Gustav Wied
Die Karlsbader Reise der leibhaftigen Bosheit
Gustav Wied

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V.

»Abfahren!«

Die Signalglocke. Ein Pfiff der Lokomotive. Rufen und Getümmel. Und der Zug nach Karlsbad setzte sich in Bewegung. – –

»Ich hätte noch lange, lange hier in Dresden bleiben können«, sagte der Oberlehrer und sah melancholisch zum Wagenfenster hinaus.

»Ich auch!« sagte der Zöllner, »aber wir müssen jetzt zu dem Brunnen hinunter.«

»Glaubst du, daß es helfen wird?«

»Bewahre.«

Sie fuhren an der Elbe entlang, genau denselben Weg, den sie neulich mit dem Dampfer zurückgelegt hatten. Es war die Aussicht auf dieselben Steinbrüche, dieselben Wege, dieselben Wälder.

Aber das amüsierte natürlich den Oberlehrer, und er geriet sogleich in geschäftige Bewegung und machte auf die ihm bekannten Punkte aufmerksam: »Sieh, da ist das, Knagsted! Und da ist das! Und da ist das

Sie kamen an der Station »Rahden« vorüber.

»Und da drüben ist die Bastei, Knagsted! Sieh nur. sieh!«

»Ja!« nickte Knagsted. »Gott weiß, ob ›Paulchen‹ und seine gefüllte Taube noch da oben ›herumturteln‹?«

»Ja, das war ein sonderbares Paar ... Warum Künstler wohl eigentlich immer so – so sonderbar sein müssen?«

»Ach, das ist wohl die Folge der Genialität! – Aber ich möchte sie im Grunde gerne sterben sehen, die Taube ... Ja, ich bin nicht boshaft, lieber Clausen, ganz und gar nicht! Ich meine nicht, daß sie von der Bastei herunterfallen und den Hals brechen soll! Nein, ich möchte sie nur gern auf ihrem Totenbett sehen, verstehst du – – von rein wissenschaftlichem Standpunkt aus! – Natürlich liegt sie in Spitzen vom Scheitel bis zur Sohle, mit Ringen an allen Fingern. Das Haar ist auf das lieblichste gelockt; sie ist sorgfältig geschminkt und gepudert. Und auf dem Nachttisch vor ihrem Bett ist ein Gesangbuch mit Goldschnitt angebracht und ein Kruzifix zwischen zwei brennenden Wachskerzen in silbernen Leuchtern ... ›Paulchen, mein Herz, küsse mich ... Glaubst du, daß Gott böse auf seine Marie Antoinette ist, Paulchen? ... Ach, sage nein! ... Gib mir den kleinen Spiegel da! ... Bin ich nicht sehr blaß? ... Vergiß auch nicht, daß ich unser Hochzeitsnachthemd anhaben will. Paulchen ... und zwei blaßrosa Chrysanthemen in der Hand ... und das Haar wie Margarethe im Faust ... Gib mir das Kruzifix, damit ich unsern Heiland küssen kann ... Wie schön du als Don José warst ... und wie du sangest! ... Nimm das Gesangbuch, Paulchen ... singe, singe! ... Schminke! Schminke! ... In deine Hände befehle ich meinen Geist ... ‹ – – Und dann stirbt sie. – Und niemand hat jemals eine so schöne Leiche gesehen. Paulchen hat sie auch eigenhändig eingekleidet, geschminkt und gepudert. Er ist untröstlich beim Begräbnis. Man muß ihn in die Droschke tragen. – Aber vierzehn Tage später tritt er wieder in ›Carmen‹ auf und entzückt durch seine Stimme, seinen vollendeten Wuchs und seinen Witwerstand das gesamte weibliche Publikum von den Logen bis zur Galerie hinauf.«

 

Die Bahnlinie führte immer am Fluß entlang. – Der Zug raste jetzt in voller Fahrt dahin; die Landschaft wurde förmlich von den Fenstern weggerissen. Und wenn man an einer Station vorüberkam, war es, als stürzten die Gebäude hinter dem Zug zusammen.

Die beiden Freunde saßen einander schweigend gegenüber, taumelnd und verwirrt von der sausenden Fahrt und dem Getöse. Clausen hatte sich in die Polster zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Knagsted dahingegen saß steif, aufrecht und starrend da.

