Gustav Wied
Die Karlsbader Reise der leibhaftigen Bosheit
Gustav Wied

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III.

Es war auf der Fahrt von Gjedser nach Warnemünde.

Das Wetter war gut genug: Sonnenschein und klarer Himmel, aber es wehte ein wenig reichlich aus Osten her. –

Unten in einer der Kajüten lagen Zollkontrolleur Knagsted und Oberlehrer Clausen einander gegenüber, jeder auf seinem roten Plüschsofa. Sie lagen gerade auf dem Rücken, die Nasen in die Luft und die gefalteten Hände hart gegen die Bauchgegend gepreßt.

Und so hatten sie gelegen, seit der Dampfer das äußerste Bollwerk ihres Vaterlandes verlassen hatte. – Sehen konnten sie sich nicht, denn es stand ein Waschtisch zwischen ihnen. Und im übrigen konnten sie auch nicht einmal einen Finger rühren, da dann sofort der in Restved erstandene Frühstückskorb und der Kaffee von der Masnedö-Fähre in ihren Magen zu rollen begannen.

»Angenehme Situation für zwei erwachsene Mannsleute, kleiner Ober!«

»Hm, ja!«

Sie sprachen hin und wieder ein paar Worte miteinander; vertrieben sich aber im übrigen die Zeit damit, starr nach der Decke hinaufzuglotzen, wo der Lichtschein aus dem runden Kajütenfenster kam und schwand, kam und schwand, je nachdem das Schiff nach rechts oder nach links hinüber schaukelte. – Oder sie schlossen die Augen und lauschten dem unaufhörlichen Plätschern der Wellen gegen die Planken.

Gluck ... gluck ... gurle – gurle – gurle ... gluck ... gluck ... gurle – gurle – gurle ...

»Clausen?«

»Ja ... «

»Schläfst du?«

»Nein ... «

»Gräßlich, so dazuliegen und das Meer anzuhören!«

»Ja-a!«

Sie sprachen beide direkt zu der Decke hinauf und fast ohne die Lippen zu bewegen.

Das Schiff schaukelte und wiegte.

Gluck ... gluck ... gurle – gurle – gurle ... gluck ... gluck ... gurle – gurle – gurle ...

»Clausen ... «

»Ja ... «

»Glaubst du, daß außer uns noch jemand seekrank ist?«

»Ganz sicher.«

»Wirst du immer seekrank?«

»Nein ... wenn die See ruhig ist, nicht.«

»Als wir heute morgen von Kopenhagen abfuhren, fand ich es gar nicht windig.«

»Ach, Knagsted, schweig doch jetzt und laß das viele Reden nach.«

Der Sturm nahm sich auf. Das Schiff schlingerte gewaltig. Man hatte jetzt die ganze Ostsee von der Seite, und das Wellengeplätscher nahm ganz sonderbare, unheilverkündende Nebentöne an:

Gluck ... gluck ... umbö – i ... ratsch ... gurle – gurle – gurle ...

»Herjemine! Wir gehen unter! War das eine Sturzwelle, lieber Clausen!«

Die Augen des Oberlehrers standen ihm wie auf Stengeln aus dem Kopf heraus, und er hatte seine Hände gleichsam in seinen jammervollen Magen gebohrt.

»So schweig doch still!« sagte er, »und laß mich in Frieden!«

Aber einen Augenblick später war Knagsted schon wieder da:

»Weißt du, worüber ich mich freue, Clausen?«

»Hm ... « »Ich freue mich, daß wir uns augenblicklich nicht in die Gesichter sehen können! ... Hast du verstanden, was ich sagte?«

»Ja ... «

»Freust du dich nicht auch darüber?«

»Ja!«

»Na, also!«

Und dann folgte eine längere Pause.

Aber der Sturm nahm noch immer zu. – Zuweilen ging es wie ein zitterndes Stöhnen durch das Schiff. Das war, wenn sich die Schraube einen Augenblick über die Wellen erhob. Das Wasser spülte über das Deck hin, und ein paar Luken und Türen fielen dröhnend ins Schloß. Aus der Damenkajüte erscholl Brüllen und Stöhnen, die Stewardessen liefen gegeneinander und schimpften sich in ihrer kopflosen Geschäftigkeit aus.

Gluck ... gluck ... umbö – i ... ratsch ... gurle – gurle – gurle – Platsch! eine See über Deck. Bums! eine Tür fiel ins Schloß. – Stewardeß! Stewardeß! – Schnurr! die Schraube erhob sich über die Wellen. Stewardeß! Stewardeß! – Ja, jetzt komme ich! Pardauz! Zwei Stewardessen prallten aufeinander. – Können Sie sich nicht in acht nehmen, Sie Schaf! – Schnurr! die Schraube hob sich wieder über die Wellen empor. – Stewardeß, Stewardeß, ich sterbe! – Gluck – umbö – i – ratsch – gurle – gurle – gurle ... es war, als halte Se. Majestät der Satan Klubball ab.

Aber dann auf einmal wurde alles ruhiger. – Man war in Lee irgendeiner freundlichen Landzunge gekommen. Die schlingernden Bewegungen des Dampfers mäßigten sich, und die Fahrt ging gleichmäßiger vorwärts. Die Schraube schnurrte, wie sie sollte; Türen und Luken hingen hübsch artig in ihren Hängen; die Frauen dachten nicht mehr ans Sterben, und die Gemüter der Stewardessen wurden versöhnlicher.–

»Clausen!«

»Ja ... «

»Lebst du noch?«

»Ja – so etwas.«

»Ich glaube, das Schlimmste haben wir hinter uns.«

»Gott gebe es!«

Knagsted versuchte, vorsichtig sich auf die Seite herumzudrehen, ließ sich aber spornstreichs wieder auf den Rücken fallen.

»Weiß Gott! Ich glaube, du rührst dich!« sagte Clausen ganz entsetzt. (Er selber lag noch immer steif und stramm auf dem Rücken, als sollte ein Gipsabguß von ihm genommen werden.)

»Ja–a!« sagte der Zöllner, »aber ich bereue es.«

»Ja, so was soll man nicht tun, bis man ganz sicher ist ... «

»Nein ... Weißt du, was ich jetzt wohl möchte, Clausen?«

»Nein!«

»Ich wollte, da wäre ein Spiegel oben an der Decke, so daß ich dich sehen könnte! – Du siehst gewiß großartig aus! ... Man könnte dich gewiß direkt in einem Museum aufstellen!«

»Hm ... «

»Clausen ...? Clau –sen?«

»Ja.«

»Du bist ja ›Naturfreund‹, nicht? Hat dir jetzt, während du da lagst, auch die ›Größe‹ und die ›Gewalt‹ der Natur imponiert?«

» Nein, ich habe gar nicht–«

»Das freut mich! Denn weißt du, was ich finde? Ich finde, es ist recht wenig fein und sehr parvenüartig von deinem lieben Gott, so einen Skandal mit Wind und Sturm und Wellen und all dergleichen zu machen.«

»So-o?«

»Ja, weiß Gott, das finde ich! Denn herrje, wir wissen doch, daß er das kann

»Erstaunlich, wie redselig du auf einmal geworden bist, kleiner Zöllner!«

»Hm, ja! Man wird alt.«

Eine Stewardeß steckte den Kopf durch den Vorhang und nickte holdselig.

»Jetzt sind wir in der Einfahrt, meine Herren. Jetzt können Sie gern aufstehen!«

Und langsam und mit der größten Vorsicht stützten sich die beiden Freunde prüfend auf die Ellenbogen.

 

Weiß, grün, gelb und blau in den Gesichtern kamen die Passagiere aus den Kajüten hervor. Sie sahen ein wenig derangiert in der Kleidung aus. Ihre Augen waren groß und verwacht, und um ihre Lippen spielte ein bitteres Lächeln.

Langsam glitt der Dampfer durch die lange schmale Strommündung, die zu dem Zollgebäude und dem Bahnhof führt. Auf die reizendste und rücksichtsvollste Weise bewegte er sich dahin. Niemand würde es dem scheinheiligen Ekel ansehen, daß er noch vor kaum einer Viertelstunde draußen auf dem Meere wie wahnsinnig herumgetanzt war, mit drei bis vier Dutzend halbtoter Mausoleumsfiguren im Lastraum.

Clausen und Knagsted standen ein wenig schlaff und matt da und sahen nach dem Ufer hinüber.

Zur Rechten lagen dicht nebeneinander, alle mit den Giebeln dem Strom zugewandt, eine unendliche Reihe von kleinen Häusern mit Glasveranden davor (sie glichen Schaukasten). Und hinter den Fenstern saßen fette, deutsche Männer und Frauen und tranken Bier. Sie drehten langsam die fleischigen Gesichter herum und sahen nach dem Dampfer hin: dann drehten sie die Gesichter wieder ebenso langsam herum, ihren Seideln zu ...

Links erblickte man, jenseits der Holzplätze und Kohlenlager, breite, grasreiche Wiesen, die in meilenweiter Entfernung am Horizont von blauschwarzen Wolken umrahmt waren.

»Dort liegt Rostock.« sagte Knagsted und zeigte matt auf eine Sammlung Türme, die über den Bäumen aufragten.

»So, da liegt Rostock ... «

»Ja, da liegt Rostock ... «

Noch immer glitt der Dampfer an Glashäusern und Glashäusern und abermals Glashäusern vorüber ... und noch immer saßen Deutsche hinter den Fensterscheiben und tranken Bier.

»Rostock soll ja einen so schönen Bahnhof haben?«

»Ja.«

»Kommen wir daran vorüber?«

»Ja–a! ... Wenn der unerforschliche Gott uns jemals das Ende dieser Strommündung erreichen läßt.«

»Ja, du bist aber doch schon früher hier gewesen, Knagsted.«

»Ja ... Aber ich glaube, er ist gewachsen!«

Und sie fuhren und fuhren und fuhren ...

»Na, da haben wir endlich den Bahnhof?«

Aber es war nicht der Bahnhof; es war ein Speicher oder eine Kaserne.

Knagsted streckte die Arme in die Luft und gähnte.

»Dies ist beinahe, als wenn man im Grundgesetzgebungsfestzug steht«, sagte er.

 

Aber endlich langte der Dampfer doch ans Ziel und legte an.

»Geh jetzt hübsch artig hin und bedanke dich bei dem Kapitän für die angenehme Reise.«

»Ach was, Unsinn!«

Man sah sofort, daß man sich in Deutschland befand: die Zollbeamten und die Schutzleute trugen die Uniformen stolz und stramm, als wären sie Offiziere, und die Schnurrbartspitzen ragten steif bis an die Augen hinan wie Fledermausflügel.

Natürlich stampften die Passagiere, als gelte es das Leben, um zuerst von Bord zu kommen.

Clausen wollte sich in den Kampf stürzen, aber Knagsted hielt ihn am Diplomatenrock fest:

»Na, na, kleiner Ober! Bleibe du nur fein ruhig hier. Wir kommen doch zu rechter Zeit.«

Und mit der einen Hand auf den Walplatz zeigend, sagte er:

»Sieh sie dir an! Sieh dir diese rasende Menge an! ... Niemand wird jemals den Grund angeben können für diese Eisenbahn- und Dampferrabies, die selbst verhältnismäßig lahme Personen, ja sogar Leute mit hölzernen Beinen erfaßt! Sie puffen sich in den Rücken, zerren sich an den Röcken und reißen an den Kleidern, als seien sie vor dem gelobten Lande angelangt und sollten sich jetzt die fettesten Grundstücke erobern!«

Vor den Schranken im Zollokal wurde das Handgemenge fortgesetzt. Das war ein Lärmen und Poltern, ein Rufen und Schreien. Und das »schwache Geschlecht« raste am heftigsten, namentlich ein paar lange, unfruchtbare Tanten und ein Paar mehr als fette Frauen. –

Als die Reihe an das Gepäck des Oberlehrers kam, zog ihn der Zöllner am Rock und flüsterte in sehr unruheerregender, scheuer und geheimnisvoller Weise:

»Du hast doch wohl keine Zigarren im Koffer?«

Clausen erblaßte:

»Ja–a! Du hast mir doch selbst gesagt, ich sollte welche mitnehmen!«

»Wieviel hast du?«

»Eine Kiste – hundert ... «

»Herr du meines Lebens! Dich köpfen sie!«

»Ja, aber –«

»So, da kommt er!«

Der Oberlehrer trippelte wie ein Huhn in einer Wasserpfütze.

