Christoph Martin Wieland
Koxkox und Kikequetzel
Christoph Martin Wieland

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24.

Neun oder zehn Jahre ungefähr hatte die Glückseligkeit der ersten Eltern von Mexico gedauert, als Kikequetzel einsmals, mit ihrem kleinsten Kinde an der Brust, sich etwas weiter als gewöhnlich von ihrer Wohnung entfernte. Es war in der wärmsten Jahrszeit. Ermüdet warf sie sich an den Rand eines kleinen Baches, legte das schlafende Kind auf Moos und weiche Blätter und ging hin, Früchte von nahe stehenden Stauden zu pflücken.

Indem sie an nichts weniger dachte, kam ein Mann aus dem Gebüsche hervor. – Ihr erster Gedanke war, daß Koxkox sie habe überraschen wollen. Sie lief ihm mit offnen Armen 305 entgegen; aber, da sie ihm beinahe in die seinigen gelaufen wäre, wurde sie mit Schrecken gewahr, daß es nicht Koxkox war.

Ein spitzfindiger Leser wird es vielleicht unwahrscheinlich finden, daß Kikequetzel, welche so gute Augen hatte, zu sehen, daß es ein Mann war, nicht zugleich gesehen haben sollte, daß es nicht Koxkox war. Wir antworten ihm aber:

Erstens, daß wir uns auf die größten Optiker unsrer Zeit berufen, ob eine Unmöglichkeit in dem Falle, wie wir ihn erzählt haben, zu erweisen sey;

Zweitens hatte sich die gute Frau keine Zeit genommen, ihn genau zu betrachten; sie erblickte von fern eine menschliche Gestalt; daß er ihr Mann sey, sagte ihr in dem nämlichen Augenblicke ihr Herz; und so lief sie auf ihn zu, ohne eine andere Gewißheit davon zu haben; welches ihr desto billiger zu vergeben ist, da sie

Drittens keinen Gedanken hatte, daß außer ihr und Koxkoxen noch ein anderes menschliches Wesen der Ueberschwemmung entronnen sey.

Hierin hatte sie sich geirrt, wie wir sehen. Denn dieser Mann war einer von den wenigen Entronnenen, und, was noch seltsamer war, von ihrem eigenen Volke – wie sich in der Folge zeigen wird. Dem Ansehen nach mocht' er wenig unter vierzig Jahren seyn. Es war ein starker, mächtiger Mann, welcher die Miene hatte, sich vor keinem von den zwölf oder dreizehn Abenteuern des Hercules zu fürchten; und, wie Hercules, war er nur mit einer Löwenhaut bekleidet. Er war in allen Betrachtungen ein fürchterlicher, wiewohl eben kein häßlicher Mann.

306 Wenige Leute in der Welt – einsame TalapoinenTalapoinen – Priester zu Siam, Laos und Pegu, die theils wie die Mönche zusammen, theils aber auch abgesondert leben. Die Schilderung, die Pater Marini von ihnen entworfen hat, ist nicht sehr schmeichelhaft für sie. ausgenommen, welchen, nach einer zwanzigjährigen pünktlichen Beobachtung ihrer Gelübde, im vierzigsten Jahr ihres Alters ein solcher Zufall in einer Einöde begegnete – können sich, auf dem gehörigen Grade von Wahrheit, einbilden, was für eine heftige Erschütterung bei Erblickung der schönen Kikequetzel in dem ganzen animalischen System dieses Mannes erfolgte.

Der Hunger, mit welchem ein gesunder Mensch, der drei Tage lang wider seinen Willen gefastet hätte, auf einen wohl oder übel zugerichteten Rindsbraten zufiele, ist – ein unedles Bild, wir gestehen es; es ist auch nichts weniger als neu: aber es ist doch das einzige, welches einiger Maßen die Natur und die Heftigkeit der Begierde ausdrückt, mit welcher er seine nervigen Arme ausstreckte, um die freiwillig anlaufende Beute zu erhaschen.

Aber, wie gesagt, sie entdeckte noch zu rechter Zeit, daß es nicht Koxkox war.

Ungeachtet der Mann nicht häßlich war und nach mexicanischer Landesart nicht mehr Bart hatte, als Koxkox, das ist, wenig mehr als nichts; so hatte er doch in diesem Augenblick etwas so Gräßliches in seiner Miene, so funkelnde Augen, einen so starken Ausdruck von heißhungrigem Verlangen in seiner ganzen Person, – daß die gute Frau mit einem lauten Schrei zurück fuhr. So laut schrie sie, daß Koxkox es hätte hören müssen, wenn sie näher als eine Stunde weit von ihm entfernt gewesen wäre. Aber Koxkox lag ruhig in seiner Hütte, ihre Wiederkunft erwartend, bei seinen Kindern und dachte – an nichts.