Sie waren allein im Abteil. – Da aber tat sich plötzlich die Tür zu dem nächsten Wagen auf (es war nämlich ein sogenannter »D-Zug«) und ein kleiner, vierschrötiger, wildaussehender, älterer Herr schwankte herein. Er mußte sich an Sofaecken und Fensterriemen festklammern, um bei den heftigen Bewegungen des Zuges das Gleichgewicht nicht zu verlieren. – Dann kam er endlich zum Sitzen. Er glich einem Neptun. Struppiges, grauschwarzes Haar und Bart umgaben seinen Kopf mit einem Fall über Nacken und Schultern wie von langem Schwimmen. Die Augen waren groß und klar mit buschigen, ebenfalls zurückfallenden Brauen; die Nase war plattgedrückt und der Mund breit und schmal mit cholerisch herabhängenden Winkeln. Hätte er einen Dreizack in der Hand und einige Austern und Muscheln in Haar und Bart gehabt, würde man nicht im Zweifel über seine Lebensstellung gewesen sein, namentlich, da sein Gesichtsausdruck sehr empört und verbittert war, wie das bei jemand der Fall zu sein pflegt, der sich nicht in seinem wahren Element befindet.

Steif und unbeweglich saß er da auf dem Sitz, die Hände auf die Knie gestützt und ließ sich, wie es schien, mit einem gewissen Wohlbehagen von den Bewegungen des Wagens auf und nieder wiegen. Den Kopf trug er aufrecht auf einem kurzen dicken Halse. Es lag etwas Majestätisches, Herrscherhaftes über seiner ganzen Erscheinung.

Auf einem Felsblock inmitten eines Wasserstrudels angebracht, würde er Ehrfurcht eingeflößt haben.

 

Bodenbach, böhmische Grenzstation.

Zwei Züge waren fast gleichzeitig, jeder von seiner Seite, in die Station eingelaufen: der Zug aus Prag und der Zug Dresden – Karlsbad.

Der Dresdener Zug hielt dem Bahnhofsgebäude zunächst, der andere auf dem Geleise dahinter ...

Knagsted kam aus der Restauration, ein Glas Pilsener in jeder Hand. – Es wimmelte um ihn her von Reisenden und Zollbeamten und kleinen brünetten österreichischen Soldaten. Das Gepäck sollte nachgesehen werden. Und es wurde nach einigen Zweigbahnen umgestiegen.

»Her–rzlichen guten Tag. Herr–r Zollkontr–rolleur–r! Und willkommen!«

»Herr du meines Lebens, Mensch, sind Sie auch hier?«

»Ja, ha, ha, ha!« lachte Mikkelsen-Gejstrup mit breitem Grinsen und zeigte die starken, weißen Zähne in seinem Himmelsangesicht. »Sich tr–reffen und wieder scheiden, das ist des Lebens Gang! Herr Zollkontr–rolleur–r befinden sich wohl?«

»Ja, ich danke ... Aber woher, zum Teufel, kommen denn Sie jetzt? Sie wollten ja doch nach Paris?«

»Ich befinde mich ja auf dem Wege dahin, über Dr–resden–Leipzig. Aber dann kam mir der Einfall, er–rst einen kleinen Abstecher–r südwär–rts zu machen und die Bor–rdellverhältnisse in Pr–rag zu studier–ren.«

»Und alles für die dreihundert Kronen?«

»Alles für–r die dr–reihundert Kr–ronen, ja! Man weiß ja mit dem lieben Mammon umzugehen, ha, ha, ha! – Sie tr–ragen da zwei Gläser–r Bier–r?«

»Ja – wollen Sie das eine haben?«

»Wenn Sie es mir–r so fr–reundlich anbieten!« (Herr Mikkelsen nahm das Glas und leerte es bis auf den Boden.) »Ah, das er–rquickt! Ich sehe den lieben Herr–rn Ober–rlehr–rer–r gar–r nicht?«

»Der sitzt dort im Wagen.«

»Wollen wir–r nicht einmal zu ihm gehen?«

»Ja, tun wir das. Es wird ihn freuen, Sie zu sehen.«

»Ja, er–r schätzt mich sehr–r! Ach, nehmen Sie das.« (Er reichte das leere Glas einem vorübergehenden Gepäckträger, der es überrumpelt entgegennahm. – Knagsted konnte in diesem Augenblick nicht umhin. Herrn Mikkelsen zu bewundern.) – »Dann gehen wir–r wohl?«

»Ja, gehen wir – «

Im Wagen drückten der Oberlehrer und der Küster einander herzlich die Hand.