Der Zöllner sah ihn mit durchbohrenden Blicken an:

»Haben Sie etwas?«

»Was –?«

» Haben Sie etwas?«

» Nein ... nein! ich habe nichts!«

Der Kerl wühlte ein wenig zwischen den oberen Schichten der Koffer herum und ging dann zu dem nächsten.

»Du kannst wirklich sehr hübsch lügen, kleiner Obermensch!«

»Ja, lieber Freund, was – was sollt' ich wohl machen?«

»Nein, natürlich! Ich glaubte nur nicht, daß du soviel Kultur hättest! ... Wollen wir jetzt hingehen und uns ein Abteil suchen?« – – –

Und sie bekamen ein Abteil erster Klasse ganz für sich ...

Übrigens ein ziemlich schäbiges und schmutziges Abteil mit klappernden Fensterscheiben und verschlissenem Plüschbezug.

»Was für ein Material sie einem immer auf dieser Route bieten!« sagte der weitbereiste Exzöllner indigniert. (Er war dreimal in Berlin gewesen, Tour – Retour.)

Aber Clausen, der anfing, sich ein wenig von den Strapazen der Seereise zu erholen, fand, daß es hier sehr schön sei. Und er stürzte von einem Fenster zum andern, um das fremde Land zu betrachten.

Sie rollten über Wiesen, über viele kleine rasselnde Brücken, vorbei an Seen, Kornfeldern und Wäldern. Und Sonne und blaue Luft lag über dem Ganzen.

»Es hat viel Ähnlichkeit mit Dänemark!« sagte der Oberlehrer.

»Hm, ja! Aber Dänemark ist schöner

Clausen wandte sich um:

»Knagsted, bei dir weiß man nie, ob du im Ernst redest, oder ob du dich lustig machst.«

»Ja – das ist doch gerade das Interessante an mir!«

Die Lokomotive pfiff – ein sonderbar dünnes und kindliches Pfeifen, wie aus dem Dampfkessel einer Molkerei.

»Aber das mußt du doch zugeben, lieber Clausen, daß man in Dänemark viel schöner pfeift

Der Oberlehrer hatte keine Zeit zu antworten; man rollte in den Rostocker Bahnhof hinein.

»Der Helsingörer ist besser!« sagte der Zöllner.

Ein fröhlich grinsender Zeitungsverkäufer heulte vor dem Abteil:

»Berliner Tageblatt! Lokalanzeiger! Fliegende Blätter! Politiken! Berlinste Tidende! Verdens Gang! Aftonbladet! Le Figaro! Times! Jugend ... «

» Weltgeschichte, wie!?« sagte Knagsted.

»Ja–a!« nickte Clausen mit strahlenden Augen.

»Du, frag ihn mal nach dem Simplizissimus!«

Eifrig vergnügt steckte der Oberlehrer den Kopf heraus und rief:

»Wollen Sie mir Simplizissimus geben!«

Der Mann wandte sich rasend nach ihm um.

» Verboten, bitte!« sagte er, und er war dunkelrot vor Zorn.

Clausen fuhr entsetzt zurück. Knagsted gluckste vor Wonne.

»Du wußtest also recht gut, daß er verboten war, Zöllner?«

»Ja, lieber Freund; aber ich wollte, daß du merken solltest, wo wir sind!« – – –

 

Und sie rollten weiter. Der Zug sauste schneller, und schneller dahin; das Abteil schaukelte und wiegte, die Fenster klapperten, und durch alle Spalten und Öffnungen wirbelte der Staub herein. – Kornfelder, Seen und Laubwälder wurden seltener, schließlich verschwanden sie ganz, und man sah jetzt nur große, wogende Sandflächen, spärlich mit Tannen und Fichten bestanden.

Müde und hungrig und schweigend saßen die beiden Freunde jeder in seiner Ecke. – Knagsted zeigte auf das Sandmeer hinaus:

»Jetzt sind wir in Preußen ... «

»Das sieht ziemlich trist aus ... «

»Hm, ja! ... hör mal, lieber Clausen, ist dir nicht ganz sonderbar zumute bei dem Gedanken, daß du dich so immer weiter von den Fleischtöpfen deines geliebten Vaterlandes entfernst?«

»Nein!«

»So, also nicht ...? Ja, denn ich werde immer ganz traurig, wenn ich auf Reisen bin. Den Fall gesetzt, man würde krank oder stürbe, ohne weder der Freiheitssäule noch dem Rundenturm oder dem ›Pferd‹ auf dem Königs-Neumarkt und all dem anderen daheim so recht ordentlich Lebewohl gesagt zu haben!«

»Willst du dich nun schon wieder lustig machen?«

Knagsted schüttelte schwer sein behaartes Haupt:

»Ja, das ist ja der Fluch, wenn man ein sogenannter ›Sathrikus‹ ist«, sagte er. »Wenn die edleren Instinkte ausnahmsweise einmal obenauf kommen und man sich nach Sympathie umsieht, so ergeht es einem wie dem Jungen, der die Leute neunmal an den Bach lockte, indem er rief, daß er hineingefallen sei – der durfte trotz seines Geschreis jämmerlich ersaufen, als er zum zehntenmal allen Ernstes kopfüber ins Wasser gefallen war!«

 

Bei Neustrelitz wurde ein Speisewagen angehängt, und die beiden Freunde gingen zusammen da hinein.

Knagsted bestellte ein »Beefsteak von Filet mit Bratkartoffeln« sowie eine Flasche »Gießhübler Sauerbrunnen«, und Clausen ein »Kalbskotelett mit drei Spiegeleiern« und eine Flasche »Original Pilsener Bier aus der Pilsener Genossenschaftsbrauerei in Pilsen« – – – und schon allein das Bestellen dieser Sachen in deutscher Sprache war den Herren eine Wonne! –

Im übrigen war der Aufenthalt im Restaurationswagen nicht ausschließlich angenehm; denn als der Zug in volle Fahrt gekommen war, schlingerte und schaukelte der Wagen so zügellos, daß Teller, Gläser, Flaschen und Schüsseln bunt durcheinander rasselten und an die Erde zu fallen drohten.

Der Exzöllner erfaßte mit schnellem Griff seinen Gießhübler, als sich dieser gerade zu ergießen anschickte.

»Dies ist wohl so etwas, was die Zeitungsreferenten ein ›lebhaftes Diner‹ nennen?« sagte er.

»Ja«, sagte der Oberlehrer, und er war ganz bleich; »ich bin wirklich kurz davor, wieder seekrank zu werden! ... Und wie soll ich zu meiner Semmel gelangen?«

»Wo ist die?«

»Ich halte sie mit dem Fuße fest, und die Teller hier kann ich nicht loslassen!«

»Laß du die Semmel rollen, mein Junge! So, jetzt kentern wir!«

Der Zug machte eine so halsbrechende Kurve, daß Knagsted mit Blitzesgeschwindigkeit alle seine zehn Finger auf das Beefsteak und zwischen die Bratkartoffeln pflanzen mußte, damit sie nicht denselben Weg gehen sollten wie das Brot.

»Das ist doch die ärgste Fahrt, die mir je vorgekommen ist! Spute dich doch, Clausen, damit wir fertig werden, ehe wir daliegen!«

Clausen war aber eifrig beschäftigt, ein halbes Spiegelei von seinem Rockaufschlag abzunehmen:

»Ach, mein Rock!« klagte er und versuchte den Rest mit dem Messer abzukratzen.

»Du schneidest dir ja den Hals ab, Mensch!« sagte der Zöllner und entriß ihm die Waffe. »Laß das nur sitzen, bis wir an Land kommen!«

Und dann fochten sie sich weiter durch das Essen hindurch.

 

»Jetzt geht es ja verhältnismäßig gut ... «

»Ach ja!«

Sie waren auf einer Zwischenstation in ihr eigenes Abteil geschlüpft und lagen nun da und streckten sich schläfrig jeder auf seinem Sofa.

»Bist du müde?«

»Ja–a, ein wenig ... «

»Bist du denn schon mit deiner Zigarre fertig?«

»Ja.«

»Na, dann laß uns schlafen ...

Es entstand eine kleine Pause, und Clausens Augen schlossen sich. Rasselnd und brausend fuhr der Zug dahin, und seine schlingernden Bewegungen zerrten und rissen an den Liegenden.

»Willst du ein Stück Schokolade zum Einschlafen haben, Clausen?«

»Ach, du mit deiner Schokolade!«

Der Zöllner reichte ihm eine Tafel Galapeter hinüber:

»Willst du mal abbeißen?«

»Nein!«

»Ich kann dir ja auch ein Stück abbeißen!«

»Ach, laß mich doch schlafen, Knagsted!«

»Das ist die reine Liebenswürdigkeit von meiner Seite, kleiner Obermann, und ich finde es höchst sonderbar, daß du es so unfreundlich aufnimmst.«

»Na, denn laß mich in Gottes Namen abbeißen!«

Knagsted hielt ihm die Tafel hin.

»Bitte schön!«

»Danke!« Clausen biß ab. »Bitte; da hast du sie wieder.«

»Vielen Dank! – – – Na, schmeckt das nicht gut?«

»Ausgezeichnet! Wollen wir jetzt aber nicht schlafen?«

»Ja ... Etwas möchte ich allerdings erst noch gern sagen!«

»Hm!«

»Ich fand, du sahest vorhin so vornehm aus mit dem Spiegelei auf dem Rockaufschlag.«

»So–o?«

»Ja. Du glichst einem Ritter vom japanischen Sonnenorden.«

»Hm ... «

»Und du hättest es nicht abwischen sollen, finde ich.«

»Nicht?«

»Nein. Denn hier in Deutschland legt man außerordentlich großes Gewicht auf Dekorationen.«

»Hm ... «

»Und wir würden beide mit weit größerer Achtung behandelt worden sein!«

»Hm ... «

»Hm, ja! Darf ich dir morgen ein Ei auf deinen Rockaufschlag legen? Dann sollst du auch zehn Kronen haben.«

Clausen gab keinen Ton mehr von sich. Er schlief. – Und der Zug rasselte dahin, und der Wagen schlingerte ...

Knagsted aber lag auf seinem Sofa und starrte mit müden Augen zu der Lampe an der Decke empor. Er konnte nämlich am Tage nicht schlafen, und am allerwenigsten auf der Reise.

Es war spät am Nachmittag. Unten am westlichen Horizont hing die Sonne hinter einem Nebelschleier, die Niederungen dampften, und die Vögel gingen zur Ruhe ...

Der Zug näherte sich Berlin.

»Das sieht beinahe aus wie Nörrebro!«Nörrebro, Vorstadt von Kopenhagen. sagte der Oberlehrer, als sie an langen Reihen hoher, schmutziggelber Häuser und schmaler, schnurgerader Straßen vorübersausten.

Aber dann war das überstanden, und sie fuhren durch einige Villenstädte, wo der gelbe Sand in den Gartengängen schimmerte, und wo Vergnügungslokale mit Ballonschaukeln und Karussells waren.

Und an einer Stadt von »Koloniegärten« kamen sie vorüber mit Hunderten von kahlen Gitterlauben, die aussahen wie große, nackte Tierskelette. Aber hinter den Rippen sah man Tische und Bänke, an denen fröhliche, langbärtige Deutsche mit ihren Frauen und Kindern saßen und Bier tranken.

Dann kamen wieder Stadtviertel mit Nörrebro-Häusern. Und die Gärten verschwanden. Aber zu beiden Seiten der Bahnschienen standen hohe, blühende Akazien.

Ratsch! Der Zug sauste unter einer Brücke hindurch, und es folgte noch eine und noch eine.

»Aber nein,« sagte Clausen, der wieder ganz wohl und wach war nach seinem Schlaf – »da oben fährt ja auch ein Zug!«

»Ja, das ist die Ringbahn.«

»Ist das die, die an einigen Stellen über die Häuser hinwegfährt?«

»Ja, und deren Endstation sich oben auf der Siegessäule befindet.«

»Es wird furchtbar amüsant werden, Knagsted, sich so recht umzusehen.«

Ratsch! Noch eine Brücke, und dann eine Station, wo es aussah, als seien die wartenden Passagiere in Glasschränken aufgestellt.

