Gustav Wied
Die Karlsbader Reise der leibhaftigen Bosheit
Gustav Wied

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IV.

Es war Sonntag, und sie kamen per Droschke nach dem Anhalter Bahnhof gefahren, lösten Billetts, ließen die Koffer expedieren und suchten sich ein leeres Abteil.

Aber im letzten Augenblick wurde es von einem Dritten geentert. – Es war ein dicker, fröhlicher Bursche zwischen den Dreißigern und Vierzigern mit blondem Haar und Bart und kleinen, lebhaften, blauen Augen.

Clausen und der Zöllner saßen einander gerade gegenüber an dem einen Fenster (der letztere wütend über die Reisegesellschaft). Und der Fremde hatte es sich mit seinen Siebensachen und seinem Handgepäck am andern Fenster bequem gemacht. – Als er sein Fett in den Polstern zurechtgerückt hatte, begann er neugierig zu den beiden Freunden hinüberzulugen. Er hatte offenbar große Lust, eine Unterhaltung anzuknüpfen, wagte aber nicht anzufangen, da er nicht wußte, welcher Nationalität sie angehörten. Wahrscheinlich war er nicht sehr sprachkundig.

Dann aber fragte Clausen plötzlich:

»Um welche Zeit sind wir in Dresden. Knagsted?«

Und sofort klärte sich das Gesicht des fetten Burschen zu einem herzlichen Lächeln auf:

»Die Herren sind Dänen?« sagte er, noch bevor der Zöllner hatte antworten können, und lüftete fidel den Filzhut (einen Filzhut, der viel zu klein für seinen fleischigen Kopf war, und der ihm ein eigenartig übermütiges Gepräge verlieh, da er ein wenig schräg saß. Dazu war er mit der Maschine geschoren, so daß seine rosa Kopfhaut durch das Haar hindurchschimmerte. Und außerdem hatte er im Nacken drei dunkelrote, stark sonnverbrannte Fettkrillen). – »Die Herren sind Dänen, höre ich?«

Knagsted sah ihn an, wurde aber erweicht durch sein fröhliches, gutmütiges Gesicht:

»Ja.« sagte er. »wir haben die Ehre.«

Und Clausen nickte freundlich und sagte:

»Ja, wir sind Dänen!«

»Wollen wir uns dann nicht lieber gleich vorstellen?« fragte der Fremde. – »Mein Name ist Jägermeister Krüger von Lolland ... Elisabethsminde bei Nakskow, wenn die Herren zufällig einmal in die Gegend kommen sollten.«

Die beiden Freunde dankten und gaben gleichfalls ihre Titel und Namen auch, jedoch ohne Einladungen.

»So. Sie sind also aus Kopenhagen, Herr Knagsted. Eine schöne Stadt!«

»Eine herrliche Stadt, ja!«

»Da ist doch, weiß Gott, noch Humor in der Sache, wenn man sich darauf versteht! Die Kopenhagener, die wissen zu leben! Die sind nicht wie wir Duckmäuse, die das ganze Jahr Rüben füttern!«

»Nein, es ist eine vergnügliche Rasse ... «

»Ja, und schneidige Frauenzimmer haben sie!«

»Großartige kleine Mädchen«, nickte Knagsted sachverständig; der Reisegefährte gefiel ihm mehr und mehr.

»Sind die Herren lange in Berlin gewesen?«

»Gut vierzehn Tage! ... « Knagsted zeigte plötzlich mit dem Daumen zu Clausen hinüber. – »Ich will Ihnen nämlich sagen,« fuhr er treuherzig lächelnd fort – »ich konnte den da nicht wegbekommen – da war so eine süße kleine Zuckerpuppe, die ... «

Clausen errötete bis an die Haarwurzeln.

»Aber Knagsted! –«

Der Jägermeister lachte, daß die Fenster klirrten:

»Ha, ha, ha! Im Ausland hat man ja weiteren Spielraum, wenn man für gewöhnlich in einer Provinzstadt oder draußen auf dem Lande lebt!«

Er rückte näher an Clausen heran und klopfte ihn gemütlich aufs Knie.

»Ich will schon den Rand halten, Herr Oberlehrer!« nickte er. »Ich kenne den Rummel!«

»Ja – aber –«, begann Clausen. Der Jägermeister hörte aber gar nicht auf das, was er sagte und fuhr fort:

»Ich habe meiner Frau auch versprechen müssen, schlank durch Berlin durchzufahren und direkt nach Karlsbad ... (Ich leide an den Nieren). Sie paßt mir nämlich höllisch auf, will ich Ihnen sagen, wenn ich so allein auf den Bummel gehe! ... Aber ich hab' sie natürlich belauert«, nickte er seelenvergnügt. »Ich konnte es wirklich nicht übers Herz bringen, so direkt durchzusausen ... Und wenn Madame es nun nicht zu wissen bekommt ...!«

»Nein ... Aber kann sie das nicht an Ihren Briefen sehen?«

Der Jägermeister lächelte furchtbar listig:

»Ha, ha, ha! Ich schrieb natürlich Karlsbad darüber. Und sie sieht wahrhaftig nicht nach der Briefmarke.«

»So–o?« meinte Knagsted skeptisch.

»Na ja – und wenn sie es denn wirklich tun sollte – dann hab' ich ja so ein paar extraordinäre Geschenke für sie mit – damit stopf' ich ihr dann den Mund! ... Sind die Herren verheiratet?«

»Nein ... «

»Ja, denn sonst wollt' ich Ihnen einen guten Rat geben, so ein Zeug von einem seidenen Kleid – – – so ganz dicke Seide, die man so ›Steh‹ sagt! Das ist was ganz Prächtiges, wenn man seiner Frau was in die Sprachröhre stopfen will! – – Damit Sie es man wissen, wenn das Unglück mal eintreffen sollte, ha, ha, ha! Wo wollen die Herren denn eigentlich hin, mit Erlaubnis zu fragen?«

»Wir wollen auch nach Karlsbad!«

»Direkt durch, heute?«

»Nein, wir bleiben ein paar Tage in Dresden.«

»Verdammt, daß ich ein durchgehendes Billett genommen hab'. – – Na, an Dresden ist ja gerade nicht viel!«

»Da ist doch die Gemäldesammlung!« sagte der Oberlehrer ein wenig verletzt.

» Die ist da, mein Gott ja, die ist da! Aber die habe ich schon das erstemal gesehen, als ich in Karlsbad war, im Jahre 98! Und wissen Sie was: mehr als einmal, wie? Dann kann man ja sagen, daß man dagewesen ist ...?«

Knagsted nickte mit einem kleinen boshaften Seitenblick zu Clausen hinüber:

»Ja, das ist ganz genügend!«

»Ach Gott, ja, wir sind in einer kleinen halben Stunde durch all' die Säle getrabt ... Viel ist nicht daran! Die Bilder haben bloß solchen Ruf, weil sie so alt sind ... Aber Madame war ja damals mit ... Sind die Herren schon früher in Karlsbad gewesen?«

»Nein, wir waren noch nicht da!«

»Na, dann können Sie sich freuen! Da kann man wirklich eine Prämie fürs Langweilen fordern! Verdammt und verflucht! Des Morgens um fünf aus den Federn, und schon um neun in die Klappe; und kein Essen und keinen Schluck aus der Flasche! – Aber helfen tut es! Was fehlt den Herren, mit Erlaubnis zu fragen? Bei mir sind es die Nieren, und dann hab' ich ja ein paar Pfund schieres Fleisch zuviel.«

Knagsted nickte zu Clausen hinüber:

»Dem da fehlt nichts.« sagte er, »und ich leide an chronischer Selbstbeherrschung.«

»Ha, ha, ha!« brüllte der Jägermeister los (wären Kinder dabei gewesen, würden sie sich rettungslos die Hosen naß gemacht haben vor Schrecken) und sah mit einem beinahe verliebten Blick zu dem Zöllner hinüber. »Und der Humor scheint auch prima prima zu sein!«

»Der Humor ist tiptop–tadellos!« sagte Knagsted. »Ich kann des Abends vor lauter Jux nicht einschlafen!«

Der Jägermeister hielt ihm seine große Pfote hin:

»Sie sind mein Mann!« sagte er. »Darf ich Ihnen die Hand drücken? Wozu soll man den Schnabel hängenlassen? Verdammt und verflucht! Nützen tut es ja doch nicht!«

»Nicht im geringsten!«

»Na, also!«

Man war jetzt über die Grenze gelangt und fuhr durch das Königreich Sachsen.

