Gustav Wied
Die Karlsbader Reise der leibhaftigen Bosheit
Gustav Wied

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VI.

In Bodenbach war nur das Handgepäck visitiert worden, infolgedessen entstand nun in dem viel kleineren Zollokal in Karlsbad ein erbitterter Kampf ums Leben und um die Koffer, da Hunderte von Kurgästen herbeiströmten, um das Gepäck nachsehen zu lassen. –

Clausen und Knagsted ließen sich eine Viertelstunde geduldig stoßen, puffen, zerren und treten von allen den rasenden männlichen und weiblichen Walküren, die mit flammenden Augen, ausgestreckten Armen, gekrümmten Fingern, heiseren Schreien und gellenden Notrufen vor dem Tisch des Zollsaales kämpften.

Durch ein Loch in der Decke beobachtet, würde die Sammlung Desperados den Beschauer an die untere Hälfte von Michelangelos »Jüngstem Gericht« erinnert haben.

»Puh!« sagte der Zöllner. »Nein, dies halt' ich, weiß Gott, nicht länger aus! ... Komm, Clausen!«

Und mit geballten Fäusten und schonungslosen Stiefelabsätzen kämpfte er sich und den Freund bis in die Vorhalle durch.

»Puh! Das tut gut! In welches Hotel wollen wir gehen?«

»Jägermeister Krüger empfahl uns ja Hotel National; dort sollen so viele Dänen wohnen ... «

»Nicht um alle Diamanten Golkondas, lieber Clausen! Ich liebe meine Landsleute, weiß Gott, das tue ich, aber man reist doch nicht nach Böhmen, um ins Tivoli zu gehen! – Komm, wir wollen uns mal die Omnibusse da draußen ansehen!«

»Wir müssen uns aber vorsehen, daß wir nicht in ein zu teures Hotel kommen. Knagsted!«

»Ja, natürlich! Im übrigen können wir uns ja aber morgen gleich nach ein paar Zimmern in der Stadt umsehen; das soll das billigste sein ... Sieh, da hält ja ein netter bürgerlicher Omnibus: Hotel Birmingham. Laß uns den versuchen!«

Kaum hatten die beiden Herren ihre Blicke auf den Hotelwagen geworfen, als ein Hausknecht von dort her auf sie zugestürzt kam:

»Hotel Birmingham, Herrschaft bitte?«

»Ja«, nickte der Zöllner. »Aber unser Gepäck soll revidiert werden – sein! Können Sie es vielleicht klarieren?«

»Ja, ja!«

Knagsted zog seinen Gepäckschein und seinen Schlüssel aus der Tasche und gab ihm beides.

»Können wir das denn auch riskieren?« flüsterte Clausen.

»Ja, natürlich! Gib ihm nur die Sachen. Dann kommen wir selbst doch wenigstens mit heiler Haut davon.«

Zögernd händigte Clausen dem Manne Schlüssel und Gepäckschein ein.

»Wenn es nur geht?«

»Natürlich geht es!«

Sie wanderten nun eine Weile auf dem Platz auf und nieder.

Vor der Fassade des Bahnhofsgebäudes hielten lange Reihen von Droschken und Omnibussen. Und jeden Augenblick trennte sich ein Wagen aus der Reihe und rollte davon.

Von einer eigentlichen »Stadt« sah man wirklich nicht viel. Die ganze Aussicht, die man von diesem Platz aus hatte, beschränkte sich auf einen großen, tiefen Kessel voll von Baumkronen, über die hier und da das Dach eines Hauses oder die Spitze eines Kirchturmes aufragte. Und rings am Horizont, in einem Kranz, lagen hohe, bewaldete Berge.

»Bitte, meine Herrschaften, einsteigen.«

Es war der Hoteldiener, der die Koffer schon hatte nachsehen lassen und auf dem Verdeck des Wagens anbrachte.

»Siehst du wohl, daß es ging, lieber Clausen?«

»Ja«, lächelte der Oberlehrer ganz beruhigt.

Außer ihnen war niemand im Wagen. Und die roten Samtpolster sahen ziemlich verschlissen aus und rochen muffig.

»Wenn es nur nicht ein zu schäbiges Hotel ist, Clausen ... «

»Ach, es ist ja nur für eine Nacht.«

»Ja, aber man kann viele Läuse in wenigen Stunden bekommen, mein Lieber.«

»Läuse?«

»Ja, diese Boiturette hier sieht nach allerlei aus ... So, jetzt kommen wir scheinbar in die Stadt.«

Der Wagen rollte von dem asphaltierten Bahnhofswege auf eine gepflasterte Straße mit hohen, vier-, fünfstöckigen Häusern.

»Kaiser-Franz-Joseph-Straße«, las der Oberlehrer an einer Ecke.

Nach einer Weile machte der Wagen abermals eine Biegung und arbeitete sich nun einen steilen ausgefahrenen Weg hinan, wo das Terrain zu beiden Seiten in dem wildesten Chaos aufgewühlter Erde und Steine und Lehm dalag, mit tiefen, wassergefüllten Löchern dazwischen.

Der Wagen schaukelte und stieß in den grundlosen Geleisen. Die Räder ächzten, und die Fensterscheiben klirrten. Und Kutscher und Diener auf dem Bock steckten die Köpfe zusammen und sahen unheimlich aus.

»Es sollten doch wohl nicht ein paar Fichtelgebirgsräuber sein, an die wir geraten sind!« sagte der Zöllner.

»Ach nein! So schlimm wird es wohl nicht sein. Aber es ist gewiß ein Hotel dritter, vierter Klasse, zu dem sie uns fahren. Diese Pferde. Sie können ja kaum ziehen.«

Knagsted sah sich die Tiere an:

»Ja, die sehen allerdings aus, als wären sie bei einem Trödler gekauft«, sagte er. »Aber sieh nur, jetzt scheint das Ärgste überstanden zu sein.«

Der Weg wurde besser und ebener; und sie kamen an einer prächtigen Kirche vorüber mit bunter, bilderverzierter Fassade und vergoldeten umgekehrten Radiesen auf den Türmen.

»Ein Russe!« bemerkte Clausen.

»Ja, ein Russe!« nickte Knagsted. »Je ärmer das ›Volk‹, um so reicher die Priester ... die Römer im dreizehnten – – Nein, sieh doch das Schloß da!«

»Das ist ein Hotel!«

»Ist das ein Hotel?«

»Ja, das kannst du doch sehen; über dem Gartentor steht: Savoy-Westend-Hotel ... Und sieh nur, da oben am Eingang steht ein Araber!«

»Verdammt, daß wir nicht dahinein sollen!« sagte der Zöllner ärgerlich.

»Bester Knagsted, das wäre ja viel zu teuer geworden!«

»Ach, für eine Nacht! Und dann hätten wir weder Läuse noch Wanzen bekommen ... Aber sieh doch, da liegt noch so ein Schloß. Das ist beinahe noch flotter!«

»Ja; ein, zwei, drei, vier, fünf Stockwerke! und mit einem Turm! – Aber mein Gott!«

»Was hast du nur?«

»Da steht ja Hotel Birmingham über dem Tor!«

Der Zöllner rieb sich vergnügt die Hand:

»Weiß Gott, das steht da! – Jetzt halt die Ohren steif, kleiner Obermensch, jetzt geht's los!«

»Wollen wir – wollen wir nicht sagen, daß wir uns geirrt haben?«

»Bist du verrückt? – Halt du bloß die Ohren steif! Tue, als käme dir das Ganze viel zu klein vor! Deine Hosen sind doch zugeknöpft?«

»Ach was!«

Der Omnibus hielt vor dem Portal des Hotels. Ein reich galonierter Portier riß die Wagentür auf, und die Herren stiegen aus.

»Zwei Zimmer!« sagte Knagsted mit dem Anstand eines Rheingrafen.

»Jawohl, meine Herrschaften!«

Auf den Stufen der mit Teppich belegten Marmortreppe standen zwölf Kellner in Frack und weißer Halsbinde und sechs Pikkolos in kurzen Jacken mit Galons in einer Reihe aufgestellt. Die ganze Bande schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich. – Und oben zwischen den Säulen der Vorhalle stand der Wirt. Groß, mager, elegant und soigniert, in langem englischen Diplomatenrock und riesenhohem Kragen und schimmerndem Manschettenhemd mit Diamantnadel.

Als die beiden Freunde an ihm vorüberkamen, legte er eine Hand aufs Herz, verneigte sich tief und sagte: »Küss' die Hand!« Außerdem fügte er noch was hinzu, daß ihm niemals, seit er das Licht der Welt erblickt, eine so formidable Ehre zuteil geworden sei!

»Zwei Zimmer!« sagte Knagsted.

Der Wirt winkte. Acht Kellner und zwei Pikkolos liefen herbei und öffneten zwei Türen. Dann stellten sie sich in einer Reihe auf, zweimal zwei Erwachsene und ein Pikkolo an jede Tür, schlugen die Hacken zusammen und verneigten sich bis zur Erde.

Und Zöllner und Oberlehrer schritten durch die Türen.

Sie wagten nichts anders zu tun.

Weiß mit Gold. Sechs Ellen hoch bis zur Decke. Brüsseler Teppich. Spitzengardinen. Elektrische Kronleuchter. Weißlackiertes Bett; weißlackierter Waschtisch; weißlackierte Stühle und Tische. Marmorkamin. Weiße, mit Ölfarbe gestrichene Wände. Stahlstiche in vergoldeten Rahmen. Doppelte Flügeltüren mit Filz. Sächsisches Porzellan. Kristallflasche und Gläser. Seidene Decken über den Betten ...

 

Als es draußen auf dem Gang ganz still geworden war und das Kellner- und Pikkoloheer dem Anschein nach abgezogen sein mußte, öffnete Oberlehrer Clausen vorsichtig seine Tür ein klein wenig und guckte hinaus.

Sofort kam ein Mädchen aus einer Fensternische gestürzt. Es klang, als wäre sie in Zeitungspapier gekleidet, so raschelte sie von gesteiften Gewändern.

»Wünschen Sie etwas, Herr Doktor?«

»Nein ... nein,« sagte der Oberlehrer und errötete vor Verlegenheit – »ich wollte nur mit meinem Freund sprechen.«

»Ja! Ja!« nickten die gesteiften Gewänder und zeigten auf Tür vierzehn.

Und gleichzeitig stürzte aus einer andern Nische ein Pikkolo, der die Hacken zusammenschlug und die Tür weit aufriß. –

Knagsted stand am Fenster und sah auf die Landschaft hinaus. – Die Aussicht war prächtig: das Hotel lag auf dem höchsten Punkt des sogenannten »Schloßberges«. Und an den Abhängen des Berges lag Villa neben Villa, umgeben von blumengefüllten Gärten und Parks mit beschnittenen Hecken, Bäumen, Statuen. Marmortreppen und Springbrunnen. Die Sonne stand am westlichen Horizont. Am Fuße des Berges sah man die Häuser der Stadt, die Türme und Kirchen aufragen. Hie und da guckten Flüsse hervor und die Ecke einer Brücke. Ein armdicker Springbrunnenstrahl sank und stieg hinter ein paar kuppelförmigen Bäumen. Die vergoldeten Radiese auf der russischen Kirche schimmerten ... Und gleich einem Kranz umgaben die hohen, bewaldeten Berge das ganze Panorama. Nur nach Südosten hin erschloß sich ein Einblick ins Land hinein, mit seinen Kornfeldern, Bauernhöfen und Dörfern. Aber auch diese Aussicht wurde am Horizont von Bergen versperrt, deren wellenförmige Konturen sich zu heben und mit dem Abendnebel zu verschwimmen schienen ... »Hübsch, nicht wahr?« sagte der Zöllner – »hast du eine ebenso schöne Aussicht von deinem Zimmer?«

»Nein, ich sehe nur auf den Weg hinaus.«

»Na ja, ich bin ja auch der Kranke! – Das mit diesem Hotel war doch eine Überraschung, Clausen, wie? Hier ist es, weiß Gott, so fein, daß man kaum wagt, das Porzellan zu benutzen!«

»Ja; kannst du das mit dem abscheulichen Omnibus verstehen?«

»Nein, über so etwas denke ich nie nach! Geh aber jetzt hinein und mach' dich fein, damit wir etwas zu essen bekommen können.«

»Morgen ziehen wir doch um, Knagsted? Dies hier würde doch zu teuer werden.«

»Natürlich ziehen wir um. – – Aber geh jetzt in dein Zimmer und mache dich fertig, du Plaudertasche, ich bin hungrig.«

»Ja, ja – jetzt gehe ich,« sagte der Oberlehrer und trippelte unruhig umher – »aber ich möchte gerne vorher noch etwas mit dir besprechen.«

»Hm – dann nimm gefälligst Platz.«

Clausen ließ sich unwillkürlich auf einen Stuhl sinken. Auch Knagsted setzte sich.

»Ja, sieh, was ich sagen wollte,« begann der Oberlehrer und drehte in seiner Verlegenheit wie wahnsinnig seinen Rockknopf herum – »was ich sagen wollte –«

Der Zöllner zog ruhig sein Taschenmesser aus der Tasche, öffnete es und reichte es Clausen.

»Bitte schön!«

Der Oberlehrer starrte das Instrument ganz verwirrt an:

»Was soll ich damit?«

»Ach, ich dachte nur, es sei leichter für dich, den Knopf abzuschneiden

»Ach was!« sagte Clausen und schlug nach dem Messer, so daß es zur Erde fiel. – »Mit dir kann man auch kein vernünftiges Wort reden.«

»Freilich kann man das! Aber wenn unsere edelsten Absichten mißverstanden werden –! Was wolltest du denn sagen?« (Clausen sah sehr beleidigt aus.) »Na. na, kleiner Obermann, so rede doch, ich bin ganz Ohr.«

»Ja, weißt du, ich wollte so gern – – nein, jetzt ist es mir unmöglich, du machst dich doch nur lustig über mich.«

»Bewahre, bewahre, lieber Freund! Ich verspreche dir, so ernsthaft zu sein wie ein Mitglied des Stadtrates – – Nun?«

»Ja, die Sache ist ja die, Knagsted, daß jetzt, wo wir ein neues Leben hier in diesen schönen Umgebungen anfangen wollen –«

»Ja?« Der Zöllner sah sehr wohlwollend und teilnahmsvoll aus.

»So meine ich – – ich weiß ja nämlich nicht recht – ich halte so große Stücke auf dich, aber – –«

»Clausen –!«

»Ja – ja – ich glaube doch auch, daß du mich gern hast,« fügte der Oberlehrer schleunigst hinzu – »weshalb hättest du mich sonst etwa zu dieser Reise eingeladen, aber – –«

»Aber was? – – Willst du dich etwa mit mir verloben?«

»Nein, sei jetzt ernsthaft, Knagsted!« flehte Clausen. »Ich möchte so gern, daß du mich recht verständest – –«

»Ich soll dich verstehen! Ich kenne dich in- und auswendig!«

»Ja, ja, aber ich – – Du hast kein Vertrauen zu mir!« platzte er dann plötzlich heraus, »und ich möchte dir so gern etwas sein!«

Knagsted lächelte väterlich milde:

»Du bist mir etwas, Clausen: Du bist mein besseres Ich. In dir durchlebe ich meine ganze glückliche Kindheit noch einmal wieder.«

Der Oberlehrer schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Ich möchte so gern, daß du dich glücklich fühltest!« schloß er. »– – So – so wie wir anderen.«

» Kinder sind glücklich und Tiere und Frauen; aber wir Menschen sind es nicht«, sagte der Zöllner mit tiefer Prophetenstimme. – »Nein, nein, nein,« fuhr er fort und legte sanft seine Hand auf das Knie des Freundes – »werde nun nicht gleich wieder böse. Du sollst mich kennenlernen. Ich will ›Vertrauen‹ zu dir haben. Ich will dir mein Herz erschließen! Erschrick aber nicht zu sehr über das, was du zu sehen bekommst. Weißt du nämlich, was der Grundzug in meinem Charakter ist, lieber Clausen? ... Neid, gelber Neid! Ich bin so unbeschreiblich, so rasend neidisch auf dich und die Tiere und die Frauenzimmer. Ihr nehmt nämlich das Ganze als etwas Selbstverständliches hin: Sommer und Winter, Herbst und Frühling und Sonnenschein und Regen und Blumen und Magenschmerzen und Sterne und Krätze und den lieben Gott und den Teufel und die Elektrizität und den Magnetismus – das alles nehmt ihr als das Natürlichste von der Welt hin. Und wenn ihr nicht versteht, so glaubt ihr! ... Deshalb seid ihr glücklich. Und darum bin ich ganz spinatgrün an den Gedärmen entlang vor schierem Neid. Und wahrscheinlich trägt das die Schuld an meinem schlechten Magen.«

»Verstehen–?« sagte der Oberlehrer und zwinkerte verwirrt mit den Augen – »verstehen–? und glauben? Du glaubst doch auch an etwas?«

»Keinen Deut, nein! Aber ich versichere dir, daß ich manch einen Abend vor meinem Sofa daheim in der Villa Rörholm knie und mit ausgestreckten Händen rufe: ›Beck, Beck, bete du da oben, wo du bist, daß mein Gehirn werde, wie das eines dieser Kleinen!‹«

»Mein Gott,« sagte der Oberlehrer spitz, »bist du denn so begabt?«

»Ganz furchtbar! – – Aber geh jetzt hin und mache dich fein, denn jetzt will ich endlich was zu essen haben!«

 

Himmlisches Tal des Heilsegens, Tore der Gesundheit, Wundergeschenk des alle Liebenden! Flechte auch mein bescheidenes Dankesblümchen in den verdienten Ehrenkranz, welcher in alle Weltteile hinaus süß duftet! Himmlische Quelle, auch mich tränktest du mit deinem Rettungstrank in düstern Stunden, und ich verließ dich geheilt und jubelnd im Sonnenschein meiner Seele. Dankbar will ich dir einst einen Tropfen wiederschenken, meine letzte Träne fließt dir ewig, mein liebes Karlsbad!

1806. C. G. Stange.

 

Es ist sechs Uhr morgens.

Von allen Straßen, Gassen und Wegen strömen die Kurgäste den Quellen zu. Der Schlaf sitzt ihnen noch in den Augen, sie gähnen leidenschaftlich und sind blaß vor Verstimmtheit.

