Gustav Wied
Die Karlsbader Reise der leibhaftigen Bosheit
Gustav Wied

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Schluß.

Villa Rörholm. 12. Juli.

Lieber Clausen!

Ich habe meinen Abendtee getrunken. Die Pfeife ist angezündet, und ich sitze nun wieder auf meinem Sofa und befinde mich so leidlich unter den Herren Napoleon, Bismarck und Wilhelm Beck. »Denn nirgends blühen die Rosen so reich, und nirgends sind die Daunen so weich als die, worauf in Kindheitsunschuld wir geruht!«

Ich weiß freilich nicht, wer von uns beiden den meisten Grund hat, dem andern dankbar zu sein, aber ich empfinde, wie es heißt, ein tiefes Bedürfnis, Dir schon an dem ersten Tage, an dem ich den Boden meines geliebten Vaterlandes betreten habe, ein paar freundliche Worte zu sagen.

Ich will Dir meine Ehrerbietung für Deinen Charakter bezeugen!

Allerdings bist Du meiner Ansicht nach zweifelsohne ein Idiot. Aber ein süßer Idiot. Ein Idiot, den man liebgewinnen muß. Einer von den Idioten, von denen man Dänemark ein paar mehr wünschen möchte.

Denn Du wirkst versöhnend.

Hab' Dank, daß Du mit mir reisen wolltest!

Mir ist, als entbehre ich Dich.

Was hoffentlich eine Lüge ist!

Doch, knöpfe an einem der nächsten Tage Deine Hose vorne gehörig zu und überschreite mit Deinen Flamingobeinen meine Türschwelle.

Die kleinen Paludans sehnen sich.

Dein treuer Freund

H. P. E. Knagsted.

Es war so wunderschön draußen im Garten der Villa Rörholm, jetzt zu Anfang Juli. Die Bäume standen voll von schattenspendendem Laub; die Rasenflächen und Steige lagen geharkt und wohlgepflegt da, und rings um die Blumenrabatten begannen die Rosen, weiß, rot und gelb, die Köpfe hervorzustecken. Die siebenundzwanzig Rohrhalme unten im »See« waren jeder eine halbe Elle gewachsen, und der Schwan und die Wasserrosen schimmerten frischgemalt.

Am Morgen aber war die Schönheit am größesten. Am Morgen zwischen sechs und sieben, wenn die Sonne noch nicht allzuhoch über die nach Osten gelegenen Nachbargärten gestiegen war, während der Tau noch auf Gras und Büschen schimmerte und nur einzelne Fußtritte in dem Kies auf dem Spazierwege vor der Ligustrumhecke knirschten.

Die kleinen Paludans waren um diese Zeit immer im Garten, wenn es gerade nicht platzregnete. Sie standen im Sommer regelmäßig um halb sechs Uhr auf (»Daran sind wir ja von Hause von der Propstei her gewöhnt«), tranken ihren Kaffee – und dann die breitkrempigen Strohhüte auf und in den Garten hinab! Hier pusselten sie umher, harkten, jäteten, beschnitten, bis sie, genau wenn die Dampfpfeife acht Uhr Pfiff, in die Gartenstube hinaufgegangen und ihr weichgekochtes Ei aßen und sich noch eine Tasse Kaffee leisteten, ehe sie an das »Häusliche« gingen. Ihre Tage waren eingeteilt wie nach einem Stundenplan, jede Stunde hatte ihr »Joch«, und es war ganz undenkbar, daß z. B. Karoline in der Stunde Einkäufe machen konnte, die zum Abstäuben bestimmt war. Und geschah es, daß sie von ihren Exkursionen bei den Kaufleuten fünf Minuten später kam, als abgemacht war, so schrieb sie Emmys ganze Tafel voll von Entschuldigungen und Erklärungen, die ausnahmslos damit endeten: »Aber die Pferdebahn ist Schuld daran; die ist nie präzise.« – Nach dem Mittagessen um zwölf Uhr, das mit einer »kleinen« Tasse Kaffee beschlossen wurde, saß jede in ihrem Stuhl am Fenster und »wärmte die Augen«. Um halb zwei machten sie sich nach dem Schlummer in der Schlafstube ein wenig zurecht und saßen ein paar Stunden »zum Staat« im Saal mit irgendeiner feinen Handarbeit und warteten auf Visiten. Dann deckten sie zum Fünfuhrtee, den sie mit »Cakes« dazu tranken. Und um sechs Uhr waren sie wieder im Garten. Aber um diese Zeit arbeiteten sie nicht dort unten, sie gingen spazieren oder besahen die Blumen, oder sie saßen mit irgendeinem »guten« Buch in der Laube oder belustigten sich am See mit dem Schwan und den Wasserrosen. Um sieben Uhr aßen sie zu Abend. Und wenn die Tafeluhr auf dem »Sekretär« halb zehn schlug, lagen sie in ihren Betten und schliefen. – –

