Gustav Wied
Die Karlsbader Reise der leibhaftigen Bosheit
Gustav Wied

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II.

Die Sonne fuhr fort zu scheinen. Kräuter und Blumen sproßten hervor; und die Bäume bekamen Blätter.

Draußen in Villa Rörholm waren die vierundzwanzig Schilfstengel über eine halbe Elle hoch gewachsen, und die taubstumme Emmy ließ täglich den Schwan und die Wasserrosen auf den erregten Wassern des Sees schaukeln. Die Natur stand im Brautgewande da.

Knagsted aber war wütend.

Unmittelbar bevor er und Clausen ihre epochemachende Reise antreten sollten, hatte sich der Oberlehrer erkältet und wurde bettlägerig. Esau war ein paarmal bei ihm in Gammelköbing gewesen und hatte ihn ausgescholten. Aber das hatte nicht sonderlich geholfen; der Mann lag noch immer im Bett und sollte noch fernere vierzehn Tage liegenbleiben.

»Du wirst wohl ohne mich reisen müssen, lieber Freund.«

»Nicht vom Fleck rühre ich mich!« sagte Knagsted. »Glaubst du, daß ich verrückt bin? Ich hatte mich zu der Reise ja hauptsächlich nur entschlossen, um mich über deine reizenden, blödsinnigen Einfälle zu freuen. Und dann sollt' ich allein von dannen ziehen ... Sieh du jetzt nur zu, daß du dich sputest.«

Clausen lächelte matt. Er schwitzte gottergeben unter einem mächtigen Oberbett. Er lag mit Senfpflaster unter den Fußsohlen und warmen Umschlägen auf dem Magen. Und alle Viertelstunde gurgelte er den Hals mit Salbei, so daß es wie eine Sturmflut klang. – –

Eines Tages traf der Zöllner am Lager des Freundes eine kleine, schwarzgekleidete Mannsperson mit kugelrundem, bleichfettem Gesicht, himmelblauen Engelsaugen, weißem Schlips und blondgelocktem Haar.

Es war der Schullehrer und Kirchensänger J.P. Mikkelsen-Sejstrup.

Er dienerte und scharrte, kam Knagsted mit herzlichem, männlichem Handschlag entgegen und erklärte, es sei ihm eine ungeheur–re Ehr–re, den Kontr–rolleur wiederzusehen.

»Woher kennen Sie mich denn?«

»Aber–r Herr–r Kontr–rolleur–r! Mein Kirchensprengel liegt ja nur eine Meile von diesem Or–rt! Sollte ich Sie da nicht kennen?«

»Hm! ... Wie geht's denn heute mit dir, Clausen?«

»Danke, lieber Freund! Viel besser, Freitag soll ich aufstehen.«

»Dann können wir wohl den nächsten Freitag reisen?«

»Ja, das denke ich ... wenn alles gut geht.«

Der Küster legte den Kopf auf die Seite:

»Die Herr–ren wollen eine kleine R–reise machen?«

»Ja.«

»Wohin, wenn man so fr–ei sein dar–rf?«

»Nach den Kapverdischen Inseln.«

Herr Mikkelsen, der keineswegs von gestern war, lächelte breit:

»Herr–r Kontr–rolleu–r belieben zu scher–zen.«

»Ja.«

»Ach ja, das liebe, kleine, dänische Volk ist in r–reichem Maße mit dieser–r guten Geistesgabe ver–rsehen ... Vielleicht zu r–reichem Maße.«

»So–o?«

»Ja, wahr–rlich! Wir–r Dänen sind wohl ein wenig geneigt, den Er–rnst in Scher–rz zu er–rtr–änken.«

»Na, der rappelt sich schon wieder heraus, Herr Sejstrup! Wir haben ja die Hochschulen.«

»Und ein Land ohne Er–rnst geht seinem Unter–rgang entgegen. Betr–rachten wir–r nur–r die Gr–iechen und R–römer in der–r Zeit ihr–res Ver–rfalles, wo alle Sittlichkeit, alle Mor–ral geschwunden war–r, währ–rend das ganze Volk sich in Laster–r und Gottlosigkeit wälzte.«

»Amen!« sagte Knagsted und wandte sich dann dem Oberlehrer zu:

»Bist du nicht müde. Clausen?«

»Nein, nicht im geringsten.«

Der Küster erhob sich:

»Dann will ich adieu sagen. Her–r Ober–rlehrer! Und baldige Besser–rung! Und dann denken Sie wohl freundlich über–r die vor–rgetr–ragene Sache nach?«

»Was für eine Sache ist das?« fragte der Exzöllner kriegslustig.