Zu beiden Seiten der Bahnlinie erhoben sich weit draußen am Horizont kleine, kuppelförmige, waldbewachsene Berge. Und in den Tälern zwischen den Höhen guckten weiße Häuser hervor, und hie und da ragte ein rauchgeschwärzter Fabrikschornstein gleich einem mächtigen Pfeiler gen Himmel empor.

Das Wetter war noch immer schön mit Sonnenschein und Sommerwärme, und beide Wagenfenster standen offen.

»Was ist das da?« fragte Clausen und zeigte auf einen hohen Lehmberg, auf dessen südlichem Abhang lange Reihen laubumschlungener Stangen standen. »Ist das Hopfen?«

»Nein, das ist Wein!« sagte der Jägermeister, stolz über seine Kenntnis. »Jetzt fahren wir ja durch ein Weinland!«

»Ist das Wein?« sagte der Oberlehrer mit einem seligen Lächeln. »Es ist das erstemal, daß ich einen Weinberg sehe! Hast du schon einen gesehen, Knagsted?«

»Ach, lieber Freund, die hab' ich in Unmassen in Frankreich und in Italien gesehen!«

»Ach, das ist wahr, das hast du ja natürlich«, sagte Clausen ganz benaut. Er selber aber saß da und starrte unverwandt voller Interesse auf die Landschaft hinaus, wo die Berge höher und höher wurden, und wo die Häuser an ihren Abhängen oft nur kleinen, weiß gestrichenen Starenkasten glichen.

Der Zöllner und der Jägermeister waren in lebhafter Unterhaltung begriffen:

»Sehnen Sie sich nicht zuweilen, Herr Krüger, irgendwo anders, nur nicht daheim auf dem flachen, fetten Lolland zu wohnen?«

»Ich und mich sehnen!« sagte der Jägermeister und sah Knagsted mit einem Blick an, in dem deutlich zu lesen stand: dergleichen Frauenzimmerfragen hätt' ich wirklich nicht von Ihnen erwartet. »Ich und mich sehnen! Nein, weiß Gott, ich sehne mich nicht. Man soll nirgends anders wohnen, als wo man geboren ist!«

»Nein, darin mag ja etwas sein – aber Lolland

Herrn Krügers Gesicht wurde einen Schatten röter:

»Lolland. Lolland!« wiederholte er beinahe höhnisch. »Ich weiß nicht, was die Leute immer an Lolland auszusetzen haben! Lolland ist doch Dänemarks Speisekammer, und Essen müssen wir doch haben!«

»Ja – ja, natürlich! Aber es ist doch so eine verteufelt häßliche ›Speisekammer‹.«

»So–o? Sind Sie schon mal dagewesen?«

»Ja!«

»Na, und finden Sie vielleicht, daß es schöner in Jütland ist, wo das Korn auf dem Felde steht und Ach und Weh zum Himmel emporschreit, und wo die Ähren einen Kneifer aufsetzen müssen, wenn sie sich gegenseitig sehen wollen?«

»Nein – was so die Fruchtbarkeit anbetrifft –«

Der Jägermeister geriet in Eifer (und das wollte der Zöllner ja gerade):

»Von den kahlen Bergen und Tälern kann man nicht leben, wenn nichts darauf ist! Und dann ist es ja auch der reine Unsinn, dies ewige Gerede, daß Lolland so häßlich sein soll. Es ist nicht häßlich, verdammt und verflucht! Sie sollten nur mal so in einer Oktobernacht vom Erntefest nach Hause fahren, wenn der Mond durch die Weiden scheint ... Man wünscht, weiß Gott, manchmal, daß der Weg doppelt so lang wäre! Und dann im Sommer, mein Freund! Man fährt ja wie durch einen Garten, Schatten ist da überall, während man drüben in Jütland, Herr du meines Lebens, in lauter Margarine waten muß, wenn man nur eine kleine Viertelmeile geht! Ich hab' da drüben ein Jahr Landwirtschaft gelernt: das ist die reine Hölle für Pferde wie für Menschen.«

Jetzt hatte Knagsted genug von dem Ton, deshalb fragte er:

»Aber wie sind Sie eigentlich dazu gekommen. Landmann zu werden, Herr Krüger? Das soll doch heutzutage ein verdammt schlechtes Geschäft sein.«

»So, soll es das, mein Lieber, hm? Aber wenn ich Ihnen nun geradeheraus sage, daß es das einzige ist, was sich des Lebens verlohnt!«

»Also, der Ansicht sind Sie?«

»Ja, der Ansicht bin ich, weiß Gott! Es ist die einzige Stellung, in der man wirklich sein eigener Herr ist. Man sitzt da ja auf seinem Gut wie ein kleiner König auf seinem Thron.«

»Nun, da habe ich doch freilich viele Landleute ganz gottsjämmerlich klagen hören, unter anderem über die Leuteverhältnisse.«

»Ja, die sind ganz miserabel!« nickte der Jägermeister. »Aber das sind sie ja in jeder Stellung. Aber dann hat dies auf dem Lande wohnen den Vorteil, daß man in der freien Luft ausschelten kann. Das ist überhaupt der einzige Ort, wo man wirklich so richtig ausschelten kann! In den Stuben ist nicht Platz genug. Ich nehme die Sünder gern mit auf eine Wiese hinaus, die nördlich von meinem Hof liegt, und dann schimpfe ich sie aus, was das Zeug halten will, so daß die Krähen von den Bäumen drinnen im Garten herunterpurzeln! Aber das hilft, können Sie mir glauben; es endet immer damit, daß sie um Verzeihung bitten ... und dabei erleichtert man sich selber dann auch gleich ... und wird so verdammt schön hungrig hinterher!«

Knagsted lächelte huldselig.