Es war das Ideal eines Daseins ... And dann hatten sie obendrein vor ungefähr drei Wochen eine große und unerwartete Freude gehabt: Eines Morgens lag in ihrem Briefkasten die Mitteilung von der Eisenbahn, daß auf dem Zollbureau eine Kiste für sie aus Berlin stände.

»Kannst du es begreifen, Emmy, wer uns etwas aus Berlin schicken kann?« schrieb Karoline auf die Tafel.

»Und was ist es denn?« entgegnete Emmy.

Sie beschlossen, eine halbe Stunde später zu essen, machten sich fein und begaben sich auf das Zollbureau. Sie rissen und zerrten aneinander und stellten sich auf die Zehenspitzen und waren kurz davor, sich zu entzweien, während die Kiste geöffnet wurde.

Karoline schlug Emmy auf die Finger und erklärte dem Personal: »Meine Schwester ist nämlich taubstumm!« Beide hatten dunkelrote Köpfe vor Eifer, zuerst zu kommen.

Als dann aber die Sendung endlich aus dem Papier und den Sägespänen ausgepackt war und in vollem Glanz auf dem Tisch stand, waren sie starr vor Entzücken:

»Nein, Emmy!«

Und Emmys Augen wurden feucht, während sie die grauen Zwirnhandschuhe über der Mantille faltete. Nie im Leben hatte sie etwas so Süßes gesehen!

»Ist es denn auch wirklich für uns?« fragte Karoline.

»Ja!« lächelte der Zollbeamte, »hier auf dem Adreßbrief steht: An die Fräulein K. und E. Paludan.«

»Ja, aber wer hat es uns nur geschickt?«

»Ja, darüber steht hier nichts.«

Dann bat Karoline einen der Packträger, eine Droschke zu holen. Und die Schwestern fuhren mit dem Geschenk von dannen.

Es war das reizendste kleine Porzellan-Rehkalb in Lebensgröße. Seine Beine waren so fein, so fein, sein Körper so zierlich und schlank, und den Kopf hielt es ein wenig schräge und sah die beiden Damen mit seinen süßen, kleinen, braunen Augen an. – –

Es stand auf dem Rücksitz, und die Schwestern sahen gegenüber. Hand in Hand. Wenn man ihnen die ewige Seligkeit versprochen hätte, so hätten sie nicht glücklicher sein können. Sie hatten vor ein paar Jahren einen Kanarienvogel gehabt, der starb. Und seit der Zeit hatten sie sich nie die Möglichkeit nur vorstellen können, je wieder ein Tier liebzuhaben. Aber das gegenwärtige Porzellanreh machte die Erinnerung an den heimgegangenen Kanarienvogel ganz verblassen.

Der Oberlehrer war zu Besuch bei dem Zollkontrolleur. Sie hatten einen kleinen Spaziergang durch den Garten gemacht und die Paludans begrüßt und saßen nun oben in Knagsteds gemütlicher Wohnstube auf dem Sofa und besprachen die vielfältigen Erlebnisse ihres Reiselebens ...

