer in die Hand nehmen. Die Hochzeit blieb für den Herbst festgesetzt.

Frau Anna brachte den Gedanken an eine Hochzeitsreise zur Sprache, aber sie fand keinen rechten Anklang damit. Der Professor schwieg, und Lucie erwog, daß man in den anbrechenden Winter würde hinreisen müssen. Der herrliche Blick von der Sternwarte, meinte sie, und das für sie noch ganz unbekannte Land der Waldungen hinter derselben, das würde ihr den Genuß einer Reise ersetzen.

Doppnau nickte ihr lächelnd Beifall; man würde auf weiten Spaziergängen Forschungs- und Entdeckungsreisen in den Wäldern machen. »Bei Tage führst Du mich auf der Erde umher,« schloß sie, indem sie dem Professor die Hand reichte, »und abends am Himmel, zwischen Monden und Planeten, das soll unsere Hochzeitsreise sein? Ja?«

Er schlug in ihre Hand ein. »Es soll gelten,« antwortete er. 88



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