»Das muß großartig sein!« sagte er träumend. »Ich könnte wohl nicht hin und wieder einmal nach der Wiese kommen, um mich zu erleichtern? Das würde sicher ein gutes Mittel sein gegen diesen chronischen –«

»Ja, ha, ha, ha! Kommen Sie nur! Und dann ist da so ein famoses Echo nach der Scheunenwand zu. Es klingt, weiß Gott, als stünden da vier Dutzend Jägermeister und brüllten, sobald ich loslege. Und die Kerls, die lassen wir auch keine Sekunde zu Wort kommen! Wir überbrüllen sie. Das ist das einzige, wovor sie Respekt haben, und sie schleichen, bei Gott, schließlich ganz beschämt davon, den Schwanz zwischen den Beinen wie ein Jagdhund bei Regenwetter ... Man ist doch wohl noch Herr auf seinem eigenen Grund und Boden!«

»Wissen Sie, was Sie tun sollten, Herr Jägermeister? Sie sollten in Dänemark umherreisen und die Disziplin wiederherstellen. Das tut groß nötig!«

»Hm, ja, sie wollen mich auch gern alle leihen ringsumher auf allen Höfen in der ganzen Gegend. Aber ich sage: Scheltet selber aus, sonst nützt es nicht. Meine Wiese will ich euch gern zum Einüben überlassen.«

»Ich glaube, Sie haben unrecht, Herr Jägermeister,« sagte Clausen plötzlich und wandte sich vom Fenster ab, ihm zu, »das ist sicher nicht die richtige Art und Weise, Leute zu erziehen!«

»Zu erziehen! Die Leute sollen zu gar nichts weiter erzogen werden als zum Gehorsam, verdammt und verflucht! Ich bin der beste Herr gegen diejenigen von meinen Leuten, an denen was dran ist, aber gehorchen, das sollen sie, weiß Gott!«

»Ja, natürlich!« nickte Knagsted. »Mein Freund Clausen ist nur so altmodisch.«

» Altmodisch!«

»Ja, altmodisch, lieber Freund! Das Schlagwort mit der ›Erziehung‹, das war ganz gutes Latein in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, aber jetzt sind die vorgeschrittenen Geister, wie z.B. der Herr Jägermeister und ich, weit, weit darüber hinaus! Nein, Hundeloch und Holzpferd, das fehlt uns!«

»Nein, nein!« sagte der Jägermeister ein klein wenig unsicher, »jetzt gehen Sie denn doch wohl zu weit, Herr Partikulier. Aber Hiebe ... «

»Hiebe sind auch gut«, nickte der Zöllner. »Ein solider Eichenknüttel –«

»Das meinst du ja gar nicht, Knagsted! Warum willst du denn so was sagen?«

»Bei Gott, er meint es!« versicherte der Jägermeister.

»Ja, weiß Gott, meine ich es«, sagte Knagsted. »Und ich habe mich nach den besten Vorbildern gerichtet. Man soll es nur so machen wie die Großmächte in China: ›Wollt ihr wohl gehorchen, ihr Kerls!‹ ›Nein, weiß Konfuzius, das wollen wir nicht!‹ – ›Gut, dann wollen wir es euch, weiß Gott, in Jesu Namen lehren!‹«

 

Man rollte durch das Elbtal. Die Weinfelder wurden größer und zahlreicher, die Berge höher und zusammenhängender ...

Hie und da ragten große, rotbraune Steine aus dem gelben Lehmboden der Abhänge auf, nackend und kahl von Wind und Wetter. Sie standen da wie finstere, tausendjährige Riesen, verbissen und verbittert, und schauten über das breite Tal hin, durch das der Zug dahineilte, mit seinen geschäftigen Rädern klappernd, und wo Häuser und Villen und rauchende Fabriken lagen und im Sonnenschein lächelten und sich den Teufel auch daran kehrten, was sich an dem Morgen der Zeiten zugetragen hatte, als die alten Steinriesen unter Blitz und Donner, mit Krachen und Tosen aus dem glühenden Bauch der jungen Frau Terra aufstiegen ...

 

»In welchem Hotel wollen die Herren absteigen?«

»Wir dachten in ›Bellevue‹.«

»Das ist auch ganz ausgezeichnet. Und dann liegt es so angenehm mitten im Zentrum an allen Straßenbahnen ... Sie steigen wohl erst am alten Bahnhof ab?«

»Ja.«

»Es ist im übrigen ein abscheulicher Tag, nach Dresden zu kommen, so ein Sonntag. Da ist die Stadt noch langweiliger.«

»Nun, das wird schon gehen.«

»Diese Brühlsche Terrasse, die so berühmt ist, wie ist die eigentlich?« fragte der Oberlehrer.

»Ach, daran ist im Grunde nicht viel! Ja, es sind ja ganz gute Treppen, die da hinaufführen, mit breiten Stufen und bequemen – –«

»Man soll von da oben eine so schöne Aussicht haben ... «

» Aussicht! Nein! Man sieht nur auf die Elbe. Abscheuliches, dreckiges, gelbes Wasser ... Und dann drüben auf der anderen Seite liegt die Neustadt. Nein, da ist wirklich nichts zu sehen!«

Clausen seufzte tief auf und sah ganz hoffnungslos unglücklich aus über diese Ortsbeschreibung. – Knagsted lächelte still vor sich hin. – Aber der Jägermeister, der des Oberlehrers finstere Verzweiflung gewahrte und den Grund ahnte, beugte sich zu ihm hinüber und klopfte ihm gutmütig auf das Knie.

»Kehren Sie sich nur nicht daran, was ich hier schwatze, Herr Oberlehrer«, sagte er, und sein fettes Knabengesicht mit den kleinen, guten Augen strahlte vor gutmütigster Liebenswürdigkeit. – »Was versteht der Bauer von Gurkensalat! Es kann ja gern sein, daß Sie das Ganze großartig finden. Ein jeder nach seiner Schakön, wie dieser Tierarzt Fredriksen sagt. Ich versteh' mich nun mal nicht auf andere Aussichten als auf Rübenfelder! Verdammt, daß man seine Ansicht nicht für sich behalten kann! – Aber Sie fragten ja doch!«

»Ja, ja, ja ... «, lächelte Clausen geniert-dankbar und klopfte wieder. »Sie haben natürlich das Recht, Ihre Ansicht zu sagen. Herr Jägermeister ... Aber ich gebe zu, daß ich ein wenig enttäuscht war – ein ganz klein wenig ... «

 

Der Zug sauste dahin usw. Man näherte sich Dresden. – Kleine gemütliche Wege mit Spaziersteigen und Baumpflanzungen wurden sichtbar. Häuser mit Gärten ringsumher und Villen mit beschnittenen Hecken. Eine Fabrik lag neben der andern. Und hie und da stand ein kleines Stück angefangener Straßen, deren hohe, fünfstöckige Kasernen mit ihren schimmernden Dächern und neugestrichenen Fenstern und Türen aussahen, als seien sie in einer einzigen Nacht aus der Erde aufgeschossen.

»Jetzt sind wir gleich da«, sagte der Jägermeister und erhob seine mächtige Faust (sie glich einem Riesen-Kotelett) und zeigte auf eine Sammlung von Kuppeln und Türmen, die draußen am Horizont sichtbar wurden. »Es ist sehr langweilig, daß ich nun allein weiterrummeln soll!«

»Wir sehen uns ja schon in ein paar Tagen wieder! Lieben Sie uns denn so sehr?«

»Ja, das tue ich auch, ha, ha, ha! Aber das meine ich eigentlich nicht; es war die Fahrt ... Können Sie nicht lieber gleich mit durchrutschen?«

»Nein, das können wir nicht gut, nein; wir haben uns ja einmal vorgenommen, hier einen Aufenthalt zu machen ... «

»Hm ... Darf ich den Herren das Hotel National in Karlsbad empfehlen? Da wohne ich selber, und da wohnen beinahe alle Dänen.«

»Danke!« nickte Knagsted freundlich. (Im stillen aber fügte er hinzu: Dann kehren wir natürlich nicht dort ein.)

Clausen saß da und sah zum Fenster hinaus. Er befand sich in einer gespannten, gehobenen Stimmung infolge all des Neuen, was er sah; er empfand wohl ungefähr dasselbe wie ein Student aus Horsens, der zum erstenmal Kopenhagen sehen sollte und deshalb unter der Gnadengabe der Erwartung zittert.

»So!« sagte der Jägermeister.

Die Lokomotive pfiff, und der Zug rollte vor den Bahnsteig.