Während einer Pause im Gespräch nahm Knagsted plötzlich ein Buch von dem Tische vor sich und reichte es Clausen:

»Dies Buch mußt du lesen, lieber Freund«, sagte er mit ruhigem Ernst. – »Meine kleinen Damen da unten haben es mir geliehen. Sie sind ganz begeistert davon. Und ich muß sagen, daß auch ich es sublim finde.«

»So – o?« fragte der Oberlehrer mißtrauisch. »Wie heißt denn das Buch?«

»Sonnenrain, Lichtblick aus dem Leben in einem dänischen Pfarrhause von Frieda Himmelstrup.«

»Ja, darüber habe ich eine brillante Kritik im Christlichen Tageblatt gelesen.«

»Ganz recht ... Und die verdient es auch wirklich! – – Sieh nur!« (Knagsted öffnete das Buch und zeigte auf das Titelblatt.) » Sonnenrain. Lichtblick aus dem Leben, Fried Himmelstrup ...! Das nennt man Stil! Bist du nicht schon ganz erfüllt von Erwartung und Andacht?«

»Willst du dich lustig machen?«

»Keineswegs! – Und sieh hier hinten auf dem Titelblatt: ›Von Gott – zu Gott.‹ –Und hier: ›An Mutter‹ ... Na, alter Junge! Das ist doch prima, prima! Und es ist schon in zweiter Auflage erschienen. – – Willst du es leihen?«

»Ja – a!« sagte Clausen zögernd.

Aber Knagsted fuhr fort:

»Ich habe ebenso wie die kleinen Paludans einen ›unsagbaren‹ Genuß durch die Lektüre dieses Werkes gehabt! Sieh nur: Frieda Himmelstrup! Das soll dem Sonnenrain und dem Lichtblick und Gott und Mutter entsprechen! Die Verfasserin ... (denn das Buch muß von einer Sie geschrieben sein, wir Männer können uns nicht zu dieser Höhe aufschwingen, wie begabt wir auch sind) – – die Verfasserin heißt wahrscheinlich Friederike, aber merkst du wohl, wieviel geistiger dies einfache ›Frieda‹ sich ausnimmt? Der verständnisvolle Leser braucht im Grunde nichts weiter als das Titelblatt zu lesen. Das genügt! ... Aber sieh hier: Es fängt mit einem ›Briefwechsel‹ und einer ›Hochzeit‹ an. Er wohnt in dem Pfarrhaus« zu Sonnenrain, und sie wohnt im Rosenhain. (Hätten sie in Dalldorf oder bei der Wasserkunst gewohnt, hätte nichts aus der Geschichte werden können!) Er heißt Knud Engelbrecht, und Sie heißt Agnete Weiß ... wie? Und höre einmal, wie er aussieht, Seite 17 ... groß, aufrecht, breitschulterig, so recht ein Bild nordischer Kraft (so recht ein Leckerbissen für eine Friederike!). Das Haar war blond, die Stirn gewölbt, die Züge gemeißelt (in was?) und der Ausdruck um den Mund fest und bestimmt. – Dann wird ihre Hochzeit im Rosenhain gefeiert ... Als aber der Star, der in einem der Bäume des Gartens Wohnung genommen hatte, sich ans Fenster setzte, um zu sehen, wie es da drinnen zuging, hatte er das Glück, folgenden Vers aus Knuds Lied an Agnete zu hören:

Die Hand an den Pflug zusammen in Jesu Namen wir legen,
Aus der Ruhe in Seinen Armen schöpfen Kraft wir und Segen,
Fröhlich im Kindesvertrauen
Eine Brücke wir täglich bauen,
Zu kürzen den Weg zwischen Himmel und Erde.

Da soll die Hochzeitsfreude täglich sich mehren,
Aus immer tieferem Herzen wollen den Schöpfer wir ehren,
Ihm sei geweiht unser Haus,
Von dem diese Freude ging aus,
Ale im Paradies er sprach sein »Werde!«

