Christoph Martin Wieland
Koxkox und Kikequetzel
Christoph Martin Wieland

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20.

Wir übergehen verschiedene kleine Umstände aus dem einsamen Leben dieses ersten mexicanischen Paares, über welche sich Tlantlaquakapatli nach seiner Gewohnheit weitläufig ausbreitet, – weil er für Mexicaner schrieb, um uns bei einem zu verweilen, der uns weniger unerheblich scheint.

Unser Philosoph hat, wie alle Leute, die mit ihrem eigenen Kopfe denken, zuweilen sonderbare und etwas seltsame Meinungen. Uns däucht, es ist eine davon, wenn er die Frage aufwirft: ob es für die Menschen nicht besser gewesen wäre, ohne eine künstliche, aus articulirten Tönen zusammengesetzte Sprache zu bleiben?

Wahr ist's, er behauptete den bejahenden Satz nicht schlechterdings; jedoch scheint er sich ziemlich stark auf diese Seite zu neigen, indem er alle seine Wohlredenheit aufbietet, um uns die Glückseligkeit anzupreisen, worin die Stammältern seiner Nation etliche Jahre mit einander gelebt hätten, 291 ohne sich einer andern als der allgemeinen Sprache der Natur gegen einander zu bedienen.

Anfangs schien mir die Thatsache selbst, worauf er sich bezieht, verdächtig zu seyn. Allein bei mehrerem Nachdenken glaube ich nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Wahrscheinlichkeit derselben ganz deutlich einzusehen.

Sie hatten, däucht mir, keine künstliche Sprache vonnöthen, weder um einander ihre Begriffe, noch ihre Empfindungen mitzutheilen.

Ich raisonnire – oder deraisonnire (vernunfte oder beiwegvernunfteBeiwegvernunfte – Ein von Herrn Campe vorgeschlagenes Wort, dem wir es nicht mißgönnen wollen, wenn es, gegen unser Vermuthen, sein Glück machen sollte. W.) – welches, mag der Leser entscheiden – folgender Gestalt.

Wenn wir von unsern ausgebildeten Sprachen Alles dasjenige abzögen, was solche Dinge oder Begriffe bezeichnet, wovon sich Koxkox und Kikequetzel und jedes andre Paar, das sich jemals in ihren Umständen befunden hat, nichts träumen lassen konnten, – alle Wörter und Redensarten, welche sich auf unsre häusliche und bürgerliche Einrichtung, auf unsere Gesetze, Polizei, Gebräuche und Sitten, auf unsere Künste und Wissenschaften und auf unzählige Bedürfnisse, welche der rohen Natur fremd sind, beziehen: so würde der Ueberrest eine so arme Sprache ausmachen, als irgend ein wildes Völkchen in der wildesten Insel des Südmeers haben kann.

Aber auch diese arme Sprache wäre noch mehr, als die ersten Mexicaner schlechterdings vonnöthen hatten. Sie würde schwerlich andre Wörter haben, als für Gegenstände, welche man einander eben so gut zeigen, und für Empfindungen, 292 welche man in der Sprache der Natur eben so gut oder noch besser ausdrücken kann.

Eine künstlichere Sprache würde ihnen gerade so viel genützt haben, als gemünztes Geld. Was sollten sie mit Zeichen anfangen, ehe sie Begriffe hatten? und wie sollten sie Begriffe von Dingen haben, deren Beziehung auf ihre Erhaltung und Glückseligkeit ihnen noch unbekannt war? Mit so wenigen Bedürfnissen, als die ihrigen, und in einer Lage, wo die Natur Alles für sie that, konnten sie sich gänzlich den angenehmen Rührungen ihrer Sinne, dem süßen Gefühl ihres Daseyns und den Ergießungen ihres Herzens überlassen, ohne daß ihnen einfiel, ihre Empfindungen zu zergliedern, den Ursachen derselben nachzuforschen oder sie mit Namen belegen zu wollen. Ihre Tage flossen ungezählt und ungemessen in dieser seligen Indolenz dahin, welche der menschlichen Natur so angenehm ist, daß ihr wirklicher Genuß das höchste Gut der Wilden und der letzte Zweck der unruhigen und mühvollen Bestrebungen des größten Theils aller übrigen Menschen ist, welche, von einer betrüglichen Hoffnung im Lauf erhalten, immer diesem eingebildeten Gute nachjagen, ohne daß die wenigsten von ihnen es jemals erreichen können.