Unten in den Mühlbrunnen-Kolonnaden spielt die Musik. Der Musikdirektor Labetzki schwingt morgensteif seinen Elfenbein-Taktstock, und die Herren Musizi sind blau vor Kälte unter den hohen Hüten. Aber sie blasen mit Todesverachtung über die Köpfe der gläubigen Herren und Damen hin, die, den heiligen Wasserkrug in den frommen Händen, dahinwallen.

An dem Kay der Tepl stehen die Blumenverkäuferinnen mit ihren taufeuchten Rosen, Nelken und Kornblumen und sehen freundlich aus und versuchen zu lächeln. Aber das Publikum geht gleichgültig an ihnen vorüber, ganz in Anspruch genommen von dem Gedanken, die vorgeschriebene Zahl Gläser zu leeren und zu Pupp oder nach dem Posthof zu kommen und in der sehnsuchtsvoll erwarteten Morgenmahlzeit zu schwelgen, nach der ihr Magen jammert.

Obwohl es noch früh in der Saison ist, sind doch schon zwischen zehn- und fünfzehntausend Gäste angekommen. In langen, gewundenen Reihen stehen sie vor den gesuchtesten Quellen und warten, bis ihre Krüge gefüllt werden. Aufmerksam, adrett und untereinander zankend, lassen die kleinen, schneidigen Quellenmädchen die Gläser von Hand zu Hand gehen, die leeren nach rechts herunter, die gefüllten nach links hinauf, herunter und hinauf, unaufhaltbar, ununterbrochen, ohne Rast und Ruh wie eine Maschine ... Und langsam, Fuß für Fuß, rücken die Reihen vor. Manch ein älterer Herr, manch eine korpulente Dame geht mit geschlossenen Augen und träumt sich in die verlassenen Kissen zurück.

 

Knagsted und Clausen tranken beziehungsweise Kaiser-Karl-Quelle und Marktbrunnen. –

Am Tage nach ihrer Ankunft im Hotel Birmingham hatten sie sich zwei gemütliche Zimmer in einer der Villen am Südabhang des Schloßberges gesucht. Sie waren die ersten Gäste des Hauses in dieser Saison und wurden daher mit tiefster Ehrfurcht von der Besitzerin und der Dienerschaft empfangen. – Und die Villa trug den Poetischen Namen: Villa Tennyson.

Es war eine furchtbare Tortur für die beiden Freunde gewesen, um fünfeinhalb Uhr des Morgens aufzustehen. Sie schwankten wie betrunken aus ihren Betten und nach der Quelle hinunter; ergrimmt, erbittert und gehässig schielten sie vor sich hin, ohne ein Wort miteinander zu reden. – Nach einigen Tagen war es infolge der Gewohnheit besser geworden. Aber sie hatten doch die Übereinkunft getroffen, einander so weit wie möglich des Morgens zu meiden und sich erst nach der Kurzeit gegen acht Uhr bei Pupps zu treffen, wo sie dann ihr Frühstück gemeinsam verzehren und hinterher einen längeren Spaziergang machen wollten. – Bei dieser Ordnung befanden sie sich wohl. Und wenn sie in Pupps Veranda beim Frühstück saßen, während der Springbrunnen in der Goldfischkumme draußen im Garten plätscherte und die Sonne schien und die netten Kellnerinnen in ihren schwarzen, wollenen Kleidern und weißen, gestickten Schürzen sie lächelnd, fröhlich, höflich und morgenfrisch umschwärmten, so befanden sie sich ausgezeichnet und verbrachten die Zeit damit, zu essen und zu trinken, zu rauchen und geistreiche Bemerkungen über die anderen Kurgäste zu machen, und die Laune war um so besser, als das Kaiser-Karl-Quellwasser wirklich einen günstigen Einfluß auf den verstockten Magen des Zöllners zu gewinnen schien. Dem Oberlehrer fehlte ja nichts. –

Hatten sie aber das Unglück, einander zufällig zu begegnen, ehe sie ihre zwei Gläser getrunken und ihre vorschriftsmäßigen Verdauungspromenaden gegangen waren, so schnitten sie die schrecklichsten Grimassen, sagten »Pfui Kuckuck«, machten schnell kehrt und entflohen, jeder nach seiner Richtung hin.

 

Hinter dem Hotel Pupp mit seinen Cafés und Restaurants liegt ein großes und sehr gesuchtes Etablissement, dem Knagsted diskreterweise den Namen »Zentraldrückerei« oder kurzweg »die Zentrale« gegeben hatte. Es ist wohl das größte seiner Art in Karlsbad, wo dergleichen Anstalten infolge der segensreichen Wirkung des Wassers eine ganz hervorragende und bei den meisten Kurgästen sehr geschätzte Rolle spielen. Im übrigen gibt es ähnliche monumentale Zufluchtsstätten an der Mühlbrunnen-Kolonnade und hinter dem Hauptquellsprudel. Und ringsumher in der ganzen Stadt und Umgegend sind kleinere Filialen errichtet: In den Gärten, in den Parks, an den Abhängen der Berge, auf den schönsten Aussichtspunkten – überall wo Menschen verkehren, haben die verständigen und weitschauenden weisen Männer Karlsbads diese mehr oder weniger eleganten, immer aber zweckmäßigen kleinen Pavillons anbringen lassen.

 

Nach dem Morgenimbiß (Prager Schinken mit Spiegeleiern und Kaffee mit Brot ohne Butter) machten dann die beiden Freunde eine lange Morgenwanderung, von der sie zwischen 11 und 12 Uhr nach der Villa Tennyson zurückkehrten.

Sie liebten beide die Regelmäßigkeit und pilgerten deswegen beständig und unveränderlich denselben Weg: Goetheweg, Posthofpromenade, über die Ploberbrücke (wo sie die Forellen in der Tepl fütterten) nach dem Nikolaus-Dumba-Wege und dann nach Hause auf dem Schönbrunner Stieg, dem Marienbader Weg, Alte Wiese, Marktstraße und Schloßweg ...

Zu Hause im Garten wurden sie dann in der Regel vom Hausknecht Ander in Empfang genommen, der von Natur so höflich war, daß er, wenn er die Hände voll von Teebrettern mit Gläsern, Tellern und Schüsseln hatte, was häufig der Fall war, und infolgedessen den Kopf nicht entblößen und auch nicht entsprechend tief dienern konnte, auf den herben fühllosen Kiesweg niederkniete und sein Antlitz in dem Geschirr vergrub. – – –

Und drinnen im Vestibül stand das Dienstmädchen Millinge Wache und fuhr wie ein sausender Wind die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf, wo die Zimmer der Herren lagen, riß die Türen auf, lächelte wahnsinnig, faltete die Hände und sank in den Staub nieder ...

 

Um zweieinhalb Uhr aßen sie zu Mittag (Prager Schinken mit Spiegeleiern) entweder bei Pupp oder im »Goldenen Schild« auf der neuen Wiese oder in »Stadt Hannover« auf dem allersteilsten Abhang des Schloßberges, wo die Wagen, wenn sie hinabfahren, die Hinterräder bremsen mußten, damit das Fuhrwerk nicht mit den Pferden durchging, und deshalb riesigen apoplektischen Infekten glichen, die ihre toten Hinterkörper über das Steinpflaster schleppten. –

Nach dem Tische machte man abermals einen Spaziergang, diesmal jeder für sich. Dann nach Hause, um zu ruhen, empfangen mit Ehrensaltomortalen von Ander und Millinge. – Um sechseinhalb Uhr Abendessen (Prager Schinken mit Spiegeleiern). – Wieder nach Hause. Gute-Nacht-Kniefall der Dienerschaft. Präzise neun Uhr zu Bett. –

Und am nächsten Tage fing man wieder von vorne an: Um fünfeinhalb Uhr aufgestanden – Brunnentrinken – Morgenwanderung – Forellenfütterung usw. gleich Erdkugeln, die ihre himmlischen Bahnen nach ewigen, unwandelbaren Gesetzen beschreiben!

»Welchen Arzt haben die Herren?«

»Arzt? Wir haben keinen Arzt!«

»Sie haben keinen Arzt?«

»Nein!«

»Dann wünsche ich, daß ihr alle beide Steine im Magen bekommt!«

Diesen christlichen Wunsch sprach der Hofjägermeister Krüger aus. – Er hatte die beiden Freunde vor Pupp getroffen. Und nun saßen sie alle drei in der Veranda und tranken ihren Morgenkaffee.

»Fräulein Ida!« rief der Zöllner.

»Hier!« sagte Ida und kam, über ihr ganzes kleines, hübsches Gesicht lächelnd, herbeigestürzt.

»Butter, bitte! Zweimal Butter, Fräulein ... du willst doch auch Butter haben, Clausen?«

»Ja–a!« nickte Clausen – »dies hier ist ja ein wenig trocken auf die Dauer.«

Der Jägermeister sah wütend bald den einen, bald den andern an.

»Ihr seid, verdammt und verflucht, ein paar nette Käuze,« sagte er dann, »euch ins Bad zu schicken! Zum Arzt geht ihr nicht, und Butter eßt ihr auch?«

»Sie sind neidisch, Herr Jägermeister.«

»Ja, weiß Gott, das bin ich, ha, ha, ha! Hier sitz' ich und quäl' mich mit meinem trockenen Brot ab, während ihr schmälzt!«

Ida stellte zwei glänzende Ballen Butter direkt vor die Nase des Jägermeisters:

»Weg!« sagte er und schlug sie auf die Finger. »Weg damit. Fräulein! Ich kann keine Butter vor Augen sehen! – Und das schönste Mädchen habt ihr natürlich auch gekapert!« fuhr er fort und warf der Kellnerin ein Paar verliebte Augen zu.– »Ja, ihr seid, verdammt und verflucht, ein paar nette Hengstfohlen, die man nicht auf eigne Hand ausschicken sollte!«

Im Café herrschte jetzt ein lebhaftes Treiben. Die Uhr war halb neun, die Kurzeit war zu Ende. Die Kellnerinnen flogen von Tisch zu Tisch und nahmen Befehle in Empfang. An vielen Tischen hieß es nur: »Wie gewöhnlich, Fräulein!« dann wußten die Mädchen gleich Bescheid und brachten das Gewünschte. – Die meisten Gäste waren anfangs verstimmt und unzugänglich, sobald ihnen aber der Kaffee unter der Nase dampfte, wurden sie milder gestimmt.

»Es ist eigentlich großartig,« sagte Jägermeister Krüger, »denn das erste Jahr, als ich hier war, durften wir keinen Kaffee anrühren, es war das reine Gift! Aber dann kam wohl ein Lieferant und schmierte die Ärzte. Und jetzt ist der Kaffee das Beste, was man trinken kann!«

»Da ist die Henne!« flüsterte der Oberlehrer plötzlich.

»Ja, da ist sie, das süße Tier!« sagte der Zöllner.

Es war eine große, korpulente, würdige Dame mit einem winzig kleinen, spitznäsigen Gesicht, dessen kleine, kugelrunde, brauenlose Augen scheu und aufmerksam im Tageslicht blinzelten. Wenn sie sich setzte, umgab das Kleid sie brausend, und sie hielt sich steif und vorsichtig auf dem Stuhl, als habe sie irgend etwas unter den Röcken, um das sie besorgt war, daß es Schaden nehmen könne. Es lag etwas Mütterlich-Prüdes und Gutmütig-törichtes über ihr und dabei etwas Vertrauenerweckendes, Breites, Gemütliches ... Knagsted behauptete, sie habe die Hosen voller Kücken, die sie fortwährend im Gehen ausbrüte.

Ein Stück Kalk hatte sich irgendwo vom Schornstein oder dem Hausfirst losgelöst und rollte rasselnd auf dem Glasdach entlang.

Die »Henne« hielt den Kopf auf die Seite und zwinkerte erschreckt in die Höhe, der Richtung des Geräusches folgend, während sie gleichzeitig beschützend um ihre Röcke griff.

»Sieh doch! sieh doch!« sagte der Zöllner begeistert. »Herr du meines Lebens! Ist sie nicht brillant? Sie glaubte, es sei ein Habicht!«

»Da ist der ›Rasenbesprenger‹!« flüsterte der Oberlehrer von neuem.

Der »Rasenbesprenger«, auch der »Zappelpeter« genannt, war ein kleiner, abgehauener Hüne mit einem kräftigen, graumelierten Vollbart um ein außerordentlich freundliches, vergnügtes und liebenswürdiges Gesicht, er nickte den Kellnerinnen immer freundlich zu und sagte mit ein wenig heiserer, kindlicher Greisenstimme: »Morgen, Fräulein! Wie befinden Sie sich?« – Es war absolut nichts Abnormes an dem Manne zu bemerken, ehe ihm seine Speisen gebracht waren und er angefangen hatte zu essen. Da aber sah man, daß seine Hände und sein Kopf in dem Maße und in so verschiedenem Takt zitterten, daß man wirklich sagen konnte, er habe seine Aufgabe gelöst, wenn er die Speisen schließlich in seinen Mund hineinpraktiziert hatte. Wenn er seinen Prager Schinken zerteilte, war es, als rasselten zwanzig, dreißig Messer und Gabeln ringsumher auf den Tellern. Und biß er von seinem Brot ab, sah man gespannt zu ihm hinüber, ob er sich nicht die Zähne gleich mit ausreißen würde, so hieb er drauf ein. – Nach der Mahlzeit griff er eifrig nach der Kaffeekanne und schwang sie, als wolle er einen Toast ausbringen oder sie einem der Gegenübersitzenden an den Kopf werfen. Und war es ihm endlich gelungen, die Flüssigkeit einzuschenken und mit Sahne und Zucker zu vermischen, so legte er beide Hände um die Tasse, starrte sie an, als ziele er und wartete dann eine verhältnismäßige Meeresstille ab, ehe er sie an den Mund schwenkte.

Man darf jedoch keineswegs glauben, daß diese doch sicher zuzeiten recht genierende Beweglichkeit ihm irgendwie peinlich war oder ihn betrübte. Im Gegenteil, sie schien ihn zu belustigen. Er gluckste förmlich vor Wonne, wenn es so recht verkehrt ging. Und er kokettierte sogar mit seinem Zustand. Das sah man am besten, wenn er nach dem Kaffee seine Zigarre anzünden wollte; denn dann blitzten seine Augen von fröhlicher Schelmerei, während das Streichholz wie ein Irrlicht in einem Meer sein bartbewachsenes Gesicht umtanzte, ehe es infolge einer Art Überrumpelung ihm und der Zigarre gelang, sich zu begegnen.

Aber er war auch ehrgeizig und besorgt in bezug auf seine Würde als selbständiges Wesen. Eines Tages kam er nämlich in Begleitung eines jüngeren, normalen Herrn ins Café, der kraft der größeren Macht, die er über seine Gliedmaßen besaß, dem andern hin und wieder eine liebenswürdige Handreichung zukommen lassen wollte. Keine Rede davon! Der Alte schlug ihn ärgerlich auf die Finger. Er wollte allein! – Und als der Junge nach dem Kaffee zuvorkommend ein Streichholz anzündete und es ihm hinhielt, ließ der Alte seine Zigarre die kompliziertesten mathematischen Figuren beschreiben und endete damit, daß er ihm das Streichholz mit einem wütenden: »Es geht ja aber nicht!« entriß und seine Zigarre selber anzündete. –

Den Namen »Rasenbesprenger« hatte ihm Knagsted gegeben:

»Ich möchte ihn schrecklich gern einmal sein Wasser lassen sehen, Clausen«, hatte er gesagt. – »Vorher müßte ich mir ja aber natürlich erst einen Regenschirm kaufen.«

 

Tag für Tag strömten die Gäste herbei. Der Kurliste nach befanden sich jetzt fünfundzwanzigtausend fremde Seelen in der Stadt. – Des Morgens auf der Promenade konnte man sich kaum hindurchdrängen. Und die Jungen aller Erdenreiche brausten einem um die Ohren. – Konzerte, Bälle, Gartentombolas, Konfettifeste, Wettrennen, Theater- und Varietévorstellungen gingen Hand in Hand: Die armen kranken Gäste mußten ja zerstreut werden. – Hier jammerte die »Kurkapelle«, dort heulte die »Pleiersche Konzert-Kapelle«, und überall blies die »kaiserlich-königliche Militärkapelle«. Es fehlten nur ein Paar Bärentreiber, Seiltänzer, Waffelbuden und Feuerfresser, um das Ganze in ein großes Jahrmarktstreiben zu verwandeln.

Aber präzise neun Uhr hörte jeglicher Tingeltangel auf, und man bestieg sein keusches Lager mit dem Bewußtsein, einfach jeder Richtung hin »kurgemäßes« Leben zu führen.

 

Knagsted und Clausen waren noch immer außerordentlich zufrieden mit ihrem Logis in der Villa Tennyson. Freilich waren jetzt mehrere von den Zimmern des Hauses vermietet, teils aber wurden sie von stillen und friedlichen Leuten bewohnt, von denen man weder etwas sah noch hörte, und teils hatte nur das Erdgeschoß Liebhaber gefunden. Im ersten Stockwerk waren die beiden Freunde noch immer Alleinherrscher. – Das Zimmer des Oberlehrers lag nach Süden mit Aussicht über Stadt und Land und die fernen Berge. Der Zöllner dahingegen hatte ein nach Norden gelegenes Zimmer gewählt, nach dem Schloßweg hinaus, wo die Aussicht in der Entfernung von ein Paar hundert Ellen von dem waldbedeckten Berg verschlossen wurde und wohin die Sonne niemals kam. Er fand nämlich, daß dies auf die Dauer weit mehr mit seiner ernsten und düsteren Lebensanschauung übereinstimmte, als die banale Augenlust aus dem Fenster seines lackierten Salons im Hotel Birmingham. –

Überhaupt bekam ihm der Aufenthalt in Karlsbad außerordentlich gut; das Wasser hatte die köstlichste Wirkung auf seinen Magen, und die regelmäßige Lebensweise und das viele Wandern in der leichten und frischen Bergluft bewirkten, daß er fast augenblicklich einschlief, wenn er des Abends ins Bett kam, und fast immer schlief er ununterbrochen durch, bis die kleine Weckuhr, die er auf dem Nachttisch stehen hatte, ihn zwanzig Minuten nach fünf wachklingelte. Seit den ersten Nächten hatte er nicht zur Spieluhr zu greifen brauchen.