Du verstehst natürlich keinen Muck davon, Clausen, aber dem Star erging es auch wohl nicht besser! ... Und dann ziehen sie heim nach Sonnenrain, Pastor Knud und seine Agnete, »um die Hand an den Pflug in Jesu Namen zu legen«. – – Nun sollte man ja meinen, daß dies mehr eine geistige Manipulation sein muß; aber Prost Mahlzeit! Nach Verlauf von einigen Monaten entging es Knuds Aufmerksamkeit nicht, daß in der letzten Zeit eine Schwerfälligkeit (?), von der er bisher nichts verspürt hatte, über Agnete lagerte: etwas Finsteres, Verschlossenes (?). Er wußte, daß dies zum Teil seinen Grund darin haben konnte, daß sie sich nicht wohl fühlte; aber er fühlte auch zugleich, daß es im wesentlichen ein geistiger Kampf war, den sie kämpfte. – Und dann, eines Abends, bricht es los: Er zog sie auf sein Knie nieder (er ist also einbeinig, was Friederike bis zu diesem Augenblick durch eine licentia poetica uns vorenthalten hat). ›Agnete, was fehlt dir? Jetzt sollst du es sagen!‹ Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Ihre Stirn war kalt und weiß. (Es muß nun auch keine Kleinigkeit sein, da zu sitzen und auf dem einen Bein zu balancieren); sie war in Seelennot (?). Endlich kam es unter Stöhnen: ›Knud, es ist dieser Gedanke, daß auch ich teilhaben soll an der Fortpflanzung der Sünde.‹ Sie schwieg eine Weile und fuhr dann fort: ›Jetzt kenne ich die Geschichte des Sündenfalls aus meinem eigenen Herzen und weiß daher, daß sie zuerst fiel. (Pfui, Friederike!) Sie brach in ein heftiges Weinen aus, das sie lange in ihrer Brust gesammelt hatte‹ ... usw. usw. Kurz und gut: Die kleine Frau ist in gesegneten Umständen! Was ja übrigens, wie ich hörte, bei Pfarrersfrauen bei zweckentsprechender Behandlung vorkommen soll. – Durch alle die vorausgegangene Seelennot könnte man ja nun in Versuchung gefühlt werden zu glauben, daß, wenn Agnete das Malheur nun doch einmal passiert war (mein Gott!), sie, wenn sich die Zeit erfüllet hatte, wenigstens einen Krummstab oder eine kleine Bischofsmütze oder etwas nach der Richtung hin zur Welt bringen würde; aber da geht die junge Frau, weiß Gott, hin und – – – doch ist es besser, sich an den Text zu halten: »Am Abend des zehnten Mai stand Agnete an ihrem Schlafstubenfenster und sah zu der sinkenden Sonne hinüber. Es war ein naßkalter, stürmischer Tag gewesen, wie sie oft im Mai vorkommen, aber jetzt ging die Sonne in all ihrer Schönheit unter. Auch durch Agnetes Herz war ein starker Sturmwind gesaust. Sie wußte, daß es Schwäche war, aber ... Jetzt hatte sich die Stille der Christnacht auf ihre Seele herabgesenkt. Sie hatte ihr Leben ganz in die Vaterhand gegeben (die Hand einer examinierten Hebamme wäre praktischer gewesen) und betete nichts als: Dein Wille geschehe. Und damit hatte sie ihre Freudigkeit wiedergewonnen. (Jetzt kommt es!) Am nächsten Morgen lagen da wirklich (?) zwei (die Hervorhebung ist von Friederike) gesunde, wohlgebildete Knaben in der Wiege neben Agnetes Bett. (Sie ahnte, weiß Gott im Himmel, nicht, woher sie gekommen waren!) – – Niemals hatten die Vögel in Sonnenrain so jubelnd gesungen wie in dieser Morgenstunde, dachte Knud, als er um neun Uhr einen Gang in den Garten machte. Und er selber? Was war die Freude der Vögel gegen die seine? Er hatte allen Grund, froh und stolz zu sein wie ein Asger Nyg, fand er. (Dienstmänner können auch Zwillinge machen, finde ich.) Eine Frau wie Agnete und nun zwei (die Hervorhebung ist von Knagsted) Söhne in der Wiege! – Hätte er nicht gefürchtet, daß Großmutter oder Lise (die Köchin) oder Madame Jensen (man hatte also die Madame doch auch zugezogen!) ihn von den Fenstern sehen könnten, ja, weiß Gott, ob er nicht (welch eine schelmische Konstruktion!) – der Hochehrwürdigkeit und all dergleichen überflüssigem Anhängsel zum Trotz – gleich hier auf dem Rasenplatz einen Purzelbaum geschossen hätte. Er war wie ein ausgelassener Junge. Nur Agnete fehlte ihm. – Indessen zügelte er seine springerischen Gelüste (aber Friederike!) und begnügte sich damit, einen Strauß Veilchen zu pflücken.«

»Das steht da nicht, Knagsted!« unterbrach der Oberlehrer die Lektüre.