Diejenigen, welche der menschlichen Seele einen immer regen Trieb und angebornen unersättlichen Hunger nach Vorstellungen zuschreiben, haben die Natur vielleicht nicht genug in ihr selbst oder doch nicht ohne vorgefaßte Meinungen studirt. Wenn es so wäre, wie sie sagen, warum fänden wir so wenig Begierde, ihre Kenntniß zu vermehren oder 293 aufzuklären, bei den unzähligen Völkern, welche noch unter dem Namen der Wilden und Barbaren den größten Theil des Erdbodens bedecken? Warum wäre dieser heftige Wissenstrieb, selbst unter gesitteten Nationen, nur der Antheil einer kleinen Zahl von Leuten, in denen er nicht anders als durch einen Zusammenfluß besonderer Umstände erregt und unterhalten wird?

Mir däucht, diejenigen, die sich dieses angeblichen Grundtriebs wegen auf Wahrnehmungen an Kindern berufen, verwechseln eine Thätigkeit, deren Grund lediglich in der Organisation des Körpers liegt, mit einer andern, wovon die Quelle in der Seele seyn soll, – und die Begierde nach angenehmen sinnlichen Eindrücken mit dem Verlangen nach Begriffen, welches zwei sehr verschiedene Dinge zu seyn scheinen. Besondere seltene Beispiele, die hievon eine Ausnahme machen oder zu machen scheinen, vermögen nichts gegen einen Erfahrungssatz, der sich auf unzählige einstimmige Wahrnehmungen gründet.

Die Menschen genossen Jahrtausende lang die Früchte der Stauden und Bäume, eh' es einem von ihnen einfiel, Pflanzen zu zergliedern und zu untersuchen, was die Vegetation sey; und wie viele Veranlassungen, Bemerkungen und Untersuchungen mußten auch vorher gehen, bis es selbst dem speculativsten Kopf unter ihnen einfallen konnte! Sogar, nachdem unter scharfsinnigern Völkern die Philosophie auf dergleichen Gegenstände ausgedehnt wurde, wie lange behalf man sich nicht mit willkürlichen Begriffen und kindischen Hypothesen! – Und warum das? Vermuthlich, weil es bequemer 294 war, chimärische Welten in seinem Cabinete nach selbsterfundenen Gesetzen zu bauen, als mühsame und langwierige Beobachtungen anzustellen, um heraus zu bringen, nach welchen Gesetzen die wirkliche Welt gebauet sey.

Das System der Menschheit hat die seinigen – wie jedes andere besondere System in der Natur. Eines dieser Gesetze scheint zu seyn, daß nichts als Bedürfniß oder Leidenschaft den Naturmenschen zwingen kann, aus diesem müßigen Zustande heraus zu gehen, worin er, ohne irgend eine Anstrengung seiner selbst, seine Sinne den äußern Eindrücken und seine Seele dem launischen Vergnügen, von einer Phantasie zur andern ohne Ordnung und Absicht herum zu irren, oder beide – dem Schäferglück,

An Chloens Brust von Nichtsthun auszuruhn,

überlassen kann; – es wäre denn, daß durch einen Zusammenfluß besonderer Umstände (wobei jedoch Bedürfniß oder Leidenschaft allezeit das Triebrad bleibt) endlich eine mechanische Gewohnheit, unsern Geist auf eine regel- und zweckmäßige Art zu beschäftigen, in uns hervorgebracht würde; ein Fall, der sich außer der bürgerlichen Gesellschaft nicht leicht ereignen wird. Denn nur in dieser, wo die Erwerbung nützlicher oder angenehmer Kenntnisse und Geschicklichkeiten ein Verdienst ist, welches ordentlicher Weise zu Glück oder Ansehen oder beiden führt, wecken die Leidenschaften den schlummernden Wissenstrieb; – und wie sollten in einem Stande, wo die Natur selbst den wenigen Bedürfnissen noch unentwickelter Menschen zuvor kommt, diese Bedürfnisse ihn erwecken?

295 Von dieser Seite war also, wie mir däucht, kein Grund, warum unsre ersten Mexicaner eine Sprache vonnöthen gehabt haben sollten.



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