»Hier ist dein Bier, Clausen. Herr Mikkelsen hat mir die Ehre erwiesen, meins auszutrinken.«

»Ha, ha, ha! Und es hat wahr–rhaftig vor–rtr –refflich geschmeckt! Ich will doch nicht hoffen –«

»Bewahre! Mir ist Bier gar nicht zuträglich. Der liebe Gott selber hat Sie gesandt!«

»Herr Mikkelsen kommt direkt aus Prag, Clausen.«

»So–o? Sind Sie in Prag gewesen, Sejstrup?«

»Ja, wahr–rhaftig, dor–rt bin ich gewesen. Ich ging auch mit dem Gedanken um, einen kleinen Abstecher nach Wien zu machen, aber–r mein Kapital –« »Ach, das hätte schon ausgereicht«, meinte Knagsted.

»Ja. vielleicht. Aber–r ich habe es doch für–r diesmal aufgegeben.«

»Prag soll eine schöne alte Stadt sein?« fragte der Oberlehrer.

»Ich habe nicht viel von der–r Stadt gesehen ... Meine Tätigkeit liegt ja fast ausschließlich in den Stunden der–r Nacht. Es waren tr–raur–rige Ver–rhältnisse. sehr–r traur–rige Ver–rhältnisse! Ich war–r in einem Bor–rdell, wo sich Mädchen von unter–r zwölf Jahr–ren befanden. Sehr–r inter–ressant übr–rigens! So schlimm ist es doch bei uns nicht!«

»Nein, das ist es wohl nicht.«

»Nein, nein, Herr–r Kontr–rolleur–r, und Gott sei Lob und Dank dafür–r! Ich hätte wohl Lust, noch weiter–r südwär–rts zu gehen. Man hat mir er–rzählt, daß es in R–rom Bor–rdelle mit Knaben gibt, wie in den Zeiten des Ver–rfalls!«

»Mögen Sie das vielleicht lieber?«

Ein großes, nachsichtiges Lächeln erhellte das Antlitz des Küsters:

»Immer–r sind der–r Herr–r Konti–rolleur–r witzig!« sagte er und schüttelte sanft seinen Engelskopf.

Clausens Gesicht war dagegen ein wenig unruhig geworden.

Knagsted aber holte unbekümmert seine Zigarrentasche heraus und präsentierte:

»Wollen Sie nicht rauchen. Herr Sejstrup?«

»Danke, danke!« sagte der Küster eifrig und bemächtigte sich einer Zigarre. »Tabak ist hier–r unten ja ein uner–rschwinglicher–r Luxus. (Er kniff die Augen zusammen:) Sind die aus Dänemar–rk?«

»Ja, die haben wir eingeschmuggelt.«

»Ha, ha, ha!«

»Wollen Sie sich nicht ein paar einstecken, Herr Sejstrup?«

»Vielen Dank für–r Ihr–re Güte! Danke, danke r–recht sehr–r!« (Er eignete sich drei Stück an.)

Knagsted sah ihn mit einem beinahe verliebten Blick an:

»Darf ich Ihnen die Tasche nicht auch schenken? Ich mag Sie so verteufelt gern leiden!«

»Her–rzlichen Dank, Herr–r Kontr–rolleur–r, aber–r –«

»Nehmen Sie sie nur! Ich hab' noch eine im Koffer. Und Zigarren zerbrechen so leicht, wenn man sie lose in der Tasche trägt.«

»Ja, dann danke ich tausendmal! Es soll mir–r eine liebe Er–inner–rung sein!«

Der Küster steckte geschwind die Gabe ein.

Clausen saß wie auf Kohlen.

Aber Knagsted kehrte sich nicht an seine Unruhe. Er sah sich gierig im Abteil um:

»Möchten Sie nicht etwa noch andere Sachen haben? ... Hier ist eine Reisemütze, wollen Sie die haben?«

»Nein, nein, Herr–r Kontr–rolleur–r, ich –«

»Ja, mir ist sie zu klein. Ich kann sie doch nicht gebrauchen.«

»Ja, wenn Sie sie nicht gebr–rauchen können, so ... «

»Aber nein! Sie brauchen sich wirklich nicht zu genieren! ... Und die Reisetasche hier? ... «

»Nein, die gehört mir«. sagte Clausen schnell.

