Christoph Martin Wieland
Idris und Zenide
Christoph Martin Wieland

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97.
                    Er sieht – die Statue, auf sammetweiches Moos
Im Schatten hingegossen, liegen:
So läßt sich Pafia mit Amorn auf dem Schooß
Im Hain zu Amathunt von süßen Träumen wiegen.
Sie ist's, von Kopf zu Fuß, mit allen ihren Zügen,
Ihr Schleier um sie her, nur Arm und Busen bloß.
Entzückt erkennt er sie: doch kann er gar nicht fassen,
Wie es geschah daß sie den Dom verlassen.
 
98.
    Er denkt: »Sie ist belebt – das lehrt der Augenschein,
Amöne sage mir so viel sie will dagegen!
Wo können Bilder sich von ihrem Ort bewegen?«
Vollkommen überzeugt zu seyn,
Nimmt er die Freyheit, ihr die Hand aufs Herz zu legen,
Und unelastisch ist der schöne Busen – Stein.
Er stutzt, er wiederholt die Proben, und befindet
Amönens Logik – ach! nur allzu sehr gegründet.
 
99.
    Der Erdkreis wäre bald an Narr'n und Helden leer,
Wenn wir zur Führerin die Logik nehmen müßten.
Allein, wohl recht nennt Platon, oder wer?
Den Liebesgott den größten der Sofisten!
Erfahrung und Vernunft bestreite noch so sehr
Was wir recht brünstiglich gelüsten;
Erfahrung und Vernunft wird nur nicht angehört;
Wir nennen falsch, was uns in süßem Irrthum stört.
 
100.
    So ging's dem Jüngling hier: er kann und will nicht glauben
Wovon ihn sein Gefühl so lebhaft überführt;
Er ließe sich den Wahn von keinem Gotte rauben,
Mit dem sein Herz so viel verliert;
Und weil sich etwas mehr, als sich bey ihr gebührt,
Bey ihrem Bilde zu erlauben
Ihm billig däucht, gehorcht er ohne Zwang
(Er ist ja ganz allein) des Herzens süßem Drang.
 
101.
    Es wär' an halb so vielen Küssen,
Als er, um seine Seel' in sie hinein zu gießen,
Auf ihren Mund und starren Busen drückt,
Die derbste aller Sacharissen,
So gut sie auch bey Athem wär', erstickt.
Doch Idris drückt so lang' bis ihm das Mittel glückt:
Er schließet sie so fest in seine Arme,
Daß ihn bedünkt, ihr kaltes Herz erwarme.
 
102.
    Daß Fantasie, von Schwärmerey erhitzt,
Die Sinne selbst verfälscht, ist längst bemerket worden.
Man weiß, daß sonderlich der priesterliche Orden
Geheimnisse von dieser Art besitzt.
Der Aberglaube sieht (und läßt sich drauf ermorden
Er hab's gesehn) ein Bild das Blut geschwitzt.
Was kann nicht die Marien von AgredenDiese durch die seltsamsten Visionen bekannte Spanische Nonne steht hier für eine jede andere ihres gleichen. Sie lebte in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, und ist die Verfasserin eines Lebens der Heiligen Jungfrau, welches ihr (ihrem Vorgeben nach) diese selbst, mittelst einer langen Reihe von Erscheinungen und Offenbarungen, in die Feder diktierte. P. Crozet, ein Mönch ihres Ordens, übersetzte es ins Französische unter dem Titel: La mystique Cité de Dieu. Miracle de sa Toute-Puissance ab me de la Grace de Dieu. Histoire divine de la Vie de la tres-sainte Vierge Marie Mere de Dieu manifestée dans ces derniers Siecles par la Sainte Vierge à la Soeur Marie de Jesus Abbesse du Couvent de l'immaculée Conception de la Ville d'Agrede, und kam zu Brüssel im Jahre 1717 in drey Quart- und acht Oktav-Bänden heraus. Zu einer kleinen Probe von der Stärke der Einbildungskraft dieser Spanischen Dame wird folgendes hinlänglich seyn. So bald Maria geboren war, befahl der Allmächtige den Engeln, dieses holdselige Kind ins Empyreum zu tragen, um es den Bewohnern desselben als die Königin des Himmels vorzustellen. Es wurden ihr neun hundert Engel (hundert von jeder der neun Ordnungen oder Köre) zur Bedienung angewiesen; zwölf andere wurden dazu bestellt, ihr in sichtbarer Gestalt aufzuwarten; noch achtzehn vom ersten Rang (die nehmlichen, welche Jakob auf der Himmelsleiter auf und nieder steigen sah) richteten die wechselseitigen Bestellungen zwischen der Königin und dem Könige des Himmels aus, und der Erzengel Michael wurde zum Oberbefehlshaber dieses ganzen himmlischen Hof-Etats gesetzt, u. s. w.
Religion, vermischt mit Liebeswuth, bereden?
 
