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XVI

Das Fest beginnt um sechs Uhr. »Wer um sechs kommt, könnte immerhin noch Abendbrot essen wollen«, hat der Wirt Zum Goldenen Löwen kalkuliert und seine gewichtige Stimme für sechs Uhr abgegeben. Nur daß Tische statt durchlaufende Stuhlreihen gestellt werden, hat er nicht erreichen können.

»Ein künstlerisches Programm, mein Lieber«, hat der Bürgermeister begütigt, »und meine Künstler revoltieren, wenn geraucht und Bier ausgeschenkt wird.«

So 'ne Künstlers, denkt der Wirt verächtlich, bloß höchstens Margies und die Akrobaten … Aber er muß sich fügen.

Es gibt Papiergirlanden und ein paar Fahnen. Die Stühle stehen in langen Reihen wie nackte Insekten vor der Bühne. Man hat Nummern auf Pappschilder geschrieben und sie mit Bindfäden an die Lehnen gebunden. Die »notleidende Bevölkerung« hat man in zwei geschlossenen Gruppen zu fünfundzwanzig an den Seitenwänden verteilt, von der Bühne bis zur Mitte des Saales, so daß die Gesichter die Parkettreihen entlanggehen können. Es erweist sich später, daß diese Aufstellung unzweckmäßig ist, weil sie »psychologische Momente« nicht berücksichtigt hat.

Als die ersten Künstler erscheinen, brennt eine Lampe an der Seitenwand des Saales, und der große Raum sieht aus wie ein leerer Sarg. Der Piccolo, eine überflüssige Serviette unter dem Arm, steht regungslos vor dem herabgelassenen Vorhang.

Dann fahren Wagen vor. Der Saal wird hell und erbarmungslos nackt in seiner bröckelnden Pracht. In der Garderobe gibt es die ersten bösen Blicke. Der Bürgermeister empfängt wie ein Staatsminister.

Die »Bevölkerung« erscheint geschlossen. Die meisten weigern sich, ihre Überkleider abzugeben. »Is nich!« sagt Naujoks aggressiv. »Wer betoalt, wenn geklaut wird?« Er riecht ein wenig nach Spirituosen, und man läßt es dabei bewenden. Es ist nicht ganz angenehm, daß die Seitenreihen gefüllt sind, bevor das Parkett sich füllt. Es fallen kritische Bemerkungen, ziemlich laut, und es wird gelacht, ziemlich unverblümt.

Lina, mit einem schwarzen Kopftuch, rosig, gesund, ohne Verlegenheit, sitzt dicht an der Bühne beim Eingang zum Künstlerzimmer. »Tag, jnä Fru«, sagt sie zur geborenen Pfeffer, »man keine Angst nich. Mit dat Lampenfieber is dat wie mit dat erste Kind.«

»Guten Tag«, erwidert die geborene Pfeffer nicht ohne Hoheit. Naujoks, dessen Lebensgeister in der Wärme sehr fruchtbar erwachen, erweist sich als nicht ganz unbedenklich in der diskreten Atmosphäre eines Theatersaales. Vor ihm, dritte Reihe, rechter Eckplatz, sitzt die Frau des Fischereiaufsehers, bei deren Anblick eine Reihe nicht sehr erfreulicher Vorstellungen in seinem leise umnebelten Hirn aufsteigen. Sie ist hinten sehr tief ausgeschnitten, und er fragt sehr freundlich, ob er sie nicht hinten »zuhaken« solle.