Doch mit des Geschickes Mächten – – –

 

An einem wunderschönen sonnigen Nachmittag zwischen vier und fünf Uhr lag er in seinem offenen Fenster und lauschte einem Papagei, der sich im Nachbargarten produzierte. Jeden Tag um zwölf Uhr morgens wurde der Papagei in den Garten hinausgetragen und schloß dann seinen energischen Schnabel nicht wieder, bis er gegen sieben Uhr ins Haus zurückgetragen wurde. Das Tier selber konnte man nicht sehen, da der Bauer auf einem Tisch hinter einer blühenden Rosenhecke angebracht war. Dafür konnte man es aber hören. Sein Maulwerk, mit Erlaubnis zu sagen, stand keine Sekunde still. Das Ungetüm repräsentierte die ganze Familie. Es weinte und lachte, hustete, spie, räusperte sich, schimpfte, sang und pfiff. Das Lachen und Weinen klang wie das eines vierjährigen Kindes. Der Vogel konnte lachen, so daß es gluckste, und so bitterlich weinen, daß das Herz einer Mutter abwechselnd lächeln und bluten mußte. Aber mitten in die Trauer oder Freude hinein konnte er dann anfangen zu husten, zu spucken und zu schnauben wie eine alte, brustschwache Dame. Es war offenbar die Großmutter des Hauses, die er dann kopierte. Dann begann er plötzlich in einem kreischenden Ton eine Person namens Lieschen auszuschelten. Das war die Hausfrau, die Justiz übte. Worauf er in ein schallendes Gelächter überging und mit tiefer Männerstimme (die des Hausherrn?) »Ach du lieber Au ... « sang. Weiter kam er nicht mit dem Liede. Aber es wurde mit Bravour herausgeschmettert. – Und dann endete die ganze Vorstellung ausnahmslos damit, daß er in einem energischen und unabweisbaren Tone sagte: »Du sollst Zucker haben, Papagei!« welches gerichtliche Urteil er unausgesetzt in einem immer erregteren Tone wiederholte, bis er, ganz wütend darüber, daß er nicht erhört wurde, sein Papagei–i– i–i–i so lang und gellend in die Luft hinausschmetterte, daß alle die kleinen Vögel im Garten entsetzt in die Berge hinauf flüchteten. – Und dann fing das Ungetüm sein Repertoire von vorne wieder an mit dem Weinen des Babys, dem Hustenanfall der Großmutter, der Strafrede der Hausfrau und dem »Ach du lieber ... « des Hausherrn, bis es von neuem mit seinem: Du sollst Zucker haben. Papagei–i–i endete.

Als Knagsted sechs von diesen Dakapos genossen hatte, schloß er übersättigt das Fenster. –

Im selben Augenblick aber sah er drei Droschken vom Schloßberge her einbiegen und auf die Villa zufahren. – (In der vorderen Droschke saß eine ungeheuer starke, ältere Dame, schwarz gekleidet, mit blaurotem, gepudertem Gesicht und drei mächtigen Doppelkinnen. Sie rührte sich nicht, denn sie konnte sich nicht rühren, saß nur steif und stramm auf dem Sitz und fächelte sich mit einem sehr großen, schwarzen, perlenbesetzten Federfächer. Neben ihr verschwand beinahe in ihrem Schatten eine kleine grau gekleidete, barhäuptige Frau. – Die beiden andern Droschken waren vollgepfropft mit Koffein, Kasten, Schachteln und Unbestimmbarem. Und auf dem Bock neben jedem Kutscher sah ein hünenhaftes männliches Wesen in Zivil.

Der Hausknecht Ander kam aus der Villa auf den vordersten Wagen zugestürzt, und die Jungfer Millinge stand, auf und nieder kniksend, auf der steinernen Treppe, als werde sie von einem inneren Mechanismus getrieben.

Knagsted öffnete von neuem das Fenster. Die Herrschaft da unten war eine russische Gräfin Sonja Wolokoisky, die eben mit dem Zuge angelangt war und nun Logis für sich und ihre Dienerschaft suchte.

Es entstand eine mächtige Bewegung in der Villa. Die kleine barhäuptige Frau und die beiden Hünenhaften kamen mit der Wirtin des Hauses, gefolgt von Ander und Millinge, in das erste Stockwerk hinauf, um die dort befindlichen leeren Zimmer zu besichtigen.

Währenddes saß die Gräfin unten im Wagen und fächelte sich. Sie wollte sich nicht hinaufbemühen, bis alles abgemacht war.

In dem Zimmer neben Knagsteds Zimmer wurde ein Fenster geöffnet, und nun begann ein lautes Parlamentieren zwischen der Gesellschafterin und der Herrschaft. Sie sprachen russisch und gestikulierten gewaltig. Die benachbarten Villen hallten wider von ihrer Unterhaltung, und selbst der Papagei verstummte.

Aber das Ende der Verhandlungen war, daß die beiden Zimmer gemietet wurden.

Dann suchte man einen Tragsessel aus den Droschken heraus; die beiden Hünenhaften zerrten die Gnädige aus dem Wagen und trugen sie in die Wohnung hinauf. Sie wurde in einem Bett untergebracht, das an der Flügeltür stand, die zu Knagsteds Asyl führte. Sie kommandierte und schalt, und die von Ander und Millinge unterstützte Dienerschaft fuhr die Treppe auf und nieder mit dem Gepäck.

Die kleine Barhäuptige sollte mit der Gräfin zusammen in dem einen Zimmer wohnen. In dem andern Zimmer sollte das Gepäck untergebracht werden. Es gelang aber weder Knagsted noch Clausen jemals, ausfindig zu machen, wo die beiden hünenhaften Diener einquartiert wurden.

Dann wurden die Droschken bezahlt, und alles wurde verhältnismäßig ruhig. – Ander und Millinge begaben sich krumm vor Ehrfurcht an ihr Tagewerk, und der Papagei wagte sich mit ein paar Nummern seines Repertoirs hervor. Er weinte bitterlich und sang dazu: »Ach du lieber Au ... «

 

Und mit dem Frieden in der Villa Tennyson war es wirklich auch vorbei. Nicht daß Madame Sonja geschrien und gelärmt hatte. Hätte sie das nur getan, dann hätte Knagsted doch mit Fug und Recht einschreiten und einen vielleicht erfolgreichen Protest erheben können. Nein, sie war nur so übernatürlich fett. Wenn sie nebenan im Bett nur ein Bein bewegte, krachten und ächzten Matratzen und Holzwerk, als werde Tennis mit einer Tonne Weizen gespielt. So schwer war sie, daß, wenn der Boden der Bettstelle eingebrochen wäre, sie zweifelsohne bei dem Fall gleich durch die Decke des Zimmers und in das Erdgeschoß hinuntergeplumpst sein würde, vielleicht gar noch in den Keller hinab. Und so mit überflüssigem Fleisch besetzt war sie, daß sie nicht imstande war, die Beine anzusetzen, geschweige denn zu gehen. Hätte man sie geschlachtet, zerlegt und feilgeboten, würde sie mit Leichtigkeit Sonntagsbraten für ein größeres Dorf geliefert haben. – Sie lag beständig im Bett, aß und trank, spielte Bezique und brauchte die Karlsbader Kur pp. Das schlimmste aber war doch, daß sie auch massiert wurde. Und zwar genau in der Stunde zwischen dem Frühstück und dem Mittagessen, die Knagsted auf seinem Sofa mit seiner Pfeife zuzubringen pflegte. Einen Tag und den zweiten Tag hielt er das Klatschen aus. Am dritten aber entfloh er: Ihm wurde schlimm und Übel. Sobald er die Stimme der Masseuse draußen auf dem Gang vernahm, floh er zu Clausen hinüber, dessen Zimmer dem seinen gegenüber, in entgegengesetzter Richtung von dem Orte der Tat lag.

»Es ist auch wirklich dumm. Knagsted, daß da, wo du wohnst, immer so etwas sein muß. Aber ich habe dir doch gesagt, du solltest lieber dies Zimmer nehmen, lieber Freund – du weißt, ich bin nicht so empfindlich gegen Geräusche.«

Der Zöllner lachte bitter:

»Ja!« sagte er. »ja, dann hätte die Wolokoisky ganz einfach das Zimmer hier nebenan zum Klatscherheim ausersehen.«

»Meinst du wirklich?«

»Natürlich! Ich kenne die ewigen Götter! – Hör' doch nur! Man kann es, weiß Gott, bis hierher hören!«

Der Oberlehrer lauschte:

»Ja, wahrhaftig!«

»Ach, hier ist es gar nichts! Geh nur mal nach meinem Zimmer hinüber.«

»Findest du, daß ich das tun sollte?«

»Natürlich, so etwas erlebt man nur einmal im Leben.«

Clausen schlich über den Gang hinüber und kam nach einigen Minuten ganz blaß zurück.

»Nun, was sagst du?«

»Ja, das ist allerdings fürchterlich!«

»Ja, nicht wahr? Man wird förmlich seekrank. Es klingt, als würden drei, vier große Seehunde gegeneinander geworfen.«

»Justizrat Stabelsteen! – Zollkontrolleur a. D. Knagsted! Oberlehrer Clausen!«

»Ebenfalls a. D.«

»Ebenfalls a. D., ach ja!«

Jägermeister Krüger machte die Herren in einer frühen Morgenstunde draußen im Garten des Etablissements ›Freundschaftssaal‹ miteinander bekannt.

Die Sonne schien durch das Laub der Kastanien, herab. Die Rosen dufteten. Die Vögel sangen. Und das Publikum plauderte.

Ein Dutzend junger Krähen (mit diesem Gattungsnamen hatte Knagsted alle die kleinen, schwarzbekleideten, weißbeschürzten Kellnerinnen getauft) standen mitten im Sonnenschein und spähten nach Gästen aus, die in Scharen durch den Garten gezogen kamen. Jede Krähe hatte ihre bestimmten Kunden zu bedienen, und wenn sie sie in der Menge entdeckte, lächelte sie über das ganze Gesicht und nickte: »Morgen, Herrschaft!« und flog davon, um sie zu bedienen.

»Hier ist es herrlich!« nickte Justizrat Stabelsteen und faltete seelenvergnügt die kleinen Hände über dem Elfenbein-Stockgriff.

»Herrlich!« wiederholte Oberlehrer Clausen.

Der Justizrat war ein winzig kleines, steifes Männchen mit dem weichsten schneeweißen Haar und dito Backenbart, beides wuchs so dicht und üppig, als wären es Watteschichten, die auf ihm festgeleimt waren. – Er war ungeheuer sanft und freundlich von Gesicht und dabei außerordentlich höflich und bescheiden in seinem Auftreten. Aber sehr klein und mager. Ungefähr wie ein Schuljunge in den Schlingeljahren. Sein Kopf saß eingeklemmt zwischen einem hohen ›Vatermörder‹, und wenn er ihn umdrehen wollte, mußte er die ganze Person umdrehen. Aber reizend war er in seiner Kleinheit. Man bekam Lust, ihn auf den Schoß zu nehmen und mit Zuckerstangen zu füttern.

Er war siebenundsechzig Jahre alt und Apotheker in Nakskov gewesen. Jetzt lebte er selbigen Orts von seinen Zinsen. – Seine Frau war vor drei bis vier Jahren gestorben. Was, wie man sagte, ihn sehr belebt haben sollte. »Ja, hier ist es herrlich!« sagte der Oberlehrer noch einmal.

»Großartig!« bestätigte der Jägermeister und nickte seiner Privatkrähe zu, die die ganze Zeit den Tisch umschwärmt hatte. »Ja, die beiden Herren a. D. haben es natürlich nicht länger als bis zu Pupp aushalten können.«

»Nein,« sagte Knagsted, »und in Zukunft beabsichtigen wir, das erste Frühstück im ›Elefanten‹ einzunehmen, das ist noch näher.«

»Ja, ihr seid ein paar nette Kurgäste! – Denken Sie sich nur, Stabelsteen, die beiden Kavaliere sind nicht einmal zum Arzt gegangen!«

» Nicht zum Arzt gewesen!« sagte der Justizrat und drehte sich steif wie eine Wetterfahne auf dem Stuhl herum.

»Nein! Und Butter essen sie auch!«

» Butter, das widerspricht doch den elementarsten Kurregeln!«

»Ja, nicht wahr? Ich will Ihnen wünschen, daß Sie so viele Steine im Magen bekommen, daß Sie Übergewicht bezahlen müssen, wenn Sie nach Hause reisen!«

»Sagen Sie mal, Herr Jägermeister,« fragte Knagsted mit einem kleinen listigen Lächeln in den Augenwinkeln, »haben Sie wohl den wunderschönen Kapaun gesehen, der am Mittag im ›Goldenen Schild‹ auf dem Büfett stand?«

Clausen lächelte leise.

»Ob ich den gesehen habe!« entgegnete der Jägermeister. »Das Wasser lief mir, verdammt und verflucht, im Wunde zusammen!«

»Davon bekamen der Oberlehrer und ich jeder eine tüchtige Portion zu Tische.«

Der Jägermeister wurde dunkelrot bis unter das mit der Maschine geschnittene Haar:

»Das ist nicht wahr!« platzte er heraus und schlug mit der Hand auf den Tisch, so daß die junge Krähe, die gerade beschäftigt war, den Kaffee hinzustellen, entsetzt das Teebrett zurückzog. »Das ist nicht wahr! Das konnten Sie doch nicht übers Herz bringen! Wie, Herr Oberlehrer – – schon allein meinetwegen!«

»Ja.« nickte Clausen – »wir aßen wirklich –«

»Daß der liebe Gott euch nicht auf der Stelle totschlug! Daß er so etwas zugeben kann! Und ich hatte mich schon so gefreut, daß der Wirt damit sitzenbleiben würde. Leuten, die auf Wasser und Brot gesetzt sind, so ein prächtiges Tier vor die Nase zu stellen! Und dann geht ihr beiden Freßsäcke mir nichts dir nichts hin und helft dem Schwein, den Vogel zu vertilgen! – – Haben viele davon bekommen? War er gut?«

»Großartig!« nickte der Zöllner und schnalzte – »Er schmolz nur so auf der Zunge!«

Der Jägermeister sank vernichtet zusammen:

»Schweigen Sie!« stöhnte er – »Schweigen Sie!

Ich kann es nicht vertragen, davon zu hören!« – Dann richtete er sich wieder in seiner ganzen Größe auf. – »Aber wartet nur,« drohte er, »bis ich mit der Kur fertig bin, dann sollt ihr was erleben! Ich reise über Hamburg nach Hause. Ja, das tue ich! Und dann könnt ihr Gift darauf nehmen, daß ich mir ein Diner bei Pforte bestelle, von dem man bis über die Landesgrenze hinaus reden soll! – –« Und abermals sank er zusammen. – »Ach, mein Gott, daß ihr beiden Protzen von dem Kapaun bekommen habt! Ich habe drei Nächte hintereinander davon geträumt ... Ich träumte, er läge auf dem Stuhl vor meinem Bett, braun und zart und knusprig ... Aber ich konnte nicht herankommen ... ich konnte mich nicht aufrichten ... Und dann geht ihr ganz ruhig hin und laßt euch davon zu Tische geben ... Wenn ihr doch nichts davon bekommen hättet, würde es für mich zu ertragen sein! – –«

Knagsted und Clausen brachen in ein lautes Gelächter aus über die Verzweiflung des Mannes. – Aber der winzig kleine Justizrat schüttelte seinen Wattekopf ernsthaft.

»Lieber Herr Jägermeister.« sagte er, »Sie nehmen sich die Sache zu sehr zu Herzen.«

»Ja, Sie!« schrie der Jägermeister und sprang auf – »Sie ahnen ja gar nicht, was es heißt, mit hungrigem Magen umherzulaufen! So ein – Zwerg wie Sie! Sie brauchen ja nicht einmal ordentliches Essen. Sie haben ja nichts, wo Sie es lassen können!«

»Ach ja,« sagte er äußerst bescheiden – »einen kleinen Magen hab' ich ja doch auch –«

»Das glaub' ich nicht! Wo sollte der wohl sitzen? ... Wollen wir uns jeder eine Portion Butter zum Kaffee geben lassen?«

»Unter keiner Bedingung!«

»Nein, da sehen Sie – – Und wenn ich mir nun privatim eine Portion Butter geben ließe, würden Sie das ausplaudern, wenn wir wieder nach Nakskov kommen?«

»Unbedingt!« sagte der Justizrat und lachte mit seinem kleinen hölzernen Gesicht – »denn entweder gebraucht man eine Kur, oder man gebraucht sie nicht. Ich würde Sie absolut verklatschen, sobald ich das erstemal die Ehre hätte, Ihre Frau Gemahlin zu sehen! Ich habe eine gewisse Verantw – –« Hier hielt er plötzlich mitten in der Rede inne, und während seine Augen förmlich strahlten, streckte er seine mageren, stockähnlichen Finger nach der rechten Schulter des Zöllners aus und sagte: »Nein, sehen Sie doch nur, was für eine wunderschöne Spinne da kriecht!«

Knagstedt knipste mit einer schnellen Bewegung das Tier weg.

Der Wattenmann sprang vom Stuhl auf.

»Aber mein lieber Herr Zollkontrolleur!« sagte er vorwurfsvoll und zog eiligst eine Schwefelholzschachtel aus der Hosentasche, fing die Spinne, die im Kies davonlief, und setzte sie in die Schachtel.

»Aber was wollen Sie nur mit dem abscheulichen Tier?« fragte Clausen mit einem gelinden Schauder.

Der Jägermeister bearbeitete warnend die Beine des Oberlehrers unter dem Tisch, als wollte er sagen: »Sprechen Sie um Gottes willen doch nicht davon!«

»Ich studiere diese Tiere«, sagte der Justizrat ruhig und steckte die Schwefelholzschachtel wieder in die Tasche. »Und dies war gerade ein sehr schönes Exemplar.«

»So, jetzt haben wir den Salat!« murmelte der Jägermeister.

Der Wattenmann drehte langsam sein Gesicht zu ihm herum: »Ja, ich weiß ja recht gut, daß es Sie nicht interessiert« – sagte er still und bescheiden.

»Nein!«

»Nein, Sie haben keinen Sinn für dergleichen.«

»Auch nicht die Spur!«

»Sie halten es wie die meisten in Nakskov für eine fixe Idee.«

»Eine ganz verrückte Idee, ja! Das hab' ich Ihnen schon sooft gesagt.«

»Das haben Sie allerdings getan.«

Es huschte ein so schmerzlicher Zug über das Gesicht des kleinen Mannes, daß der Sentimentaliker Knagsted Mitleid mit ihm bekam. Und eine Hand auf seine steife Schulter legend, sagte er:

»Was ist denn das mit den Spinnen, Herr Stabelsteen? Ich interessiere mich sehr für wissenschaftliche Untersuchungen.«

Der Justizrat sah scheu zu dem Jägermeister auf:

»Ich tue es so ungern«, sagte er.