103.
    Allein was Idris fühlt ist weder Wahn noch Traum:
Er glaubt den Wolken zu entfallen,
Da unter seinem Kuß, was kaum
Noch Marmor schien, so weich wie Schwanenflaum,
Dem Druck itzt nachgiebt, itzt mit vollem Überwallen
Entgegen drückt, der blasse Mund Korallen
An Röthe gleicht, und (was von einem Bild
Sehr zärtlich war) ihm Kuß mit Kuß vergilt.
 
104.
    Wir kennen Skeptiker, vor denen
Kein Wunder Gnade find't, das nicht begreiflich ist;
Und diese Herren werden wähnen,
Es stecke ganz gewiß hierunter eine List.
Ihr Argwohn fällt vermuthlich auf Amönen.
Doch, daß die Statue, so bald sie athmet, küßt,
Däucht uns, aus dem was wir vorhin gelesen,
Beweis genug, sie sey es nicht gewesen.
 
105.
    Amöne war es nicht, und konnt' es auch nicht seyn.
Man kann den edlen Stolz nur stufenweis verlieren,
Der rühmlich siegen will, nicht buhlerisch verführen.
Doch, fällt euch nicht die schöne Nymfe ein,
Die jüngst, gejagt von häßlichsten Satyren,
Ihm in die Arme lief? Die dachte nicht so fein!
Der Einfall schon, dem Ritter nachzureisen,
Scheint gegen sie ein wenig zu beweisen.
 
106.
    Ihr wißt, wie Idris einst, nicht ohne Müh, sich frey
Aus ihren schönen Armen machte;
Und, da sie bald durch Kunst der Feerey
Entdeckte, daß die Sie, um die er sie verachte,
Nicht eine Göttin, wie sie dachte,
Nur eine Statue, und Er verurtheilt sey
Die Seele, die ihr fehlt, ihr selbst erst mitzutheilen,
Beschloß sie ungesäumt dem Flüchtling nachzueilen.
 
107.
    Sie wußte, daß ein Dom von schwarzem Marmorstein
Die Nebenbuhlerin verwahre,
Und daß der Dom in einem Zauberhain
Auf einer Insel steh' wohin kein Schiffer fahre.
Die Hoffnung, sie so bald zu finden, war sehr klein;
Denn wo? das setzten ihr die Bücher nicht ins klare.
Allein Verliebte täuscht gar selten ihr Instinkt;
Man find't im Dunkeln selbst den Ort, wo Amor winkt.
 
108.
    Sie fand ihn – und noch mehr; denn in den krummen Büschen
Des Labyrinthes lag, in jungem Most bezecht,
Ein alter Satyr, alt, doch nicht an Muth geschwächt
Die Nymfen, die ihn fliehn, im Laufe zu erwischen.
Die unsre kommt ihm eben recht
Sich auf den Trunk ein wenig zu erfrischen.
Er setzt ihr nach, sie läuft, er macht ihr warm,
Und jagt sie, wie ihr wißt, zuletzt in Idris Arm.
 
109.
    Kaum hatte Der sich von ihr losgewunden,
So ging die Jagd von neuem an,
Bis ihr der Satyr, überwunden
Und athemlos, nicht weiter folgen kann.
Indessen war sie ihm für seine Müh verbunden,
Weil sie allein dabey gewann.
Was sie gewann war werth sich zu ermüden;
Sie fand den Aufenthalt der marmornen Zeniden.
 
110.
    Sie säumt sich nicht, von dem fatalen Stein
Eh' Idris kommt Besitz zu nehmen.
Warum, erräth sich leicht. Sie schmieget sich hinein,
Und denkt gar nicht daran, so delikat zu seyn,
Der Hinterlist, womit sie umgeht, sich zu schämen.
Sie braucht nicht für sich selbst die Sache zu verbrämen;
Wird Idris nur in ihren Arm gebracht,
Das Mittel ist was ihr den kleinsten Skrupel macht.
 