Seine Frau sitzt hinter ihm, ein kleines, mageres Wesen, flach wie aus einer Sardinenbüchse. Sie stößt ihm die Faust in den breiten Rücken, und für eine Weile ist er gebändigt. Aber dann sieht er auf der andren Seite des Saales Kiepel, der seinen Platz sucht, und obwohl er einen Bratenrock trägt, entgeht er Naujoksens Fischeraugen nicht. »Kiepel!« ruft er sehr laut. »Komm röwer, Exzellenz! Vorne flimmert dat. Ick wer op din Mütz oppasse!« Der ganze Saal wendet sein peinlich berührtes Gesicht zu ihm hin. Die Gymnasiasten, an den Wänden entlang verteilt, feixen. »Wat kiekt ju?« sagt Naujoks gekränkt. »Kiepel is min vornehmste Bekanntschaft.« Dann knickt er nach hinten auf seinen Stuhl zurück und empfängt eine Reihe sehr deutlicher Belehrungen von seiner Frau.

Ein paar Minuten nach sechs erscheint der Landrat mit ein paar anderen Spitzen der Kreisstadt. Auch das Gericht ist vertreten. Der Bürgermeister gibt ihnen das Geleit bis zu den Ehrenplätzen. Ein Teil des Saales erhebt sich, und der Landrat verbeugt sich nach allen Seiten. Da er niemanden dabei ansieht, macht es den Eindruck, als beuge sich ein Baum im Winde.

Dann ertönt das erste Glockenzeichen. Hinter dem Vorhang wird es hell, und gleichzeitig wird der Saal verdunkelt. Der Vorhang geht mit einigem Stocken in die Höhe, und hinter ihm entfaltet sich, von den Füßen aufwärts, das Bild der beiden schwarzen Flügel und der Mitwirkenden, die feierlich erstarrt, wie vor der Photographenlinse, auf die Tasten blicken. Vereinzelte Klatschversuche werden durch Zischen unterdrückt. Die beiden Seitenreihen der »Notleidenden« treten schon bei der ersten Nummer etwas peinlich in Erscheinung. Fräulein Birkenwald, die an einen Habicht im Käfig erinnert, gibt das Zeichen, und die Ouvertüre beginnt. Die Flügel sind nicht ganz sauber gestimmt, die rechten Pedale werden etwas zu reichlich benutzt, und in der Mitte ergeben sich ein paar Unstimmigkeiten im Takt. Aber nachdem Fräulein Birkenwald ein paar Takte laut gezählt hat und scharf vor sich hingenickt hat, kommt es wieder in Ordnung, und der Schluß macht einen starken Eindruck. Es gibt viel Beifall, und die Künstler verbeugen sich bescheiden.

»Gotts Dunner!« ruft Naujoks, als der Vorhang gefallen ist. »Vierzig Fingers … allerhand!« Und er klatscht in seine Hände, die wie zwei Ruderblätter sind, und bringt es fertig, daß der Applaus noch einmal einsetzt und der Vorhang noch einmal aufgeht. »Das Primitive des Volkes hat doch etwas Rührendes«, sagt der Bürgermeister zum Landrat.

»Jawohl«, erwidert dieser höflich und hat falsch verstanden. »In solchen Sälen zieht es immer.«

Der Bürgermeister spricht zu Herzen gehend. Von der Volksgemeinschaft im armen Deutschland und daß man wie Brüder in der Not zusammenstehen müsse. Daß Bubenhände in den stillen Frieden braver Familien den Brand der Zerstörung geschleudert hätten, aber daß der Bürgersinn sich zusammengeschlossen habe, um Salben der Wohltätigkeit auf die Wunden zu legen.

»Brandsalbe«, sagt eine ziemlich deutliche Stimme.

Und sein Dank gebühre allen Mitwirkenden, die selbstlos ihre Künstlergaben an dies Samariterwerk hingegeben hätten, bis zu den jungen Herren des Gymnasiums, die mit der Geschmeidigkeit ihrer jungen Glieder ihr Scherflein in den »Topf der armen Witwe« zu legen sich freudig bereit erklärt hätten.

»Dat's dien Topp, Lina«, sagt Naujoks.

Es wird gelacht, und der Bürgermeister schließt etwas hastig. Aber der Beifall ist groß, und der Landrat schüttelt ihm vor dem ganzen Saal die Hand.