»Meine lieben Gemeindekinder–r haben mich er–rmächtigt, für–r die Er–richtung einer Volksbibliothek zu sor–gen ... Vielleicht würde der Herr–r Kontr–rolleur–r, der–r ja dieser–r Gegend nicht ganz fr–remd ist – –«

»Nein!«

Mikkelsens Engelsaugen funkelten wütend.

»Gott im Himmel, steh uns in Gnaden bei!« sagte Knagsted, griff nach seinem Hut und entfloh. –

Wenn der Exzöllner daheim in seiner Wohnung in der Villa Rörholm seinen Morgenkaffee getrunken, seine Pfeife geraucht usw., usw., pflegte er sich auf sein Rad zu schwingen und zwei oder drei Stunden landeinwärts zu fahren, nach Balby, nach Bröndshöj oder auf den Strandweg hinaus.

Aber eines schönen Tages hatte er den Einfall, mit dem Zug 7 Uhr 53 Minuten nach Roskilde zu fahren, wo er 8 Uhr 30 Minuten eintraf.

Wie er zu seiner Schande gestehen mußte, war er noch nie in dieser Stadt gewesen; da wurde ihm denn allerdings ein bißchen sonderbar zumute, als er auf der Station eine Dame zu einer andern sagen hörte:

»Ja, Roskilde, das lebt ja von seinen LeichenIm Roskilder Dom liegen sämtliche dänischen Könige.

Sie sah nun freilich nicht aus, als lebe sie von dieser Nahrung allein, so groß und üppig und reich mit Fleisch ausgestattet war sie nach allen Richtungen hin. Aber vielleicht war sie aus einer andern Stadt.

Auf dem Platz vor dem Stationsgebäude bestieg Knagsted sein Rad und rollte ›mit Delikatesse und Anstand‹ durch die Stadt.

Nachdem er eine Weile in Straßen und Gassen umhergestreift war (der Exzöllner hatte außer vielen anderen unpraktischen fixen Ideen auch die, daß er niemals nach dem Weg fragte, sondern ihn absolut aus eigener Kraft finden wollte), kam er auf eine Straße hinaus, die Frederikssundvej hieß. Sie fiel sehr steil ab, so daß er wie ein Verrückter an Häusern und Gärten und an einem Torweg vorübersauste, auf dem mit großen Buchstaben Holzhof stand. Dann bog er nach links ab, kam an einer alten Kapelle vorbei und sauste weiter, nach dem Hafen hinab.

Über eine Wiese hinweg sah er den Dom stolz und imponierend mit seinen beiden schlanken Türmen direkt in den Himmel aufragen.

Unten am Hafen liegt auf einem hohen Hügel ein ziemlich großes Dorf, das man »den Berg« nennt. Aber so hoch fühlt sich Roskilde über seine Umgebungen erhaben, daß man überall in der Stadt unten auf dem Berge sagt.

Knagsted schob sein Rad einen steilen Weg hinan, an der Dorfkirche vorüber.

Vor einem kleinen Hause da oben hielt ein Bauer mit seinem Wagen. Auf der Schwelle des Hauses saß eine Katze und ein vier- bis fünfjähriger Junge. Als Esau vorüberging, beugte sich der Bauer zu dem Knaben hinab und fragte in etwas verwundertem Ton:

»Was, dein Vater ist tot? Und wo ist denn deine Mutter?«

»Die ist auf dem Abtritt«, sagte der Knabe ruhig.

Knagsted strich teilnehmend dem Verlassenen über das Haar und gab ihm ein Stück Schokolade.

Drinnen im Walde fand er einen gastfreien Pavillon, wo er sich eine Flasche Sodawasser geben ließ.