»Ich versichere dir ...! Lies selber!«

Clausen nahm das Buch und las. Und es stand wirklich ganz oben auf Seite 26. – Still gab er das Buch zurück.

»Nein, behalte es nur gleich«, sagte der Zöllner. »Nun kannst du ja selbst weiterlesen, wenn du nach Hause kommst.« »Ich will das Zeug gar nicht lesen«, sagte Clausen plötzlich rot und heftig. »Das ist ein abscheuliches, verschrobenes Gewäsch!«

»Aber Mensch, bist du verrückt? Das ist ja Poesie!«

»Ach, du glaubst nun auch wirklich, daß ich ein völliger Idiot bin, dem du alles bieten kannst.«

»Aber Clausen, liebster Freund!«

»Ja, das sage ich! Und du findest ja auch selber, daß es ein affektierter, verschrobener Blödsinn ist.«

»Was für Ausdrücke du gebrauchst, Clausen! – – Das Buch ist im Christlichen Tageblatt gelobt und erschien in zweiter Auflage.«

»Was geht es mich an, daß die Welt von Schafsköpfen wimmelt.«

»Ja, aber lieber, bester Clausen!«

Der Oberlehrer schäumte:

»Meiner Ansicht nach,« sagte er und schlug nach ›Sonnenrain‹, so daß es an die Erde fiel, »meiner Ansicht nach ist so etwas Jux ... «

»Du darfst nicht so von meinem neuen Lieblingsverfasser reden!«

Clausen aber fuhr fort:

»– wodurch das Christentum geschädigt ist und noch immer geschädigt wird, wo es sich um denkende Menschen handelt! Wenn man solchen – Mist gelesen hat, kann man es lange Zeit hindurch nicht ertragen, Worte wie ›Gott‹, ›Glauben‹, ›Vorsehung‹ zu hören, ohne daß einem schlimm und übel dabei wird! – –

Du hast doch selber einmal gesagt, daß diese Art von Büchern das Christentum untergraben.«

»Hm, ja,« meinte der Zöllner, »das eine kommt zu dem anderen ... «

»Und was, meinst du, würde der da gesagt haben, wenn er sie gelesen hätte?« fragte der Oberlehrer plötzlich und zeigte auf Wilhelm Becks Bild über dem Sofa. »Du behauptest ja, daß er ein so kluger Mann gewesen ist.«

»Was er gesagt haben würde!« wiederholte er nachdenklich – »ja, was würde er wohl gesagt haben? ... Ich glaube eigentlich, daß er das Buch in seinem Blatte gelobt haben würde. – Aber dann wäre er wahrscheinlich hinterher in seine Kammer gegangen und hätte die Tür hinter sich abgeschlossen und sich ein homerisches Gelächter geleistet!«

 

Wenige Tage nach seiner Heimkehr hatte Knagsted seine morgendlichen Radfahrten wieder aufgenommen. Dem kranken Bein, dem er infolge seiner Empfindlichkeit gegen Witterungsveränderungen den Namen »das Barometerbein« gegeben hatte, sagten diese Übungen gar nicht recht zu, aber er hoffte durch Ausdauer seine Mucken zu besiegen.

Und als er sich und das Bein acht Tage trainiert hatte, beschloß er eines schönen Morgens, mit dem Nähkasten der fröhlichen Stine nach Boserup zu fahren.

Zu diesem Zweck setzte er sich in den gewöhnlichen Zug 7 Ahr 53 Minuten und langte 8 Uhr 30 Minuten in Roskilde an.

Als er von dem Marktplatz vor dem Bahnhofsgebäude in die Uhlstraße einbog, sah er alle Häuser im Flaggenschmuck prangen. Es sah aus, als erwarte man den Besuch von mindestens einem Dutzend von Königen, so festlich präsentierte sich die Straße. So weit das Auge reichte, wie es in Romanen zu heißen pflegt, hing Banner neben Banner. Er zählte bis zu fünfzig.