Dann steht Dr. Redlich auf dem Podium. In Cut, gestreifter Hose und sehr verbindlich. Alles an ihm ist glatt, Haar, Gesicht, der kleine Bauch, Gebärde, Sprache. Und da er jung ist, erweckt diese Glätte bei den Schülern Unbehagen. Sie erscheint ihnen als ein Stück Unnatur, als ob ein Sextaner zum Frühstück einen Syphon Bier trinken würde. Und deshalb haben sie ihn getauft und damit abgetan. »Schleimscheißer« ist ihr Urteil, und seit er es erfahren hat, hat er sich endgültig auf die Seite der Machthaber geschlagen. In seinem Alter und Beruf gibt es nur ein Entweder-Oder. Mit den Schülern oder gegen sie. Er hat in der Konferenz den Antrag gestellt, den Besuch des Festes für Schüler zu verbieten, aber er ist nicht durchgedrungen.

Es geht besser, als er gedacht hat. Er hat im Künstlerzimmer zwei rohe Eier getrunken, und er fühlt, wie seine Stimme in sonoren Wellen bis in die Winkel des Saales schwingt. Er berechnet alles, Zeitmaß, Stimmaufwand, Steigerung, und er fühlt, daß der Stoff den Erfolg verbürgt. C. A. Runge brennt gleichsam unter seinen Händen zum zweiten Male. Ein kleiner Lapsus läuft ihm im Sturm des Pathos unter: »Kinder jammern, Tiere wimmern, Mütter irren unter Trümmern.« Die Masse merkt es nicht, aber das Bühnenlicht erreicht an der Seite des Saales gerade noch Jürgen Bechlers rundes Gesicht, und es ist kein Zweifel, daß dieses Gesicht sich zur Seite dreht und feixt. So kommt es, daß Dr. Redlich, in die Ferse gestochen, vorzeitig mit der Stimme absinkt und gleichsam bescheiden schließt.

Er schließt mit den Versen: »Er zählt die Häupter seiner Lieben, und sieh, ihm fehlt kein teures Haupt.«

Er spricht sie getragen, gleichsam mit Pedal, und es beeinträchtigt ein wenig ihre Wirkung, daß eine Stimme im Hintergrund des Saales ohne Pause dazusetzt: »Man bloß Lurkschies ist weggeblieben …«

Es wird gelacht, aber der Beifall erstickt die unangebrachte Störung.

Das Lied vom braven Mann, das aus innerlichen Gründen an die zweite Stelle gesetzt ist, geht ohne Anstoß vorüber, denn Naujoks Feststellung: »Hei sabbert!« bleibt auf einen kleinen Kreis beschränkt.

Aber das Lied ist für einen Teil des Saales zu lang, und als Redlich den »Feuerreiter« ankündigt, sagt eine gutmütige Stimme: »Verheb di man nich!«

Bei der dritten Rezitation werden die Zusammenhänge nicht ganz klar. Die Notleidenden glauben, daß es sich um C. A. Runges Mühle handle, und das »Gerippe samt der Mützen« setzt sie etwas in Erstaunen. »Gerippe?« sagt Naujoks nach dem Beifall. »Woar doch in ganz gooden Futterzustand, uns' Herr?«

»Von 'n Gram, Mensch«, erwidert eine andere Stimme. »Von 'n Gram verwandelst dir in ein Gerippe.«

»Hm …«, meint Naujoks.

Der Höhepunkt ist Herr Margies. Schon daß er im Zylinder auftritt, entscheidet die Nummer. Er beginnt mit drei Tellern und endet mit sieben Bällen, einer Sektflasche, einem Dolch und einem Tablett für Gläser. Es gibt einen kritischen Augenblick, als in der Höhe des Gefechts sein weißer Selbstbinder … klack … klack … sich löst, aber als er die elegante Schleife wiederherstellt, während er auf seiner Stirn den Rand des Zylinders balanciert, erhält er Applaus bei offener Szene, und als der Vorhang fällt, ist es entschieden, daß er der Held des Abends ist.