»Dies ist also der neue Bahnhof?«

»Dies ist der neue Bahnhof, aber Sie tun besser daran, bis zum alten mitzufahren.«

»Ja, das wollen wir auch. Hier sind nicht viele Menschen zu sehen.«

»Nein, im Vergleich zu Berlin ist es ja auch nur eine kleine jämmerliche Stadt ... « Aber kaum hatte der gute Jägermeister diese häßlichen Worte gesagt, als er sie auch schon bereute; und einen erschrockenen Blick auf den Oberlehrer werfend, fügte er hinzu: »Aber im übrigen ist Dresden ja eine schöne Stadt, eine sehr schöne Stadt. Ich verstehe mich nicht weiter auf desgleichen.«

Und dann fuhren sie weiter.

»Ist das die Elbe?« fragte Clausen; sie fuhren über eine dröhnende Brücke. Und auf dem Wasser zu beiden Seiten wurden Boote und Prähme von langen, keuchenden Dampfern geschleppt.

Der Jägermeister war fortwährend besorgt, der Freude seines lieben Reisegenossen keinen Abbruch zu tun:

»Ja, das ist die Elbe!« nickte er und tat, als interessiere es ihn. »Können Sie da hinübersehen? Ein paar schneidige Brücken, die sie hier haben. Unten bei der Brühlschen Terrasse ist eine, die ist geradezu großartig, die ›Augustus-Brücke‹ heißt sie. Man sagt, sie soll sieben, acht Jahrhunderte alt sein – geradezu großartig. Ja, bauen, das konnten sie in alten Zeiten!«

»Nein, was für eine schöne alte Kirche!«

»Ja, die ist nicht zu verachten! Sie liegt am Theaterplatz. Sie haben sie im Bellevue gerade vor sich.«

»Ist da nicht auch ein königliches Schloß?«

»Ja–a, aber daran ist gerade nicht viel – – Ja, das heißt, es ist natürlich sehr nett, natürlich; aber es liegt ein wenig eingeklemmt. Mein Gott, ein Schloß ist ja immer schön. Ich hätte nichts dagegen, wenn es mein Wohnhaus wäre, ha, ha, ha!«

Knagsted saß in stiller Wonne da.

»Die Gemäldesammlung ... wo ist denn die?«

»Ja, die haben Sie ja auch gleich beim Hotel. Die ist schön ... Das Gebäude meine ich, ›der Zwinger‹, wie es heißt; es ist so etwas wie unsere Amalienburg – aber schöner! Und die Gemälde sind auch sehr schön, weiß Gott, das sind sie. Ich war so hungrig, als ich da war, und das ist verkehrt. Ich will den Herren raten zu essen, ehe Sie dahin gehen; es ist ja ziemlich ermüdend.«

»Ja, wir bestellen uns jeder ein paar Beefsteaks mit Spiegeleiern«, nickte Knagsted.

»Ja, das ist recht, ha, ha, ha! So, jetzt sind wir da.«

Der Zug rollte in den alten Bahnhof hinein, und Clausen und Knagsted stiegen aus.

»Also dann adieu, Herr Jägermeister! Vielen Dank für die angenehme Reisegesellschaft!«

»Adieu, adieu, meine Herren! Danke gleichfalls. – Verdammt langweilig, daß ich jetzt allein bleibe!«

»Nun, es sind ja nur noch ein Paar Stunden. Glauben Sie nicht, daß Sie ein wenig schlafen könnten?«

»Ob ich schlafen kann? Ja, darauf können Sie Gift nehmen.«

»Aber dann schlafen Sie doch!«

»Ja, das will ich auch, darauf können Sie sich verlassen, ha, ha, ha! – Hallo, hallo! Soll ich Zimmer für Sie im ›National‹ bestellen?«

»Nein, ich danke, um Gottes willen nicht!« rief Knagsted sich vergessend.

»Na, dann nicht. Darum keine Feindschaft nicht ... Adieu, adieu! Verdammt langweilig, daß ich jetzt allein bleibe!«

 

Der Zwinger. –

»Ja, da kannst du sehen: Montags 10–2 Uhr 1.50 Mark ... Aber morgen können wir gratis hineingehen. Wollen wir dann nicht lieber bis morgen warten?«

»Nein, das finde ich nicht ... «

»Bist du so darauf erpicht?«

»Ja-a ...!«

»Gut, dann laß uns hineingehen! Aber du mußt selbst bezahlen.«

»Ja, natürlich!«

Und sie gingen in die Vorhalle hinauf, gaben ihre Stöcke ab und berappten jeder anderthalb Mark.

»Wollen wir nicht einen Katalog kaufen?«

»Nein; es ist ja ganz gleichgültig, wer die Bilder gemalt hat.«

Als sie in den vorderen Saal gekommen waren, blieb Knagsted sehr entschlossen stehen und sagte:

»Ja, hier will ich aber allein gehen!«

»Aber mein Gott, Knagsted, das kannst du ja auch sehr gut ... Aber wie sollen wir uns nur nachher finden?«

»Ach, nach dem Hotel findest du dich wohl allein zurück, wenn wir uns nicht treffen sollten. Adieu! Amüsier' dich gut!«

Clausen aber packte ihn beim Arm:

»Was hast du nur einmal, lieber Freund?« fragte er zögernd. »Ja, verzeih, daß ich frage, aber du bist so sonderbar gewesen ... gestern abend und nun auch heute morgen.«

»So-o?«

»Bist du ... bist du meiner Gesellschaft überdrüssig?«

Knagsted lachte ein wenig krampfhaft:

»Nein! Ach nein! Im Gegenteil! Du bist mir eine wertvolle Stimulanz, lieber Obermann! ... Nein, mich drückt ganz was anders. Aber du magst ja nicht, daß ich davon spreche ... «

»Ja, sprich du nur frisch von der Leber weg, es sollte mich ja so sehr freuen, wenn ich vielleicht helfen könnte.«

Knagsted kniff ein Auge zusammen.

»Ja, dann sage ich es also ...?«

»Ja, ja ...!« nickte der andere eifrig.

Der Zöllner packte ihn am Rockkragen und zog ihn zu sich heran:

»Ich bin zwei Tage nicht auf Tante Meyer gewesen!« flüsterte er ihm ins Ohr. – »So, jetzt weißt du es. Adieu!« – – Und dabei schritt er ab nach rechts in den Seitensaal.

 

Clausen schlug langsam den entgegengesetzten Weg ein ... Er dachte an seinen unglücklichen Freund und bedauerte ihn aufrichtig und wünschte, daß er ihm helfen könne. Er wollte alles tun, was in seiner Macht stand, um dem Freund eine leichtere Lebensauffassung einzuflößen ... Aber Knagsted wollte sich ja nichts sagen und raten lassen. Es mußte schrecklich sein, in einer solchen Laune umherzugehen! Aber wenn man nur ernstlich wollte, so ... Ach nein, das große Bild da! Wie wunderschön es doch war! ... Und das! ... Und das! ...

Und nach und nach stürzte der gute alte Oberlehrer sich kopfüber in die Gemälde in glücklichem Vergessen aller Sorgen und Nöte, aller Knagstede und schlechter Mägen, aller Krankheit und alles Elends ...