Aber nun gewann auch in des Jägermeisters weicher Seele die Gutmütigkeit die Oberhand. Er nickte dem Wattenmann freundlich zu:

»Erzählen Sie nur frisch von der Leber weg, Stabelsteen.« sagte er, »wenn es die andern amüsiert! Ich kann mir ja inzwischen die kleinen Mädchen hier rundherum ein wenig ansehen.«

Der Justizrat errötete freudig:

»Ja, dies ist ja nämlich meine Lebenssache«, sagte er. »Ob Herr Oberlehrer Clausen aber auch davon hören mag?«

»Ja, ja«, nickte Clausen. »Mit dem größten Vergnügen werde ich Ihnen zuhören. Herr Justizrat!«

Der kleine Mann sah noch vergnügter aus.

»Ja. sehen Sie, meine Herren,« begann er darauf, »man hat meiner Meinung nach den Spinnen lange unrecht getan. Man behandelt dies Tier nicht nach Verdienst, viele Menschen scheuen es sogar. Aber die Spinnen müssen, bei Lichte besehen, zu der Klasse unserer Haustiere gerechnet werden. Das ist meine Idee! Die Spinne ist nämlich in hohem Maße ein Nutztier

»So–o?« sagte Knagsted, und Clausen machte einen langen Hals, um besser zu hören, während der Jägermeister schalkhaft mit den Augen blinzelte, als wollte er sagen: »Jetzt ist er in seinem Element!«

»Ja.« nickte das kleine Watten- und Holzmännchen als Antwort auf das Fragezeichen des Zöllners – »ich habe mich ja mehrere Jahre eingehend mit dieser Sache beschäftigt. Ich habe mit mehreren Kapazitäten des In- und Auslandes darüber korrespondiert und sehr entgegenkommende Antworten erhalten. – Nur das liebe Nakskov«, schloß er mit einem feinironischen Lächeln und einem kleinen Blick zu dem Jägermeister hinüber, »zuckt noch die Achseln über mich.«

»Das dürfen Sie sich nicht zu Herzen nehmen«, warf der Zöllner ein.

»Nein, das tue ich auch nicht. Als Gelehrter muß man ja auf Neid und Widerstand gefaßt sein, namentlich, wenn man mit etwas Neuem kommt ... doch vielleicht«, fügte er bescheiden hinzu, »ist es zu anmaßend von mir selber, mich einen Gelehrten zu nennen; Amateur wäre wohl richtiger.«

»Es ist ja einerlei, wie man es nennt,« meinte Knagsted, »das Verdienst bleibt ja dasselbe – – und die Ehre

»Ja, nicht wahr, Herr Zollkontrolleur?« lächelte der Justizrat dankbar. – »Es kommt ja nur darauf an, ob man sich seiner Sache mit ganzer Seele hingibt!«

»Ja natürlich! – – Aber zu welchem Resultat sind Sie dann mit Ihren Studien dieser Ihrer Ansicht nach verkannten kleinen Tiere gelangt?«

»Ich bin zu dem Resultat gelangt, Herr Knagsted, daß ebenso wie man in fast allen Häusern – namentlich auf dem Lande – seine Katzen und Hunde hält, die ihr Tagwerk zu verrichten haben – – Mäuse und Ratten, Iltis und Marder, Füchse usw. auszurotten, so sollte man es auch – – dies ist meine Idee, und dies ist das, wofür ich augenblicklich eintrete! – ebenso sollte man auch in jedem wohlgeordneten Hause, namentlich auf dem Lande, wo die Plage am empfindlichsten ist, Spinnen halten – natürlich in größerer oder geringerer Anzahl, je nach Bedarf.«

Es entstand eine kleine Pause nach dieser Äußerung – – Knagsted und Clausen senkten die Augen, um einander nicht anzusehen. Und der Jägermeister machte ganz kehrt, aber seine Wangen, die man infolge ihrer Dimensionen auch von hinten sehen konnte, waren blaurot.

Der kleine Justizrat sah sich hilflos um, sein Blick war unsicher, als drohe ihm eine nahe Gefahr, und seine kleinen, mageren Hände lagen hilflos in seinem Schoß gefaltet ...

Da aber sagte Knagsted in ruhigem, völlig sachlichem Ton:

»Je nach Bedarf, sagen Sie, Herr Justizrat – – Was wollen Sie damit sagen?«

Der Justizrat lächelte erleichtert:

»Ich will damit sagen, Herr Knagsted,« erklärte er, »daß die größeren oder kleineren Hausstände natürlich eine größere oder kleinere Anzahl Tiere anschaffen müssen, je nach dem Kubikinhalt der Speisekammern.«

»Der Speisekammern!« wiederholte der Oberlehrer in höchstem Entsetzen. »Wollen Sie die Spinnen in den Speisekammern haben?«

Und der Jägermeister ließ ein Prusten ertönen, das einem vorweltlichen Pflanzenfresser alle Ehre gemacht hätte.

»Ja,« lächelte der Justizrat schwach, und seine kleinen Augen nahmen einen melancholischen Ausdruck an – »ich habe es mir gleich gedacht, immer bei diesem Punkt stoße ich auf Widerspruch – – Und dann fürchte ich auch, daß ich die Herren ermüde«, fügte er beinahe demütig hinzu.

»Keineswegs«, entgegnete Knagsted. »Im Gegenteil, es interessiert uns außerordentlich! – Aber was sollen denn diese Tiere in der Speisekammer?«

»Mein lieber Herr Zollkontrolle«ur, das ist doch ganz einleuchtend, scheint es mir! – – Natürlich Fliegen fressen!«

»Ah! Vorzüglich! Ausgezeichnet!«

Jetzt machte der Jägermeister kehrt; er sah ganz aufgeregt aus.

»Ja, aber verdammt und verflucht! Er bringt die Frauenzimmer nie im Leben dazu, sie da aufzunehmen!« sagte er.– »Meine Frau zum Beispiel springt himmelhoch vor Angst, wenn sie nur von einer Spinne hört!«

Der Justizrat lächelte überlegen:

»Das schöne Geschlecht wird es lernen,« sagte er, »wenn man es nur nach und nach daran gewöhnt.«

»Nie im Leben!«

»Ach, wenn man ihnen nur auseinandersetzt, daß es hier eine wichtige Frage für die Menschheit zu lösen gilt!«

»Sie werden darauf pfeifen und Reißaus nehmen!«

»Lassen wir das vorläufig auf sich beruhen«, meinte Knagsted. – »Das ist eine untergeordnete Frage. Wenn wir Männer Spinnen in der Speisekammer haben wollen, sind wir doch wohl Manns genug, die Sache durchzudrücken!«

»Man hört es Ihnen an, Verehrtester, daß Sie unverheiratet sind. Und wenn Sie ihr mit Kanonen zu Leibe gingen, brächten Sie meine Mathilde nicht dazu, so ein Tier auch nur mit einer Feuerzange anzufassen!«

»Ei ja!« nickte der Justizrat zuversichtlich. – »Wenn Ihre liebe Frau nur erst von andern von den Erfolgen gehört hätte ... denken Sie doch nur, von Fliegen befreit zu sein!«

»Und wenn auch Seine Majestät König Christian der Neunte die Tiere in seiner Privathofspeisekammer einführte – sie täte es doch nicht

»Aber sagen Sie mir doch. Herr Stabelsteen,« fragte Knagsted. »welche Art von Spinnen haben Sie denn in erster Linie im Auge?«

»Die Kreuzspinne,« nickte der Wattenmann, »es war eine Kreuzspinne, die ich vorhin fing, ein ganz hervorragendes Exemplar! – Ich habe seit mehreren Jahren Versuche mit verschiedenen Arten angestellt. Die Kreuzspinne kann ihre vierzig Fliegen in der Stunde verzehren.«

»Den ganzen Tag entlang?«

»Nein, natürlich wird sie fett, so wie jedes andere Geschöpf, das seine Freßlust ungehindert befriedigen kann ... Aber deswegen muß man auch in einer Speisekammer von etwa Mittelgröße mindestens zehn, fünfzehn ausgewachsene Exemplare haben.«

»Zehn, fünfzehn Stück«, sagte Clausen schaudernd.

»Mathilde würde den Tod davon nehmen«, sagte der Jägermeister.

»Aber woher wollen Sie die erforderlichen Tiere nehmen, Herr Justizrat?« fragte Knagsted.

»Aus den Gestüten!«

»Aus den Gestü ...?«

»Ja«, nickte der Justizrat eifrig, und eine leichte Röte färbte seine kleinen Wangen bis unter die Wattenschichten. (Die verschwimmenden Farben erinnerten ein wenig an das sogenannte »Alpenglühen«.) » Das ist meine Idee! Ich habe zu Hause eine Broschüre liegen, die ich über diese Sache ausgearbeitet habe.« (Er wurde immer eifriger.) »Denn es ist meine vollste Überzeugung, daß hier eine wirklich humane Aufgabe liegt. Denken Sie doch nur, wie sehr wir alle unter den Fliegen leiden! Und nicht in der Speisekammer allein, sondern überall, wo Menschen leben. Wie ungleich angenehmer würde nicht der Sommer, die schönste Zeit des Jahres, für uns sein, wenn diese Plage, ich darf nicht sagen aufhörte, aber doch verringert würde. Der Staat müßte ringsumher im Lande Brutstätten errichten. Ich habe an verschiedene angesehene Gelehrte darüber geschrieben. Und ich habe meine Broschüre an König Georg von Griechenland geschickt; Seine Majestät besitzt ja ein Palais und ein Landgut hier in Dänemark. Und ich nähre die beste Hoffnung, daß man sich entgegenkommend stellen wird; ich habe es unter der Hand erfahren. Die Bewegung verbreitet sich bereits. Nakskov ist wahrscheinlich der einzige Ort, wo man noch lächelt. Aber es wird auch zur Einsicht gelangen ... Und dann triumphiere ich, Herr Jägermeister! – – Aber nun muß ich auf die Expedition. Adieu, meine Herren, auf Wiedersehen! Ich will Sie nicht länger ermüden!«

Und mit einer kleinen steifen Abschiedsverbeugung durchschritt der Justizrat mit der Haltung eines Meilenzeigers den Garten, wo die Rosen dufteten und die Vögel sangen.

 

Nach einer längeren Pause sagte der Jägermeister:

»Man kann es Stabelsteen wirklich nicht ansehen!« Und Oberlehrer Clausen schüttelte traurig den Kopf und sagte:

»Der Ärmste!«

»Der Ärmste!« wiederholte der Zöllner. – »Verkehrte Psychologie, kleiner Obermann! Er ist ja nämlich der Ansicht, daß wir verrückt sind! ... Gott gebe, daß ich die Broschüre über die Kreuzspinnen geschrieben hätte!«

Hierüber lachte der Jägermeister so, daß es unter den Kastanien widerhallte.

Vierzigtausend Gäste tranken nun von dem Wasser des Lebens. Und es war ein Vergnügen zu sehen, welch eine ausgezeichnete Wirkung es auf sie ausübte. Namentlich an den Leberleidenden konnte man es bemerken; ihre gelbbraunen, melancholischen Gesichter wurden mit jedem Tage heller und heiterer. – Aber auch Knagsteds verstimmter Magen befand sich in fortschreitender Besserung. Er wurde mit jedem Glase, das er trank, pünktlicher und freundlicher. Und wie ihm, so erging es unzähligen andern. Es war ihm geradzu eine Wonne, die vergnügten Mienen zu beobachten, mit denen seine Leidensgenossen die »Zentrale« bei Pupp frequentierten. Auf seinem Wege dahin und daher begegnete er jeden Morgen denselben Individuen. Und er sah, wie das Lächeln um ihre Lippen und der Glanz ihrer Augen sich erhöhten. Schon allein der Aufenthalt innerhalb der vier Wände war ihm ein Genuß. – Er war niemals Soldat gewesen und hatte nie an einem Kriege teilgenommen, wenn er aber dort in der Zentrale in seinem kleinen abgeschlossenen Raum saß, hatte er täglich ein Bild von den mannigfachen Lauten des Krieges! Es war, als säße er mitten auf dem Schlachtfelde von Waterloo. –

Das Etablissement erfreute sich eines kolossalen Zuspruches. Die beiden aufwartenden Frauen schwitzten vor Geschäftigkeit. Und zuweilen war das ganze Haus ausverkauft, so daß man warten mußte. Was sehr peinlich sein konnte, zuweilen aber auch sehr ergötzlich. – Eines Tages stürzte eine der Frauen, gefolgt von Knagsted, Jägermeister Krüger und fünf andern Notleidenden, die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf (der Jägermeister war rot vor Lachen), um möglicherweise dort einen Platz zu finden. – Die Frau stürzt an der Spitze ihrer Schar die Treppe wieder hinab (jetzt war der Jägermeister blau). Auf dem Rückweg begegnet das Heer einem kleinen, dicken, alten Juden, der im Aufstieg begriffen ist – im Erdgeschoß war er abgewiesen worden.

»Alles besetzt!« sagt die Jeanne d'Arc und macht eine abweisende Bewegung mit der Hand.

»Gutes Geschäft!« entgegnet der Jude mit einem Ausdruck in seinem Gesicht, als neide er der Frau das Geschäft. Aber Jägermeister Krüger wand sich wie ein Wurm die Treppe hinab, grün vor Lachen.

 

Die beiden Freunde standen vor der Inschrift auf dem Felsblock an der kleinen hölzernen Brücke vor dem Garten des »Freundschaftssaals«.

»Lies!« sagte der Zöllner. »Lies vor! Du liest so schön.«

Und der Oberlehrer las:

Getrennten Weltteils Seelenflammen,
Schlagt hier zu einer Glut zusammen,
Sprecht hier den Völkerschranken Hohn,
Legt Würden hier und Orden nieder
Und fallt ans Menschenherz, ihr Brüder,
Hier in der Freundschaft Felsenthron,
Im Brautgemach der Göttertriebe!
Wie selig – sel'ger noch als Liebe
Ist's, hier im freundschaftstrunknen Hain
Ans volle Bruderherz zu fallen
Und vor Entzücken kaum zu lallen:
»Für Ewigkeiten bist du mein!«

»Und so weiter und so weiter aus derselben Siruptonne!« unterbrach Knagsted den Vorleser mitten im Gedicht. »Die Deutschen, die verstehen es! Gott weiß, woher sie all das – Süßholz beziehen! Wollen wir beide nicht übrigens auch ein Dankgebet schreiben, lieber Clausen, und es an einer Marmortafel aufschlagen? ... Hast du, à propos, das oben am Goethe-Weg gelesen? Das ist wirklich schön: » Himmlisches Tal des Heilungssegens, Thron der Gesundheit, Wundergeschenk des alle Liebenden –, wie?«

»Es liegt doch etwas Schönes in der Begeisterung über die wiedererlangte Gesundheit, Knagsted.«

»Weiß Gott, tut es das! Darum schlug ich dir ja auch vor, daß wir uns hinsetzen und ein Gleiches tun wollten!«

»Ja, du kannst doch nicht leugnen, daß dein Magen viel, viel besser geworden ist.«

»Das ist er! – Aber du kannst dich darauf verlassen, lieber Obermann, daß dein guter Vater, der liebe Gott, mir noch irgendein kleines Cadeau zugedacht hat. – – Es ist mir, als spürte ich schon ein so wunderbares Ziehen in meinem linken Bein.«

»Du bist auch immer gleich so mißtrauisch!«

»Ja, ich traue ihm wahrhaftig nicht über die Türschwelle!« – –

Sie wanderten nun weiter im Gänseschritt. Clausen voran, den steilen Weg hinauf, der an der Tepl entlang führt. Die Tannen dufteten im Sonnenschein, und drüben von der Promenade jenseits des Flusses ertönte das Knirschen vieler Fußtritte im Kies. – Hier und da erschloß sich eine Aussicht zwischen den Bäumen, und man gewahrte das Wasser des Flusses, der da unten über die Steine dahinbrauste, schäumend und hastig nach dem Wolkenbruch neulich.

Plötzlich blieb der Oberlehrer stehen:

»Das ist wahr, Hans Peter« (Clausen hatte in letzter Zeit angefangen, den Zöllner mit Vornamen zu nennen. Aus welchem Grunde, ist unbekannt): »weißt du, wen ich heute morgen im Stadtpark gesehen habe?«

»Nein ... du läufst ja umher und machst so viele lächerliche Bekanntschaften!«

»Den Studenten und seine Braut!«

»Was für einen Studenten?«

»Den Studenten aus Charlottenlund, den wir auch im Hotel du Nord in Berlin trafen.«

»So – o? Sind die jetzt hier? War die Schwiegermutter auch dabei?«

»Ja, sie gingen wenigstens mit einer großen, schönen, älteren Dame. Und dann war da auch ein elegant gekleideter, schwarzhaariger Herr, der deutsch sprach.«

»Hm – was tat denn der?«

»Er ging zwischen Mutter und Tochter und machte eifrig Konversation.«

» Und der Student?« fragte der Zöllner und packte Clausen am Arm. » Wo war der Student

»Ja, der torkelte so sonderbar verlassen und trübselig hinterher.«

»Clausen!« rief der Zöllner aus und stieß seinen Stock hart gegen den Boden – »du sollst sehen, es geht in Erfüllung, was ich in Berlin prophezeit habe.«

»Was?«

»Daß Vater Zeus einen Schalksstreich mit den jungen Leuten im Schilde führte! Sie hatten sich zu lieb. Sie waren zu ›glücklich‹!«

»Ach, fängst du nun schon wieder an!«

»Die Götter sind neidisch – dies Pack!«

»Aber Knagsted!«

»Ja, das sag' ich, weiß Gott, warum können sie die denn nicht in Frieden lassen!«

»Sei demütig, Hans Peter!«

»Fällt mir den Deubel auch ein! Wenn man für das Gute danken soll, hat man doch wohl auch das Recht, auf das Schlechte zu schimpfen!«

»Du fluchst heute so entsetzlich, Knagsted!«

»Findest du?«

»Und dabei weißt du gar nicht einmal, ob –«

»Natürlich weiß ich das, ich kenne den Rummel! Die beiden Kinder hatten sich so lieb, gleich bekommt der Alte da oben hinter den Wolken Bauchgrimmen: ›Meiner Treu, da müssen wir ein wenig bremsen! Das geht nicht so weiter! Die sind wirklich zu glücklich miteinander!‹ – Und schwaps steckt er seine allmächtige Nase dazwischen und stört ihnen das Ganze!«

Der Oberlehrer schüttelte verzagt den Kopf:

»Willst du die Götter auch dahinein mischen?«

»Ja – es fällt ja kein Sperling vom Dache, ohne daß es ihr Wille ist, das weißt du doch! – Aber da sitzt er ja!«

»Wer?«

»Der Student!«

Sie waren um eine Ecke gebogen, und auf einer Bank, ein wenig von ihnen entfernt, saß ganz richtig der blondlockige Student. Er saß vornübergebeugt, einsam und verlassen und ritzte mit seinem Stock schwermütige Zirkel in den Sand.