»Wie hieß die Station?«

»Das mag der Teufel wissen!«

»Sieh, da ist eine Kirche!«

»Ja!«

»Wie heißt die?«

»Das mag der liebe Gott wissen!«

»Wir müssen doch gleich heute abend noch ein wenig ausgehen, lieber Zöllner?«

»Das müssen wir!«

»Wo wollen wir hingehen?«

»Ach, ich habe mir gedacht, wir gehen zu Keck in der Leipziger Straße.«

»Was ist das?«

»Das ist ein Fleischverkauf!«

»Ein Fleischverkauf? Was sollen wir da?«

»Uns die Waren ansehen – feine Fleischwaren im Aufschnitt – und Tabak rauchen.« –

Der Zug bog auf das Bahnhofsterrain ein. Die elektrischen Lampen ringsumher waren schon angezündet, und es war, als führe man in dem klarsten Mondschein. – Ein Zug brauste vorüber und verschwand. Und auf der andern Seite auch einer! Aus einem in der Nähe gelegenen Schuppen ertönten flinke Hammerschläge und Gesang. Und ringsumher auf den Straßen erschallte das Klingeln der Straßenbahnen, das Rufen der Zeitungsverkäufer und das »Töfftöff« der Automobile ...

»Stettiner Bahnhof!« sagte der Oberlehrer mit strahlenden Augen – »jetzt sind wir da, Knagsted!«

»Ja, jetzt sind wir da.«

Sie rollten unter ein Glasdach, es klang wie dröhnendes Donnern. – Die Lokomotive Pfiff und gab Kontredampf. Der Zug hielt: die Wagentüren wurden aufgerissen, und die Reisenden wimmelten heraus.

Zwei ungeheuer fette Männer stürzten im selben Augenblick aufeinander los und küßten sich drei-, viermal: es klatschte, als wenn man die flache Hand gegen einen Schinken schlägt. – Der ganze Bahnsteig küßte sich: Eltern und Kinder. Onkel und Tanten und Vettern und Kusinen und Großeltern und Urgroßmütter ... es platzregnete förmlich von Küssen.

»Küss' auch,« sagte Knagsted, »sonst können sie sehen, daß du ein Ausländer bist, und dann ziehen sie dich auf!«

Ein Gepäckträger näherte sich.

»Küss' den Gepäckträger, Clausen, dann befördert er deinen Koffer gratis.«

» Unsinn!«

»Haben Sie Gepäck, mein Herr?«

Der Zöllner reichte dem Manne die Gepäckzettel:

»Und eine Droschke.«

»Jawohl!«

Die Menge wälzte sich den Ausgängen zu. Man wurde gepufft und gestoßen und gedrängt. Clausen wurde förmlich herumgerollt zwischen ein Paar atemlosen Damen mit Hutschachteln.

»Hier! Hier!« rief der Gepäckträger und winkte. Knagsted faßte den Oberlehrer unter den Arm und zog ihn mit sich hinter dem Wegweiser her durch eine Glastür zur Rechten und eine breite steinerne Treppe hinab.

Dort unten stand ein barscher Schutzmann mit einer Menge kleiner Blechmarken auf dem Bratspieß. Er hielt dem Gepäckträger eine Marke hin:

»Achthundertundvierundfünfzig!«

»Jawohl«, sagte Knagsted und zog weiter mit seinem Jonathan.

Auf dem Marktplatz vor der Station stand ein Heer von Droschken.

»Achthundertundvierundfünfzig!« rief der Zöllner.

»Hier!«

Der Wagen fuhr vor, und die beiden Freunde stiegen ein.

»Gepäck, bitte?«

»Augenblick, ja ...!«

»Merkwürdig, wie gewandt du bist, Knagsted!«

»Ja, man ist doch Weltmann!«

Der Oberlehrer wandte und drehte sich auf dem Sitz und sah sich nach allen Seiten um.

Droschke auf Droschke rollte vor das Portal, nahm Passagiere auf und rollte wieder davon. Die Pferde bohrten sich zwischen die Straßenbahnen und die Omnibusse, deren Kutscher fluchten und schalten und drohten, während Radler und Automobile zischend und prustend und klingelnd vorüberfuhren, und die Züge drinnen in der Bahnhalle pfiffen, dampften und lärmten.

Der Gepäckträger kam mit den Koffern:

»Fünfunddreißig Pfennig.«

»Bitte!«

»Danke schön!«

»Hotel du Nord unter den Linden!«

»Schön!«

Der Kutscher schlug auf das Pferd los, und die Droschke stürzte sich in das Gewühl.

»Es ist doch unverantwortlich, wie er fährt!« sagte der Oberlehrer und hielt sich mit beiden Händen fest.

»Klipp – klapp, klipp –klapp!« klangen die Hufschläge gegen den Asphalt. Man drehte um Ecken und sauste an Omnibussen vorüber. Die elektrischen Bahnen warfen einen Regen von kleinen Funken unter die Räder. Die Radfahrer klingelten, die Automobile tuteten ... und Oberlehrer Clausen war nahe daran, sein bißchen Atem zu verlieren.

»Jetzt sind wir in der Friedrichstraße.«

»So ... Ja, ich mag eigentlich gar nicht fahren ... «

»Nicht? ... Kannst du das große Haus da sehen? Das ist eine Kaserne.«

Die Droschke hielt mit einem Ruck an. Aus einer Straße der Kaserne gegenüber kam eine Abteilung Soldaten steif und stramm über den Fahrdamm marschiert. Das Kasernentor wurde wie auf Zählen: eins ... zwei, eins ... zwei geöffnet, und die Krieger zogen in den Hof ein.

»Stramme Kerls, was, Clausen?«

»Ja«, sagte Clausen; er zitterte um sein Leben.

Denn die Wagenfahrt, die durch die Soldaten unterbrochen war, begann jetzt von neuem, und ein paar Sekunden lang glich die Straße einem Wirbelstrom von Fuhrwerken. Zwölf bis vierzehn Droschken. Arbeitswagen, Omnibusse und Straßenbahnen schienen rettungslos ineinander verwickelt wie zu einem Knoten. Aber der Knoten löste sich auf das eleganteste, ohne daß auch nur zwei Räder gegeneinander geschurrt hätten. – Und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.

»Siehst du wohl, alter Freund, es ging alles gut!«

Oben an der Weidendammer Brücke war ein Pferd gestürzt, es lag da und zappelte und konnte nicht in die Höhe kommen. Ein Haufen Menschen hatte sich gesammelt, das Schauspiel mit anzusehen. Die Droschke aber rasselte gefühllos vorüber, auf die Brücke hinauf.

»Jetzt fahren wir über die Spree«, erklärte der Zöllner. – »Kannst du wohl das Gebäude da drüben rechts sehen, mit der vergoldeten Pfefferbüchse auf der Spitze? Das ist das Reichstagsgebäude.«

»So–o? Sind wir noch nicht bald beim Hotel?«

»Ja, jetzt sind wir gleich da! – Siehst du, da ist die Ringbahn wieder!«

Sie fuhren unter einer Eisenbahnbrücke, die quer über die Straße lief. Im selben Augenblick brauste ein Zug über ihren Köpfen dahin. Es klang, als rasselte die ganze Welt zusammen.

Und als sie auf der anderen Seite wieder herauskamen, war der Oberlehrer gleichsam eine Viertelelle kleiner geworden.

»Sind wir denn noch nicht bald da?«

»Ja, ja! ... Sieh, da kommt eine elektrische Droschke! Möchtest du lieber mit einer solchen fahren?«

»Nein, weiß Gott, das möchte ich nicht.«

»So, da haben wir das Café Victoria! Und da sind die ›Linden‹.«

»Ach ne–e!« sagte der Oberlehrer ganz enttäuscht. »Sind die Bäume nicht größer

»Und da liegt das weltberühmte Café Bauer.«

»So–o? Aber darüber kann ich mich gar nicht beruhigen, daß die Linden nicht größer sind.«

»Und da drüben ist die Universität und die Hauptwache und das Zeughaus und ... «

Clausen nahm plötzlich den Hut ab und nickte holdselig lächelnd nach dem Bürgersteig hinunter.

»Wer zum Teufel war denn das?« fragte Knagsted ärgerlich.

»Das war ja Mikkelsen – Sejstrup.«

»Was für ein Schafskopf ist das?«

»Aber lieber Freund, das ist doch der Schullehrer, den du bei mir trafst, als ich krank war!«

» Der Küster?« rief Knagsted aus und streckte die Hände beschwörend zum Himmel empor. – »Herr du meines Lebens! ... Der Küster! mit den Gr–riechen und den R–römern und der Mor–ral und der Volksaufklär–rung und der ganzen Pr–rost Mahl–zeit! ... Aber das will ich dir sagen, Clausen.« brauste er auf – »wenn ich ihm begegne, so morde ich ihn!« – –

Die Droschke hielt. Man war am Hotel angelangt.

 

Bei Keck. –

Die Uhr war erst halb zehn, und es waren noch nicht viele Gäste erschienen. Auch von den Wirtinnen saß nur hier und da eine vereinzelte schläfrig über ihrem Bier.

Aber die elektrischen Flammen und Kronen waren angezündet, das Gold leuchtete an den Deckenornamenten und den Säulenkapitälen; und die nackten Männer und Frauen ringsherum auf den großen Wandgemälden stellten schamlos ihre weißen Glieder zur Schau.

Clausen und Knagsted saßen wohlgeborgen hinter einer Säule rechts von den vergoldeten Glaseingangstüren, die langsam auf und zu klirrten. Sie hatten jeder eine Tasse Café au lait vor sich, und Clausen vergaß beinahe, seine Zigarre in Brand zu halten:

»Was für ein Lokal ist dies eigentlich, in das du mich geführt hast?«

»Ein ganz ausgezeichnetes Lokal, kleiner Ober; ein Lokal, in dem man viel lernen kann.«

Die Glastüren klirrten leise, und ein paar halberwachsene Jungen von 16-17 Jahren schlichen scheu herein. Sie blieben jäh stehen, geblendet von dem Duft und dem Gold und den Gemälden. Es war offenbar das erstemal, daß sie hier waren; und der eine machte eine hastige Bewegung, als wolle er entfliehen. Aber ein gewandter, befrackter Kellner sprang herzu und wies mit liebenswürdiger Handbewegung den beiden Novizen Plätze an einem entlegenen Tisch unter dem Fenster an.

Ein Paar Mädchen klatschten in die Hände und stimmten ein gellendes Gelächter an:

»Die süßen Jungen! Kommt mal her!«

Errötend wendeten die Knaben die Köpfe ab, man konnte ihnen aber ansehen, daß sie sich geschmeichelt fühlten.

»Kommen auch Kinder hierher?« sagte Clausen, ganz erschüttert in seinen Grundfesten.

»Hm, ja,« sagte Knagsted – »man muß dies ja wie eine Art Anschauungsunterricht betrachten.«

»Ja, aber wenn nun eine von diesen – von diesen Damen hingeht und mit den jungen Menschen anbändelt ...?«

»Das dürfen sie nicht. Sie müssen auf dem Platz sitzenbleiben, den sie sich einmal gewählt haben.«

»So–o!« sagte Clausen, offenbar beunruhigt – »also das müssen sie!«

»Ja ... Aber die Knaben können sehr wohl zu den Damen hingehen!«

»Ja, aber das wagen sie nicht!« nickte der Oberlehrer zuversichtlich.

Knagsted lächelte und streichelte ihm die Hand:

»Nein, das wagen sie nicht, nein ... Wir sind ja selber einmal jung gewesen!« – –

Die Glastür klirrte jetzt unaufhörlich. Gäste strömten herein; Männer in allen Altern und aus allen Gesellschaftsklassen. – Und dann kam eine »Dame« nach der andern mit viel Gelärm und Geräusch. Sie sahen sich in der Versammlung um und lächelten und nickten und grüßten und nahmen dann Platz, einzeln oder zu zweien an kleinen Tischen mitten im Saal.

Von Zeit zu Zeit kamen aber auch ein Bürger mit seiner Frau oder ein Handwerker mit seinem Mädchen angeschlichen. Sie sahen sich geniert und verlegen um, wenn sie aber erst einen stillen, verborgenen Platz gefunden hatten, fingen sie eifrig flüsternd an zu plaudern und schienen sich göttlich zu amüsieren. – –

Mitten im Lokal, gerade unter dem größten Kronleuchter, hatte sich eine große, schlanke, brünette, buntgekleidete »Dame« niedergelassen. Sie hatte einen großen funkelnden Rubin in dem einen Ohr und ihre langen, weißen Finger blitzten von Diamanten. Sie gestikulierte lebhaft nach rechts und links und rief den Kolleginnen um sie herum Witze zu.