307 Als der Mann auf sie zuging und ich weiß nicht was sagte, worauf sie in der Angst nicht Acht gab, so suchte sie ihre Rettung in der Flucht. Sie lief wie die Virgilische Camilla:

Kaum wurden von ihren geflügelten Sohlen
Die Spitzen des Grases im Laufen berührt.

Sie würde um eine halbe Stunde früher, als der nacheilende Mann, in ihrer Hütte angekommen seyn, wenn sie so fortgelaufen wäre. Aber mitten in ihrem Laufe hielt sie inne, blieb etliche Augenblicke stehen und rannte nun eben so schnell wieder zurück, als sie davon geflogen war.

Der strengste Casuist wird ihren Beweggrund nicht mißbilligen können. Sie erinnerte sich plötzlich ihres Kindes, welches sie auf Moos und Baumblättern schlafend am Bache zurück gelassen hatte; und nun wich auch auf ein Mal der Furcht, ihr Kind zu verlieren, alle andre Furcht. Tlantlaquakapatli behauptet, daß dieses im Charakter einer Mutter und eines so unschuldigen Geschöpfes sey, als Kikequetzel war.

Der Mann machte sich diesen Umstand zu Nutze. Er erhaschte sie in einem Gebüsche. Sie sträubte sich mit der Stärke einer Person, deren ganzer Ernst es ist, los zu kommen; aber sie war keine Minerva; der Mann wurde Meister.

Dieser Mann hatte – die schöne Declamation des berühmten Grafen von Buffon gegen das Sittliche in der Liebe nicht gelesen; aber er handelte so vollkommen nach dem Grundsatze dieses neuen Plinius, als man es von einem Wilden erwarten kann, der vierzehn Jahre lang die ganze Nord- und 308 Westseite von Mexico durchirret hatte, um zu suchen, was ihm, nachdem er längst alle Hoffnung aufgegeben, auf ein Mal in diesem Gebüsch von selbst in die Hände lief.

Unser Autor meint, – vermuthlich aus Parteilichkeit gegen seine Stammmutter – daß es nicht in der Natur gewesen wäre, den Unwillen lange zu behalten, von welchem sie in den ersten Augenblicken ihrer Niederlage gegen den Mann entbrannt war. Es hatte ihm einen guten Theil seiner Haare gekostet; und Kikequetzel war doch sonst das sanftmüthigste und weichherzigste Geschöpf von der Welt. Aber eine solche Begegnung – wir halten uns versichert, daß ihr keine wohlerzogene Dame die Wuth übel nehmen wird, in welche sie bei einer solchen Begegnung gerieth!

Aber, daß sie sich besänftigen ließ! – Wird auch wohl mehr als Eine oder auch nur eine Einzige seyn, welche Stärke des Geistes und Billigkeit genug hat, sich – mit gänzlichem Vergessen Alles dessen, was sie ihrer Erziehung, den Gesetzen und Sitten ihres Vaterlandes und vielleicht ihrer Religion zu danken hat, an die Stelle dieser armen wilden Mexicanerin zu setzen und wenigstens sich selbst zu gestehen – –?

Das Beste ist, die Damen – (welches Wort ich hier, wie allezeit, in einer sehr weiten Bedeutung genommen haben will) – überschlagen das folgende Capitel gänzlich. Sie würden mich durch diese Gefälligkeit sehr verbinden. Ein einziges Blatt umzuschlagen ist doch keine Sache. – Ich weiß zwar wohl, daß man, nach Hagedorns Meinung, es einem Frauenzimmer nicht verbieten soll, wenn man will, daß sie 309 nicht in einem Entenpfuhle herum wate. Aber Niemand kann eine edlere Meinung von ihrem liebenswürdigen Geschlechte haben, als ich. Sollte ich hierin von der einen oder andern meiner schönen Leserinnen zu schmeichelhaft denken, – sollten einige sich durch meine Warnung verleiten lassen, das folgende Capitel eben darum zu lesen, weil ich's ihnen verboten habe: nun, so mögen sie sich's selbst zuschreiben, wenn sie lesen – was ihnen nicht gefällt!



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