»Ach, mein Gott,« sagte Knagsted. »ist das der lebensprühende Jüngling aus dem Charlottenlunder Walde und aus Berlin? – Hör' einmal, Clausen,« fuhr er fort und zog den Oberlehrer wieder in das Versteck zurück – »willst du mir einen Gefallen tun und denselben Weg zurückgehen und mich allein mit dem Menschen lassen?«

»Ja, aber –«

»Nein, beide können wir nicht auf ihn zugehen, dann erschrickt er sich nur.«

»Du pflegst sonst immer zu sagen, man soll sich nicht in die Angelegenheiten anderer mischen,« sagte der Oberlehrer spitz, »und nun –«

»Ja, ja, das ist ganz richtig! Darin habe ich vollkommen recht, aber ich muß hin und ihn trösten! – Gehst du nun?«

»Ja, das kann ich dann ja tun ... Aber jetzt mußt du – –«

»Ja, ich will dir versprechen, daß ich ihn mit der äußersten Delikatesse behandeln will.«

»Ja, dann will ich gehen«, willigte der Oberlehrer gutmütig ein. »Wann sehen wir uns?«

»Ich komme nach Hause und hole dich zu Tische ab.«

»Hm, ja – dann gehe ich. – Auf Wiedersehen!«

»Adieu, lieber Obermann! – Du bist ein furchtbar liebenswürdiges Geschöpf.«

»Hm!« Clausen machte kehrt und humpelte zurück, den Pfad hinab. –

Der Student saß noch in derselben Stellung. Der Stock beschrieb einen Zirkel nach dem andern. Er konnte offenbar nicht klug werden aus den Runen des Lebens.

Der Zöllner beschleunigte seine Schritte und ging flott an der Bank vorüber. Dann blieb er wie überrascht stehen:

»Aber zum Kuckuck!« sagte er –»sind Sie das, junger Mann? Willkommen!«

Auch der Student war überrascht. Aber er sprang schnell auf und grüßte höflich:

»Guten Tag, Herr Knagsted! Das ist ja amüsant!«

»Woher zum Teufel wissen Sie, wie ich heiße?«

Der junge Mann errötete:

»Wir konnten es ja nicht lassen, wir mußten im Hotel in Berlin in der Fremdenliste nachsehen ... «

»Haben Sie die Braut mit hier?«

»Ja, sie ist im Hotel bei ihrer Mutter«, sagte der Student und wandte sich ab.

»Und wie geht es ihr?«

»Danke, ganz gut!«

»Störe ich Sie? – Darf ich mich ein wenig zu Ihnen setzen?«

»Mit Vergnügen!«

Sie nahmen beide Platz. Und Knagsted sah auf dem Kiesweg vor sich den einen verzweifelten Zirkel den andern schneiden.

»Mathematik?« fragte er und zeigte vor sich nieder.

»Hm – ja!«

»Es ist wohl nicht so ganz leicht, da herauszufinden?«

»Nein.«

Pause.

»Es ist schön hier, nicht wahr?« begann der Zöllner.

»Ja–a,« sagte der Student, »sehr schön!«

Die Bank stand ziemlich hoch oben auf dem Abhang. Man übersah das Tal mit seinem Fluß, seinen Bäumen und Häusern. Im Hintergrunde erhoben sich die grünbewaldeten Berge mit dem zackigen Aussichtsturm der Stephanie-Warte auf dem höchsten Gipfel.

Der junge Mann machte eine Anstrengung, um sich zusammenzunehmen und nicht unhöflich zu erscheinen:

»Haben Sie Ihren Freund nicht mit hier in Karlsbad, Herr Knagsted?«

»Ja, Herr – wie heißen Sie?«

»Möller.«

»Kandidat?«

»Ja – cand. phil.«

»Ja ja, das ist ja immer ein Anfang. Sie studieren jetzt Medizin?«

»Ja. Woher wissen Sie das?«

»Ach, das habe ich erraten! – Ja–a, mein Freund Clausen ist auch hier. Wir können gar nicht ohne einander leben. Wir ergänzen uns.«

Der Student lächelte matt, als möchte er am liebsten nichts von diesem Geplauder hören:

»Ja, ich entsinne mich, Sie nannten Ihren Freund die ›leibhaftige Güte‹ und sich selber nannten Sie –« Er hielt zögernd inne.

»Die ebensolche Bosheit!« vollendete der Zöllner. »Und die größte unter ihnen ist die Bosheit!«

»Ja!«

Abermalige Pause.

Dann rückte Knagsted ein wenig näher an den andern heran:

»Es sieht schlecht aus mit unserer Laune?« sagte er darauf und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Der Student wandte sein Antlitz ab. Seine Augen schimmerten plötzlich blanke Tränen, und dies mußte um alles in der Welt verborgen bleiben.

»Was zum Teufel wollen Sie sich die Geschichte so zu Herzen nehmen!« platzte der Zöllner heraus. »Es gibt ja Frauenzimmer genug auf diesem Erdball.«

Der Student schwieg hartnäckig. Aber er hatte sich vornübergebeugt und saß nun wieder da und quälte sich nervös mit seinen Zirkeln ab.

»Ja, ich weiß nicht, ob ich Sie störe,« sagte Knagsted, »denn dann will ich lieber gehen –«

Das Kinn und die Lippe des jungen Mannes zitterten, als sei er kurz davor, in Tränen auszubrechen:

»Nein. Herr Knagsted,« sagte er, »bleiben Sie – – verzeihen Sie!«

Knagsted legte ihm die Hand sanft auf seine Schulter.

»Ich begegnete euch heute morgen im Stadtpark.« log er unbefangen, »und ich konnte ja gleich sehen, daß nicht alles so war, wie es sein sollte.«

»Ja. so ist es.« Der Student hatte den Stock hingestellt und saß auf der Bank zurückgelehnt und starrte trübe vor sich hin.

»Was ist denn los?«

»Dieser Deutsche, der hat Agnes und ihrer Mutter Raupen in den Kopf gesetzt!«

»Hab' ich mir's nicht gedacht? Schießen Sie ihn nieder, den Kerl.«

»Ha, ha«, lächelte der Student matt.

»Will er Ihnen die Braut abspenstig machen?«

»Das weiß ich nicht ... aber das will er wohl ... Wir trafen ihn in Dresden. Und nun ist er mit hierhergereist. Er ist immer mit ihnen zusammen.«

»Ist es eine alte Bekanntschaft?«

»Nein, sie haben ihn früher nie gesehen.«

»Können Sie ihn denn nicht wegjagen, Mensch?«

»Nein! Meine Tante mag ihn so gern, und ich glaube, sie hat die Absicht, Agnes mit ihm zu verheiraten.«

»Und das lassen Sie sich gefallen?«

»Ja, was soll ich machen ... Nach meiner Meinung fragt niemand.«

»Sie sind also ein Waschlappen! Pardon! Aber weiter! Ihre Tante, sagen Sie?«

Der Student sah den Zöllner ein wenig von der Seite an und fuhr dann fort:

»Ja, Agnes' Mutter ist eine Schwester meiner verstorbenen Mutter. Mein Vater ist auch tot. Ich bin seit meinem sechsten Jahr im Hause meiner Tante gewesen.«

»Und jetzt sind Sie mit Ihrer Kusine verlobt?«

»Nein; Tante sagte, wir wären zu jung ... Aber sie hat mir doch den Vorschlag gemacht, mit ihnen zu reisen. Und sie weiß recht gut, daß wir uns lieb haben; wir haben es ihr beide gesagt.«

»Hm – ist dieser Windbeutel reich?«

»Meine Tante?!«

»Ja. Ihre Tante auch! Im übrigen meine ich eigentlich den Deutschen.«

»Meine Tante ist sehr wohlhabend.«

»Und der Deutsche?«

»Ja, er ist ein reicher Gutsbesitzer aus Schlesien.«

»So–o? Den Teufel auch, ist er das? Können Sie diesem Herrn denn nicht auf irgendeine Weise zu verstehen geben, daß er Sie geniert?«

»Ich kann nicht viel Deutsch. Und Tante hat mir gesagt, ich sollte ihn gefälligst höflich und freundlich behandeln, sonst könnte ich nach Hause reisen.«

»Das ist ja ein infames Frauenzimmer!«

Der Student lächelte matt:

»Nein, das ist sie wirklich nicht. Herr Knagsted! Sie ist sehr gut und lieb ... aber dieser Gutsbesitzer hat sie durch seine Vornehmheit und sein flottes Auftreten völlig hypnotisiert.«

»Hm – und was sagt denn – Agnes dazu?«

Der junge Mann sah tieftraurig aus.

»Das ist es ja gerade!« sagte er, und seine Stimme bebte. »Sie ist in der letzten Zeit ganz anders gegen mich geworden. Ich glaube nicht, daß sie sich was aus dem Deutschen macht; sie sieht immer so ängstlich aus, wenn er mit ihr spricht, sie sieht so aus, als möchte sie am liebsten vor ihm fliehen.«

»Ja, können Sie sie denn nicht zur Vernunft bringen?«

»Nein – sie flieht auch, wenn ich komme. Ich bin in den letzten vierzehn Tagen nicht mit ihr allein gewesen. Und dann ist sie so scheu und nervös geworden ... Ich glaube, Tante predigt ihr was vor und will sie bereden, daß sie den Deutschen nimmt.«

»Das sähe ihr ähnlich! Ja, entschuldigen Sie, ich meine, sie findet natürlich, daß es schneidig sein würde, mit einem ausländischen Gutsbesitzer als Schwiegersohn in die Heimat zurückzukehren.«

»Ja, das fürchte ich auch! Und Agnes ist ja ein Kind, sie läßt sich so leicht beeinflussen, namentlich von ihrer Mutter, die sie so hoch stellt ... Aber wenn ich nur wüßte, daß sie mit dem andern glücklich werden könnte, so –«

»Unsinn!«

Der Student sah verwundert auf.

» Unsinn! hab' ich gesagt. Romanphrasen! Solchen Blödsinn sagt man nur! Natürlich wollen Sie die Kleine gern selber haben und sind fest überzeugt, daß sie am ›glücklichsten‹ mit Ihnen werden wird.«

»Ja, das glaube ich allerdings«, sagte der Student und schlug die Augen nieder.

»Natürlich glauben Sie das! Denn Sie haben sie doch recht lieb? Es ist doch wohl nicht nur um Ihres –«

» Ob ich sie lieb habe! Es hat kein anderes weibliches Wesen für mich existiert, seit ich zwölf Jahre alt war.«

»Na, na! Und sie liebt Sie?«

»Ja,« nickte der junge Mann mit Überzeugung, »das muß sie tun!«

»Und weshalb?«

» Weshalb? Weil – ach, Sie wissen ja nicht, Herr Knagsted, wie glücklich wir zusammen waren, ehe dieser Gutsbesitzer auf der Bildfläche erschien! Wir musizierten zusammen und lasen zusammen, machten lange Spaziergänge, und alles, was wir dachten, vertrauten wir uns an. Es ist unmöglich, daß sie mich nicht lieb hat, ganz unmöglich! Sie hat es mir ja Hunderte von Malen gesagt! Und wir haben darüber gesprochen, wie wir unsere Zimmer und unser Haus und das Ganze einrichten wollten, wenn wir erst verheiratet sind. Ach, es ist unmöglich, ganz unmöglich, daß sie mich nicht liebhaben sollte.«

Der Zöllner war ganz mit fortgerissen von dem Ausbruch des jungen Mannes, sein altes, ein wenig fossiles Herz fühlte mit ihm:

»Dann sollt ihr, hol' mich der Teufel, euch auch haben!« sagte er und schlug mit der Hand auf die Bank. »Aber Sie müssen nicht so ein Schlappschwanz sein, Herr Möller, mit Erlaubnis zu sagen! Sie dürfen den Kopf nicht so hängen lassen! Zeigen Sie den Frauenzimmern, daß Sie ein Mann sind, setzen Sie ihnen den Stuhl vor die Tür, davor haben sie schließlich alle Respekt! Gehen Sie auf den Deutschen los. Machen Sie Witze über ihn. Fragen Sie, ob seine Güter etwa im Mond liegen und dergleichen. Ich bin ja nämlich der Ansicht, daß er ein Halunke, ein Glücksritter ist, der es nur auf das Geld der Kleinen abgesehen hat. Sagen Sie Ihrer Tante, Sie hätten gehört, es hinge nicht richtig zusammen mit seiner Vornehmheit und seinem Reichtum. Erzählen Sie ihr, er hätte seine Rechnung im Hotel nicht bezahlt, und sagen Sie meinetwegen, ich hätt' es Ihnen erzählt.«

»Ja, aber das ist nicht der Fall, Herr Knagsted – er streut das Geld förmlich aus!« sagte der Student.

»Gut, dann denken Sie sich was anderes aus! – Vor allen Dingen aber den Humor nicht verlieren! Und lassen Sie sich seine Anmaßungen nicht gefallen. Weil die Deutschen uns Schleswig genommen haben, steht ihnen doch das Recht nicht zu, uns auch unsere Mädchen zu nehmen! Das können Sie ihm ja sagen!«

»Ja, ha, ha, ha!«

»Sehen Sie,« fuhr der Zöllner ruhig fort und klopfte dem jungen Mann auf die Schulter – »ich hab' es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, daß Sie und die kleine Agnes sich haben sollen. Ich hab' euch nicht vergessen, damals im Walde bei Charlottenlund, das war eine wahre Augenlust zu sehen – Und ihr kriegt euch auch.« fügte er mit Überzeugung hinzu – »das unterliegt keinem Zweifel!«

»Glauben Sie wirklich?« Der Student ergriff unwillkürlich Knagsteds Hand.

»Das steht bombenfest! – Sagen Sie nur zu sich selber: Ich will Agnes haben!«

»Ha, ha!«

»So, sagen Sie das jetzt mal! – Oder nein! Sie können noch lieber sagen: Ich will, hol' mich der Deubel, Agnes haben!«

»Ha, ha – nein, aber Herr –«

»Na, wird's bald?«

»Ja aber, Herr Knag–«

»Sie machen sich also doch nicht so ganz furchtbar viel daraus, sie zu bekommen?« »Ja, ja!«

»Na, denn heraus mit der Sprache: Ich will, hol' mich der Deu – Na!«

Der Student lachte geniert.

»Na, na!« wiederholte Knagsted, »das will ich Ihnen nur sagen, Herr Möller, wenn Sie nicht herzhaft fluchen, dann bekommen Sie sie auch nicht!«

»Meinen Sie wirklich?« sagte der junge Mann ganz erschrocken.

»Das steht bombenfest! Es ist ganz erstaunlich, wie so ein kleiner Fluch der Energie aufhilft! Als ich Sie vorhin hier sitzen und die Quadratur des Zirkels studieren sah, da schwur ich mir zu, nicht vom Fleck zu gehen, ehe ich Sie nicht wieder in leidliche Laune verseht hätte. Und das ist mir ja so einigermaßen gelungen ... Ich benutzte denselben vorzüglichen Fluch, will ich Ihnen sagen! Und ich bin fest überzeugt, wenn ich nicht geflucht hätte, säßen Sie höchstwahrscheinlich noch hier und grübelten sich von Sinn und Verstand über den Deutschen! – Also: Ich will, hol' mich der Deu – Na!«

Der Student lachte laut auf. Und dann sagte er mit zerschmetterndem Nachdruck nach jedem einzelnen Wort:

» Ich will, hol' mich der Deubel, Agnes haben, koste es, was es wolle! – – So, genügt das?«

»Brillant! Die Ergänzung, die Sie dem Formular gaben, war großartig! Und Sie können sich darauf verlassen, ehe vierzehn Tage vergangen sind, gehört das Mädchen Ihnen!«

Die Augen des Studenten leuchteten.

»Glauben Sie das wirklich?«

»Ja!« nickte Knagsted. » unbedingt! – Aber Sie müssen arbeiten! Nicht den Kopf hängen lassen! Und sich nicht von dem Deutschen imponieren lassen!«

»Das verspreche ich Ihnen,« sagte der Student, von Energie schwellend – »der soll sich nicht länger auf meine Kosten wichtig machen!«

»Sie Können ihn auf dänisch ausschelten, wenn Ihr Deutsch nicht ausreicht!«

»Ja! – Und vielen, vielen Dank, daß Sie so ermunternd zu mir geredet haben, Herr Knagsted.«

»Ach, ich bitte! – – Und wenn Sie nun Agnes zurückerobert haben, so kommen Sie zu mir und erzählen es mir?«

»Sie glauben also wirklich, daß –«

»Nein, ich glaube es nicht mehr – – ich weiß es!«

»Ach!« sagte der Student und schlang in gewaltiger Begeisterung beide Arme um den etwas kurzen Hals des Zöllners. – »Sie haben mir meinen ganzen Lebensmut wiedergegeben, Herr Knagsted.«

 

Der gute dicke Junge, Jägermeister Krüger, saß ganz vernichtet auf einer Bank auf der »Alten Wiese«, einem Delikatessengeschäft gerade gegenüber, in dessen Fenster eine Schüssel mit acht schnickefetten Kücken ausgestellt war, fertig, um in den Ofen geschoben zu werden.

Kontrolleur Knagsted kam vorüber und empfand Mitleid mit ihm:

»Also hier sitzen Sie, Herr Jägermeister, guten Tag!«

»Guten Tag!« nickte der Jägermeister geistesabwesend – »ach, setzen Sie sich doch ein wenig zu mir hin.« (Der Zöllner setzte sich und Krüger zeigte): »Können Sie die Schüssel da drüben im Fenster sehen?«

»Ja.«

»Welches davon möchten Sie wohl haben?«

Knagsted musterte den Vorrat.