 

Als Knagsted in den Saal zur Rechten gekommen war, blieb er stehen, schlich dann an die Tür zurück und guckte sich nach dem Freund um. – – Und als Clausen in den nächsten Saal gegangen war, schlich er ihm nach und folgte ihm so von Raum zu Raum. Den Kunstwerken ringsumher an den Wänden schenkte er keine weitere Aufmerksamkeit. Wenn aber der Oberlehrer in Andacht versunken vor einem Bilde stand, so amüsierte und befriedigte es den Zöllner weit mehr, in Gedanken das Gemälde ausfindig zu machen, vor dem der Freund das nächste Mal stehenbleiben, von dem er sich begeistern lassen würde. – Und es waren immer die großen, »abstrakten« Bilder, die Vorwürfe wie »Die Hoffnung«, »Die Wahrheit«, »Der Glaube«, »Die Gerechtigkeit« usw. darstellten. Auch die sogenannten »idealen« Landschaften und Bilder mit historischen und biblischen Motiven genoß Clausen lange und intensiv ... mit um so größerem Entzücken, je größer ihr Quadratinhalt war. An den »Holländern« aber ging er flüchtig vorüber, auch die Porträts fesselten ihn nicht weiter: Nur vor einem Pastell, das den jugendlichen Thorwaldsen darstellte, verweilte er ein paar Minuten mit einem holdseligen Lächeln um den Mund: Ah, da haben wir ja unsern eigenen Thorwaldsen!

 

Und dann gelangten sie endlich an den Raum, wo in einsamer Majestät Ihre Königliche Hoheit: die Raffaelische Madonna residiert.

Clausen blieb eine Sekunde auf der Schwelle stehen wie geblendet und überwältigt. – Dann senkte er demütig den Kopf und trat ein ...

Knagsted ging schnell an der Türöffnung vorüber.

Es war voll Menschen da drinnen. – Dann machte er kehrt, schlich zurück und guckte hinein:

Der Oberlehrer stand mitten im Zimmer, gerade vor dem Bilde. Seine Arme hingen schlaff herab an den langen Schößen seines Gehrocks, er starrte das Gemälde mit einem Ausdruck innigster und tiefster Ehrfurcht an. So völlig religiös verzückt schien der Mann zu sein, daß es Knagsted gar nicht wundergenommen hätte, wenn er plötzlich mit gefalteten Händen vor dem Bilde niedergesunken wäre ... nieder auf seine alten, spitzen, ehrlichen Pädagogenknie ...

Das alles war ja ganz schön und stimmungsvoll ...

Aber dann saßen und standen dort ringsherum an zwölf – vierzehn – zwanzig Weibsbilder, fette Madamen und magere Fräulein: sieben Engländerinnen mit Stangenlorgnette, vier deutsche Pensionatsdamen mit astronomischen Ferngläsern, fünf kleine, behende, schwarzgelockte, französische Mademoiselles und sechs kurzhaarige, untersetzte, nasenbeklemmte (offenbar dänische) Volksschullehrerinnen. Und alle Nationalitäten stöhnten und keuchten vor Begeisterung!

Dies, wenn man sich so ausdrücken darf, »Herbarium« würde hinreichend gewesen sein, um Knagsted jedes Entzücken (falls er es überhaupt empfunden hätte) aus Herz und Nieren herauszuniesen. – Aber auf den frommen Oberlehrer machte es nicht den geringsten Eindruck. Er sah, hörte und roch seine Umgebung nicht, so ganz in die höchsten Kristallhimmel erhoben war er, über allen Verstand begeistert, bis zum Blödsinn hingerissen, wie man es einem Kunstwerk gegenüber sein soll und muß, das mit fetten Buchstaben in Sr. Majestät König Baedeker angeführt steht!

 

»Zöllner! Zöllner!« sagte der Oberlehrer, als er eine halbe Stunde später Knagsted drüben im Hotel traf. »Zöllner! Zöllner!« sagte er, und in seinen Augen leuchtete noch immer das heilige Feuer – »warum bist du doch nicht mit zur Madonna hineingegangen?«

»War sie so verführerisch?«

Clausen machte eine überlegen abwehrende Handbewegung und lächelte siegesgewiß:

»Ach, es ist mir ganz einerlei, ob du dich lustig machst! Mich rührt es nicht im geringsten! ... Aber du hast dir selber im Licht gestanden, Knagsted! du hast dich um den reinsten Genuß betrogen, der einem Menschen beschieden sein kann: So wie sie dastand, das Kind auf dem Arm ... «

»Und Max und Moritz zu Füßen ... «

»Max und ... heißen die Max und Moritz?«

»Diesmal bist du also nicht enttäuscht, kleiner Ober?«

Der Oberlehrer erhob dankbar die Augen gen Himmel:

»Nein,« sagte er, »mein lieber Freund, nein, diesmal bin ich nicht enttäuscht worden! Ich werde an dies Bild denken, solange ich lebe!«

 

Die beiden Freunde hatten im Hotel zwei Zimmer nebeneinander mit einer Tür dazwischen bekommen.

Es wurde Knagsted sehr schwer, am Abend einzuschlafen. Er lag eine Stunde da und las, ehe er das Licht auslöschte und sich in Schlafstellung legte: flach auf den Rücken, das rechte Bein unter das linke gezogen, den Kopf erst auf dem linken Ohr, und dann, gerade in dem Augenblick, in dem er im Begriff war einzuschlafen, mit einer raschen Drehung auf die rechte Seite herum. Mißlang aber dies Experiment, oder hörte er im Drehungsmoment irgendeinen Laut, das Knacken eines Möbels, ein Rascheln hinter der Tapete, ein Bumsen über sich oder ein Klatschen gegen die Fenster, so war er gleich wieder wach und mußte wieder von neuem anfangen. Und so konnten viele Stunden vergehen, ehe er endlich, vor Müdigkeit und Nervosität zitternd, in die begehrenswerteste aller Daseinsformen hineinglitt. Und konnte er keine »Ruhe und Vergessen« auf andere Weise finden, so hatte er auf seinem Nachttisch eine kleine Spieluhr stehen, die er im Dunkel der Nacht »aufzog« und auf sein eines Ohr legte, während er gleichzeitig einen Finger tief in das andere hineinstopfte. So geschützt, schlief er dann endlich ein. Aber der Friede war nur von kurzer Dauer, denn das Instrument mußte genau jede zwölfte Minute wieder aufgezogen werden. Und dann war da auch das Schreckliche bei der Sache, daß sie zwei Stücke spielen konnte: einen sanften, erquickenden, leisen Walzer, den er benutzte, und eine wilde, lebenweckende Galoppade von Offenbach. Er hatte so viel mit diesem Teufelsinstrument herumgestellt, daß es in der Regel den Walzer von sich gab, aber es konnte auch plötzlich in Offenbach übergehen – und dann war alle Hoffnung aus!

Natürlich waren es namentlich die Hotels, die dem armen Zöllner Nachtweh verursachten. Er wurde schlecht, wenn er dort wohnte, und er haßte sie aus ganzer Seele. Mehr aber noch haßte er doch die Gäste. Und am meisten diejenigen unter ihnen, die zwischen zwölf Uhr des Nachts und acht Uhr des Morgens nach Hause kamen, fröhlich und mit knarrenden Stiefeln. Er hätte ihnen ohne die geringsten Gewissensbisse eine Kugel durch die Zehen schießen können! Und wenn dann doch wenigstens Clausen da drinnen auch nicht hätte schlafen können! Kaum aber hatte das alte Ungeheuer seine Flamingobeine zwischen die Laken gesteckt, als er auch schon eingeschnarcht war, gottbeschützt und engelumflattert wie ein milchgesättigter Säugling.

 

Knagsted riß die Augen auf und fuhr im Bett in die Höhe. Wieviel war die Uhr? Ein Viertel über sechs! Und er war erst gegen vier eingeschlafen und hatte obendrein in der letzten Stunde mit der Dose schlafen müssen!