»Im Zirkus ist der Clown mehr als Beethoven«, bemerkt die geborene Pfeffer mit der Hand am goldnen Kreuz.

»Brot und Spiele, meine Gnädigste«, erwidert Redlich mit der müden Ironie des zweiten Siegers.

Auch über Chopin fällt der Schatten von Gustav Margies. Und als Herbert Birkenwald jr. beim Umblättern zwei Seiten zugleich umschlägt, gibt es sogar eine peinliche Pause, bis er wieder zurückgeblättert hat. »Finger anlecken, Jungske«, ruft Naujoks. Aber Fräulein Birkenwald kann sich doch verneigen, und der Vorhang muß dreimal in die Höhe gehen, ehe sie in den Saal treten kann.

In diesem Augenblick, als man sich erhebt, um am Büfett seinen Durst zu löschen, geschieht das Unerwartete. Das Licht erlischt – nicht nur im Saal, sondern im ganzen Haus –, und in die Sekunde der lautlosen Verblüffung fällt der tiefe, drohende Schlag eines Gongs auf der Bühne, während hinter dem Vorhang ein ganz mattes, grünliches Licht aufsteigt. So unerwartet sind Ton und Licht, daß keine einzige Stimme nach Erklärung oder Veränderung verlangt, sondern daß jeder einzige behutsam seinen Platz wieder einnimmt. Es ist so dunkel, daß kein Gesicht zu erkennen ist, und es ist so totenstill im Saal, daß des Bürgermeisters geflüsterte Bemerkung: »Das ist doch …« für jedes Ohr vernehmlich ist.

»Eine Einlage«, sagt eine scharfe Stimme.

Der zweite Gongschlag, ganz leise, klingt wie ein Echo, und jedermann fühlt, ohne die geringste Begründung angeben zu können, daß aus diesem grünen und gespenstischen Licht eine Drohung in den Saal zu fließen beginnt. Daß es sich nicht um die bengalische Beleuchtung eines allegorischen Bildes handelt oder um einen Schleiertanz oder um eine Märchenszene. Ein Kind beginnt zu weinen und wird erschreckt beruhigt. Aber alles dieses spielt sich schnell ab, wenn auch ohne Hast, mit einer raffinierten Berechnung des Tempos, langsam genug, um sich einzuprägen, schnell genug, um Besinnung, Überlegung, Widerstand zu ersticken.

Als der Vorhang sehr langsam in die Höhe geht, bleibt das matte, grünliche Licht, und auf einen schmalen Streifen der Bühnenbretter, von rechts nach links, fällt aus einer verborgenen Lichtquelle ein weißes, erbarmungsloses Licht. So hell, daß bis in die hintersten Reihen mit einem Schlage deutlich wird, was dort steht: die Mühlenwerke C. A. Runge. Klein wie aus einem Baukasten, der Lagerplatz, die Bretterstapel, das Sägewerk, die Mahlmühle, das Wohnhaus, der Garten. Nichts ist vergessen, nicht die beiden Schornsteine, das Schwarze des Sägewerks, das Massive der Mahlmühle, nicht die drei Pappeln am Seeufer, nicht der dunkle Bretterzaun gegen die Straße. Das Ganze ist nicht größer als zwei Meter in der Länge, aber von einer so täuschenden Ähnlichkeit, als sähe man es durch ein umgekehrtes Fernglas.