»Nummer drei von oben rechts.«

»Nein«, sagte der Jägermeister und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist zu fett. – Nein, das Kleine da, Nummer zwei links, in einem geschlossenen irdenen Topf geschmort mit ein klein wenig Butter, und dann im Kochtopf angerichtet ... Ich würde ein Jahr meines Lebens dafür geben! Jetzt hab' ich 'ne geschlagene Viertelstunde hier gesessen, ohne mich losreißen zu können.«

»Es ist Ihnen nicht gut, sich so selber zu foltern, Herr Jägermeister.«

»Nein – ja, natürlich ist es mir gut! Es ist doch immerhin etwas! – Ich versichere Ihnen, ich bin beinahe so weit, daß mich dieses Diäthalten um Sinn und Verstand bringt. Ich werde förmlich krank, wenn ich ein gutes Stück Fleisch sehe, weil ich es nicht essen darf! Wenn ich keine Diät zu halten brauchte, ist es gern möglich, daß ich mir nichts daraus machte, aber so –«

»Ja, es ist Tierquälerei!« sagte der Zöllner – »weiß Gott, das ist es! – Aber wollen wir nicht lieber ein wenig gehen? Das könnte Sie vielleicht zerstreuen.«

»Ja, lassen Sie uns gehen. – – Erst aber müssen Sie einmal mit ans Fenster kommen.«

Sie gingen an das Fenster hinüber. »Ja, es ist doch möglich, daß Sie recht haben. Herr Knagsted«, sagte Krüger und drückte die Nase beinahe flach an der Fensterscheibe. – »Das da, Nummer drei von oben rechts, könnte das beste sein ... Mögen Sie diese französische Soße mit Champignons zu Kückenbraten?«

»Nein!«

»Nein, nicht wahr! Wir bitten um die gute altmodische Fasson mit dem, worin sie gebraten sind, und dann reichlich Petersilie dazu.«

»Und pommes naturelles ... «

»Und pommes naturelles, ja. – Nicht diese Schweinerei mit gebräunten Kartoffeln. Und am liebsten junge

»Am liebsten junge, natürlich! – – Wollen wir jetzt gehen?«

»Ja, gehen wir. – – Sehen Sie, das kleine da in der Mitte mit dem Hals – das könnte bei guter Behandlung auch etwas werden!«

»Ach ja – aber Nummer drei – –«

» Nummer drei ist das beste unbedingt! Sehen Sie nur, wie es daliegt und sich spreizt ... Es weiß recht gut, daß es all die andern einsteckt, wie?«

»Kommen Sie jetzt, Jägermeister!«

»Na, es eilt wohl nicht so! – Was mögen Sie vom Kücken am liebsten?«

»Die Brust!«

»Ein ordinärer Geschmack!«

»Die Brust macht am wenigsten Mühe.«

» Mühe! Das Essen, das am meisten ›Mühe‹ macht, schmeckt doch am besten.«

»Kommen Sie nun, Jägermeister.«

»Ja, jetzt komme ich, jetzt komme ich!« Und Herr Krüger riß sich los. »Herrgott im hohen Himmel, ja!« sagte er. Und dann gingen sie.

Draußen in Pupps Anlagen war Nachmittagskonzert. Die jungen Krähen flatterten mit dunkelroten Köpfen um die Tische herum. Es war gedrängt voll von Gästen. –

An einem Tische mitten in dem allerärgsten Gedränge saß der »Rasenwässerer« und spielte Springbrunnen mit einem Syphon Sodawasser. Das Wasser brauste und schäumte um ihn herum wie der Dampf, der aus der Lokomotive gelassen wird. Aber er schwatzte auf seine Gesellschaft los und lachte und gestikulierte und schien sehr befriedigt durch die Situation zu sein.

Auf einer ein wenig entlegenen Bank saß die »Henne« und häkelte. Von Zeit zu Zeit legte sie den Kopf auf die Seite und guckte mit einem kleinen, zwinkernden Auge in die Höhe nach den Wolken. Aber die waren sonnenhell und sommerleicht, so war denn kein Grund für sie vorhanden, das Warnungsglucksen auszustoßen, das ihr immer in der Kehle saß. Sie hatte nämlich seit dem Gewitter einen solchen Schrecken im Leibe, daß das kleinste mystische Geräusch in den Bergen sie erzittern machte und um ihre Röcke greifen ließ, die sich kräftiger bauschten denn je, und die gesamten Kücken von mindestens ein Paar Dörfern zu beherbergen schienen.–

Das Orchester lärmte, so daß alle anderen Geräusche erstarben.

»Lieben Sie Musik, Herr Knagsted?« schrie der Jägermeister seinem Begleiter ins Ohr.

»Hm, ja!« brüllte der Zöllner zurück, »der Dirigent macht mir Spaß!«

»Wollen wir uns denn einen Platz suchen?«

»Ja, tun wir das.«

Sie kamen hinter zwei prachtvoll ausstaffierte Damen zu sitzen, die ein paar tüllumwundene Räder, mit Federn, Blumen und Spitzen, Seide, Gold und Diamanten behängt und besetzt, auf den Köpfen trugen.

»Kolossal, wie die Frauenzimmer sich aufputzen«, sagte der Jägermeister, als die Musik endlich schwieg. »Sie waren lange nicht so aufgetakelt, als wir nach Karlsbad kamen.«

»Nein,« sagte der Zöllner, »aber sie reizen sich gegenseitig auf.«

»Ja, sie verstehen es nun mal nicht besser! – Wollen Sie mal meine Frau sehen?«

»Ist die hier?«

»Nein! – Gott sei Lob und Dank! hätt' ich beinah gesagt, denn dann wäre sie ebenso verrückt geworden wie die andern. Nein – ich habe aber gestern ein Bild von ihr und den Kindern bekommen ... Wollen Sie es mal sehen?«

»Ja, gern!«

Krüger holte seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Kabinettbild, das er dem Zöllner nicht ohne einen gewissen Stolz überreichte.

»Ihre Frau ist hübsch!«

»Ach ja, es gibt häßlichere! Aber was noch besser ist, sie ist eine großartige Frau!«

»Und die drei prächtigen Kinder!«

»Ja, nicht wahr!« nickte der Jägermeister mit vergnügt schimmernden Augen. – »Und wie sie sie hält! Wie Grafenkinder! Der da« (er zeigte eifrig), »der Kleine, Dicke mit den Locken, den sie auf dem Arm hat, der heißt Peter nach meinem Großvater – das ist ein richtiger kleiner Prachtkerl erster Güte! Und die Einfälle, die der Junge hat!«

Knagsted sah von dem Bilde auf.

»Sagen Sie mir doch, Herr Krüger, ist es nicht schwer, Vater zu sein?«

»Es ist oft schwerer, es zu sein, als es zu werden, ja! – Aber man hat doch eine große Freude an den Gören! – Wenn man so zu Tische hereinkommt und sie gesund und munter und hungrig und schwatzend dasitzen sieht ... «

»Puh!« sagte Knagsted und schauderte – »ich kenne nichts Schrecklicheres, als mit Kindern bei Tische zu sitzen!«

»Ha, ha, ha!« lachte der Jägermeister, daß es nur so gluckste. »Hagestolz, Hagestolz! Sie sind ein echter Hagestolz!«

»Und dann die Verantwortung ... «

»Die Verantwortung! Den Teufel auch mit der Verantwortung! Man füttert und kleidet sie und schickt sie in eine gute Schule – Punktum!«

»Und was soll man zu ihnen sagen, und was soll man nicht sagen – und was soll man sie lehren, und was soll man sie nicht lehren! Puh, nein! Ich danke!«

»Ach, das kommt alles ganz von selber, wenn man sie nur erst hat

»Sie sollen doch nicht noch mehr haben?«

»Ja, das kann ich doch nicht wissen ... Wenn das Unglück es will – aber ich habe meiner Frau gesagt, wenn noch mehr kommen, will ich sie als Frikassee essen, denn drei sind genug!«

»Zwei hätten eigentlich auch genügt!«

» Zwei? Meinen Sie, daß ich Peter entbehren wollte? Nicht um das halbe Laaland!« Und der Jägermeister entriß dem Zöllner das Bild und barg es geschwind in seiner Tasche, als fürchte er, daß Knagsted den Originalen schaden könne, wenn er es länger behielt. – »Nur unter einer Bedingung will ich es mir gefallen lassen, noch mehr Kinder zu bekommen,« sagte Krüger und kniff ein Auge zusammen – »nämlich, wenn es weibliche Zwillinge werden!«

»Herr du meine Güte!«

»Ja, ich möchte verdammt gern zwei kleine Zwillingsmädchen haben!«

»Lieber Freund!«

»Ja, und sie da liegen und heranwachsen und sich ähneln sehen! Aber ich habe mir sagen lassen – ha, ha, ha! daß sie mit einem Schwupp gemacht werden müssen, und darauf verstehe ich mich nicht!«

»Danken Sie Ihrem Schöpfer dafür!«

»Ha, ha, ha! Ja, da mögen Sie recht haben!«

Jetzt fing die Musik von neuem an zu tosen.

»Wollen wir nicht lieber ein wenig spazierengehen?« fragte Knagsted.

Sie gingen auf die »Posthof-Promenade« hinaus. Das Wasser in der Tepl war wieder zu seiner gewöhnlichen Sommerhöhe gesunken. Träge und langsam schlürfte es über die Steine des Bettes. – Aber ringsumher auf den Bergesabhängen lagen geknickte Fichten, Tannen und Birken bunt durcheinandergeworfen von den gewaltigen Fäusten des Wirbelsturms. –

»Ha, ha!« lachte der Jägermeister plötzlich auf. »Können Sie das kleine Männchen sehen, das dort über die Bäume dahinkrabbelt?«

»Ja.« sagte Knagsted und guckte – »das ist ja der alte Justizrat, ich kenne ihn am ›Schnee‹.«

»Wissen Sie, er ist aus seinem Logis in der Villa Moltke herausgeschmissen.«

»Nein! Und warum denn?«

»Ach Liebster. Liebster, Liebster, diese verdammten Spinnen ... Er war ja so gut Freund mit seiner Wirtin, denn brav, das ist er ja. Aber dann, am letzten Donnerstag, war er in ihre Speisekammer geschlichen und hatte zweiundzwanzig von den fettesten Karlsbader Spinnen da drinnen angebracht. War das ein Skandal, als die Frauenzimmer darüber zukamen! Die Mädchen kreischten, die Wirtin schalt. Da kommt Stabelsteen aber herbeigestürzt und will seine Tiere retten. Er hätte sie in der besten Absicht dahin gesetzt, sagt er. Die Frau sollte sich nur ganz ruhig daran gewöhnen, sie um sich zu haben, sie würde ihm noch dafür danken ... und Sie wissen ja, was er alles sagen kann! Aber da hat sie ihn herausgeschmissen. Er mußte noch in derselben Stunde umziehen! Und nun haben wir ihn im National! ... Sagen Sie mal, könnten Sie ihm dies nicht ausreden mit diesen Tieren? Es ist ja schade um ihn. Auf mich will er nicht hören.«

»Schade,« sagte Knagsted –«es würde vielmehr ›schade‹ sein, wenn man ihm die Tiere nehmen wollte.«

»Ja, er ist aber doch verrückt!«

»Nicht verrückter als Sie zum Beispiel!«

» Ich

»Ja Sie! – Sie haben drei Kinder und wünschen sich trotzdem ein Paar ›weibliche Zwillinge‹!«

»Ja, aber ich habe die Kinder lieb.«

»Hm!– Und er hat die Spinnen lieb!«

»Das ist denn aber doch ein verdammter Unterschied!«

»Keine Spur! Beides ist gleich wahnsinnig.«

»Ha, ha, ha! – Darf ich Ihren Puls befühlen?«

»Mit Vergnügen! – Aber begreifen Sie denn nicht. Herr Krüger, daß er ebenso unglücklich werden würde, wenn er seine Tiere verlöre, als Sie, wenn Sie Ihre Gören hergeben sollten.«

Der Jägermeister sah tiefsinnig vor sich hin.

»Nein, das begreife ich nicht,« sagte er dann – »aber wenn ich darüber nachdenke, regt sich doch etwas in meinem Innern, was mir sagt, daß Sie gewissermaßen recht haben können.«

»Nun ja, das ist doch immer etwas! – Haben Sie Oberlehrer Clausen nicht gesehen? Er ist mir ganz abhanden gekommen.«

»Ja, ich begegnete ihm heute morgen unten am Sprudel in Begleitung eines Herrn – Wollen wir aber nicht noch ein wenig über diese ›Verrücktheit‹ reden? Es interessiert mich so!«

»Nein! ... Was für ein Herr war das?«

»Ich glaube, ein Adjunkt aus Aalborg; er wohnt auch im National.«

»Hm –«

»Aber warum wollen Sie jetzt nicht mehr davon reden?«

»Weil das auch wahnsinnig ist.«

»Sie sind ein sonderbarer Kauz!«

»Ja, das ist nun mal meine Existenzberechtigung!«

»Ja! – – Sagen Sie mal, kommen Sie nicht heute abend zu uns ins Hotel? Wir wollen ein kleines Picknick arrangieren.«

»Um wieviel Uhr?«

»Um halb sieben!«

»So viel ist es ja!«

»Das ist doch nicht möglich!«

»Ja!«

»Bei Gott, halb sieben! Ja, dann muß ich gehen. Kommen Sie mit?«

»Nein, ich bin nicht fertig mit meiner Nachmittagspromenade.«

»Dann kommen Sie wohl nach?«

»Ja – vielleicht.«

»Es ist mir ein Vergnügen gewesen, mit Ihnen zusammen zu sein!«

»Mir gleichfalls, Herr Jägermeister.«

»Ja, dann gehe ich.«

»Adieu! Adieu!«

»Sagen Sie mal« – der Jägermeister hatte sich schon abgewandt, kam jetzt aber noch einmal zurück –, »sagen Sie mal,« begann er verlegen, »ich wollte Sie gern um etwas bitten –«

»Nun?«

»Ja, sehen Sie – wenn auch alle die andern davon essen, das ficht mich nicht an – Aber wollen Sie und Oberlehrer Clausen mir nicht versprechen, nicht von den Kücken zu essen, die wir auf der ›Alten Wiese‹ im Fenster liegen sahen? ... Sie können sich nicht denken, wie viele Tage es mich gewurmt hat, daß Sie von dem Kapaun gegessen hatten. Sie wissen, damals im ›Goldenen Schild‹. Wollen Sie mir das versprechen?«

»Wir wollen nicht einmal an einem Hals riechen!« sagte Knagsted.

»Ja, es ist nicht, daß ich Ihnen den Genuß nicht gönne, aber –«

»Die Kücken sollen Luft für uns sein, Herr Jägermeister.«

»Danke, Herr Kontrolleur! Ja, dann adieu! Und auf Wiedersehen im National!«

»Adieu! Adieu!«

Als Knagsted von seinem Nachmittagsspaziergang in die Villa Tennyson zurückkam, lag da ein Brief an ihn von Oberlehrer Clausen, der ihn bat, doch auf alle Fälle nach dem Hotel National zu kommen. Es würde sicher sehr amüsant werden, da alle Gäste des Hotels beschlossen hätten, einen recht gemütlichen Abend zusammen zu verbringen, »und da sind fast alle Nationalitäten vertreten, lieber Knagsted«.

Ohne zu zögern, setzte sich Knagsted hin und schrieb folgende Antwort, mit der er den Hausknecht Ander von dannen galoppieren ließ:

»Herrn Oberlehrer Clausen z. Z. Hotel National

Karlsbad.

Ich kann es nicht ertragen, mit irgendeiner Art von Menschen zusammen zu sein:

Nicht mit Norwegern: die sind so eingebildet.
Nicht mit Schweden: die sind so hinterlistig.
Nicht mit Deutschen: die schwadronieren so.
Nicht mit Dänen: die sind so neidisch.
Nicht mit Franzosen: die riechen nach Pomade.
Nicht mit Engländern: die stinken nach rohem Fleisch.
Nicht mit Amerikanern: die legen die Beine auf den Tisch.
Und nicht mit Italienern: die haben Flöhe!

Der einzige Mensch, mit dem ich auf die Dauer zusammen sein mag, ist

Dein ergebener Hans Peter Ernst Knagsted.

Deshalb bleibe ich zu Hause bei ihm.«

Elbogen heißt die kleine böhmische Stadt, die eine gute Meile östlich von Karlsbad liegt. Es ist eine reizende Stadt und eine alte Stadt, und sie hat 4000 Einwohner.

Hoch über allen den roten Dächern der Stadt ragt auf einem steilen Felsen »die Burg« auf, die im Jahre 870 n. Chr. von einem Markgrafen von Wohenburg erbaut sein soll. Jetzt aber wird das Gebäude als Zuchthaus verwendet.

Wenn man auf der Landstraße von Karlsbad gefahren kommt, sieht man bei einer plötzlichen Biegung des Weges die grauen, verwitterten Mauern und Türme der Stadt über einem kuppelförmigen Wald von Eichen und Eschen aufragen, die sich oben in den Felsabhang eingefressen haben. Und rings um den Fuß des Berges schlingt die Eger ihr Gewässer und bildet gleichsam einen natürlichen Festungsgraben um Burg und Stadt und die 4000 Einwohner.

Ganz natürlich sind diese 4000 stolz auf ihr altes Schloß, ihren Fluß, ihre Felsen und Wälder. Noch stolzer aber sind sie auf die über den Fluß führende »Kettenbrücke«. Man kann keine zehn Worte mit einem Menschen dort in der Stadt sprechen, ohne daß der Betreffende fragt, ob man sie gesehen hat. Sie hat 90 000 Gulden gekostet, die Stadt selber hat 30 000 davon bezahlt, den Rest hat der Staat dazu gegeben ... Und weiter lautet der Bericht: »Der Oberstburggraf von Böhmen, Graf Kalowrat, legte am 18. Juli 1834 den Grundstein, und Ihre Majestäten Kaiser Ferdinand I. und Kaiserin Anna setzten am 16. September 1836 den Schlußstein. Die Brücke ist 63 Meter lang und 23 Meter hoch.« Und im Rathaus werden noch der silberne Hammer und die Maurerkelle aufbewahrt, »mit welchen Kaiser Ferdinand der Gütige den Schlußstein zur Kettenbrücke legte«.