Und an jenem Tage begegnete ihm dann weiter nichts Merkwürdiges.

Und er gewann diesen Wald so lieb, daß es fast seine tägliche Morgentour wurde, mit dem Zug 7 Uhr 53 Minuten nach Roskilde zu fahren.

Was ihn da draußen am meisten entzückte, war, daß er stundenlang auf den Wegen und Stegen des Waldes umherfahren konnte, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen, so daß ihm diese Fahrten zu einem Symbol der großen heiligen Einsamkeit wurden, die, wie man behauptet, sehr berauschend wirken soll.

Und er war ja ein Stück von einem »Träumer«, das war er, wenn auch behaart.

Ganz entzückt konnte er unter den hohen, kuppelförmigen Buchen umherwandern und dem Gesang der kleinen Vögel lauschen. Oder er konnte sich tief zwischen die kleinen, dicken, lebenstrotzenden Tannen bohren, die da standen und alle die graugrünen, rundlichen Finger in die blaue Luft hinaufstreckten und einander zuwinkten und flüsterten und tuschelten im Sonnenschein und wuchsen und sich streckten, so daß man förmlich hören konnte, wie es in ihnen knackte.

Da drinnen hatte er eine moosbewachsene Lichtung gefunden, wo er sein Rad gegen einen Baum stellte, eine Zigarre anzündete und sich, die Arme unter dem Kopf, so lang er war, hinlegte und zu den segelnden Wolken hinaufstarrte und seine unruhigen Gedanken mit ihnen schweifen ließ ...

Oder er lag unten am Fjord und sah über das Wasser hinaus und lauschte dem Schrei der Möwen und sah die fleißigen Fischer ihr Garn auswerfen und wieder aufziehen ... mit anderthalb Aalen und einer toten Katze beschwert.

Mitten im Fjord liegt ein kleiner, grasbestandener Werder: Möwen und Meerschwalben hausen dort unter Kreischen und Schreien und Zanken und Liebe. Die flachen Küsten können weiß sein von Vögeln, und dann sieht es so aus, als habe der Fjord in einer wilden Sturmnacht all seinen Schaum und all seinen Gischt da hinaufgeschleudert und ihn dann nachher vergessen. Aber dann können plötzlich alle Vögel mit Schreien und Lärmen in die Höhe fahren, und dann sieht es so aus, als werde ein großes weißes Tuch in tausend Fetzen und Stücke zerrissen und von einem Wirbelsturm über das Wasser ausgebreitet.

Und der Grund war folgender:

Eines Tages, als er da unten lag, kamen zwei Männer aus dem Walde, eine Trift Kälber, drei junge Kühe und einen jugendlichen Stier vor sich hertreibend.

Sie zogen sie ins Wasser und fingen an, nach einem Boot hinauszuwaten, das zwanzig, dreißig Ellen vom Lande entfernt lag.

Die Tiere leisteten Widerstand, stemmten die Vorderbeine fest in den Sand und wollten nicht weiter.

Aber unter Rufen und Prügeln gelang es den Leuten doch, sie in das Boot hinauszutreiben.

Dann wurden die Stricke an den Hintersteven festgebunden; die Männer nahmen auf den Ruderbänken Platz, griffen nach den Rudern und fingen an, das Boot in Bewegung zu setzen.

Einen Augenblick später befand man sich in tiefem Wasser, und die Tiere mußten schwimmen. Man sah nichts weiter von ihnen als die vier Köpfe, die über die Wasserfläche dahinglitten.

Aber dann plötzlich stieg der Hinterkörper des letzten Schwimmers hoch aus den, Wellen auf, während einer der andern ein halbunterdrücktes Brüllen ausstieß und sank und sank! Es war der jugendliche Stier, der (quand méme) seine flammende Begierde nicht zu zügeln vermochte.

Die Männer im Boote lachten, so daß es am Waldesrand widerhallte; es war, als lachten die Faune da drinnen mit.

Dann nahm der eine der Bootsleute sein Ruder und stieß den Pascha von seinem Thron herunter. Und dann gelangte man wieder in seichtes Wasser. Die Körper der Tiere stiegen nach und nach aus den Wellen empor. Und der Vogelschwarm stob mit einem Jammergeschrei auseinander und flüchtete in die Lüfte.