Und langsam, je mehr die fassungslosen Augen sich an das Licht gewöhnen, tauchen aus dem grünlichen Dämmerlicht vor und hinter dem hellen Streifen die vier Gestalten auf, die regungslos, kaum mehr als in den Umrissen erkennbar, überlebensgroß das Spielzeug überragen. An der Vorderrampe, rechts und links, zwei Indianer, so lebensgetreu, als seien sie soeben aus vergangnen Prärien auf das Podium von Riechenberg gestiegen. Kriegsschmuck aus Adlerfedern. Mokassins, Tomahawk, die Arme auf die Mündung ihrer Repetierbüchsen gestützt. Auf den Umrißlinien der nackten Oberkörper und der Arme, deren Rot wie dunkles Kupfer erscheint, spielt der grünliche Schein des verborgenen Lichtes. Von ihren dem Licht abgewandten Gesichtern ist nichts zu erkennen. Vor der Kleinheit des Spielzeuges hinter ihnen wirken ihre Gestalten überlebensgroß.

Hinter ihnen, hinter dem Lagerplatz noch von C. A. Runge, so eng zusammengerückt, daß jedes Auge im Saal sie in der breiten Lücke zwischen den beiden Wächtern erblicken kann, kauern die beiden andern Gestalten. Sie knien auf der Erde, die Köpfe so tief gebeugt, daß nur ein schmaler Rand vom Oval ihrer Gesichter zu sehen ist. Aber niemand braucht ihre Gesichter zu sehen. Jedermann kennt die Schirmmütze von Lurkschies, seinen dunklen Rock, seinen geöffneten feldgrauen Wächtermantel, seine Taschenlampe im Knopfloch. Jedermann kennt die Melone von C. A. Runge, seine abstehenden Ohren, seinen Autopelz mit dem grauen Opossumkragen, den Brillantring auf seinem Mittelfinger.

Es ist nicht nötig, daß das weiße Licht plötzlich, von unsichtbarer Hand bewegt, aus dem Lagerplatz wandert, so daß dessen vorderste Hälfte aus dem Schatten rückt und die weiße Bahn sich über die Hände der Knienden schleudert. Jedermann versteht, was es bedeutet, daß C. A. Runge seine Brieftasche öffnet und Schein auf Schein in die zitternden Finger von Lurkschies zählt. Daß er sich umblickt und lauscht. Daß eine weit entfernte Uhr zwölfmal schlägt. Daß er davonschleicht, in die Kulissen hinein. Daß Lurkschies mit seinen beleuchteten Fingern das Geld noch einmal zählt, in sein rotes Taschentuch bindet und eine Streichholzschachtel aus dem Mantel zieht. Und es ist ein Schrei, der aus dem Saale aufsteigt, als das weiße Licht erlischt und an der Reibfläche die Flamme des Zündholzes aufbrennt. Und es ist eine unvorhergesehene und deshalb um so größere schauspielerische Leistung, daß Lurkschies bei diesem Schrei innehält, das brennende Zündholz in der halb erhobenen Hand, und langsam, ganz langsam sein Gesicht aus dem Dunklen in das matte Licht der Flamme hebt; daß der Kopf leise zur Seite geneigt ist, weil er lauscht; daß die Augen sich in den Saal richten und daß dies alles, Augen, Gesicht, Haltung, Lurkschies anzugehören scheint, nicht einem Schauspieler, einer Maske, einer Imitation, sondern daß es wie sein Leib und Leben ist, was sich dort aufrichtet. Obwohl jedermann weiß, daß er wie C. A. Runge im Gefängnis sitzt.

Der Rest jagt wie ein Film über die Szene. Zuerst brennt der Stapel rechts hinten, da, wo das Seeufer sein müßte. Gleich darauf leckt die Flamme aus dem Kesselhaus. Fast gleichzeitig steigt der rötliche Rauch am Rand des Gartens empor. Die Hand, die mit dem Streichholz von Ort zu Ort tastet, erhellt sich in dem flackernden Licht, erscheint wie die Hand eines Riesen und wirft einen riesenhaften Schatten über den ganzen Lagerplatz. Zugleich beginnt das Heulen eines fernen Sturmes sich zu erheben. Er heult hinter den Kulissen, auf irgendeinem primitiven Instrument, aber es ist nicht ein Ohr im Saale, das ihn nicht über den See heranbrausen hörte, durch die entlaubten Bäume, über die schlafenden Dächer.