Er legte die Uhr wieder auf den Nachttisch, ballte die Fäuste und lauschte:

»Da sollte denn doch auch der leibhaftige Satan!«

Ein paar Zimmer weiter schlug ein Tenorsänger seine herrlichen Triller. Der Gesang quoll rein und klar und unbekümmert aus seiner Kehle. Man konnte deutlich hören, daß er stolz auf seine Stimme war und froh über sie und nun meinte, die ganze Welt müsse derselben Ansicht sein. Wahrscheinlich stand er mitten im Zimmer und schlug mit den Flügeln, wie eine morgenfrohe Lerche tontrunken und gottvergnügt über einem taufrischen Kleefeld in die Lüfte steigt. Sie kehrt sich an nichts, fühlt nichts, glotzt nur direkt in die Sonne hinein und heult darauf los.

Knagsted sprang mit einem Satz zum Bett hinaus. (Die Haare an seinen nackten, untersetzten Bocksbeinen standen förmlich zu Berge vor Verzweiflung):

»Clausen, Clausen!« Er stürzte auf die Tür zwischen den beiden Zimmern zu und öffnete sie.

»Clausen!«

»Rrrr!«

»Clau-sen-nn!«

»Ja, ja; was gibt's, lieber Freund?«

»Kannst du denn nicht einmal das hören?«

»Was?«

»Hör doch!« (Der Tenor setzte gerade mit dem hohen F ein.)

Rotwangig und seelenvergnügt hatte sich der Oberlehrer aus dem Schlafe aufgerichtet. Und nun begann er zu lauschen, den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt, mit hellen, lächelnden Augen:

»Ja, ja, jetzt höre ich!« sagte er und nickte glückselig. »Das klingt schön, ganz wunderschön! Wie liebenswürdig von dir, mich zu wecken! Ich höre des Morgens so gern Gesang; das ist ein gutes Omen für den ganzen Tag.«

 

Der Dampfer »Bodenbach« keuchte die Elbe hinauf. Die Räder lärmten und plätscherten und gaben sich alle mögliche Mühe; aber es ging nur langsam vorwärts; der Strom war reißend.

Oberlehrer Clausen hatte sich zu Ehren dieser Elbfahrt ein Reisefernglas zu 15 Mark bei Max Kretzschmar, Seestraße 7, erstanden, und saß nun auf einem Feldstuhl ganz unten in dem Vordersteven des Dampfers und besichtigte die Natur.

Es sah aus, als solle Dresden niemals ein Ende nehmen; beständig waren da Häuser, Straßen und Fabriken zu beiden Seiten des Flusses. Er war nun wohl schon eine Stunde lang gefahren, immer aber waren da neue Straßen und neue Häuser.

Bis auf einmal bei einer plötzlichen Biegung des Flusses eine Reihe hoher, rotbrauner, zerklüfteter Granitfelsen fast lotrecht am Ufer aufragten. Es war ein Steinbruch. Große, viereckige, längliche Blöcke lagen nach allen Seiten zerstreut umher, ganz bis ins Wasser hinein; hin und wieder erscholl ein Krachen und Poltern, und ein ungeheurer Stein hüpfte wie ein Ball die Felswand hinab.

Es fehlte nicht viel daran, daß die Augen des Oberlehrers in die Gläser des Fernrohrs hineinkrochen, so gespannt verfolgte er diese Naturerscheinungen.

Man kam an einem Steinbruch nach dem andern vorüber. Es sah aus, als hätten gewaltige Riesenfäuste sich in die Felsen hineingebohrt und in unbändiger Wut große Stücke aus ihnen herausgerissen.

Aber es lagen auch friedlichere Landschaften dazwischen mit bewaldeten Höhen, rinnenden kleinen Bächen und niedrigen kleinen Häusern, wo Kühe und Ziegen unten auf den Wiesen standen oder in dem hohen Grase lagen und ihren Schöpfer priesen und wiederkäuten.

Dann machte der Fluß abermals eine Biegung. Jetzt war es, als fahre man über einen großen und stillen Waldsee dahin. Alle Aussicht war versperrt. Dicke, masthohe Tannen standen in langen steifen Reihen an den Berghängen hinan, sahen sich über den Kopf und nickten ernstlich bekümmert ihren eigenen Spiegelbildern zu, die von dem keuchenden, lärmenden Dampfer in tausend Splitter und Stücke zerrissen wurden.

Und nochmals machte der Fluß eine Biegung. Da lag eine Fabrik, groß und imponierend, mit zehn bis vierzehn turmhohen, rauchgeschwärzten Schornsteinen. Eine ganze kleine Stadt. Das Geräusch von Wagen und Maschinen tönte aus ihr heraus. Und am Flußufer entlang lagen Haufen von schwarzen Schlacken und rostrotem Abfall. Aber mitten zwischen den Haufen, durch eine alte, verfallene Mauer, ergoß sich, wie aus einem Rohr, das warme Wasser der Dampfkessel, silberklar und rein wie das Wasser eines Quells. Und in einem Bassin am Fuße des Quells tummelte sich eine Schar nackter Kinder unter Rufen und Lachen. Der warme Dampf umwallte sie, sie schrien auf, bespritzten sich mit Wasser, heulten, kreischten. prügelten sich ... ein dampfender Kessel voll lebendiger Jungen!

Und das Schiff plätscherte weiter.

Knagsted, der eine Weile auf Deck auf und nieder gewandert war, blieb neben Clausen stehen:

»Es geht langsam aber sicher«, sagte er. »Ich bin kurz davor einzuschlafen. Bist du damit einverstanden, daß wir bei der ersten Haltestelle an Land gehen?«

»Ja, das können wir gern tun. Aber ich finde eigentlich, daß es eine unterhaltende und interessante Fahrt ist.«

»Mein Gott, lieber Freund, dann fahren wir! Bis ans Ende der Welt, wenn du willst. Deinetwillen geben wir ja dies Fest. Bist du mit dem neuen Fernglas zufrieden?«

»Ausgezeichnet! Es ist ein ganz brillantes Glas! Willst du es einmal versuchen?«

»Ja, gern!«

Der Oberlehrer hatte sich erhoben und stand nun mitten im Sonnenschein. Der Zöllner nahm das Glas, trat ein paar Schritte zurück und richtete es direkt auf ihn.

»Ja, ein großartiges Glas!« sagte er. »Ich kann deutlich die Knöpfe an deiner Hose schimmern sehen!«

Clausen griff entsetzt nach der Unglücksstätte:

»Mein Gott,« sagte er erschrocken und half dem Schaden nach, »habe ich denn schon wieder –«

»Ja, du hast ›schon wieder‹, ja! An deiner Stelle würde ich überhaupt keine Hosen mehr anziehen; das würde in verschiedener Beziehung viel einfacher sein.«

»Pfui, Knagsted!«

»Und du hast ja nicht einmal die Berechtigung, so zerstreut zu sein, lieber Clausen, du –«

»Willst du es nicht, bitte, nachlassen, dies Gespräch noch weiter fortzusetzen?«

» ... denn so ein Genie bist du doch im Grunde nicht, wie? Nun, ich wollte dir ja keine Vorwürfe machen, wenn der Schlitz hinten säße, aber so –«

»Jetzt hältst du den Mund, Knagsted!«

»Nein, weiß Gott, das tu ich nicht! Glaubst du etwa, daß ich Lust habe, dich durch ganz Europa mit den – – Mitternachtssonnen dort zu schleppen ... Aber wozu in aller Welt hast du auch an der Stelle Messingknöpfe, Mensch? Andere gebildete Sterbliche ... «

»Bitte, meine Herrschaften, das Frühstück!«

Ein Kellner tänzelte auf seinen lautlosen Schuhen an den beiden Herren vorüber:

»Bitte, meine Herrschaften, das Frühstück!«

»Danke«, sagte der Zöllner und steckte seinen Arm unter den des Freundes. »Du bist doch nicht beleidigt, lieber Clausen? Ich rede ja nur zu deinem eigenen Besten. Du bist ja im übrigen so ein schöner und feiner älterer Herr, da – –«

Clausen zerrte an seinem Arm, um ihn zu befreien. Beleidigt war er:

»Hm ja, wenn du mich in etwas anderer Welse darauf aufmerksam machtest ... «

Knagsted strich ihm lächelnd und versöhnlich über die Hand.