»Tod und Dompropst!« dachte er, »was mag hier los sein?«

Und als er einen netten älteren Herrn fragte, der mit einem elfenbeinbekrückten Stock auf dem Bürgersteig wandelte, erhielt er die Antwort:

»Wo sind Sie denn her, Verehrtester? Es ist ja doch heute die Hochzeit von Bäcker Petersens Tochter mit Schneider Hansens Sohn aus Köge!«

 

Der Weg war der gewöhnliche; durch die Ahlstraße, vorüber am »Hotel Prinz«, dann die Olsstraße hinab, am »Holzhof« und der alten Kapelle vorbei, und dann am Hafen entlang nach dem »Berg«.

Vor dem kleinen Hause dort oben, der Kirche gerade gegenüber, saß genau so wie vor ein paar Monaten der kleine vier- bis fünfjährige Junge mit seiner Katze. Sie sahen beide so aus, als hätten sie sich nicht vom Fleck gerührt, seit der Zöllner zuletzt hier war; und er dachte einen Augenblick daran, hinzugehen und den Kleinen zu fragen, ob auch seine Mutter noch immer abwesend sei.

Aber er gab es auf, bestieg sein Rad und rollte weiter durch das Dorf und am St.-Hans-Hospital vorüber, den Hügel hinab, der an der Steig über die Wiese führt.

Bald konnte er die frischen grünen Baumkronen des Boseruper Waldes erkennen, und ganz leise beschlich ihn die Freude, die alte, vergnügliche Stine und ihre gemütliche Stube wiedersehen und ihren Freudenschrei und ihr munteres Geplauder hören zu sollen.

Ob sie wohl draußen im Garten stand und Wäsche zum Trocknen aufhängte wie das erstemal, da er sie besuchte? Er sah sie die roten, gespreizten Hände vor das Gesicht halten und ins Haus laufen mit einem: »Herr du meines Lebens, kommen Sie jetzt wieder, gerade wo wir mitten bei der Wäsche find!«

Er dachte sich eine ganze kleine Rede aus, die er über den mitgebrachten Nähkasten halten wollte – wie diese Sprudelsteine durch Ablagerung des Wassers entstanden, wie sie behauen und geschliffen und zu diesen wunderbar schönen Mustern zusammengesetzt wurden, die alle fremden Menschen in Karlsbad erpicht machte, sie zu laufen und in alle Reiche und Länder der Erde mitzubringen. Und er wollte ihr von dem »Sprudel« selber erzählen, wie hoch der sprang und wie er vor vielen hundert Jahren von einem König entdeckt wurde, der auf der Jagd war und der plötzlich seinen Lieblingshund vermißte und ihn schließlich in der Quelle gekocht fand. Wie würden Stines große, vergnügte Augen vor Erstaunen glänzen! Und wie würde sie lauschen, um später, wenn sie Besuch hatte, bei passender Gelegenheit diese wunderbaren Dinge wiedererzählen zu können!

Jetzt fuhr er an der Schmiede vorüber und in den Wald hinein. Und dort guckte die kleine, strohgedeckte Hütte mit ihren weißen Mauern und ihren hellblau gestrichenen Fenstern und Türen hervor. Im Garten stand ein Gewimmel von Blumen, und da drinnen hinter den Blumen wohnte die letzte fröhliche Frau in Dänemark.

Knagsted fuhr in einem Bogen vor die Gittertür. Er lächelte vor sich hin, so »gespannt« war er auf das Wiedersehen. Er war gewiß ein ganz lächerlicher Mensch! Aber mein Gott: »Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein –«

»Stine! Guten Morgen, Stine! Warum waschen wir denn heute nicht? Hier hab' ich Ihnen was Schönes mitgebracht!«

Eine große, wütend aussehende Frau erschien in der Tür:

»Was stehen Sie da und schreien?«

»Ist Stine nicht zu Hause?«

»Stine? Nein!«

»Wo ist sie denn?

»Die ist ja tot, Mensch! Wissen Sie das nicht?«

»Tot?!«

»Ja, sie ist vor vier Wochen hier draußen von ein paar durchgegangenen Pferden überfahren.« – – Aber am Tage darauf erhielt der Zöllner folgenden Brief:

Bellaggio am Como-See, Juli.

Lieber Herr Knagsted!