»Aber–r ich bin doch nun, weiß Gott, so r–reichlich beschenkt!« lächelte der Küster, dabei schielte er doch verlangend zu der ihm entgangenen Tasche hinüber.

»So, hier ist ein Plaid!« fuhr der Zöllner fort, seine Stimme zitterte, und seine Bewegungen waren sonderbar unbeherrscht.

Der Oberlehrer packte ihn beim Arm:

»Knagsted!« bat er eindringlich.

»Gehört dir das etwa auch?«

»Nein, aber –«

»Na, dann kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten! ... Er ist so geizig«, erklärte er, zu dem Küster gewendet, der dastand und die Decke mit seinen himmlischen Augen verschlang. – »Bitte schön, die Reisedecke gehört Ihnen!«

»Nein, Herr–r Kontr–rolleur–r, die nehm' ich nicht!« sagte Sejstrup mit einem ernsthaften Kopfschütteln.

»Nehmen Sie die nicht? Natürlich nehmen Sie die. Die gehört ja zu der Mütze. Können Sie nicht sehen, daß sie beinahe dieselbe Farbe hat?«

»Ja, ja, wahr–rhaftig, das sehe ich –«

»Na ja, also! Das wußte ich ja! Bitte schön!«

»Ja, aber–r ist das denn nicht zuviel –«

»Ach nein, durchaus nicht! Bitte schön!«

Mikkelsen legte zärtlich das Plaid über seinen Arm:

»Ja, dann bedanke ich mich tausendmal –«

»Ach, ich bitte! Aber jetzt müssen Sie wohl machen, daß Sie aus dem Wagen herauskommen! Der Zug kann jeden Augenblick abgehen.«

»Meinen Sie?« sagte der Küster ganz entsetzt und stürzte mit seinem Raub auf den Bahnsteig hinaus. Hier klopfte er noch einmal an das Fenster des Abteils:

»Hör–ren Sie bitte einmal!«

Der Oberlehrer lieh das Fenster herab. Knagsted rührte sich nicht; er saß da und schwitzte.

»Hätte ich nicht beinahe das allerwichtigste ver–rgessen, lieben Freunde!« ertönte Herrn Mikkelsens klangvolle Stimme draußen. »Wir–r wer–rden in Kopenhagen ein Linksministerium bekommen, meine Herr–ren, daheim in unserem alten Dänemar–rk!«

»Prost Mahlzeit!« murmelte der Zöllner von seinem Platz aus.

»Was sagen Sie?« rief der Oberlehrer und errötete vor freudiger Überraschung. – »Woher wissen Sie das

»Von meinem Amtsbruder–r der–r mir–r geschrieben hat. Das Volk jubelt, schr–reibt er–r, ein fr–reier, gewaltiger–r Lufthauch str–reicht über–r das Land hin.«

»Ja, das will ich glauben«, nickte der Oberlehrer bewegt. – »Wir haben auch lange unter dem alten toten Schlendrian geseufzt!«

Das Abgangssignal ertönte. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung.

»Ja, ist es nicht schön, wenn das Licht anfängt, sich Bahn zu br–rechen?« (Der Küster trabte neben dem Wagen her.) »Wie schön, daß jetzt die Unter–rdr–rückten r–regier–ren und ihre gebundenen Kr–räfte pr–robier–ren sollen! Die Ober–rklasse hat – lange genug – an den Fleischtöpfen gesessen.« (Er blieb immer weiter zurück.) »Jetzt sind wir–r es, die – Adieu! Adieu! meine Herren!« rief er und schwenkte das Plaid. Plötzlich aber setzte er die Hände an den Mund und schrie aus der vollen Kraft seiner Lungen: »Können Sie mich noch hören? Sollten Hur–ren in Karlsbad sein, so haben Sie wohl die Güte, ein Paar–r kleine Aufzeichnungen für–r mich zu machen.«

Die Bahnlinie beschrieb eine Kurve. Man sah nichts mehr von Herrn Mikkelsen.


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