Außerdem wird im selbigen Rathaus mit Ehrfurcht gezeigt: »das Eisen, mit dem die Verbrecher in alten Zeiten gebrandmarkt wurden«. »Zwei Steinkugeln aus Ferdinands III. Zeit.« Sowie (was höchst interessant ist): »der verwünschte Burggraf«, ein böser harter Burgherr, der »in grauer Vorzeit« in Veranlassung seiner Unmenschlichkeit auf das eindringliche Gebet einer armen Frau zu Gott in »einen ursprünglich 108 Kilogramm schweren Meteorstein von der Gestalt eines Pferdekopfes« verwandelt wurde. »Gegenwärtig ist aber nur der kleinere, etwa 22 Kilogramm schwere Teil desselben zu sehen, während sich der größere im k.k. Hofnaturalienkabinett in Wien befindet.«

Angeregt durch Fräulein Millinges Bericht, hatten Knagsted und Clausen beschlossen, dieser sehenswerten Stadt eine Visite abzustatten. Und an einem strahlenden Sonntag, nachmittags zwei Uhr, setzten sie sich in einen bequemen Landauer und rollten von dannen. Auf dem Bock saß ein ganz junger Bursche als Kutscher, und die Pferde waren munter und feurig, so daß der Oberlehrer sich ein wenig skeptisch zu dem Unternehmen verhielt.

Sie verließen die Karlsbader »Fremdenstadt«, wo Straßen und Anlagen von Hygiene und Sauberkeit schimmern, und gelangten in den mehr nationalen Charakter der Stadt hinein, wo der Staub und der Schmutz zollhoch auf den Straßen liegt, und wo es nach Rauch und Ruß und halbnackten Kindern stinkt.

Als dann aber das überstanden war und sie an der Bahnstation vorübergekommen waren, rollten sie auf einer breiten, weißen Landstraße dahin, die mitten in Gottes eigene freie Natur hineinführte.

Die Sonne lachte, die Vögel sangen, die Pferde tänzelten, und der Kutscher knallte mit der Peitsche.

»Ich finde, er fährt reichlich forsch, Knagsted«, bemerkte der Oberlehrer und hielt sich an den Wagenpolstern fest.

»Ja, das ist doch gerade das Schöne dabei, lieber Clausen!«

»Ach ja«, sagte Clausen und biß die Zähne zusammen.

Sie kamen an eine Bahnüberfahrt. Der Schlagbaum ging dem Fuhrwerk gerade vor der Nase herunter, und der Zug kam keuchend und schnaubend daher.

»Ich will lieber gehen!« sagte der Oberlehrer plötzlich resolut, und ehe man ihn daran verhindern konnte, riß er die Wagentür auf und sprang auf seinen Flamingobeinen in den Schutz eines Steinhaufens am Grabenrand.

Knagsted kreuzte die Arme über der Brust und sah ihm höhnisch nach. Der Bursche auf dem Bock lachte übers ganze Gesicht. Die Pferde standen einen Augenblick auf den Hinterbeinen, und dann war der Zug vorübergesaust.

»Du bist eine Bangbüchs', Clausen!«

»Ja, das leugne ich nicht, soweit es sich ums Fahren handelt!« sagte der Oberlehrer und kam heran. »Sie können die Pferde doch wohl ganz regieren?« fragte er dann vorsichtigerweise den Kutscher.

»Jaa, jaa!« grinste der Kerl in seinem Böhmer Deutsch.

Und der Oberlehrer stieg wieder ein.

 

Eine Viertelstunde später, gerade als die beiden Freunde im stillen Genuß der prachtvollen Aussicht über das Egertal dasaßen, sahen sie ein winzig kleines Männchen, weißhaarig und weißbärtig, auf sie zugetrippelt kommen. Er schlich am Wegesrande dahin, in der linken Hand trug er eine alte, mit Papier bedeckte Hummerdose. Er sah ungeheuer »hinterlistig« aus. Die Finger der rechten Hand waren raubtiergierig gespreizt, und von Zeit zu Zeit ließ er sich pardauz in das Gras hineinplumpsen und schnappte mit einer unglaublich schnellen Handbewegung irgendeine Beute auf, die er dann in der Hummerdose barg, deren Papier er vorsichtig in die Höhe hob und wieder schloß.

»Das ist, weiß Gott, der Justizrat!« sagte der Zöllner.

Und es war der Justizrat. Er fing Spinnen.

Als der Wagen bis zu ihm herangekommen war, ließ Knagsted den Kutscher halten.

»Guten Tag. Herr Justizrat! Sind Sie hier?«

Stabelsteen erhob den Wattenkopf und sagte ohne die geringste Überraschung:

»Guten Tag, meine Herren, guten Tag, guten Tag! Ja, wahrhaftig, hier spaziere ich!«

»Wollen Sie uns nicht das Vergnügen machen, mit uns zu fahren, Herr Justizrat?«

»Nein, ich danke, ich danke! Ich bin auf Fang aus.«

»Wir wollen nach Elbogen«, sagte Clausen. »Es soll so hübsch dort sein.«

»Ja, es soll sehr hübsch sein.«

»Wollen Sie nicht mit? Wir haben reichlich Platz.«

»Kann nicht!« lächelte der Wattenmann. »Ich fange

»Ja, das sehe ich. Haben Sie denn etwas gefangen? Genug?« (Jetzt sprach Knagsted.)

»Ja!« nickte der kleine Mann vergnügt und trippelte näher heran. »Sehen Sie!« sagte er und hob das Papier von der Dose. (Man sah in einen wimmelnden Abgrund von Spinnen hinab.) »Ganz brillante Exemplare!«

Clausen schauderte. Knagsted aber sagte sehr interessiert:

»Ja, die sehen wirklich brillant aus!« (Dann konnte er sich nicht länger beherrschen): »Sie sind, wie ich höre, ins ›National‹ gezogen, Herr Justizrat?«

»Ja, ich bin umgezogen!« sagte der Justizrat ruhig. »Die Dame, bei der ich wohnte, war außerordentlich unliebenswürdig, und da zog ich aus. Aber jetzt muß ich den Herren Lebewohl sagen! Ich bin sehr beschäftigt.«

»Ich finde wirklich. Sie sollten mit uns fahren!« sagte Clausen gutmütig. »Das wäre doch eine kleine Abwechslung für Sie?«

»Abwechslung!« lächelte der Wattenmann matt, nachsichtsvoll. »Ein Wann der Wissenschaft, selbst von meinem geringen Wert, Herr Oberlehrer, bedarf keiner ›Abwechslung‹! Die Arbeit ermüdet ihn nicht. Er ist im Gegenteil stolz und froh, ihr jede Stunde seines Tages zu widmen! Also, adieu, meine Herren! Und auf Wiedersehen!«

Und der kleine Mann machte höflich, aber beleidigt seinen Kratzfuß mit Watte und Hummerdose und trippelte an den Wegesrand hinüber.

»So, da hast du es!« sagte der Zöllner. Gleichzeitig aber sah er Stabelsteen, diesem unbeschreiblich glücklichen Arbeiter im Weingarten des Herrn, grün vor Neid nach!

 

Die Landstraße lief beständig am Egertal entlang, das sich breit und grün tief unten am Fuße der Hügel hinzog. Hie und da ragte der hohe Schornstein einer Fabrik (Porzellan) in die Luft auf gleich einem rußbefleckten Zeigefinger. Sonst herrschte nur spärliches Leben und Treiben. Einzelne kleine, niedrige Häuser und weißgekleidete Kirchen guckten zwischen den Bäumen hervor. Ein paar Kühe und Ziegen grasten auf den Wiesen, und eine Schar nackter Kinder plätscherte und lärmte um einen alten, morschen Prahm herum, der halb am Ufer, halb im Fluß lag.

Nach einer längeren, gedankenvollen Pause sagte der Zöllner:

»Weiß der liebe Gott, Clausen, ich freue mich sehr darauf, unser Dänemark wiederzusehen.«

»Ja, und wenn du dann glücklich zu Hause angelangt bist,« nickte der Oberlehrer, in dem der Zorn noch nicht verraucht war, »so sehnst du dich wieder hinaus!«

»Ja – das Leben ist ein Jammertal voll Sorg und Leid! Kaum hat man sich so recht satt gegessen, so – – und so weiter!«

»Du solltest dich wirklich schämen, so zu reden; du, der du alle Güter des Lebens in Hülle und Fülle hast!«

»Welche, wenn ich fragen darf?«

»Ich meine, daß du, der du Vermögen hast – so viel Geld, wie du nur gebrauchen kannst, und –«

» Geld macht es wirklich nicht, Clausen!«

»Nicht allein, nein – aber nun ist dein Magen ja auch auf dem besten Wege, in Ordnung zu kommen!«

»Ja!«

»Ja, nicht mehr!«

»Ja – hm! Und im vorigen Jahr hab' ich fünftausend Kronen in der Lotterie gewonnen.«

Clausen schlug die Hände zusammen:

»Und dann bist du noch nicht zufrieden?«

»Nein – ich lasse mich nämlich nicht bestechen! – – Das heißt das Geld nehme ich natürlich an, aber ich lasse meine Anschauungen dadurch nicht beeinflussen.«

»Bestechen?«

»Bestechen, ja! – Wenn du zum Beispiel fünftausend in der Lotterie gewännest, oder, ich will mal sagen, wenn du nur zum Titulatur-Professor ernannt würdest, so würdest du sofort finden, daß die Welt ›noch‹ schöner ist, und daß dein guter lieber Gott ein Prachtkerl ist! Siehst du, das ist der Unterschied zwischen uns.«

»Ja, aber man muß doch dankbar sein, wenn –«

»So – o? Gegen wen?«

»Wie?«

» Wem muß man dankbar sein?«

»Wem?«

»Ja! Du Schafskopf!«

»Ich meine nur, man empfindet doch so ein gewisses Bedürfnis, zu danken, wenn – –«

» Wem zu danken? Zum Teufel auch!«

»Wem – – wem, ja – – der Vorsehung

»Hm! – Mein Magen ist besser! aber jetzt habe ich ein krankes Bein; soll ich da vielleicht –?«

»Ach, dein Bein ist gewiß gar nicht so schlimm –«

»Darum handelt es sich nicht, lieber Clausen! Es fragt sich: soll ich der ›Vorsehung‹ für den Magen danken?«

»Ja, natürlich!«

»Das heißt mit andern Worten, daß ein Mensch, der Lungenentzündung hat, der ›Vorsehung‹ danken soll, daß er zum Beispiel nicht obendrein noch die Krätze hat! ... Die Erde würde ja schief werden vor Dankbarkeit.«

»Ach, mit dir ist gar nicht zu reden!«

»Ja – a?«

»Da ist keine Spur von gesundem Menschenverstand in dir!«

»Vielleicht nicht viel, nein. Aber ich bin nun trotzdem ganz gedankenanregend, lieber Clausen.«

»So – o?«

»Ja, das bin ich – denn ich gebe der Kugel den Anstoß. Ich bin der Fuß, der den Spaten treibt. Ich bin der Finger auf dem Knopf der Alarmklingel. – Kannst du das verstehen?«

 

Sie gelangten jetzt an die vorhin erwähnte Drehung der Landstraße. Und vor ihnen, jenseits des grünen Tales, lag auf ihrem bewaldeten Felsen die uralte Burg Elbogen.

Ihr plötzliches Sichtbarwerden wirkte so überwältigend auf die beiden Freunde, daß sie sich gleichzeitig bei der Hand packten und ausriefen:

»Nein, sieh doch nur!«

Der große, viereckige Mittelturm des Schlosses stand von der Sonne beleuchtet da, während die zahlreichen niedriger gelegenen Dächer, Anbauten und kleinen Türme zwischen den grünen Schatten der Bäume hervorlugten. Und als Rahmen um das ganze Bild lagen da die fernen, bewaldeten Berge, der tiefblaue Himmel und die leicht gekräuselten Wasser der Eger.

»Prachtvoll!« sagte der Oberlehrer.

»Wie eine Theaterdirektion!« sagte der Zöllner.

Der Kutscher aber, der sich verteufelt wenig aus Türmen und Flüssen und bewaldeten Bergen machte, zeigte mit der Peitsche in die ganz entgegengesetzte, Richtung und sagte:

»Da liegt die Kettenbrücke, meine Herrschaften!«

Im selben Augenblick bog ein anderer Landauer um die Ecke auf dem Wege von der Stadt her, und es fehlte nicht viel daran, so wären die beiden Fuhrwerke ineinandergefahren; nur des Kutschers schneller und gewandter Griff in die Zügel verhinderte den Zusammenstoß; und die Wagen sausten in einer Entfernung von ein paar Zoll aneinander vorüber.

»Guten Tag! Guten Tag, Herr Knagsted!«

»Guten Tag! Guten Tag, Herr Student!«

Der Student lächelte und nickte und wehte mit seinem Taschentuch. Und dann war der Wagen um die nächste Ecke verschwunden.

Aber Knagsted hatte doch Zeit gehabt, zu sehen, daß vier Personen darin saßen, zwei Herren und zwei Damen, und daß das Gesicht des Studenten glänzte wie eine Pfütze in der Maiensonne ...

Eine sanfte Freude glitt durch die Seele des Zöllners:

»Hast du ihn gesehen?« fragte er. »Hast du ihn gesehen, Clausen? Sahest du, wie er vor Glück strahlte? – Gott sei Dank, daß ich ihn dazu kriegte, daß er ›Hol' mich der Deubel!‹ sagte. – Jetzt ist die Kleine ihm sicher.«

»Ja, hast du aber gesehen,« fragte Clausen, noch ganz blaß von dem überstandenen Schrecken – »hast du gesehen, daß wir kurz davor waren, ineinanderzufahren?«

»Ach was!« entgegnete der Zöllner und machte eine abweisende Bewegung mit der Hand. »Wir taten es ja aber nicht!«

»Nein –«

 

Im » Weißen Roß« – »ausgezeichnet durch den Besuch hoher Herrschaften« – kehrten sie ein, aßen Forellen und tranken Hochheimer auf der Terrasse über der Stadtmauer, von wo aus sie auf eine Wiese hinabsahen, wo gemäht wurde, und auf eine kleine Birkenplantage, die sich traulich und gemütlich an beiden Seiten des Flusses entlang zog.

In dieser Wirtschaft war eine kleine, niedliche und goldhaarige Kellnerin, die vom ersten Augenblick an eine tiefe und rührende Zuneigung zu Oberlehrer Clausen gefaßt zu haben schien. Standhaft und unermüdlich sandte sie ihm die wärmsten Blicke zu. Und wenn sie ihm die Speisen reichte, verweilte sie lange und innig an seiner Seite. Sie glich einer Mutter, die ihr Kind füttert. Es war, als empfinde sie das tiefste Bedürfnis, ihn auf den Schoß zu nehmen und satt zu machen.

Clausen aber wurde mit jedem Gericht röter und röter.

»Du hast Anziehung für das weibliche Geschlecht, kleiner Oberlehrer«, sagte der Zöllner. »Nach mir fragt niemand.«

»Ach, die verrückte Person!«

»Sage das nicht! Sie ist wirklich allerliebst, und ich beneide dich!«

»Ja, sie ist ganz nett, aber –«

»Da siehst du! – Soll ich ein wenig verschwinden?«

»Blödsinn!«

Das Mädchen wurde immer zärtlicher, und als Knagsted beim Kaffee fragte, ob sie nicht einige Kuchen bringen könne, breitete sie die Arme aus, als wolle sie Clausen umschlingen und sagte:

»Zuckersüße Herren müssen zuckersüße Sachen haben!«

Und als sie ihre Rechnung bezahlt hatten und adieu sagten, ergriff sie Clausens Hand, küßte einen Kreuzer von dem erhaltenen Trinkgeld und steckte ihn ihm unter den Kragen:

»Zum Andenken, lieber Herr Doktor! Zum Gruß und Andenken!«

Der Oberlehrer raste und schnob vor Wut, während die Münze an seinem Körper herabglitt. Es fehlte nicht viel, so hätte er mit den Beinen ausgeschlagen.

Der Zöllner aber sagte sanft und milde:

»Wie bezaubernd kann doch eine Frau in ihrer zarten Liebe sein!«

 

Dann wanderten sie eine Weile umher und besahen die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Sie waren im Rathaus und betrachteten andachtsvoll die silbernen Maurergeräte und die zweiundzwanzig noch vorhandenen Kilo von dem verwünschten Burggrafen. Sie waren in der Dekanalkirche zu St. Wenzel und wohnten einer katholischen Kindtaufe bei. Sie trabten ein paarmal über die Kettenbrücke hin und her. Und sie besahen die Burg von innen und von außen.

Als die Uhr zwischen sechs und sieben war und die Sonne sich ihrem Untergange zuneigte, promenierten sie in den Birkenanlagen am Fluß. – Steil standen die alten Stadtmauern mit ihren bogenförmigen Bastionen da und schirmten die friedliche kleine Stadt, deren Dächer und Schornsteine da oben über der Brustwehr hervorguckten wie treue Wachtposten, die die Wache ins Gewehr rufen sollten gegen »den Schmutz und die Verderbnis der großen Welt«. – In dem gekräuselten Wasser des Flusses tummelten sich fröhliche Kinder, Knaben und Mädchen in nackter Unschuld. Und von einer morschen hölzernen Brücke, hinter einer schirmenden Wand blühenden Holunders, ertönte Rufen und munteres Lachen. Es war die männliche Jugend der Stadt, die jetzt nach dem Feierabend in die Eger hüpfte, um den Staub des Tages und der Arbeit von den müden Gliedern zu spülen ... Durch das feine, zitternde Laub der Birken fielen die Strahlen der Sonne auf ihre weißen Glieder herab ... Das Heu duftete, und die Vögel sangen – alles atmete Anschuld und Frieden. Es war, um mit dem Dichter zu reden, wie ein Abend am Morgen der Zeit. –

Als aber die beiden Freunde an den schirmenden Holunderbüschen vorüberkamen, schlüpften ein paar junge, hellgekleidete Bürgerstöchter errötend heraus und verschwanden laufend in der Richtung der Stadt.

»Nein, hast du je so etwas erlebt?« sagte der Oberlehrer.

»Ja, das habe ich allerdings!« entgegnete der Zöllner.