»Das ist die ›Königin‹«, sagte Knagsted; »nicht eins von den andern Mädchen wagt es, sich auf ihren Platz zu setzen.«

»So–o?« Die Augen des Oberlehrers leuchteten. »Wer hat ihr diesen Rang verliehen?«

»Weiß ich nicht ... vermutlich der Kaiser.«

Ein Herr in langem, gelbem Staubmantel und hohem Zylinderhut erhob sich von einem Tisch und ging hinaus. Und nach einer kleinen Weile raffte die »Dame«, mit der er gesessen und sich unterhalten hatte, ihre Kleider zusammen, setzte ihr blumengeschmücktes Mühlrad von Hut zurecht und verschwand auf demselben Wege. – – Die Kolleginnen sahen ihr neidisch nach.

»Wo wollen die beiden hin?«

»Clausen, Clausen! Du bist ja freilich aus Gammelköbing, aber – –«

Der Oberlehrer wurde dunkelrot und barg sein Gesicht über seiner Kaffeetasse.

»Nein, das süße kleine Gretchen!« Knagsted zeigte auf ein ganz junges Mädchen von 15–16 Jahren, das zur Tür hereingeschwänzelt kam. Sie war lang aufgeschossen und noch nicht völlig ausgewachsen. Ihr blondlockiges Haar hing in einer langen Flechte über die kurze Jacke herunter, und auf dem Kopf trug sie einen kleinen weißen Strohhut mit hellblauem Bande ... Sie sah aus, als wolle sie auf die Schultour.

Die »Königin« erhob sich und winkte und nickte, und die Kleine eilte an ihren Tisch, wo sie Platz nahm.

»Das sollte doch wirklich verboten werden«, sagte Clausen.

»Ja, ist es nicht sonderbar, lieber Freund?« nickte Knagsted, »aber es ist mir faktisch unmöglich, hierüber sentimental zu werden.«

»Was meinst du damit?«

»Ich meine, daß diese lieben Kleinen sich ja sehr wohl fühlen. Sieh nur, wie vergnügt sie aussehen, wie geputzt sie sind, und wie sie drauflosreden!«

»Ja, aber wenn sie dann nach Hause kommen!«

»Meinst du: allein?«

»Pfui ... Ja!«

»Na, dann schlafen sie und kochen Kaffee und lesen Romane und denken an ihren Staat für den nächsten Abend, und ... «

»Aber wenn sie alt werden?«

»Ja–a!« sagte Knagsted und kratzte sich nachdenklich in seinem üppigen Haarwuchs – »dann werden sie wohl ein bißchen traurig ... aber dann können wir Junggesellen uns ihrer ja annehmen und uns mit ihnen verheiraten.«

»Guten Abend, meine Her–ren! So tr–reffen wir–r uns also auf den Wegen des Laster–rs, ha, ha, ha?«

Clausen erstarrte vor Schrecken, denn vor ihnen stand Herr Schullehrer Mikkelsen Sejstrup, dienernd, lächelnd, weiß beschlipst.

»Gleich und gleich gesellt sich ger–rn!« fuhr der Küster fort, und sein Antlitz glänzte in dem elektrischen Licht voll und rundlich wie ein überseliger Engelhintern. Gestatten die Herr–ren, daß ich mich zu Ihnen setze?«

Und er setzte sich.

Clausen sah verstohlen zu Knagsted hinüber, um die Wirkung zu erfassen. Der Zöllner aber lächelte ganz friedlich und sagte äußerst freundlich:

»Es ist uns ein Vergnügen. Herr Sejstrup!«

Und dann sahen sie sich alle drei ein Paar Sekunden lang starr an.

»Hier–r ist es sonder–rbar zu sein!« begann der Küster dann von neuem. »Aber–r man muß es ja sehen! Die Herr–ren tr–rinken Kaffee?«

»Ja – wollen Sie auch eine Tasse haben?« fragte Knagsted.

»Danke für gütiges Anerbieten!«

Der Kaffee wurde bestellt und gebracht.

»Sind Sie schon lange in Berlin gewesen, Herr Sejstrup? – Nehmen Sie Sahne?«

»Bitte schön! –Vie–r Tage. Und von hier–r r–reise ich nach Par–ris und London.«

»Sie wollen sich offenbar einmal ordentlich amüsieren?«

Clausen war ganz starr über die Freundlichkeit des Zöllners.

»Ich r–reise nicht, um mich zu amüsier–ren, Herr–r Kontr–rolleur–r!«

»So, also nicht – – nun weshalb denn?«

»Das hohe Minister–rium ist so gnädig gewesen, mir–r dr–reihundert Kr–ronen zu gewähr–ren; und für–r dies Geld mache ich jetzt Studien.« »Hier bei Keck?«

»Hier–r bei Keck, ja, und ander–rwär–rts.«

»Ah! – – Haben Sie die kleine Dame da drüben beachtet: die mit dem weißen Hut?« (Herr Mikkelsen drehte den Kopf nach der angedeuteten Richtung um.) »Sie sieht brillant aus, wie?« »Ach ja,« sagte der Küster ruhig und sachlich – »sie scheint einen sehr angenehmen Kör–rper zu haben ... «

Plötzlich wandten alle Gesichter sich der Eingangstür zu; und zwei Kellner liefen schnell hin und rissen sie weit auf.

Ein großer Diener in Livree kam mit einem kleinen, zusammengesunkenen Greis herein, der fest an seinem Arme hing. Der Alte bewegte sich mühsam mit Hilfe eines Stockes vorwärts. Er war weißhaarig, und sein kleines, runzeliges Gesicht war pergamentgelb. Aber die kleinen braunen Augen schimmerten von Leben unter einem Paar buschiger Brauen. Er glich einem Raubvogel ... einem alten, kranken Raubvogel, der nicht sterben will.

Er wurde mit Händeklatschen und Bravorufen empfangen. Und alle Mädchen standen auf und winkten.

»Hierher! Hierher!«

Aber der Diener schleppte ihn an den Mitteltisch, wo die »Königin« und das kleine »Gretchen« saßen. Dort wurde der Alte in einem Stuhl zwischen ihnen angebracht. Dann zog der Diener sich zurück, und die Kellner scharten sich um den Tisch.

Der Alte legte seinen beiden Nachbarinnen einen zitternden Arm um den Hals:

»Was wollen Sie denn heute abend haben, meine kleinen Damen?«

 

Knagsted, Clausen und der Küster gingen zusammen die Friedrichstraße hinab, nach den »Linden« zu.

Die Bürgersteige wimmelten von lachenden, plaudernden und kritisierenden Fußgängern. Auf dem Asphalt kreuzten sich die Droschken in sausender Fahrt. Die Schwefelholzverkäufer riefen ihre Ware aus. Ein Schutzmann schleppte mit einem schreienden Frauenzimmer von dannen. Ein Pferd glitt aus und stürzte ... Und hoch über dem ganzen Gewimmel leuchteten kalt und leidenschaftslos die bleichen elektrischen Lampen.

An der Ecke einer Seitenstraße schimmerten ihnen eine Reihe erleuchteter Fenster entgegen. Und über der Tür stand mit großen goldenen Buchstaben: Café National.

Der Küster blieb stehen:

»Gucken die Herr–ren hier–r nicht noch einen Augenblick mit ein?«

»Nein, jetzt wollen wir wahrhaftig zu Bett,« sagte Knagsted, »die Uhr ist ja gleich eins ... Was ist denn da drinnen zu observieren?«

»Da sind auch unglückliche Mädchen, aber–r sie sind einen Gr–rad ger–ringer als bei Keck.«

»Haben Sie denn noch nicht genug von diesen kleinen Zuckerpuppen, Sejstrup?«

»Ich bin Mitglied des Vereins gegen den gesetzlichen Schutz der Unsittlichkeit«, sagte der Küster mit finsterem Ernst. »Und zu dem Zweck mache ich Studien zu einem kleinen Aufsatz über diese ar–rmen Fr–rauen und ihr–r Leben und Tr–reiben!«

Und damit verschwand er in das Café.

»Dreihundert Kronen!« sagte Clausen nach einiger Zeit, »für die Summe kann er doch wirklich nicht durch ganz Europa reisen!«

»Mein Gott ja!« sagte Knagsted. »Und du sollst sehen, er bringt noch gut hundert wieder mit nach Hause! ... Das ist ja einer von den Gründen, weshalb wir ihnen nicht widerstehen können, der Teufel mag wissen, wie sie es anfangen, uns hat er doch auch gleich die Tasse Kaffee abgeknöpft.«

Der Bürgersteig auf der rechten Seite der »Linden«, vom Brandenburger Tor bis am königlichen Schauspielhaus vorüber, stand gedrängt voll von Neugierigen.

Um zwölf Uhr sollte der Kaiser vorüberkommen. Es sollte irgendein Denkmal draußen in der Tiergartengegend enthüllt werden. (Es sollten stets Denkmäler enthüllt werden, wenn man in Berlin ist.) – Größere und kleinere Militärabteilungen waren schon mit bunten Standarten und lärmenden Musikkorps vorübergezogen. Lange Wagenreihen mit lächerlich ausstaffierten Studenten in roten, blauen und grünen Uniformjacken und weißen, enganschließenden waschledernen Beinkleidern waren in derselben Richtung hinuntergejagt. Offiziere mit klirrenden Sporen und wehenden Helmbüschen stolzierten auf dem abgesperrten Asphalt dahin ... Und berittene Schutzleute fuhren dazwischen hin und her, winkten mit ihren weißbehandschuhten Händen und riefen und erteilten Befehle, während die goldenen Helme in der Sonne blitzten und der Schaum in großen Flocken von den Zäumen der Pferde floß ...

Oberlehrer Clausen stand ganz oben auf der Spitze seiner längsten Zehen vor dem Café Bauer.

»Ist er da?« fragte der Zöllner, der ungleich ruhiger als sein Freund an einem Tische saß und eine Tasse Schokolade trank.

»Nein, noch nicht ... « Clausen streckte sich immer mehr; es sah aus, als trainiere er sich, um in die Luft aufzusteigen.

»Aber Clausen, daß du auch nie achtgeben kannst!«

»Was ist denn nur los?«

»Nun hast du ja schon wieder vergessen, deine Hose zuzuknöpfen!«

Die Hände des Oberlehrers fuhren ganz verwirrt nach den Knöpfen herunter und verrichteten das Geschäft.

»Das ist wirklich ganz schrecklich!« sagte er.

»Ja, du solltest dir eine Kammerjungfer halten.«

Ein rasselnder Trommelwirbel, mit gellenden Kommandorufen untermischt, scholl von der Hauptwache her. Zwei Schutzleute auf blankbraunen, schnaubenden Pferden kamen in sausendem Trab die Reihen hinab. Eine wogende Unruhe, ein hastiges Murmeln ging durch die Menge:

»Der Kaiser! Der Kaiser!«

»Da ist er!« sagte der Oberlehrer. Und der Zöllner vergaß seine Ruhe und sprang auf ...

Wie ein Blitz sprengte die kaiserliche Equipage auf ihren Gummirädern vorüber. Man sah nur wie einen Schimmer das bleiche Gesicht des Kaisers mit dem breit gespreizten Schnurrbart. Seine kleinen, kalten Augen glitten scheu und hastig über das Publikum hin, nach rechts und links, und er senkte fast unmerklich den Kopf und grüßte, die Hand an die Uniformmütze gelegt.

Nur einzelne Hüte wurden gelüftet, und hier und da ertönte ein vereinzeltes Hurra ...

Man hatte eher den Eindruck, daß »das Volk« einem Schauspiel beiwohnte, als daß es von Angesicht zu Angesicht mit seinem von Gott bestallten Cäsar stand.

Der Wagen verschwand, und der Menschenstrom schlug hinter ihm zusammen.