Sie haben wohl mein Taschentuch wehen sehen, als wir vor Elbogen aneinander vorüberfuhren? Ja, jetzt ist also alles wieder gut; Agnes und ich sind bessere Freunde wie je zuvor. Sie sitzt hier neben mir, während ich schreibe, und sendet Ihnen die freundlichsten Grüße. Ich habe ihr erzählt, daß Sie mich gelehrt haben, »Hol' mich der Deubel« zu sagen, damals auf der Bank am Nikolaus-Dumba-Weg, und jetzt geht sie herum und sagt es in alle Ecken hinein zu Tantes großem Entsetzen. Aber ich vergesse ja ganz, Ihnen zu erzählen, daß Sie wirklich auch in bezug auf den deutschen »Gutsbesitzer« recht haben sollten. Er war ein Betrüger, wie Sie ja von vornherein behaupteten. Denken Sie nur, eines Tages, als wir alle miteinander im Salon des Hotel Continental in Wien saßen, kam die Polizei und holte ihn. Er war Kammerdiener bei dem Gutsbesitzer, für dessen Sohn er sich ausgab, und er hatte 15 000 Mark gestohlen und war in die Welt hinausgereist und hatte den großen Herrn gespielt. Sie haben keinen Begriff davon, wie sehr sich Tante den Skandal zu Herzen nahm; sie tat mir ordentlich leid, aber jetzt ist es ja schon besser. Und Agnes und ich waren damals ja schon ausgesöhnt, folglich freuten wir uns beide, daß der Deutsche das Feld räumen mußte. Mit uns kam es folgendermaßen: Eines Tages in Karlsbad, als wir zufällig allein beieinander in Tantes Zimmer saßen, sagte ich zu mir selber, jetzt müsse es entweder biegen oder brechen, und dann ging ich ganz ruhig zu ihr hin und nahm ihre Hand und sagte: »Ich will dich haben, hol' mich der Deubel!« Sie hätten Agnes' Gesicht sehen sollen. Zuerst sah sie ganz erschreckt aus, dann aber fing sie so an zu lachen, daß ich sie halten mußte, und dann küßte ich sie, und dann war das überstanden. Sie kann jetzt gar nicht begreifen, daß sie jemals so häßlich gegen mich hat sein können; aber der abscheuliche Deutsche war ja schuld daran, und jetzt macht es ja nichts, da alles so gekommen ist, wie es ist. Wir reisten gleich ab, als er arretiert war, fort von Wien; Tante wollte dort keinen Tag länger bleiben. Und nun wohnen wir hier bis Mitte des Monats, dann geht's nach Hause in die Villa am Strandwege. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schön es hier ist! – – – Der See liegt wie ein großer, blauer Spiegel hier draußen, und ringsherum stehen die hohen, schneebedeckten Alpen: und was für Spaziergänge gibt es hier nicht in den Bergen! Agnes und ich machen jeden Tag zwei lange; wenn wir Ihnen nur einmal begegnen könnten, lieber Herr Knagsted; ich glaube, wir fielen Ihnen beide um den Hals, denn Sie haben uns doch wieder zusammengebracht!

Agnes bittet mich, Sie zu grüßen; ich selber sende Ihnen meine wärmste Freundschaft und einen herzhaften Händedruck!

Mit Hochachtung
Ihr dankbar ergebener
Hugo Möller.

Unter dem Briefe stand in steiler »englischer« Damenschrift:

Ich kann nicht begreifen, wie Sie es wagen können, sich die »leibhaftige Bosheit« zu nennen, denn Sie sind, » hol' mich der Deubel«, der Genius des Glückes für Hugo und mich gewesen.

Agnes.

Als der Zöllner dies Schreiben gelesen hatte, setzte er sich mit seiner Pfeife auf das Sofa und war zwanzig Minuten lang guter Laune.

 

Worauf er sich erhob, still in die Luft hinein nickte und zu seinen drei schweigsamen Hausgenossen Napoleon, Bismarck und Wilhelm Beck gewendet, sagte:

»Ja, meine Herren, wir sind höchstwahrscheinlich in vielerlei uneinig gewesen, in einem Punkte aber stehen wir Schulter an Schulter: » Was wäre das Leben ohne die Liebe! Ihre Macht ist groß, und sie überwindet alle Hindernisse! – – Ich z. B. habe eine Witwe gekannt, die ihren Mann in dem Maße liebte, daß sie noch viele Jahre nach seinem Tode fortfuhr, Kinder zu bekommen!«


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