Das Boot ruderte zurück, und die Männer verschwanden im Walde. – –

Und drüben auf der öden Insel standen die vier Kuhäugigen und sahen sich verwundert um. Dann schlichen sie langsam, beinahe zögernd, den Strand hinauf.

Als sie dann aber da oben standen und die große Fläche ohne Umzäunung und ohne Wächter vor sich liegen sahen, da sprengten sie plötzlich alle auf einmal in einem ungeschickten, hopsenden Galopp über das Gras dahin. Und die Schwänze streckten sie in die Luft wie vier glückselige Standarten!

» Sonne und Luft und Essen und Trinken und Liebe und Schlaf!« murmelte Knagsted, der dasaß und neidisch zu den glücklichen Vierfüßern hinüberstarrte. » Sonne und Luft und Essen und Trinken und Liebe und Schlaf! ... Wenn ihr nicht werdet wie die Tiere, werdet ihr nimmermehr das Glück schmecken! Und dann treten sich die Herren Staatsreformatoren vor lauter Eifer, ›das Volk aufzuklären‹, fast auf die Zunge!«

Am Waldessaum, die Fassade direkt nach Süden, liegt eine kleine, strohgedeckte, weißgekalkte Hütte mit blaugestrichenen Fenstern und Türen. Davor, nach dem Wege hinaus, erstreckt sich ein mehrere Ellen breiter, blumengefüllter Garten – und in der Hütte wohnt die fröhlichste Frau von der Welt.

Eines Tages, als Knagsted sein Rad vorüberschob, machte er ihre Bekanntschaft. Sie stand mit bloßen Armen im Waschnegligé da und hängte Wäsche zum Trocknen auf, während die Sonne ihren Kopf goldig umstrahlte und der Wind in den Bäumen des Waldes sauste. Aber sobald sie den fremden Mann gewahrte, hielt sie schämiggemütlich fünf rote ausgespreizte Finger vor das Gesicht und tanzte mit einem schelmischen: »hi– puhah!« über die Schwelle in das Haus hinein.

Sie schien Anfang der Sechziger zu sein und hatte grauweißes krauses Haar und große fröhliche Augen.

»Na, Sie haben noch Wind in den Segeln, Madame!« rief ihr Knagsted nach.

»Ha, ha, ha!« sagte sie und streckte lachend den Kopf zum Fenster hinaus. »Wir sind ja in unseren besten Jahren!«

»Kann man einen Trunk Wasser bei Ihnen bekommen?«

»Dazu reicht es noch so eben, Herr! Warten Sie aber man, bis wir in Toilette gekommen sind; denn wir haben uns ja die Taille ausgezogen wegen der Wäsche, ha, ha, ha!«

So wurde die Bekanntschaft gemacht; und Esau hielt seither manch ein gutes Plauderstündchen mit der Waldstine, wie die Leute sie nannten, oder auch muntere Stine oder auch Erntebier-Stine.

»Denn wir haben in unserer Jugend ja getanzt!« sagte sie und ließ die Füße gehen, während sie am Fenster saß und die Sonne auf sie herabschien und sie eifrig an einem übernatürlich langen wollenen Strumpfe strickte.

»Und sie können sich gewiß noch mal herumdrehen!«

»Na und ob! Ha, ha, ha! Wenn wir bloß jemand fänden, der so 'ne alte Garnwinde herumdrehen will! Soll ich Ihnen ein Stück vorspielen?«

Knagsted sah sich im Zimmer um:

»Haben Sie denn ein Klavier?«

»Ja! Das liegt da oben auf dem Bord! Soll ich Ihnen was vorspielen?«

»Ja, gern. Ich liebe Musik sehr.«

Stine warf ihr Strickzeug hin, sprang auf einen Stuhl und holte eine große Pappschachtel von einem Bord unter der Decke herunter. In der Schachtel lag eine feine Handharmonika mit Glockenspiel und allem Zubehör.