»Nun hast du ihn also gesehen. Clausen!«

»Ja–a! Vergnügt sah er nicht aus.«

»Ach nein; die Zeit der gemütlichen Monarchen ist vorüber. – – – Aber jetzt ist da mehr Hallo!«

Zehn, zwölf scharfe, gellende Pfeifen, von ebenso vielen taktfesten Trommeln begleitet, erschollen unten in der Friedrichstraße: Eins, zwei – eins, zwei. Man konnte förmlich die disziplinierten Beine der Soldaten die Straße abmessen sehen wie eine Abteilung wandernder Zirkel. Sie kamen näher und näher; deutlich hörte man jetzt die Fußtritte auf dem Asphalt. Aber dann plötzlich fiel ein hundertstimmiges Orchester mit einem Getöse ein, das jeden anderen Laut übertönte: Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands – Heil, König, dir! ...

Die Musik schlug gegen die Fassaden der Häuser, wurde zurückgeworfen und sank und stieg in der engen Straße, bekam Fahrt und wurde vorwärts getrieben, bis sie über die »Linden« hinausgeschleudert wurde wie eine Kaskade von Tönen!

Abermals fuhren alle Gäste von ihren Stühlen auf und stürzten auf den Bürgersteig hinaus. Es war die Wachtparade, die aufzog. Und nun bog sie ein und kam am Café Bauer vorüber.

Tschim da-da, tschum da-da, bum, bum, bum: ... Fühl' in des Thrones Glanz, die hohe Wonne ganz, Liebling des Volks zu sein – Heil, König, dir! sangen die Instrumente, und einzelne hochgestimmte Patrioten fielen mit ein, indem ihre Gesichter förmlich bleich wurden vor Begeisterung, während ein heiliger Schauer ihnen durch das Rückgrat lief. Hüte wurden geschwungen, Händeklatschen und Hurrarufe ertönten ... Das war was für »das Volk«!

»Man bekommt förmlich Lust, Soldat zu werden!«

»So–o?«

»Und solche Lust, mit dem Bajonett draufloszugehen!« Der Oberlehrer machte mit der geballten Faust einen wilden Ausfall gegen die Rippen des Zöllners.

»Reitet dich der Böse?«

»Das ist die Musik!« sagte Clausen, und seine Augen funkelten vor Verlangen draufloszugehen.

»So was ist mir doch, weiß Gott, noch nie vorgekommen! ... Willst du dich schlagen?«

»Nein, das will ich nicht; aber, aber – –«

»Aber was?«

»Ich – ich mußte plötzlich an mein Vaterland denken!«

»Nein ...? Nun bitt' ich Sie, Frau Heilbunth!!«

»Ja, du bist natürlich Anarchist!«

»Sag' mal, Clausen, bist du verrückt geworden?«

»Nein, das bin ich nicht!«

»Also doch nicht?«

»Nein ... aber so ein Eiszapfen wie du, der kann natürlich keine Begeisterung empfinden.«

»Ja, weiß Gott, das kann ich! Ich bin zum Beispiel diesen Augenblick gang rasend begeistert über dich!«

»Puh!« sagte Clausen und sank schlaff auf seinen Stuhl nieder.

Man konnte die Musik nämlich nicht mehr hören.

 

Der Tiergarten ist das Schönste von Berlin. Und wunderbar ist es, daß dieser prachtvolle Wald in diesem fuchsroten Sand hat wachsen können.

Aber nun steht er also da! –

Clausen und Knagsted kamen im Taxameter durch das Brandenburger Tor gesaust. Ihre Köpfe wackelten wie ein paar chinesische Puppen.

»Ich mag eigentlich absolut nicht fahren, Knagsted –«

»Nein, das magst du ja nicht.«

Der Wagen rummelte quer über die Straßenbahnschienen und die Allee zur Rechten hinab, an dem Reichstagsgebäude vorüber.

»Das ist ein reizender Palast!«

Clausen sah verstohlen zu dem Freund hinab.

»Findest du das?«

»Ja, und so leicht und elegant in allen seinen Linien! ... Wenn er nur nicht einmal direkt zum Himmel aufsteigt.«

Dann bogen sie um die Siegessäule und fuhren die Siegesallee hinunter, wo alle die weißen Kolossalstatuen sich schimmernd von dem dunklen Hintergrund der Bäume abheben.

» Dies ist wirklich pompös«, sagte Knagsted. »Welch eine Menge Sieger Preußen gehabt hat!«

In weniger als zwei Minuten hatte der Wagen das Ende der langen Allee erreicht.

»Dreh' dich um!« sagte der Zöllner, »dann wirst du etwas sehen!«

Clausen wandte sich um und sah wie in einer flüchtigen Vision die beiden Reihen schimmernder Marmorfiguren und ganz unten als Abschluß den hohen Obelisk mit der goldenen Siegesballetteuse auf der Spitze in der Vormittagssonne gleißen.

»Prachtvoll!«

»Prachtvoll, ja; nur schade, daß die da oben die Arme nicht bewegen kann!«

Dann fuhren sie die Tiergartenstraße hinab, wo die Villen der Millionärjuden Seite an Seite liegen, mit prangenden Blumengärten davor. Und zwischen den Blumen hüpfen die niedlichsten Rehe und Hasen, und hinter Buschwerk und Blattpflanzen gucken schelmische Zwerge und Zwerginnen mit roten Zipfelmützen über den häßlichen Porzellanfratzen hervor.

»Meinen kleinen Paludans daheim in Villa Rörholm würde bei diesem Anblick das Herz im Leibe hüpfen!« sagte der Zöllner. »Und welch ein Paar herrliche Hunde das sind!«

Hinter einem feuervergoldeten Gartengitter saßen ein Paar mächtige blaugraue Grand-Danois auf ihren Schwänzen und sahen ganz idiotisch aus.

»Sind die auch aus Porzellan?«

»Die sind auch aus Porzellan, ja, oder was für ein Arkanum es sein mag ... Ich finde es übrigens sonderbar, daß man nicht so ein Paar vor dem Reichstagsgebäude angebracht hat!« –

Jetzt bog der Wagen in einen Seitenweg zwischen den Bäumen ein. Hier war es frisch und kühl, und nirgends standen Porzellanfiguren, wenigstens vorläufig noch nicht!

Auf den Bänken da drinnen saßen Ammen und Kindermädchen in bunten Nationaltrachten: kurze, schwarze Röcke mit breiten, bunten Borten, Zwickelstrümpfe und große, weiße, flatternde Kopfbedeckungen. – Sie genierten sich nicht, diese Damen; wenn die Kinder irgendein größeres oder kleineres Bedürfnis empfanden, knöpften sie auf, streiften herunter oder banden auf und präsentierten die ganzen Herrlichkeiten des Kindes ohne Scheu dem Vorübergehenden.

»Sie könnten doch gern ein wenig ins Gebüsch gehen ... «, sagte Clausen empört.

»Das finde ich auch«, entgegnete Knagsted. – »Aber das wollen sie nun einmal nicht.«

Der Kutscher fuhr an die Seite des Weges, und der Wagen hielt.

»Was gibt's denn jetzt?«

Es war ein ganzer Aufzug, der vorüberkam.

An der Spitze ritten ein paar mittelalterliche Ritter mit Federhüten, Pumphosen, langen Stiefeln und goldgestickten Samtwämsen. Sie saßen kerzengerade in den Sätteln, die linke Hand in die Seite gestemmt. Und die Pferde waren mit Schabracken und buntem Lederzeug aufgeputzt. Dicht hinter den Vorreitern folgte Wagen auf Wagen. Wohl an zwanzig Stück, mit Flaggen und Grün geschmückt und voll von plaudernden, lachenden Männern, Frauen und Kindern. – Im mittleren Wagen sah ein Orchester von zehn bis zwölf Personen, die tuteten und trommelten und triangelten, so daß es im Walde widerhallte. – Unter allen Wagen hingen an schweren eisernen Ketten baumelnde Biertonnen mit Laubwerk um den Magen. – Und der ganze Zug ward beschlossen von zwei berittenen Landsknechten in Lederkollern und aufgekrempten Schlapphüten und langen, wimpelgeschmückten Lanzen. Sie pusteten und stöhnten unter dem Staat, und der Schweiß trieb ihnen in reißenden Bächen über ihre roten, grinsenden Gesichter ...

Der Droschkenkutscher sah dem Zuge neidisch nach und setzte den Wagen wehmütig in Gang:

»Das war ein Schneiderverein, der eine Waldpartie macht«, erklärte er.

Und man konnte es seinen schwimmenden, träumenden, sehnsuchtsvollen Blicken ansehen, daß er mit Freuden den Verein mit einem ganzen Dutzend Patentscheren beschenkt haben würde, wenn er hätte mitmachen dürfen.

Sie fuhren über eine Menge sich kreuzender, kiesbedeckter Steige und breiter, asphaltierter Wege. Und ständig wechselten die Umgebungen. Bald war es, als befinde man sich in einem einsamen, vernachlässigten Walde, wo die Bäume wuchsen, wie sie gerade Lust hatten, und wo die Zweige dem wehmütigen Kutscher um die Ohren schlugen und nahe daran waren, ihm den Wachstuchhut abzureißen. – Und bald rollte man große, helle Alleen mit Straßenbahnen und Omnibussen und elektrischen Ständern entlang. – Aber immer war es der Tiergarten.

»Schloß Bellevue«, meldete der Kutscher, als der Wagen an einem großen, grauen, zweistöckigen Gebäude mit spitzzulaufendem ziegelgedeckten Dach über zwei Reihen hoher, schmaler Fenster mit Hunderten von kleinen, blitzenden Fensterscheiben vorüberfuhr ...

Auf dem öden, grasbewachsenen Schloßhof standen ein paar rostige Kanonen auf ihren Granitfundamenten und glotzten dummdrohend auf den Weg hinaus.

» L´ancien régime!« sagte der Oberlehrer; er konnte nämlich Französisch.

»Ja,« sagte der Zöllner – »die alte, gute Zeit! Wer doch sein eigener Urgroßvater wäre! Damals gab es doch etwas, wovor man Respekt haben konnte.«

»Meinst du das wirklich?«

»Ja, weiß der liebe Gott, das meine ich! All dies hier mit Freiheit und Fortschritt und elektrischen Straßenbahnen und lenkbaren Luftschiffen mag meinetwegen der Teufel holen! Man bekommt es so satt. Nein: Türhüter in einem alten Königsschloß 1781. Das ist das Ideal!«

Clausen wandte sich nach dem Freund um und sah ihn eindringlich an:

»Ich möchte so gern vernünftig mit dir reden, Knagsted,« sagte er – »so über alles ... «

»Rede nur los!«

»Ja, aber wenn wir mitten in der Unterhaltung sind, zerschneidest du das Ganze ... «

»Tue ich das? Das ist nicht recht von mir. Aber das tue ich auch wohl nur, wenn ich hungrig bin.«

Nur acht bis zehn Tage wollten die Herren sich in Berlin aufhalten. Und Knagsted zerrte deswegen seinen Freund in Museen und Sammlungen und in Theater und Tingeltangel, so daß sie beide todmüde wurden.

»Aber du mußt doch was einsammeln, wovon du zu Hause zehren kannst, lieber Clausen! ... Laß uns jetzt hier hineingehen! Das ist das Zeughaus.«

Sie durchschritten viele große und hohe Säle, mit Kanonen und Fahnen und Waffen aller Art aus allen Zeitaltern angefüllt.

»Daran ist gar nichts zu sehen! Komm nur mit mir!«

»Hier sind doch aber viel sehr interessante –«

»Hm, ja! Aber komm du nur mit mir!«

Und sie trabten und trabten. Und die Leute wandten sich um und sahen dem kleinen, sonderbar behaarten Mann nach, der mit dem großen, hübschen, kindlich aussehenden Herrn abzog ... Ein Sancho Pansa mit einem Don Quichotte.

»Hier ist es,« sagte Knagsted, »hier unten in dieser Ecke.«

Und gleich darauf standen sie vor einem großen, vieleckigen Glaskasten, in dem man hinter den Glasscheiben Hunderte von Orden und Medaillen an bunten, vielfarbigen Bändern erblickte. Ganz oben in dem Glaskasten aber, auf einer kleinen, samtbezogegen Erhöhung lag ein alter, dreieckiger, schwarzer Filzhut, rostrot vor Alter, durchlöchert und zerrissen und an einzelnen Stellen mit grobem, grauschwarzem Bindfaden zusammengenäht.

»Siehst du den?« fragte der Zöllner in einem beinahe feierlichen Ton. »Siehst du den Hut da?«

»Ja ... «

»Ich komme nie nach Berlin, ohne daß ich nicht hierhergehe und meine Andacht verrichte.«

»So–o? Und wessen Hut ist es denn?« Der Oberlehrer war angesteckt von der Feierlichkeit seines Begleiters; er war ganz blaß.