»Das will ich tun, lieber Freund, das will ich tun! ... Darf ich dir nur noch eins sagen?«

»Hm ... «

»Der Sicherheit halber solltest du doch sehen, ob dir deine Knöpfe hier an Bord nicht ein wenig übergeteert werden könnten.«

Der Frühstückstisch war unter dem Sonnensegel auf dem Achterdeck gedeckt. Als Knagsted und Clausen Platz nahmen, saßen schon ein paar Dutzend Personen, Engländer, Deutsche und Franzosen um ihn herum. Alles schwatzte in seiner Zunge drauflos, aß und trank, betrachtete die Aussicht und sagte Ach! und Oh! und Wunderschön! und Beautiful!! und Ravissant! so daß es einem nur so um die Ohren schwirrte.

Aber dann verstummte plötzlich jegliches Gespräch, und man blieb sitzen, Messer und Gabel unbeweglich in den Händen und starrte mit kugelrunden Augen auf die Kajüte. Dem Eingang zu derselben »entstieg« ein Paar, ein Herr und eine Dame, und »schritt« langsam, einander fest umschlungen haltend, auf den Tisch zu.

»Nun bitte ich Sie, Frau Heilbunth!« murmelte Knagsted unwillkürlich. Und eine deutsche Dame flüsterte ihrem Nachbar nur das eine Wort »Famos« zu.

Aber das Paar schritt (man kann kein anderes Wort zur Bezeichnung ihrer Gangart gebrauchen) unangefochten näher.

Sie war in leichtes, seidenartiges Gewand gehüllt, graugelb mit vielen glitzernden Perlen übersät. Um den Hals war ein weißer Federboa geschlungen, der im Verein mit dem »champagnergelben« Haar ein kleines, blasses Miesekätzchengesicht mit einem Paar großer, schmachtender, blauer Augen umrahmte. – Sie war geschminkt, gekittet und gepudert. Und auf dem Kopf trug sie einen drei Viertel Vogel Strauß.

Er war bekleidet mit enganschließendem weißen Flanellanzug, weißer Mütze und weißen Stiefeln. – Und außerdem war er gut gewachsen und hatte einen männlichen aschblonden Vollbart.

Sie schmiegte sich mit reizender, babyartiger Zärtlichkeit an ihn, denn sie war wohl erst vierzig Jahre alt und er kaum mehr als dreißig.

»Paulchen, mein Herz,« zwitscherte sie mit einer ersterbenden Vogelstimme, »wir bekommen hier wohl schwerlich etwas zu essen ... diese Menschen haben ja alle Plätze eingenommen ... «

»Mein Gott, das ist ja eine Dänin«, sagte Clausen ganz überrascht.

»St!« flüsterte ihm Knagsted zu. »Kennst du die Dame nicht? Das ist das Sängerpaar Leopold Svendsen aus Kopenhagen. Sie sind auf der Hochzeitsreise ... Sprich nicht zu laut. Laß die Tiere sich in Freiheit entwickeln.«

Das Paar hatte Platz am Tisch gefunden. Und er saß nun da und studierte die Speisekarte. Seine Stirn war gefurcht und seine Brauen zusammengezogen, als habe er die Partitur zum »Fliegenden Holländer« vor sich.

Sie legte eine kleine, weiße Samtpfote auf seine Schulter, und indem sie zärtlich-begehrlich zu ihm aufsah wie ein Kanarienvogel zu einem Stück Zucker, zwitscherte sie:

»Paulchen, mein Herz, hast du etwas für unsere Gaumen gefunden?«

»Ja«, sagte er und legte mit einer seelengroßen Armbewegung die Speisekarte hin. »Da ist gefüllte Taube.«

»Gefüllte Taube,« meinte sie träumend, »gefüllte Taube ... Aber mein Herz,« (und ihre Augen waren mit Tränen betaut), »begehen wir nicht ein Unrecht, wenn wir das fromme Tier verzehren?«

»Da ist auch Fasan, mein Lieb«, sagte der Sänger.

»Ach nein, Paulchen, mein Herz ... laß uns nur die Tauben nehmen ... die kleinen Tierchen sind ja nun doch einmal geschlachtet.«

Und sie bekamen die Tauben. Und sie verzehrten sie. Er männlich und resolut. Sie schwärmerisch-hingebend, als äße sie Engelfleisch.

»Mich dürstet, Paulchen, mein Herz.«

Eine Flasche Mosel wurde gebracht. Das Paar »griff« zu den Gläsern:

»Marie Antoinette!« sagte er.

»Paulchen!«

»Hab' Dank für deine Liebe, Marie Antoinette!«

»Und habe du Dank für deine Stimme, Paulchen!«

Die Gläser wurden geleert, und sie »schaute« bezaubert, und den drei Viertel Vogel Strauß auf die Seite neigend, auf die Landschaft hinaus:

»Niemals werde ich diese Rheinfahrt vergessen, Paulchen!«

»Wir fahren auf der Elbe, Marie Antoinette ... «

»Ist es die Elbe ...? Ach, laß es den Rhein sein, Paulchen! Ich möchte so gern, daß es der Rhein wäre!«

So plauderten sie miteinander, fein und idiotisch, bis die »Gefüllte« verzehrt war. Dann »schritten« sie wieder armumschlungen in die Kajüte hinab.

Sie hatten eine unglaubliche Aufmerksamkeit erregt! – –

»Das sind ja ein paar sonderbare Menschen!« rief der Oberlehrer aus, als sie verschwunden waren.

» Menschen, lieber Clausen? Nein, weißt du was, mein Junge, das waren Künstler!« sagte der Zöllner.

 

»Puh! müssen wir noch höher hinauf?«

»Ja, ich dachte ja eigentlich, wir wollten ganz auf den Gipfel hinauf ... «

Knagsted stieß resigniert seinen Stock in den harten Granit und begann den Aufstieg von neuem:

»Du bist grausam in deiner Ausdauer, Clausen,« sagte er, »grausam! Du müßtest beim Kriminalgericht angestellt werden und mit den Gefangenen spazierengehen, die nicht bekennen wollen.«

 

Als der »Bodenbach« bei dem kleinen Dorf Rhaden angelegt hatte, waren die beiden Freunde, der langsamen Fahrt müde, von Bord gegangen.

Das heißt, der Oberlehrer hatte herzlich gern noch eine unbegrenzte Anzahl Stunden den Fluß hinaufplätschern können. Der Zöllner aber hatte ihn ganz still beim Kragen genommen und ihn über die Landungsbrücke geschleppt.

Auch das Sängerpaar Svendsen war an Land »gestiegen«.

»Paulchen, mein Herz, sind das Berge ... «

»Ja. Marie Antoinette, dies ist die Sächsische Schweiz.«

»Ach, ist dies die Sächsische Schweiz? Hier wollen wir verweilen ... «

»Um Himmels willen, laß uns entfliehen«, sagte der Zöllner zu dem Oberlehrer. »Ich vertrage nicht mehr von dieser Crême!«

Und sie entflohen.