»So, jetzt soll'n Sie mal hören! ... Soll ich zur Hochzeit oder zum Begräbnis aufspielen?«

»Zur Hochzeit! Zur Hochzeit!«

Und dann setzte die fröhliche Frau sich auf einen Stuhl mitten in der Stube und spielte einen lustigen Tanz nach dem andern; die alten roten Finger fuhren über die Knöpfe hin, den Kopf hielt sie ein wenig schief, die Augen strahlten, der Mund lachte.

»Na?« sagte sie. »Ha, ha, ha! Das ist doch ganz gut für so 'ne alte Feuerzange!«

»Ausgezeichnet!« nickte Esau. »Sagen Sie mal, hätten Sie nicht Lust, sich mit mir zu verheiraten?«

Die Alte ließ die Handharmonika in ihren Schoß sinken und lachte, so daß es an den Brettern an der Decke widerhallte.

»Und wozu wollten Sie so 'ne alte abgetakelte Schute wohl gebrauchen?«

»Ich würde mit Ihnen auf den Jahrmärkten umherziehen und Sie als die letzte fröhliche Frau in Dänemark sehen lassen; Sie können mir glauben, wir würden Geld verdienen!«

Stines Gesicht wurde ernsthaft.

»Ja,« sagte sie, »es sieht man aus mit der Freude heutzutage, wo ist die eigentlich abgeblieben?«

»Das mag der Teufel wissen, Stine! Wir sind zu klug geworden.«

»Ja, so was wird es wohl sein, ja«, nickte sie eifrig. »Es ist nicht mehr fein, sich zu amüsieren! Denn mir ist es auch aufgefallen, daß alle die Knechte und Mädchen hier aus der Gegend, die von der Volkshochschule kommen, reine Leichenbitter geworden sind, wenn sie wieder nach Hause kommen!«

»Nützt es denn nicht, wenn Sie Ihnen was vorspielen?«

»Ach nee! Es ist nämlich nich mehr fein, Handharmonika zu spielen! Jetzt muß es immer ein Forte– pi–a-no sein!«

»Ja, es sind schlechte Zeiten! ... Spielen Sie aber jetzt noch einen Walzer, eh' ich gehe.«

»Ja, das will ich! Ha, ha, ha!«

Und dann spielte Stine einen Walzer, den sie Mädchenlust nannte, die Glocken klingelten, und die Finger gingen, und sie saß auf dem Stuhle da und hüpfte buchstäblich im Takt zur Melodie.

Plötzlich sagte sie:

»Wissen Sie, Herr, was ich über Nacht getan hab'?«

»Nein!«

»Ha, ha, ha! Ich hab', weiß Gott, Kopf gestanden.«

»Die ganze Nacht?«

»Ha, ha, ha, ha! Mehrstenteil. Um ein Uhr wachte ich mit ganz gottserbärmlichen Zahnschmerzen auf. Und dann stand ich auf und macht' mir einen Schluck Kamillentee. Ich setzte draußen in der Küche Wasser auf: aber während es dann an zu kochen fing, wurd' es so fürchterlich mit den Zähnen, daß ich nicht mehr wußte, was ich tun sollte und zuletzt den Kopf man da unter das Federbett steckte. Und dabei bin ich denn ja eingeschlafen, ha, ha, ha! Und als ich heute morgen aufwach', ist die Uhr sechs!«

»Und Sie hatten keine Kleider an?«

»Nichts außer meinem Hemd, ha, ha, ha!«

»Aber Stine!«

»Ja, ha, ha, ha! Was soll einer dazu sagen! Aber das Zahnweh war weg! Und da hatten wir die ganze Nacht gestanden und den Hintern in die Luft gesteckt, ha, ha, ha!«

»Und Sie haben sich nicht erkältet?«

» Erkältet!« sagte sie mit unsäglicher Verachtung – »wir sind doch kein simpler Schneider! ... Aber heute woll'n wir übrigens den Zahn loswerden!«

»Müssen Sie denn ganz in die Stadt zum Zahnarzt?«

Stine hielt die Hand vor das Gesicht und guckte zwischen den Fingern hindurch:

»Nein, ich hab' ihn näher, ha, ha, ha! Woll'n Sie ihn sehen?«

Sie sprang vom Stuhl herunter und ging an das Fenster.