»Es ist Napoleon des Großen Hut!«

»Ja ... «

Es entstand eine Pause von fast einer Minute. – Man hörte das Publikum ringsumher in den Sälen reden und lachen. Und draußen Unter den Linden ertönte Rufen und Wagenrasseln und Lärm und brausendes Leben.

»Weißt du, was ich immer denken muß, Clausen, wenn ich hier stehe?«

»Nein!«

»Ich muß immer denken, wenn ich, ohne entdeckt zu werden, diesen Hut stehlen und nach Frankreich zurückbringen könnte, so täte ich es, und wenn ich dann hinterher auch gerädert werden sollte.«

»Und was für einen Zweck sollte das wohl haben?« fragte Clausen unwillkürlich.

Der Zöllner erhob den Kopf mit einem Ruck.

»Nein.« sagte er lächelnd, »nein, natürlich hast du recht, du alter Idealist! Was für einen Zweck sollte das wohl haben! ... Komm, laß uns gehen!«

»Ja, aber Knagsted ... Knagsted ...!«

Aber der Exzöllner war schon längst verschwunden. – –

Als sie auf dem Rückwege durch die Ruhmeshalle kamen, blieben sie einen Augenblick vor dem großen, herrlichen Öldruck stehen, der Kaiser Wilhelm den Ersten als Triumphator in goldenem mit sechs weißen Rossen bespannten Wagen, umgeben von Generalen und Balletteusen, darstellt.

»Das ist wirklich schön!« sagte Knagsted – »wirklich schön! Aber als ich das letztemal in Berlin war, sah ich eine Ansichtskarte von Bismarck, der in dem himmlischen Wintergarten von Sankt Peter und einigen anderen Seligen empfangen wird ... das war denn doch noch schöner!«

 

Draußen peitschte der Regen. – Von der Straße her ertönte ein unaufhörliches Plätschern und Sickern, und die Linden da draußen sahen ganz melancholisch aus mit ihren triefenden klatschnassen Blättern.

Knagsted saß unten im Lesesaal des Hotel du Nord und trank seinen Morgenkaffee. Das Lokal war öde, dunkel und leer; er war der einzige Gast, der aus dem Bett gekrochen war, und doch ging die Uhr schon stark auf zehn.

Er gähnte und schüttelte sich und murmelte halblaut vor sich hin:

»Daß man nicht samt und sonders zu Deliristen wird!«

Die Tür zur Vorhalle wurde schnell geöffnet, und ein junger Mann trat pfeifend ein. Sobald er aber den Herrn am Kaffeetisch gewahrte, hielt er mit der Musik inne und setzte sich still an das Fenster und sah über die »Linden« hinaus. – »Er war groß und schlank und gut gewachsen, mit blondem, lockigem Haar und einem schönen, vornehmen, ein wenig sonnengebräunten Gesicht, das von Jugend und Lebensmut strahlte ... «, wie in den Romanen geschrieben steht. Und er schien sich den Kuckuck auch an den Regen zu kehren, saß da und hüpfte förmlich vor Vergnügen auf seinem Stuhl.

Knagsted schielte über seine Kaffeetasse zu ihm hinüber:

Hm – hat der einen Überschuß an Humor! Es war wahrhaftig lange her, seit ein gewisser anderer so wohlbeschlagen gewesen! ... Wo aber hatte er doch dieses Milchgesicht und diese »Locken« schon gesehen?

Der junge Mann, der wohl fühlen mochte, daß er beobachtet wurde, wandte sich vom Fenster ab und sah zu dem Zöllner hinüber. Er schien zu stutzen, und ganz unwillkürlich erhob er sich von seinem Stuhl und verneigte sich:

»Godmorgen!«

»Godmorgen«, grüßte Knagsted ein wenig widerwillig. »Sind Sie ein Däne?«

»Ja!«

»Ich meine, ich müßte Sie kennen–«

»Ja, ich meine auch ... «

Plötzlich glitt ein Lächeln über das Gesicht des Zöllners.

»Sie sind ja der Student aus Charlottenlund!«

Der junge Mann lächelte ebenfalls und errötete.

»Ja – und Sie sind einer der Herren, die auf der Bank saßen und sahen – –«

»Ja, wir sahen den Skandal, ja! – – Aber wo ist denn die Kleine?«

Der Student errötete noch tiefer.

»Ach –« lachte er geniert – »die liegt oben und schläft!«

»Seid ihr durchgebrannt?«

Jetzt lachte der junge Mann laut auf:

»Nein – nein – nein! Wir sind auf Reisen mit ihrer Mutter!«

»Gratuliere!«

»Danke – ha, ha, ha!«

»Nun, gratuliert habe ich Ihnen ja übrigens schon einmal!«

»Ja – aber da hatten wir es noch nicht gesagt

(Plötzlich blitzten zwei kleine leuchtende Glückseligkeitsflammen in seinen Augen auf:) – »Da ist sie!«

Die Tür zur Vorhalle hatte sich abermals geöffnet, und eine junge Dame erschien auf der Schwelle:

»Hugo, Mutter wartet ... «

Auch sie war hell und blond und strahlend wie ein – wie ein Sonntag im Mai!

»Hugo, Mutter wartet ... «

»Ja, jetzt komme ich!«

Der Student hatte sich erhoben und verneigte sich leicht in der Richtung nach Knagsted hin wie zum Abschied.

»Ach, kann ich sie nicht mal ordentlich sehen?«

Der Zöllner war selber ganz erstaunt, wie weich und flehend seine Stimme klang.

Die Augen des jungen Mannes strahlten.

»Ja«, sagte er, ging hin und faßte die Herzliebste bei der Hand. – »Sie ist auch wirklich wert zu sehen! – – Hier ist ein Herr, der dich gern begrüßen möchte, Agnes!« (Er führte sie näher an den Tisch heran:) »Kennst du ihn nicht?«

»Nein,« sagte sie verwirrt – »nein – –«

Der Student lachte laut.

»Ich bin die leibhaftige Bosheit!« sagte Knagsted mit finsterer Stimme.

»Die leibhaftige –?«

»Die scheinbare leibhaftige Bosheit, ja!«

»Ja, aber Hugo – ich –«

Der Student stand da und freute sich unbarmherzig an ihrer Hilflosigkeit. Aber dann bekam er doch Mitleid:

»Wollen wir ihr nicht erzählen, wer –?«

»Nein! Nein!« sagte Knagsted sehr bestimmt.

Im selben Augenblick kam Clausen zur Tür herein – morgenfrisch, sauber und munter.

»Und das ist die leibhaftige Güte, schönes Fräulein!« stellte der Zöllner vor.

»Ja!« sagte der Student und grüßte überrascht, »da ist wirklich der andere!«

Der Oberlehrer stand da wie Lots Frau.

»Ja, dann geht nur, Kinder!« nickte Knagsted. »Vielen Dank, daß ihr euch gezeigt habt.«

»Ja, aber sollen wir nicht ... sollen wir uns nicht vorstellen ...?«

»Nein! Geht nur!«

Der junge Mann lachte von neuem, so daß es im Zimmer schallte:

»Das ist doch wirklich ein amüsantes Reiseabenteuer! Dann komm nur, Agnes!«

Und sie gingen. – Und draußen peitschte der Regen.

Der Oberlehrer war mitten im Zimmer stehengeblieben. Er sah, mit Respekt zu melden, geradezu dumm aus.

Knagsted saß noch immer bei seinem Kaffee.

»Abscheuliches Wetter heute, Clausen; wir kommen gewiß nicht nach Potsdam.«

»Nein ... Wer waren die beiden jungen Leute?«

»Hast du dein Frühstück bestellt?«

»Ja–a! ... Wer waren die beiden?«

»Du hast sie also beachtet?«

»Ob ich sie beachtet habe ...! Ja, dazu war ich doch wohl gezwungen!«

»Wer sie waren? ›Das Leben‹ und ›das Glück‹, kleiner Ober!«

»Kanntest du sie?«

»Nein ... «

»Du sprachst doch mit ihnen!«

»Ja–a! ... Da ist dein Kaffee.«

Ein Kellner kam mit einer Portion Kaffee auf einem Teebrett herein, das er auf den Tisch des Zöllners stellen wollte.

»Nein!« sagte Knagsted bissig – »nicht hier! ... Da«, und er zeigte auf einen Tisch ganz in der entgegengesetzten Ecke. – »Ich will nicht Gesellschaft haben in diesem bösen Gewitter!«

Der Kellner knickte zusammen und schnitt eine fürchterliche Grimasse, um seinen Kellneranstand zu bewahren (es sah aus, als bekäme er Bauchkneifen), er setzte das Teebrett auf den bezeichneten Tisch und verschwand.

Clausen ging hin und setzte sich.

»Du bist sehr launenhaft, Knagsted!«

»Das bin ich, weiß Gott!«

Dann entstand ein Schweigen. Man hörte nur das Rasseln der Messer und Teelöffel. – Und draußen peitschte der Regen gegen die Fensterscheiben.

»Ein abscheuliches Wetter, Clausen!«

»Ja.«

»Wir kommen heute wohl nicht mehr nach Potsdam!«

»Nein!«

»Schmeckt der Kaffee gut?«

»Ja.«

»Bist du ärgerlich?«

»Nein!«

»Aber beleidigt?«

»Hm ... «

»Ich will dir nämlich sagen. Clausen,« begann Knagsted plötzlich – »ich gerate allemal in so abscheuliche Laune, wenn ich zwei junge, glückliche und verliebte Menschen sehe.«

»Dazu ist aber doch gar kein Grund vorhanden!«

»Ja, lieber Clausen, dazu ist wohl Grund vorhanden! ... für einen denkenden Menschen wenigstens! Nun kannst du sagen, ich könne das Denken ja nachlassen, aber das ist gar nicht so leicht, wenn man daran gewöhnt ist! – – Und wenn ich zwei solche ... Perlhühner sehe, die glauben, daß das ganze Leben nur ein Sommerball mit bunten Lampions ist, so kann ich es nicht lassen, darüber nachzugrübeln, was für kleine allerliebste Niederträchtigkeiten euer lieber Vater Zeus nun wohl ersonnen hat, um sie so recht mitten ins Schwarze zu treffen.«

»Hm ... Wer waren denn die jungen Menschen?«

»Bei Gott im Himmel, Clausen, ich ahne es nicht! Aber das, finde ich, ist auch ganz gleichgültig. Sie sind froh und ›glücklich‹ – – ergo müssen sie ›gezwickt‹ werden.«

»Nun, das steht doch wohl nicht so fest ... «

»Das steht so fest wie die Tatsache, daß du über ein halbes Dutzend unvollkommener Schwanzwirbel besitzest!«

»Hm!«

»Willst du meine neue Theorie hören, Clausen?«

»Hast du nun wieder neuen Blödsinn ausgeheckt?«

»Ja ... Da nun die Menschen einmal gequält werden sollen, und das steht ja nun einmal fest, so meine ich, es würde viel besser sein, wenn sie das Leben damit begönnen, daß es ihnen schlecht erginge!«

»Hm ... «

»Und zu dem Zwecke sollte man seine Kinder auf alle Weise quälen und peinigen ... ja, wir beide haben ja keine, und das ist wohl im Grunde das einzige Anständige an uns! ... Aber die Leute, die Kinder haben, sollten sie prügeln und sie hungern lassen und sie kneifen und ihnen kalte Duschen mit Eisklumpen darin geben, bis sie konfirmiert werden! Wie seelenvergnügt würden die Gören da nicht sein, wenn sie aus dem Elternhause wegkämen! Und wie licht und rosig würde ihnen da nicht die Gegenwart und die Zukunft erscheinen, wenn sie an ihre Kindheit zurückdächten!«

»Wenn dich jemand so reden hört. Knagsted, müßte er doch glauben, daß du verrückt wärest.«

»Ja, das müßte er, aber das glaubt man ja anfänglich von allen großen Reformatoren! ... Nun höre aber einmal weiter: Jetzt dahingegen verzieht und verhätschelt man die Kinder auf alle mögliche Weise, man packt sie in Baumwolle und gibt ihnen Pfannkuchen und Brustzucker und süße Milch und Nußkerne ... «

»Ja, aber das ist doch gerade hübsch

»Das ist idiotisch! Denn die Folge davon ist nur, daß sie, sobald ihnen, wenn sie erwachsen sind, etwas Unangenehmes zustößt, melancholisch und sentimental werden und sich nach ihrer Kindheit zurücksehnen und keuchen und stöhnen und die Nase putzen und meinen, das sei doch die schönste Zeit ihres Lebens gewesen!«

»Ja, aber ... «

»Halt's Maul! ... Während dahingegen diejenigen, die nach meiner Theorie erzogen würden, sich vergnügt die Hände reiben und sagen würden: Ach ja, dies hier mag schlimm genug sein; aber wir hatten es, hol' mich der Teufel, doch tausendmal schlimmer, als wir Kinder waren bei diesen Schindmähren von Eltern, mit denen wir begabt waren! ... Und dann würden sie an ihre Arbeit gehen und eine lustige Melodie pfeifen und entzückt darüber sein, daß das Ärgste jetzt überstanden ist.«

»Du hast gewiß eine unglückliche Kindheit gehabt. Knagsted ... «

»Ich!? ... Frauenzimmerlogik! Ich habe es gerade als Kind so wunderbar, kolossal, himmelblau herrlich gehabt, daß das schuld daran ist, daß ich jetzt das abscheuliche, alte, mürrische, unverbesserliche Stachelschwein bin! ... Möchtest du gern wissen, wer die beiden Amoretten vorhin waren?«

»Ja ... ja ... «

»Das waren die beiden armen jungen Menschenkinder, die wir im Frühling in Charlottenlund einander in die Arme fallen sahen.«

»Nein, waren es die?« sagte Clausen, und ein glückliches, strahlendes Erinnerungslächeln klärte sein Gesicht auf.