Das Spielzeug muß mit einer Flüssigkeit getränkt sein, denn die kleinen Flammen rasen über das weiße Holz hinweg, und das Knistern der kleinen Funken donnert in das Schweigen wie der Brand eines Speichers. Es ist wie bei einem Puppentheater, wo alles lebensgroß erscheint, sobald der Mensch von der Bühne verschwindet. Und die kauernde Gestalt des Brandstifters ist kein Maßstab. Der Brand ist das Wirkliche, das Maßstabgerechte, und die kauernde Gestalt ist das gespenstisch Riesengroße, der Dämon, der aus seinem Werke wächst.

Als der erste Stapel in einer Funkenwolke stürzt, schlägt dieselbe ferne Kirchenglocke einen einzelnen, dröhnenden Schlag. Die Gestalt richtet sich auf, liegt in den Knien, hebt das seitlich gewendete lauschende Gesicht, stützt einen Arm vor sich auf den Boden, ein Tier, das zum fliehenden Sprung ansetzt.

In diesem Augenblick ertönt hinter der Bühne, weit wie aus einem Dachfenster jenseits des Marktes, der hohe, angstvolle, emporgerissene Schrei eines Kindes. »Feu…er!« schreit es. Wahrscheinlich ist es nicht mehr als der geflüsterte Ruf aus einer Kulisse, aber er braust in das Gewölbe des Saales wie ein Posaunenstoß. Im selben Augenblick stürzt der schwarze Schornstein des Sägewerkes in die kleinen Flammen. Ein Schornstein, der nicht höher ist als zwei Spannen, aber der die Wände des Saales zu zerschmettern scheint. Im selben Augenblick ist Lurkschies fort, sind die Indianer fort, ausgelöscht, versunken, der Gongschlag dröhnt noch einmal aus der Ferne …

»Die Wahrheit!« schreit eine schneidende Stimme.

Im selben Augenblick flammt das Licht im Saal auf. Und mit einem Schlage ist alles ein Spiel gewesen. Auf der Bühne erlischt ein Spielzeug von lächerlicher Kleinheit, dessen Funken weit vor den Kulissen ersterben. Der Sturm ist fort, die Gestalten sind fort, alle Gesichter sind wieder im Raume, nah, greifbar, lebendig, die Kleider der Damen schimmern, die Wände sind da, die Decke, die Vorhänge vor den Fenstern, die Wirklichkeit, das Leben.

Der Bürgermeister ist der erste, der in das Künstlerzimmer stürzen will. Aber die Tür ist von innen verschlossen. Die Parterreakrobaten von Nummer 8 schwingen sich vom Saal aus auf die Bühne und treten den schwelenden Rest des Feuers aus. Als sie die Tür von innen öffnen, ist alles leer. Das Fenster nach dem Hof ist geöffnet, aber draußen ist die Nacht, der Wind, die Sterne. Nicht der Schatten einer Spur ist vorhanden.

»Unerhört!« sagt die scharfe Stimme des Landgerichtsdirektors. Der Bürgermeister steht auf der Bühne. Sein Gesicht ist noch immer weiß, aber er ballt die Fäuste und sagt, daß ein unerhörtes Bubenstück hier geschehen sei. Er verspreche, daß die Untersuchung mit aller Schärfe geführt werden würde, und bitte, den Gang des schönen Festes durch diese widerwärtige Maskerade nicht unterbrechen zu lassen.

Aber der Beifall ist nicht so allgemein, wie er erwartet hat. An einigen Stellen wird gelacht, taktmäßig, wie nach einem verabredeten Plan: »Ha … ha … ha …!«

»Von wegen Maschkerade!« ruft Naujoks frech und laut. »De Woahrheit weer dat, de nackigte Woahrheit!«

»Ruhe!« brüllt der Bürgermeister.