Vier Tage nach dem Ausflug nach Elbogen bestiegen Knagsted und Clausen den Zug am Buschterhader Bahnhof und verließen die warme Bonbonschachtel Karlsbad, um wieder in den kalten Norden zurückzukehren. –

Der Magen des Zöllners war besser, viel besser, das ließ sich nicht leugnen. Aber nun hatte er ja dies Bein, das ihn plagte. Es war höchstwahrscheinlich Gicht oder Ischias, was darin steckte, und es verursachte ihm zuweilen bedeutende Schmerzen und wirkte genierend auf seine bekannte Lebensfreude. – Er hatte sich hin und wieder mit dem Gedanken getragen, zu seiner Nachbarin, der Gräfin Wolakoisky hineinzugehen; teils weil sie wahrscheinlich eine so kräftige und heilbringende Wärme entwickelte, daß sich das Bein wohl dabei fühlen mußte, teils weil die Masseuse da drinnen, erschöpft von dem Fett der Gräfin, dem auf den Grund zu kommen gewiß sehr beschwerlich war, es geradezu als eine Erquickung empfinden würde, wenn sie sich eine Freiviertelstunde mit ihm beschäftigen konnte. Aber dieser zugleich praktische und humane Gedanke war doch nicht zur Tat geworden:

»Denn, siehst du, lieber Clausen, mir ist eingefallen, daß damals, als mein Magen anfing besser zu werden, die Götter mir dies mit dem Bein bescherten. Und wenn ich nun hingehe und das Bein kurieren lasse, kann man nicht wissen, was für eine Überraschung die Herren dann für mich ersinnen. Deshalb habe ich beschlossen, die Götter vorläufig anzuführen und das Bein so zu behalten, wie es ist.«

 

Die letzten Karlsbader Tage waren dem Zöllner übrigens angenehm und gemütlich verstrichen. Er war bis acht Uhr in seinem guten Bett liegengeblieben und war dann zu Pupp gehinkt, wo er den Oberlehrer getroffen hatte, der, geizig, wie er im Innersten seines Herzens war, bis zum letzten Augenblick die Segnungen des Wassers genießen wollte und deshalb blaß und übernächtig von der Quelle kam. –

Eines Tages hatte sich Jägermeister Krüger in Begleitung einer kleinen pummeligen Frau Hansen aus Nakskov ihnen angeschlossen. Die junge Frau litt an etwas, das sie in ihrem kindlichen Jargon »durchgegangene Niere« nannte. Sie hatte deswegen Haus und Hof, Mann und sechs Kinder und Laaland verlassen und war nach Karlsbad gekommen, »das ja, weiß Gott, so berühmt ist«, um den Versuch zu machen, besagte Niere zu bändigen. Im übrigen war sie fröhlich und munter und redselig und geputzt, und ehe noch eine Viertelstunde vergangen war, hatte sie den drei Herren ihren ganzen Lebenslauf bis in die intimsten Details mitgeteilt. Der Mund stand ihr nicht still, und man saß in steter Angst, daß die leichtsinnige Niere einmal diesen Ausgangsweg benutzen könne.

Ihr Mann war Hardesvogt und war, weiß Gott, so beschäftigt. Und sie hatten einen Garten und sechs Kinder, vier Knaben und zwei Mädchen. Und in der Stadt erzählte man sich, das jüngste Mädchen hätte Ähnlichkeit mit dem Assessor, und das konnte, weiß Gott, gern möglich sein, denn der war so hübsch, daß man ihn ansehen mußte, und er hatte während der ganzen Schwangerschaft bei Tisch gesessen, und sie hatte zu ihrem Mann gesagt, er müsse die Folgen hinnehmen, denn das wisse man ja doch, was man in dem Zustand ansah, dem wurde das Kind ähnlich. Aber nun hatte sich der Assessor selbst mit der reizendsten kleinen Frau von Maribo verheiratet, und sie waren im Dom getraut, und sie wohnten so wunderhübsch; jeden Mittag nach Tisch lag die junge Frau eine Stunde in Weiß auf der Chaiselongue, und dann kam der Assessor mit einer hochroten seidenen Decke und bedeckte sie. Aber sie hatten jedes seine Schlafstube, was, weiß Gott, Affektation war, denn wenn man erst verheiratet war, war doch nichts mehr zum genieren. Sie, Frau Hansen, und ihr Mann, waren nun sieben Jahre verheiratet und hatten sechs Kinder und hatten immer zusammengeschlafen, und das jüngste kleine Mädchen war zwei, und das Verhältnis zwischen ihnen war heutigestags noch ebenso unschuldig und rein wie am Hochzeitstage selber!

Knagsted hatte schweigend dagesessen und dem Gezwitscher der kleinen Frau gelauscht, wie man einem unmündigen Kinde zuhört, das den Mund hirnlos laufen läßt wie ein aufgezogener Phonograph. Er hatte hin und wieder »Ja« und »Nein« und »So – o« und »Wirklich?« gesagt und im übrigen seinen Kaffee getrunken und das Publikum angesehen.

Als die junge Frau aber anfing, von der »Reinheit« zwischen ihr und dem Manne trotz der siebenjährigen Ehe, dem gemeinsamen Schlafzimmer und sechs Kindern zu reden, da erhob er unwillkürlich den Blick von der Kaffeetasse und guckte schelmisch zu den Herren Krüger und Clausen hinüber.

Diese aber schienen seine Gegenwart gänzlich vergessen zu haben, so in Anspruch genommen waren sie von der Dame aus Nakskov. – Der Jägermeister starrte sie (wahrscheinlich auch eine Folge der erzwungenen Diät) ganz bezaubert und begehrlich an, mit genau demselben Blick, wie er neulich das Kücken Nr. 3 von oben rechts auf der Alten Wiese angestarrt hatte. – Und der Oberlehrer saß, hingerissen von ihrer holden Unschuld und babyhaften Unmittelbarkeit da und betrachtete sie mit einem so törichten und lammartig entzückten Ausdruck seines ganzen Kopfes, daß man hätte glauben können, er sei der heiligen Jungfrau von Lourdes von Angesicht zu Angesicht gegenübergestellt.

Die Schelmerei in Knagsteds Augen erlosch plötzlich, und er schämte sich tief seines Geschlechts und wurde ärgerlich:

»Reines Verhältnis!« höhnte er in einem Ton, der Clausen aus allen sieben Himmeln stürzte. – »Ja! Es gibt, meine verehrte gnädige Frau, kein in dem Sinne ›reines‹ Verhältnis, solange die Menschen gezwungen sind, sich auf die bizarre Weise zu paaren, auf die dies bisher stattgefunden hat!«

Der Oberlehrer sprang mit einem Satz vom Stuhle auf. Und der Jägermeister schlug empört mit der Hand auf den Tisch:

»Sie sind ein Schwein! Verdammt und verflucht! Ja, das sind Sie!«

»Nein, das bin ich nicht!« sagte der Zöllner ruhig – »keineswegs! Ich bin nur ein ›unerschrockener‹ Denker!«

Darauf griff er aber geschwind nach seinem Hut, verneigte sich ehrerbietig und überließ die anderen ihrem Schicksal.

 

Sprudelstein-Mosaik ist ungefähr das Häßlichste, was man mit seinen Augen sehen kann. Alle Läden in Karlsbad sind mit Nippes- und Gebrauchsgegenständen überschwemmt, die mit diesem Material verziert sind. Und wahrscheinlich müssen diese Gegenstände ihre Käufer finden, da die geschäftsfähigen Deutschen im entgegengesetzten Fall sicher längst aufgehört haben würden, sie auf den Markt zu bringen. –

Es war Knagsteds Absicht, seiner Freundin, der alten Stine im Boseruper Walde bei Roskilde – »der letzten fröhlichen Frau in Dänemark«, wie er sie nannte – ein kleines Geschenk mitzunehmen. Und er genoß schon im voraus ihr entzücktes: »Ih-h!« und übriges Freudengeschrei, wenn er ihr den Gegenstand überreichte und erzählte, daß er ihn tief unten im Böhmerlande gekauft und ihn den weiten Weg in seinem Koffer mitgebracht hatte. Er sah sie sofort die Harmonika vom Bord herunternehmen und einen sausenden Erntefestgalopp anstimmen.

Aber was sollte er nur kaufen? Es mußte ja natürlich etwas sein, was man nicht auch in Roskilde kaufen konnte, etwas, worauf Stine stolz sein und was sie vorzeigen und worüber sie sprechen konnte, wenn sie Kaffeebesuch von den Frauen und Mädchen aus der Nachbarschaft bekam ... etwas, das so märchenhaft fremdartig war, daß man glauben konnte, es sei vom Himmel herabgefallen; und auf der anderen Seite, da ja Stine eine praktische und verständige Frau war, etwas, was sie gebrauchen und wovon sie Nutzen haben konnte ...

Da war ja dieser schreckliche Nähkasten, dessen Deckel mit den schrecklichen Sprudelsteineinlagen verziert war ... Stine würde ihn ja wunderbar schön finden ... Aber Knagsted wurde schlimm und übel davon. Diese leberartigen Farben der Steine und scheckigen Zusammenstellungen erinnerten ihn an Seekrankheit; es drehte sich alles in ihm um, wenn er nur daran dachte. –

Und doch endete es schließlich damit, daß er den Kasten kaufte!

Als er nämlich eines Tages an dem Laden vorüberging, in dem das »Vomitiv« ausgestellt war, stand eine Bauernfamilie, Vater, Mutter und Tochter, da und betrachtete die verschiedenen Gegenstände hinter der Fensterscheibe. Und da hörte er denn die Frauenzimmer sich in den höchsten Lobeserhebungen über diese »wunderschönen« Sachen ergehen. Namentlich erregte der Nähkasten ihre Bewunderung. Die Tochter erklärte geradezu, daß, wenn sie auf irgendeine Weise in den Besitz dieses Kastens gelangte, sie für den übrigen Teil ihres Lebens glücklich sein würde! – Der Vater zog und zerrte an den beiden Frauenzimmern, um sie von diesem gefährlichen Ort zu entfernen. Aber er konnte sie nicht vom Fleck bekommen. Sie waren wie an das Fenster festgeleimt. »Du könntest doch gern hineingehen und fragen, was der Nähkasten kostet«, meinte die Mutter. »Nein!« »Ach ja!« bat die Tochter (sie war ein allerliebstes, blondlockiges Gretchen mit großen, blauen Vergißmeinnichtaugen), »geh doch nur hinein und frage, was er kostet.« Der brave Vater ging hinein und fragte, aber er kam gang erschüttert in seinen Grundfesten zurück. »Fünf Gulden«, sagte er und zerrte wieder an den Frauenzimmern. And diesmal bekam er sie mit: »Fünf Gulden für einen Nähkasten!« Es schwindelte ihnen! – Aber Gretchen sah, als sie sich vom Fenster abwandte und ihrem Erzeuger folgte, trotzdem aus, als könne sie hier auf Erden nie wieder fröhlich werden ...

Der Zöllner blieb einen Augenblick stehen und sah ihnen nach. Dann stürzte er plötzlich in den Laden, kaufte den Kasten und stürzte wieder hinaus ... Als er die Familie erreichte, ergriff er, ohne ein Wort zu sagen, die Hand des jungen Mädchens, steckte den Nähkasten hinein, klemmte ihre Finger tüchtig zusammen, machte kehrt und ging in den Laden zurück. Aber in der Tür konnte er es nicht lassen, sich umzusehen, und da sah er Mann, Frau und Tochter stehen, wie er sie verlassen hatte, mitten auf der Straße, wie vom Himmel gefallen, Mund und Augen weit aufgerissen, ganz blödsinnig vor Freude und Erstaunen, ungefähr, als glaubten sie, der allgütige Großvater selber habe sie besucht ...

Drinnen im Laben aber kaufte sich Knagsted noch einen Nähkasten, genau so wie den ersten, denn wenn er eine solche Macht auf die einheimischen Seelen ausübte, so mußte die alte Stine daheim im fernen Dänemark doch mindestens zum Boseruper Walde hinausfahren vor Entzücken, so ein Ungeheuer geschenkt zu bekommen.

»Verdammt langweilig, daß Sie nicht ebensogut nächsten Freitag reisen können, denn dann hätten wir ja zusammen fahren können.«

»Ja – a –, aber wir wollen hier nun nicht länger sein!« sagte der Zöllner.

»Nein, das wollen Sie offenbar nicht–«

Der Oberlehrer starrte vor sich hin in die Ferne:

»Mir ist es, als seien wir ein ganzes Jahr fortgewesen«, sagte er.

»Ja, das kennen wir«, nickte der Jägermeister. »Und wenn man dann einen Tag in dem alten Schlendrian zugebracht hat, so ist es einem, als hätte man nie einen Schritt vor die Tür gesetzt! Die Herren bleiben wohl ein paar Tage in Berlin?«

»Nein, wir sausen direkt durch, nicht wahr, Clausen?«

»Ja, jetzt müssen wir wirklich nach Hause!«

»Dänemark sehnt sich nach uns!« sagte der Zöllner.

»Ha, ha! Aber dann kommen Sie doch im Laufe des Sommers beide einmal zu uns, um zu sehen, wie wir bei Nakskov herum leben. Sie sollen auch gut behandelt werden.«

»Ja gern, nicht wahr, Clausen? Nun haben wir ja einmal Blut geleckt.«

»Ja, vielen Dank, Herr Jägermeister. Ich möchte Laaland gern einmal sehen; Sie sagen ja, daß es so schön ist.«

»Hm ja! Die Gegend, die man lieb hat, ist immer schön; ich weiß ja nicht, wie Sie es finden werden, Herr Oberlehrer. Aber am Essen soll es nicht fehlen!«

»Und wir dürfen jeden Tag gratis auf Ihre Wiese hinausgehen?«

»Das dürfen Sie, verdammt und verflucht, Herr Kontrolleur, ha, ha, ha! Und ich will mich gern verpflichten, jeden Tag ein neues Individuum zum Ausschimpfen zu liefern. Einige Schafsköpfe hat man ja immer auf einem Gut.«

»Sonst können wir uns ja auch gegenseitig traktieren!«

»Ja, schaden könnte es am Ende nicht.«

»Nein. Was machen Ihre Nieren übrigens, Herr Jägermeister?«

»Denen geht es brillant! Viel besser! Diese Diät bekommt einem ja. Aber wenn man nun wieder zu den eigenen Fleischtöpfen kommt, so nimmt man natürlich Revanche.«

»Das sollten Sie nicht tun, Herr Jägermeister.«

»Nein, da haben Sie ganz recht, Herr Oberlehrer, ha, ha, ha! Aber ich tue es ja doch! Ich kann es, weiß Gott, nicht aushalten, dazusitzen und Mücken zu essen, während die anderen Gänsebraten futtern! Und Ihr Magen, Herr Zollkontrolleur?«

»Dem geht es ebenfalls brillant! Aber ich habe allerdings die Absicht, die Diät fortzusetzen.«

Der Jägermeister schlug ein Gelächter an, das die Umhersitzenden auffahren machte.

»Sie meinen die Diät mit Kapaunen und Kücken und Ochsenfilet und Schweinsbraten?«

»Man muß sich ja durchprobieren.«

»Ja, Sie sind ein netter Kunde! Ihnen hat, weiß Gott, nie was gefehlt.«

»Und jetzt behauptet er auch, daß sein eines Bein krank geworden ist«, sagte der Oberlehrer.

»Den Teufel auch ist es krank! Ich hab' ihn ja auf der Straße umherlaufen sehen wie einen Kiebitz.«

»Das ist nur meine pyramidale Selbstbeherrschung, meine lieben Freunde.«

»Selbstbeherrschung? – Sie und Selbstbeherrschung? Kommen Sie mir nur damit nicht. Wie haben Sie die kleine Hardesvögtin neulich morgens bei Pupp traktiert! Das reden Sie gefälligst andern ein!«

»Ja, er treibt es zuweilen ein wenig arg«, nickte Clausen.

»Ein wenig? So etwas zu sagen, in Gegenwart von Damen

Knagsted lächelte vor sich hin:

»War das denn so schlimm?«

»Ob es schlimm war, ha, ha, ha! Und dann kniffen Sie aus und ließen uns in der Patsche sitzen.«

»Das tat ich, ja, und das schadete euch gar nichts. Aber sagen Sie mir doch, Jägermeister, können Sie erzählen, was Sie dachten

»Was ich dachte? Wann?«

»Bei derselben Gelegenheit; Sie saßen ja da und verschlangen die kleine Hansen mit ein paar Augen, als wäre sie ein Kotelett mit Trüffeln.«

Der Jägermeister errötete:

»Was ich gedacht habe?«

»Ja. Sie haben mich ausgescholten, weil ich das gesagt habe; lassen Sie uns nun Ihre Gedanken einmal etwas genauer betrachten.«

»Gedanken sind zollfrei.«

»Das sagt man, ja. Aber ich bin Zollkontrolleur.«

»A. D., wenn ich bitten darf.«

»Nein, zuweilen amtiere ich noch. Also: heraus mit der Sprache!«

»Sind Sie verrückt? Ha, ha, ha! Glauben Sie, es sollte mir einfallen, Ihnen zu erzählen –«

»Soll ich es etwa übernehmen?«

»Nein, weiß Gott, das sollen Sie nicht! Man darf doch wohl denken, was man will. Wollen Sie mir etwa einreden, daß Sie nichts dabei empfinden, wenn Sie dicht neben einer so niedlichen kleinen Frau sitzen, die frisch von der Leber weg über ihre Schlafstube und ihr Bett und – und all dergleichen plaudert? Und noch dazu ich, der ich solange von meiner Frau fortgewesen bin? Das tun, weiß Gott, alle Männer. Sie sollten bloß hören, was wir uns alles erzählen, wenn wir im Winter zum L'hombre zusammenkommen. Aber das ist ja eine andere Sache, wenn man unter sich ist. Aber sagen, was Sie sagten, wenn eine Dame zugegen ist, das tut man nicht – ja, entschuldigen Sie –, das tut man, weiß Gott, nicht, wenn man als gebildeter Mensch angesehen werden will.«

Knagsted lächelte von neuem:

»Und was sagt mein Freund Clausen?« fragte er.

»Herr Krüger hat selbstverständlich recht!« sagte der Oberlehrer energisch.

»Ja, dann muß ich mich ja beugen.«

Das war der letzte Abend in Karlsbad. Die drei Herren saßen im Restaurant im »Stadtpark« und verzehrten ihren Prager Schinken und lauschten den Tönen der Musik.

 

Am nächsten Tage, nachmittags 1 Uhr 40 Minuten, verließen die Freunde, Clausen und Knagsted, das herrliche Böhmen und zogen heim nach dem noch herrlicheren Dänemark.


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