»Und was meinst du, daß dein lieber Herrgott für sie vorbehalten hat?«

»Für sie vorbehalten hat ...?« wiederholte Clausen unsicher.

»Ja ... Glaubst du etwa, daß sie sich gleich verheiraten können?«

»Nein ... sie sind ja noch so jung ... «

»Na ja ... ja, dann wird er sich mit Gottes Hilfe wohl die ›galante Krankheit‹ holen und sie anstecken!«

»Pfui!« Der Oberlehrer erhob sich so hastig, daß sein Stuhl umfiel. – »Du bist ein Schwein, Knagsted!«

Der Zöllner sah ihn ruhig an:

»Glaubst du etwa, daß ich so etwas zu meinem Vergnügen sage?«

 

»Nach dem Park von Sanssouci!«

»Jawohl, mein Herr!«

Der Kutscher krabbelte auf den Bock und peitschte auf seine Antiquität von einem Pferd los, das sich mit einem Sprung in Bewegung setzte, so daß sein Herr nahe daran war, hintenüber zwischen seine Passagiere zu stürzen ...

Von den andern Droschkenkutschern auf dem Platz ertönte ein schallendes Gelächter!

»Der Mann ist gewiß betrunken!« flüsterte der Oberlehrer ängstlich.

»Total!« sagte der Zöllner.

Potsdam ist die reizendste und gemütlichste kleine Provinzstadt, die man sich vorstellen kann, mit kleinen, niedrigen Häusern, schmalen Straßen, spitzen Pflastersteinen und Gras auf den Bürgersteigen.

Aber dann sind da ja leider auch Soldaten und Kasernen und Militär-Waisenhäuser und ein königliches Schloß und ein »Schauspielhaus« und fünf, sechs Kirchen, unzählige Denkmäler und Mausoleen und Grabkapellen und der Teufel und seine Großmutter und ein »Brandenburger Tor« ...

Der Mund stand dem bleihaltigen Kutscher keinen Augenblick still, während sie durch Straßen und Gassen fuhren und über Brücken, Plätze und Markte. Er schwatzte in dem Maße, daß er das Pferd vergaß, und wenn dies dann aus eigenem Antrieb um Straßenecken bog, wippte der Mann auf dem Bock ganz auf den einen Schinken hinüber und war mehr als einmal kurz davor, kopfüber vom Wagen herunterzufallen.

»Da liegt das Rathaus! Und da liegt der Palast Barberini! Und da die Kommandantur! Und da die Garnisonkirche mit einem schönen Glockenspiel: ›Lobe den Herrn‹ und ›Üb' immer Treu und Redlichkeit‹ ... «

Sie rollten durch das »Brandenburger Tor« und über den »Luisenplatz«, vorüber an der »Friedenskirche« und hielten schließlich vor dem »Grünen Gitter«.

Der Kutscher machte eine flotte Handbewegung:

»Hier, meine edlen, hochwohlgeborenen Herrschaften, tritt man in den Park von Sanssouci!«

Die Herren stiegen ab, und Knagsted gab dem hochwohlbetrunkenen Rosselenker ein Zweimarkstück. Was offenbar die Veranlassung war, daß der Kerl seinen Hut zwischen seine Füße setzte und mit entblößtem Haupt davonfuhr, mit einer Ehrerbietigkeitsverbeugung, von der wieder aufs Gleichgewicht zu kommen ihn mindestens dreißig Sekunden kostete.

Dann standen sie in dem wunderbaren Park mit seinen herrlichen Lindenalleen, seinen Fontänen, Statuen, Terrassen, Orangerien und prachtvollen Blumenanlagen.

Knagsted blieb gleich hinter dem Tor stehen.

»Ja, hier in diesem schönen Garten, lieber Clausen,« sagte er, »hier mag ich eigentlich am liebsten allein wandern ... «

Der Oberlehrer sah ganz bestürzt aus.

»Ja, aber lieber Freund, das kannst du doch gern tun ... «

Der Zöllner steckte freundlich seinen Arm unter den seinen und zog ihn mit sich fort:

»Du ließest mich nicht ausreden,« sagte er. »ich wollte folgendermaßen fortfahren: ... aber ich bin sehr entzückt, daß ich dich hier bei mir habe, denn deine liebliche Nähe und deine herrliche Redseligkeit befreien mich von der tiefen Schwermut, die sich an Stätten wie diese immer auf mich herabläßt. Ich bin nämlich, mein lieber guter Clausen, trotz deines und aller reinlich lebenden Bürgerinnen Urteil ein ganz außerordentlich ›poetischer‹ Kater. Das Sausen dieser historischen Bäume und der Anblick dieser verwitterten Marmorfiguren, dieser Springbrunnen, dieser Bänke, dieser Terrassen, dieses Schlosses ... das alles erfüllt mein sogenanntes Gehirn mit einer bittersüßen Sehnsucht nach den entschwundenen heiligen Zeiten, als die Könige von Gottes Gnaden waren und ihren Morgenspaziergang mit Zepter und Krone machten ... als alle Straßen in der Welt eng und schmal waren und man vier Wochen gebrauchte, um von Kopenhagen nach Hamburg zu reisen. – –

Sieh dir einmal die Terrasse dort an ... Siehst du nicht den kleinen, mageren, knabenhaft schmächtigen Friedrich den Großen dort mit dem ›Ungeheuer‹ Voltaire an seiner Seite hinabwandern? Sie sind beide zierlich gekleidet in Kniebeinkleidern, Spangenschuhen, Allongeperücke und Spitzenmanschetten. Ihre kleinen Augen stechen und flammen. Sie disputieren, der kleine, große König stampft auf die Marmorfliesen, so daß ihm der Puder wie eine Wolke um den Kopf steht. Er stößt wütend mit dem Fuß nach einem seiner Windspiele, so daß es heulend die Stufen hinuntertründelt. Er will recht haben! Will! Will! Er glaubt an nichts als an sich selber. Er hat Preußen aufgebaut. Er ist der Grundstein, auf dem das ganze Reich ruht. Und das weiß er! Wenn er seine Knabenhand erhebt, beugt sich sein ganzer Hofstaat bis zur Erde. Und über den gebeugten Häuptern leuchtet sein blasses, nervöses Lächeln höhnisch, voller Verachtung ... und Mitleid. – Er hat Voltaires Namen gehört, und er hat Voltaires Bücher gelesen. Und eines Tages hat er zu sich selber gesagt: Ich will ihn sehen! Vielleicht ist er stärker als ich! Und Voltaire kommt (er ist ja nur ein Dichter). Und sie disputieren. Die Worte sausen zwischen ihnen hin und her. Keiner von ihnen will sich ergeben.– Aber der König siegt; er fühlt bei sich, daß er auch hier der Stärkere ist. Und warum? Weil er an nichts glaubt, an nichts! als an sich selbst. – Der Dichter dahingegen, der Philosoph glaubt an seine ›Ideen‹, an seine ›Ideale‹; er will die alte ›Moral‹ umstürzen und eine neue aufbauen, und die soll die einzig seligmachende sein! – Der König lacht, so daß es unter den Kronen der Bäume widerhallt: Moral! Und Seine Majestät schlägt die Rockschöße zurück und klopft sich auf seinen spitzen Hintern. – Dann trennen sie sich gehässig, ergrimmt, verbittert. Und Voltaire verläßt das Schloß und schwört, daß er nie zurückkehren will. – Aber der König grübelt und grübelt. Er hat sich in einem schwachen Augenblick so weit erniedrigt, daß er sich vorstellen konnte, dieser ›philosophische Dichter‹ wäre vielleicht ihm ebenbürtig. Dies muß gerächt werden! – Und er weiß Rat. In einem freundschaftlichen Schreiben ruft er den Dichter zurück ... und natürlich kommt er, seine Eidschwüre vergessend (er ist ja Dichter). – Und da hat der kleine große Knaben-König ihm das Zimmer einrichten lassen, wo alle die Fehler und Gebrechen und Laster eines Dichters von der Decke, von der Tür, von den Wänden und von den Möbeln herabstarren ... Und man hört noch heutigestags Seiner Majestät Lachen die Luft zerreißen! –

Und nun, lieber Clausen, kannst du gern sagen, daß all dies lange Gerede gar nichts mit der Sache zu tun hat; und natürlich hast du recht: Was tot ist, ist tot! Und trotzdem frage ich dich: Wer spielt jetzt Herr in diesen Sälen und in diesem Garten und auf diesen Terrassen? Du und ich und Schneidermeister Kümmel aus Berlin und Margarinefabrikantin Schulze aus Neu-Ruppin. Und wir beglotzen und betasten und beschnüffeln ... uns das alles für fünfundzwanzig Pfennig! ... ›Bitte schön, meine edlen, hochwohlgeborenen Herrschaften, nur fünfundzwanzig Pfennig pro persona und Trinkgeld nach Belieben!‹«

 

»Kommst du mit hier hinein? Ich will mich frisieren lassen.«

»Ja, gern!«

»Willst du nicht auch ein wenig in deinen Locken aufräumen lassen?«

»Nein, ich habe mein Haar erst ganz kürzlich schneiden lassen. Aber ich will gern mit hineingehen. Es ist ja ganz amüsant zu sehen, wie es in einer hübschen Friseurstube hergeht.«

»Ja, du kannst mir glauben, es wird amüsant werden! ... Aber du mußt mir eins versprechen, Clausen, daß du nämlich deinen Mund hältst, was auch geschieht und was auch ich vornehme. Auch nicht mit einer Miene darfst du die Bewegung verraten, die dich wahrscheinlich überkommen wird.«

»Was hast du denn vor?« fragte er.

»Ich ›habe vor‹, du Lieber!« sagte der Zöllner mit einem beinahe teuflischen Lächeln – »ich habe nichts weiter vor, als mich ein wenig waschen und striegeln und salben und parfümieren zu lassen, wie es seit Roms Verfall niemand zuteil geworden ist!«

»Das wird aber interessant!«

»Das wird es! ... Du versprichst also, weder deinen Beifall noch dein Mißfallen zu erkennen zu geben, was auch vorfallen mag?«

»Ja!«

»Gut! ... Dann komm.«

Und sie gingen in das Friseurgeschäft, das »Unter den Linden« dem Café Bauer ungefähr gerade gegenüberliegt. –

Clausen setzte sich gleich in eine Ecke des Lokals und begann die Illustrierten Blätter zu studieren, während Knagsted festen Schrittes eine Guillotine bestieg. Da waren vier von diesen Höllenmaschinen, und in dreien davon lagen schon weiß gekleidete Sünder. Auch Knagsted wurde in ein Meßgewand gehüllt und ergab sich wehrlos auf Gnade und Ungnade Scheren, Kämmen, Bürsten, und glühend heiße Krolleisen tanzten in den Händen von Meister und Gesellen. Es war wie in einer mittelalterlichen Folterkammer. Die Henkersknechte standen eifrig über die Opfer gebeugt und setzten die Instrumente in sie hinein. Und zuweilen vernahm man einen zischenden Laut, und es roch verbrannt.