111.
    Sie spielt vollkommen nun den Meister
In ihrem neuen Leib, (ein Vorrecht ächter Geister!)
Wacht oder schläft, ist wirksam oder still
Im Kopf, im Fuß, im Herzen, wo sie will.
»Ob das begreiflich ist?« – Vermuthlich keinem Heister:
Doch stehen Paracels und Iben Thofail
Dem Dichter bey. Die Zunft der scharfen Geisterseher,
Treibt, wie bekannt die Sachen oft noch höher.
 
112.
    Genug, die Nixe lauscht in ihrem neuen Leib,
Entschlossen, wenn er kommt, das Abenteu'r zu wagen,
Und Anfangs, wie es einem Weib
Von Marmor ziemt, sich zu betragen.
Allein zu größtem Mißbehagen
Der armen Nymfe, die sehr wenig Zeitvertreib
In ihrer Stellung fand, ließ sich kein Idris sehen,
Und ihr verging die Lust, so müßig da zu stehen.
 
113.
    Drey lange Tage sind vorbey,
Noch will der Flüchtling sich nicht zeigen.
Aus Langweil macht sie sich zuletzt vom Zwange frey,
Erlaubt sich selbst herab vom Fußgestell zu steigen,
Und sucht im Hain umher, wo er geblieben sey.
Nur, wenn der Tag beginnet sich zu neigen,
Kehrt sie zurück und nimmt, nicht ohne Überdruß,
Die Stelle wieder ein, die sie behaupten muß.
 
114.
    An welchem Ort und wie Herr Idris sie gefunden,
Ist schon gesagt. Sie hielt sich Anfangs gut:
Kein Stein ist steinerner; was auch der Ritter thut,
Der sie beseelen will, gefroren bleibt ihr Blut.
Doch endlich giebt sie sich, wie billig, überwunden.
Sie fühlet nun in wenigen Sekunden
Bereits so gut, und ist so sehr beseelt,
Daß sie vielleicht im Übermaße fehlt.
 
115.
    Wenn das ein Fehler heißt, so müssen wir gestehen
Daß es ein schöner Fehler ist.
Herr Idris, fest beglaubt Zeniden selbst zu sehen,
Die in Empfindungen an seiner Brust zerfließt,
Find't nichts zu viel. Sie kann, wie feurig sie auch küßt,
Doch nie zu weit in einer Tugend gehen,
Der (wie ihm däucht, so lang' der Taumel währt)
Vor allen übrigen der erste Platz gebührt.
 
116.
    Was er in diesen Augenblicken
Bey diesem Kuß, bey diesem süßen Drücken
An ihre Brust, was er empfinden muß,
Begreift nur wer geliebt. Der völligste Genuß
Der Liebesgöttin selbst könnt' ihn nicht so beglücken
Als nach so langer Qual Zenidens erster Kuß.
Zenide – ruft er aus, und sinkt zu ihren Füßen,
Weil Mund und Augen sich entseelt vor Wollust schließen.
 
117.
    »Zenide – stammelt er, aus dieser süßen Nacht,
Worin sich stufenweis die Seele sanft verlieret,
Durch ihren Kuß zurück gebracht;
Ist's möglich? bin ich's selbst? bist du es? Welche Macht
Hat dieses Wunderwerk so unverhofft vollführet?
Zenide, neu beseelt, von Sympathie gerühret,
Drückt zärtlich sich an ihres Idris Brust –
Und ich zerfließe nicht, ich sterbe nicht vor Lust?
 
118.
    »O Sieh mich an, noch einmahl – Würd' ich nicht
Mit meinem Blut solche einen Blick bezahlen?
Noch einmahl, noch zu tausend Mahlen –
Entzieh mir niemahls mehr dieß himmlische Gesicht!« –
Doch, Muse, was Verliebte dahlen
Rührt niemand als sie selbst. Daß Idris Unsinn spricht,
An einem Platze, wo wir selbst wohl gerne wären,
Ist seine Schuldigkeit, nur wollen wir's nicht – hören.
 
119.
    Den weisen Leuten, welche nie
Wie unserm Helden war erfuhren,
Nicht den Katonen nur, sogar den Epikuren
Von kaltem Blut und träger Fantasie,
Klingt nichts so schal, als die Figuren
Verliebter Schwärmerey. Gut, ich verschone sie:
Der Pinsel fällt mir willig aus den Händen;
Wer Lust hat mag das Bild und – dieses Werk vollenden!

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