»Hier ist er«, sagte sie und zeigte einen Pfriemen an einem Holzstiel vor, den sie aus einer Lederstrippe am Fensterbrett zog. »Wenn es dunkel wird, setz' ich mich hin und bohr' damit so lange im Zahn herum, bis er herausgeht.«

Knagsted schüttelte verwundert den Kopf.

Die Frau lachte laut auf, als sie sein Gesicht sah. »Sie glauben wohl, wir sind mall? Ha, ha, ha!«

»Bewahre, Madame! Aber ich finde nur, es wäre bequemer, zum Zahnarzt zu gehen.«

Die Frau verdeckte abermals das Gesicht:

»Ja, aber wir haben den Mut nicht, will ich Ihnen sagen. Wir sind ein Hasenherz! Ich bin einmal vor seiner Tür gewesen, aber da ging das Zahnweh über; und was soll man dann da?«

»Es kam doch gewiß wieder?«

»Das tat es, ha, ha, ha! Auf dem Rückweg. Aber dann nahmen wir den Pfriemen und bohrten ihn heraus.«

»Wie lange gebrauchen Sie dazu?«

»Ach, so ein vierzehn Tage, drei Wochen. Aber dann geht die Zeit damit hin!«

»Sie sind eine Satansfrau!«

»Ja, ha, ha, ha!«

»Jedesmal, wenn ich schlechter Laune bin, will ich zu Ihnen kommen.«

»Mit Vergnügen, mein Herr! Angtreh gratis.«

»Na, denn adieu, Stine, vielen Dank für Ihren guten Humor!«

»Adieu, Herr, adieu! Soll'n wir Sie nich 'rausspielen?«

»Ja, gern! Ein kleiner Hopser wäre gar nicht so Übel, um in Gang zu kommen!«

Und während Knagsted sein Rad auf den Weg hinausschob und sich daraufschwang, stand Stine auf der Türschwelle und traktierte die Handharmonika.

»Was wollen Sie jetzt tun!« rief Esau zurück, als er schon im Davonrollen begriffen war. »Was wollen Sie nun tun, Madame, wenn ich weg bin?«

»Wir ziehen unsre Taille wieder aus, Herr, und machen unsere Wäsche fertig, ha, ha, ha! Adieu, adieu!«

 

Der Oberlehrer war jetzt gut acht Tage außer Bett gewesen, und die Abreise der beiden Freunde war auf den Dienstag festgesetzt:

Am Sonnabend war der Exzöllner nach Roskilde geradelt, um Abschied von seinem geliebten Walde zu nehmen. Die Sonne schien wie gewöhnlich, und da draußen herrschte ein berauschender Duft von Waldesgrün und Sommer.

Esau lag gemütlich ausgestreckt in dem weichen Moos oben zwischen den Tannen auf dem hohen Ufer, der »Insel der Seligen« gegenüber. Er lag da und paffte auf seiner Zigarre und war nach und nach in diesen unbeschreiblichen Zustand des Wohlseins geraten, in dem es einem ganz eminent gleichgültig sein würde, ob zwei mal zwei plötzlich fünf würde.

Durch einen Ausblick zwischen den Tannen konnte er das Wasser des Fjords stahlblank und still daliegen sehen. Kein Wind rührte sich und nicht einmal eine Welle. Die Möwen und Seeschwalben waren gewiß aufs Meer hinausgezogen, und man hörte in dem ganzen Walde keinen Laut außer dem gurgelnden Gurren einer vereinzelten Taube.

Und drüben auf der öden Insel lag, mitten in der glühenden Sonne, der junge Zeus mit seinen drei Jos.

Sie wiederkäuten gewiß, die Glücklichen!

Plötzlich aber richtete sich Knagsted auf den Ellenbogen auf und lauschte. Unten, von der Wiese her, am Fuße des Abhanges, erschollen Schritte und Stimmen.

»Pfui Teufel!« murmelte Esau und stürzte zu seinem Rad. »Pfui Teufel! ... Und nun ist mir obendrein dieser ganze herrliche Wald verdorben! Wie die Bäume schon jetzt aussehen! Und wie die Vögel singen!«


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