Knagsted wurde von dem Meister selber, einem kleinen, blonden Juden mit Raubtiernase und feuchtem Mund, behandelt. Er fuhr voller Leidenschaft in dem kräftigen Haar und Bart des Zöllners herum. Die Zotteln fielen von der Schere und bildeten auf dem weißen Hemd Flecke wie die Hermelinschwänze auf dem Futter eines Krönungsmantels. Und er konversierte, so daß er schwitzte. Knagsted aber sagte kein Wort. –

Dann war das Schneiden überstanden, und das Frisieren begann. Der Meister entnahm den Glasschränken an den Wänden ungeheure Kruken und Flaschen, die er dem Zöllner präsentierte, mit der Frage, ob er es versuchen wolle? Es sei ganz unerreicht!

Knagsted nickte. Und der Meister öffnete die verschiedenen Behälter und schmierte ein und salbte und parfümierte. Nach einer Weile triefte der Zöllner förmlich von Öl und stank dazu wie eine »Halbdame«. Aber er rührte sich nicht, erhob keine Einwendungen, ließ sich ruhig beschmieren. Nur von Zeit zu Zeit schielte er nach Clausens Ecke hinüber und sah dann die Augen des Freundes groß und rund über den Illustrierten Blättern. –

Jetzt war auch das Balsamieren beendet. Knagsted durfte sich in einem Spiegel betrachten:

»Wieviel?« fragte er mit abgewandtem Blick.

»Eine Mark fünfzig« ... Ob der Herr nicht ein paar Bartbinden haben wolle? Sie seien ganz unerreicht, großartig, ausgezeichnet, vortrefflich!

»Ja!«

»Wie viele! Ein halbes Dutzend etwa?«

»Ja!«

»Und hier war eine Zahn- und Nagelbürste, ganz kolossal brillant! Ob der Herr ein paar davon wünsche?«

»Ja!«

»Und dieser Rückenfrottierer? Der Prinz von Schaumburg-Lippe bediente sich eines ebensolchen!«

»Ja, geben Sie mir lieber auch gleich einen Frottierer ... Wieviel macht es dann im ganzen?«

»Ist da nicht noch anderes, was ...?«

»Danke! Wieviel bekommen Sie?«

Der Meister begann eifrig zusammenzuzählen. Seine Finger zitterten vor Geschäftsfreude:

»Die Flaschen, die Kruken, die Bartbinden, die Nagelbürste, die Zahnbürste, der Rückenfrottierer – fünfundvierzig Mark und dreißig Pfennige!«

Knagsted bezahlte eine Mark und fünfzig für das Frisieren:

»Wollen Sie mir dann das andere ins Hotel schicken?«

Der Meister wurde ein wenig blaß:

»Welcher Name?«

»Baron (hier ließ der Oberlehrer die Zeitung fallen) Baron Kopperhielm, Stockholm. Hotel Kaiserhof.«

Ob – ob der gnädige Herr Baron keine Visitenkarte habe?

Knagsted öffnete standesgemäß sein Taschenbuch:

Nein, er habe keine Karte bei sich, sagte er ...

Ob der Herr Friseur nicht Papier und Bleistift habe?

»Ei natürlich, in Unmengen!«

Und als der Zöllner das Gewünschte erhalten hatte, schrieb er mit fester und vertrauenerweckender Hand:

Baron Arvid Kopperhielm
Stockholm
z. Z. Hotel Kaiserhof.
Bitte zahlen!            Kopperhielm

»Bitte schön!«

Der Meister gewann sofort seine natürliche Gesichtsfarbe wieder und folgte, gekrümmt vor Hochachtung, den beiden Herren bis auf die »Linden« hinaus.

»Danke sehr, gnädiger Herr Baron! ... Auf Wiedersehen!«

Knagsted lüftete freundlich den Hut und sagte mit einem herzgewinnenden Lächeln:

»Du kannst dir die Beine nach dem Geld abrennen, du Gauner!«

Kaum waren sie um die Ecke der Friedrichstraße gebogen, als der Oberlehrer seine Sprache wiederfand:

»Aber Knagsted!« sagte er in der tiefsten Erbitterung – »das war ja geradezu Betrug!«

»Das war es«, nickte der Zöllner. »Aber ich hatte mir geschworen, Rache an dem Halunken zu nehmen! Als ich vor ein paar Jahren zum erstenmal hier in Berlin war, ging es mir ganz ebenso da drinnen bei ihm. Er seifte mich mit all seinem Dreck und Jux ein. Damals war ich ja unschuldig und glaubte, das würde mit in die Bezahlung hineingerechnet. Als ich dann aber gehen wollte, zwang er mich, ihm fünfzehn Mark für alle seine Kruken und Flaschen zu geben. Ich konnte nichts weiter tun, denn er schlug einen furchtbaren Lärm und sprach von zur Polizei schicken. Aber jetzt, jetzt ist man ja klüger geworden!«

»Ja ... aber ... «

»Nein, ganz und gar nicht! Das ist auch eine von euren ›ethischen‹ Torheiten, daß man die rechte Wange hinhalten soll, wenn man einen auf die linke bekommen hat! Unsinn! Meinst du, daß Napoleon, Bismarck und Wilhelm Beck das jemals getan haben? ... Und dann gehörte der da ja außerdem zu dem vernünftigen Alten Testament, die Auge um Auge, Zahn um Zahn ... und Pomade um Pomade sagen! Die Rache ist süß, kleiner Obermann! Und ich bin sogar so raffiniert, daß ich fünf Mark in den Klingelbeutel geben würde, wenn ich in einem der Glasschränke des Meisters sitzen und sein Gesicht sehen könnte, wenn der Bote vom Hotel Kaiserhof zurückkommt!«

 

Es war der letzte Abend in Berlin. – Die beiden Freunde waren im Theater gewesen und hatten die Oper »Falstaff« gehört und sich an den herrlichen Tönen und der wunderbaren Plastik deutscher männlicher und weiblicher Sänger erfreut.

Dann hatten sie in einem Restaurant in der Friedrichstraße, dem Bahnhof gegenüber, zu Abend gegessen – in einem dieser Bierrestaurants, in das man sich nicht ohne Schmierstiefel oder wenigstens doch nur mit heilen Galoschen hineinwagen kann, wenn man sich nicht einen Halskatarrh oder eine Lungenentzündung zuziehen will. Der ganze Fußboden in dem Restaurant von der Eingangstür bis zum Büfett schwimmt von Bier. Die Kellner fahren in langen Reihen, mit sechs bis acht Seideln an jeder Hand hängend, hin und her; der Schaum fließt über alle Ufer und macht die ganze Passage zu einem Wateplatz, wo sich ältere, sensitive Herren sehr wohl einige Nägel zu ihren geehrten Särgen holen können. Denn es ist nicht gut, mit nassen Füßen dazusitzen!

Überhaupt: Wenn Dante heutzutage, und zwar in Deutschland gelebt hätte, würde eine seiner Höllenstrafen zweifelsohne »Die Biertonne« oder vielleicht »Das Spundloch« benannt sein. Und er würde sehr umständlich beschrieben haben, wie deutsche Männer und Frauen nackend darin herumschwämmen und sich das Bier durch alle größeren und kleineren Öffnungen des Körpers strömen ließen und so aufschwollen, daß sie ungeheuren Ledersäcken glichen, ohne Glieder und ohne Gesichtszüge, nur als große, aufgepustete Schweineblasen, mit Bier gefüllt. Und nach und nach würden die Blasen in das Bier-Meer hinabsinken, bis sie, wenn sie bis an den Rand gefüllt waren, mit einem Knall und Schäumen aufsprangen und sich leerten und wieder an die Meeresoberfläche aufstiegen und von vorne anfingen, sich wieder zu füllen und von neuem zu leeren, bis in alle Ewigkeit ...

Als die beiden Reisekameraden im Hotel angelangt waren und Schuhe und Strümpfe gewechselt hatten, saßen sie in Knagsteds Zimmer und rauchten ihre Pfeifen (lange Porzellanpfeifen, die sie aus ihrem lieben alten Dänemark mitgebracht hatten) und nippten an einem milden Whisky und Sodawasser. Und da sie seit mehreren Stunden das Blaue vom Himmel herabgeredet hatten (dänischen Männern steht der Mund ja eigentlich nie still; es soll der Statistik nach ja sogar die Nation sein, die am meisten im Schlafe redet!) so erhob sich Knagsted endlich vom Tische und sagte:

»Na, dann müssen wir wohl zu Bett, alter Ober! Und morgen schnüren wir also unsere Sandalen und ziehen weiter in die unendliche Welt!«

»Ja! – nach Dresden!« lächelte der Oberlehrer erwartungsvoll.

»Nach Dresden, ja! ... Und was ist dein unmaßgeblicher Eindruck von dem bisher Gesehenen?«

»Ja-a ... «

»Nicht mehr? Du bist ein undankbarer Kerl!«

»Nein, nein, Knagsted, versteh mich recht! Hier ist ja viel Schönes und Amüsantes und Eigentümliches ... Willst du mir aber glauben – es gibt ja Dinge, an die man sein ganzes Leben lang gedacht und die man sich glühend zu sehen wünschte, weil man davon gelesen und davon gehört hatte, und weil man es sich als etwas ganz Wunderbares vorgestellt hat ... wie nun zum Beispiel hier in Berlin ›Unter den Linden‹! Ich versichere dich, seit ich als kleiner Junge zuerst von ›Unter den Linden‹ in meiner Geographie las, habe ich mir darunter etwas Ungeheures, etwas Überwältigendes vorgestellt, das einem völlig den Atem benehmen müsse – schon allein der Name klingt ja wie die süßeste Musik! Und dann kann ich dir nicht sagen, welch einen peinlichen Eindruck es auf mich machte, als wir neulich abends von der Eisenbahn gefahren kamen und du plötzlich sagtest: Hier ist ›Unter den Linden‹! Es war, als habe mir jemand einen Schlag ins Gesicht gegeben ... Anfangs glaubte ich, du wolltest Scherz mit mir treiben, und lächelte nur triumphierend im stillen und dachte: Nein, er kann mich nicht anführen, das weiß ich besser! ... Als es mir dann aber klar wurde, daß du recht hattest, und daß es wirklich ›Unter den Linden‹ war, ich versichere dich, Knagsted, da hätt' ich weinen können, so verlegen und enttäuscht war ich, als ich diese armen verkrüppelten Bäume sah! Ich hatte mir die Bäume ja so mächtig und groß und schattig gedacht, daß es wie ein Märchen sein müsse, einmal darunter wandern zu dürfen! Bäume mit Kronen wie Wälder und Stämmen wie die dicksten Masten ... und dann standen da nur diese! Das war scheußlich, scheußlich! Ich habe ja nun freilich später manches Schöne und Herrliche hier in Berlin gesehen, ja, das habe ich, und dafür bin ich auch dankbar ... aber diese erste Enttäuschung mit ›Unter den Linden‹ – die kann ich doch nicht verwinden.«

Knagsted hatte während dieser langen Suada abermals Platz genommen. Er sagte nichts. Aber er paffte und paffte aus seiner Pfeife, während er nachsichtig lächelte wie ein verständiger Vater. Er glich einem kleinen Gott, der der kindischen Klage eines törichten Menschen lauscht.

Clausen sah ihn an mit einem Blick, der um eine gute und beruhigende Antwort bat:

»Und glaubst du nun auch, Knagsted,« begann er tastend, »glaubst du nun auch, daß es eine Enttäuschung für mich wird, wenn ich nach Dresden komme und die Raffaelische Madonna sehe?«

» Unbedingt!« sagte der Gott. »Aber du brauchst ja nicht hineinzugehen und sie dir anzusehen! Wir können morgen noch hierbleiben; dann gebe ich dir das Diner bei Hiller, das ich dir versprochen habe.«

Der Oberlehrer saß eine Weile grübelnd da:

»Nein,« sagte er dann und nickte zuversichtlich vor sich hin –»nein, ich will es doch noch einmal versuchen.«


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