 

Und nun stöckerten sie sich mühsam über einen finsteren, steilen Schacht am Bergpfad dahin, wo gewaltige braunrote Steinmassen wie dunkle Männer zu beiden Seiten standen. – Aber hoch über ihren Häuptern, oben am Rande der Mauern, flochten laubreiche Buchen ein dunkelgrünes Dach, durch das die Sonnenstrahlen hell und spielend ihre flimmernden Klingen bis auf den Boden des Schachtes entsandten. Und in den Spalten der Felswände wuchsen Moos und hellgrüne Farne. –

»Verteufelt raffiniert angelegt!« sagte Knagsted plötzlich ganz wütend und zeigte auf die Kräuter. »Sieh nur z. B. diese Gemüse. Die hat der liebe Gott doch nur dahingepflanzt, damit naive Seelen in Entzücken geraten und rufen sollen: Nein, wie schön! Ach, wie reizend! Seht doch nur diese lieblichen roten Blumen hier mitten auf den kahlen Felswänden! ... Und darüber sollen sie dann die verdammte Mühe vergessen, die man hat, um hier hinaufzugelangen!«

»Per ardua at astra!« sagte der Oberlehrer mit einem gelehrten Lächeln. »Hier in der Welt erreicht man ja nichts, lieber Knagsted, ohne daß es etwas kostet!«

»Nein. Und das findest du ganz in der Ordnung?«

»Ja, natürlich!«

»Hm – ich finde, daß es einfach gemein ist ... Hätte er uns dann doch wenigstens wie die Tiere bleiben lassen, oder auch nur wie die Kinder! Aber uns erst jeden Tag Kirschensuppe und Pfannkuchen zu Mittag zu versprechen und dann schließlich zu Wesen mit Gehirn zu machen ... das ist wahrhaftig unchristlich; er muß noch eine gute Portion vom Hebräer an sich haben!«

Clausen stand da und sperrte Mund und Augen auf über diese Eruption:

»Aber liebster Knagsted,« sagte er – »sich so über ein Paar Blumen aufzuregen, die wachsen ... «

»Ein Paar Blumen, die wachsen, ja,« höhnte der Zöllner – »gerade die Blumen, mein Freund, sind das Kriminelle bei der Sache; sie sind die Schminke der Erde! ... Was würdest du zum Beispiel sagen, wenn du an einem herrlichen Mondscheinabend ein schönes Frauenzimmer gefaßt kriegtest und dann, wenn du mit ihr in den Bereich des Lampenlichts kämst, entdecktest, daß es ein abscheulicher, alter, angemalter Alligator ist, der dich mit ausgehungerten Augen anglotzt und mit seinen widerlichen Kiefern nach dir hascht! Ob du dann wohl niederfallen und sie anbeten würdest?«

Der Oberlehrer schüttelte sich unwillkürlich.

»Du bedienst dich Bilder, Knagsted ... «

»Ja, ich bediene mich vieler Bilder!«

»Und daß du hier mitten auf der Landstraße in Ekstase geraten kannst!«

»Ich bin immer in Ekstase! Aber ich leide bekanntlich an einer kolossalen Selbstbeherrschung!«

»Du?«

»Ja, ich!«

»Du, ha, ha, ha! Ja, das will ich meinen! Du, der du immer mitten auf Jägermeister Krügers Wiese zu stehen scheinst!«

Knagsted sah den Freund überrascht an:

»Also du kannst auch witzig sein!« sagte er und nickte anerkennend.

»Ja, denn du mußt doch zugeben, lieber Knagsted ... «

»Nein! ... Aber ihr könnt eurem Schöpfer für diese pompöse Selbstbeherrschung danken, das könnt ihr! Denn wenn ich nur ein einziges Mal frisch von der Leber weg redete, mich nur ein einziges Mal gehen ließe – die Erde würde aus ihren Bahnen galoppieren! ... Berge würden zu Ebenen werden! ... Meere würden Dampfformen annehmen ... Und die Flamingobeine mit allen kleinen Oberlehrern auf und davon gehen! – Wollen wir jetzt unsere Wanderung fortsetzen?« ...

Oben unter dem Glasdach des Restaurants saßen Knagsted und Clausen und aßen Bratwurst mit Kartoffelpüree ...

Von Osten her zog ein Gewitter herauf, eine ungeheure große, blauschwarze Wolke mit Fingern, beweglichen Ausläufern, die sich ganz bis an den Zenit erstreckten.

Draußen im Westen strahlte die Sonne noch in all ihrem Glanz von einem Streifen klaren blauen Himmels herab. Aber die Gewitterwolke stieg mit rasender Geschwindigkeit und hüllte allmählich, je näher sie herangejagt kam, die Landschaft in einen dichten, schmutziggrauen Nebel ein. Die Häuser verschwanden und mit ihnen die Wälder und die Berge und der Fluß. Die Sonne kämpfte einen verzweifelten Kampf, jagte ihre Strahlen in den Nebel hinein und ließ sie hier und da in einer blankgeputzten Fensterscheibe, in einer vergoldeten Wetterfahne aufblitzen. Plötzlich aber mußte sie den Kampf aufgeben; die Wolkendecke hatte sich über den ganzen Himmel gebreitet, und der Regen stürzte herab.

Im selben Augenblick fuhr ein greller Blitzstrahl durch die Luft, und ein rasselndes, polterndes Donnergetöse folgte, als polterten tausend schwere eiserne Balken im Chaos zusammen. –

Das Publikum war ganz erschrocken unter das vorspringende Glasdach des Restaurants geflüchtet, und es erschallte ein vielstimmiges Geschrei von Frauen und Kindern, als der Blitz seine Feuersäule in den nur zehn Schritte entfernten Felsen zu bohren schien. Aber der Schrei ward im selben Augenblick von dem rollenden Poltern des Donnergetöses übertäubt.

Dann folgte einen Augenblick lautlose Stille. Man wagte kaum zu atmen. Alle Gesichter waren blaß, und alle Augen starrten groß und entsetzt in das Unwetter hinein: Wie wenn der nächste Blitz zerschmetternd durch das Glasdach hinunterführe, mitten zwischen die Menge!

Da plötzlich mitten in die Stille und die Angst hinein fing ein kleines lustiges Automatklavier auf einer Erhöhung in der Ecke an zu spielen. – Irgendeine listige Seele hatte heimlich ein Zehnpfennigstück hineingesteckt, und nun hämmerte es unverzagt und unberührt von den Nöten des Lebens drauflos: Im Grunewald ist Holzauktion, ist Holzauktion, ist Holzauktion ...

Zuerst starrte man sich empört an. Man runzelte die Brauen: Was für Knabenstreiche waren dies in einer so ernsten Situation! – Dann aber stahl sich bald hier, bald dort ein kleines Lächeln hervor; ein unterdrücktes Glucksen ward hörbar. Und als ein dicker Herr ganz unwillkürlich seinen rundlichen Oberkörper im Takte nach der Melodie zu wiegen begann und ein Kind im selben Augenblick in die Hände klatschte, auf ihn zeigte und seelenvergnügt rief: »Sieh, sieh doch, Mütterchen, der Dicke, der Dicke!« da war der Bann gebrochen, und die Angst und die feierliche Stimmung wich einem schallenden Gelächter, das das sausende Plätschern des auf das Dach aufschlagenden Regens übertäubte. – Und nun ließ man die Blitze knattern und den Donner poltern. Man achtete nicht mehr auf das Gewitter. Man stellte sich in langer Reihe hintereinander auf, um zehn Pfennige ins Klavier zu stecken, das wieder und wieder seine fröhliche kleine Polka von der Holzauktion im Grunewald herunterhämmern mußte ...

Ganz hinten unter dem Glasdach aber, oben in der Ecke, wo das Automatklavier stand, hatten Knagsted und Clausen gesessen und Bratwurst und Kartoffelpüree gegessen.

Und als sie satt waren und das Gewitter sich verzogen hatte, stiegen sie den Berg hinab und begaben sich wieder an Bord des »Bodenbach«, mit dem sie nach Dresden zurückfuhren.


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