»Von wegen Ruhe! Dat is keene Klippschul hier!«

Der Pumapfiff durchschneidet den Lärm, auf zwei Fingern in das bestürzte Gesicht des Saales geschleudert. »Lumpenpack!« schreit jemand. »Mit eurem Wohltätigkeitskleister!«

Die Gesichter der »Notleidenden« sind plötzlich scharf geworden, böse, unfestlich.

»Boas an die Front!« schreit eine hohe Knabenstimme. »Rette das Kapitol und seine Gänse!«

Plötzlich, kein Mensch weiß, auf welche Weise, ist der Maurerhut im Saal und fliegt von Gruppe zu Gruppe, über die Papiergirlanden hinweg. »Boas, dein Zylinder!«

Frauen und Kinder stürzen durch die Türen nach hinten. Fräulein Bierkandt, in Schlangenschuhen und Spitzenkleid, steht auf einem Stuhl, schwenkt ihren Seidenschal und ruft: »Ein Hoch auf den Indianer!«

»Hurra!« brüllen Gymnasium und die Seitenreihen.

Der Landjäger, auf Befehl des Bürgermeisters, steht vor Naujoks. »Ich forderte Sie auf, den Saal zu verlassen.« Eine unsichtbare Hand stülpt ihm den Maurerhut über die Augen.

»Genossen!« schreit Naujoks. »Gut! Wi goahne von sülwst … de Herres wolle under sich bliewe.«

Der Auszug ist geräuschvoll, ohne Übereilung, ohne zarte Rücksichtnahme auf das Publikum in den Türen. Auch sind die Notleidenden nicht die einzigen, die den Saal verlassen. »Gymnasium … kehrt!« ruft eine Stimme.

Der letzte ist Naujoks, der sich mit »Randbemerkungen« aufgehalten hat. Seine Frau ist von ihm getrennt worden, und er fühlt seinen breiten Rücken frei. Auf der obersten Stufe der Treppe, die von der Mitteltür in den Saal führt, dreht er sich noch einmal um. Die Trümmer des Festes liegen zu seinen Füßen. Er hebt seine Hand, die wie ein Ruderblatt aussieht, macht eine kreisförmige, einladende Bewegung mit ihr und verabschiedet sich, wiewohl ohne klassische Bildung aufgewachsen, mit dem Zitat aus Goethes »Götz von Berlichingen«.

Hinter seinem Rücken bleibt ein trostloses, begossenes Schweigen. Der Ausschuß tritt zusammen, der Bürgermeister, der Landrat, das Gericht. Es wird beschlossen, das Programm zu Ende zu führen, aber es ist peinlich, daß die Spitzen des Kreises ihre Wagen bestellen. Der Wirt Zum Goldenen Löwen schäumt, der Piccolo erhält eine Maulschelle, Fräulein Kasulke bricht in Tränen aus, die schmerzliche Furchen durch ihren Puder ziehen, Herr Gollimbek trocknet seine Hände an einem großen weißen Taschentuch, die Akrobaten sind verschwunden, Boas sucht seinen Maurerhut unter den übereinandergestürzten Stühlen.

Das Fest geht weiter, aber um seine Trümmer sitzen die Gäste wie um ein Begräbnis, und als es kurz nach Mitternacht endet, ist die Luft bitter von Vorwürfen, Verdächtigungen und Beleidigungen.

Es gibt kein Nachspiel, weil die Personen des Dramas im Dunklen bleiben. Es gibt nur ergebnislose Fragen, Verhöre, Untersuchungen. Im Gymnasium, beim Bürgermeister, in den Familien. Es gibt eine gespannte Atmosphäre, die sich von Tag zu Tag verdichtet, je näher die Hauptverhandlung heranrückt.


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