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XV

Es ist nicht viel, was geschehen könnte. Was geschieht, läuft in den Kammern der Seele um, öffnet sich vorsichtig in Gesprächen von Mund zu Mund, hebt sich in Träumen auf, spiegelt sich in heimlichen Tränen.

Barbara zieht in die Apotheke, in das exotische Zimmer hinter der Offizin, und allen Vorstellungen, Widerständen und leidenschaftlichen Ausbrüchen seiner Frau setzt der Apotheker ein lähmendes Schweigen entgegen.

Ein westdeutsches Sägewerk erwirbt die Mühlen- und Sägewerke C. A. Runge in der Zwangsversteigerung, baut in acht Tagen ein behelfsmäßiges Werk auf, und die Gatter sägen wieder Tag und Nacht durch die stöhnenden Stämme.

Das ist das, was man sieht und weiß. Alles andre aber bleibt in den Kammern der Seele. Die Mauern des Gefängnisses sind dick, die Fenster vergittert, die Tore verriegelt. Wenig dringt aus ihnen heraus, und das Wenige verzerrt sich zu unkenntlichen Formen, ehe es nach Riechenberg gelangt. Wie Wolken, die über die Schwelle des Horizontes steigen und zu Fabeltieren schwellen und zerreißen, bevor sie am Zenit sind.

»Meine Liebe«, sagt die geborene Pfeffer in einer internen Kaffeestunde, »sind Sie denn wirklich so naiv zu glauben, daß Runge verheiratet war? Er ahnte das Entsprechende und öffnete um Mitternacht das Schlafzimmer, in dem dieser Indianerhäuptling sich mit dieser Person in zärtlichster Vereinigung befand. Ist es Ihnen nicht bekannt, daß man sein Boot am Garten gesehen hat? Daß er eine halbe Stunde nach Ausbruch des Brandes die Kleider und Bücher der Person in dieses Boot getragen hat und damit über den See nach der Apotheke gefahren ist? Ist Ihnen nicht bekannt, daß dieselbe Person seit acht Tagen in der Apotheke wohnt? … Mit dem Brand zu tun? Mehr, als Sie denken, meine Liebe! Man spricht davon, daß Runge von ihnen niedergeschlagen, gefesselt und auf den Lagerplatz geschleppt worden sei. Dort hätten sie das Feuer angelegt, um den unbequemen Zeugen zu erledigen und die Versicherungssumme einzustreichen. Aber Lurkschies, der Brave, hat gewacht. Runge, in Todesangst vor den entmenschten Mördern, ist dann geflohen … Romantik? Meine Liebe, ich glaube, daß es am Silberstrom noch ganz andre Romantik gibt als diese.«

So sprach die geborene Pfeffer, die rechtskräftig zu fünfundzwanzig Mark Geldstrafe wegen Beleidigung verurteilt worden war.

Nein, hieß es auf der andren Seite des Marktes. Runge habe seine Frau an den Indianer verkauft, und der Preis sei die Anlegung des Brandes gewesen. Lurkschies habe die Täter dabei getroffen und sei durch ein indianisches Gift gelähmt worden, bis es zu spät zur Rettung gewesen sei.

»Wieder einmal der Schüler Wiltangel«, sagte Boas lächelnd. »Es ist ihm seinerzeit bereits bescheinigt worden, daß er ein Seuchenherd dieser Stadt sei …«

Aber was den Markt und die Gesellschaft von Riechenberg erfüllte, erfüllte nicht die Stadt. Da war die ganze Vorstadt, Fischerstraße, Südost, in der nicht eine Seele an die Indianergeschichte glaubte. Da war das ganze Gymnasium, vom kleinsten Powel bis zum Oberprimaner Ellermann, der einen Schnurrbart trug und von dem das Gerücht ging, daß er einen Sohn habe, das wie eine Mauer um die Ehre des Exoten stand. Da war Schreyvogel und der Kreis der Umstürzler, die Delegierte auf geheimnisvolle Reisen schickten, die in der Provinzpresse seltsame Fragen und Antworten veröffentlichten und die mit einem unangenehmen, wissenden Lächeln den Gerüchten zuhörten, die in jeder Nacht aus dem Pflaster zu steigen schienen.

Auch war der Aktenband Runge und Genossen weit davon entfernt, die Auflösung der im Dunkel jener Nacht verflochtenen Fäden zu enthalten.

Es sagten aus und blieben dabei:

C. A. Runge, daß ein altes Liebesverhältnis zwischen seiner Frau und Wiltangel bestanden habe. Daß p. Wiltangel den Versuch gemacht habe, ihm seine Frau abzukaufen und als Preis 50 Prozent des Inkaschatzes geboten habe, zu dem er in seinem Kitschua den Schlüssel zu haben behauptet hatte. Als er dieses abgelehnt habe, sei er von p. Wiltangel bedroht worden mit den Worten, er, Runge, werde noch Dinge erleben, die es ihm geraten erscheinen lassen würden, seine Frau für eine Kiste Zigarren zu verkaufen oder für eine Fuhre Brennholz, wobei er das Wort »Brennholz« auf eine seltsame Weise betont habe. Außerdem bitte er, seinen Schwiegervater, den Forstkassenrendanten i.R. Hindersin, als Zeugen zu vernehmen, der aussagen werde, daß p. Wiltangel ihm mit einer Anzeige wegen einer früheren Unterschlagung von fünftausend Mark gedroht habe, wenn er seine Tochter nicht veranlasse, die Scheidungsklage gegen ihn, Runge, einzureichen.

Außerdem sei seine Frau am Nachmittag des Brandtages bei ihrem Vater gewesen und weinend in der Dunkelheit zurückgekommen.

Beweis: Lurkschies, der das Fuhrwerk bei der Rückkehr in Empfang genommen habe. Woher er dieses letztere wisse? Darüber müsse er die Aussage verweigern. Außerdem bitte er, den Untersekundaner Jürgen Bechler zu vernehmen, der drei Tage vor dem Brand in der Dunkelheit bei seiner Frau gewesen sei und von dem stadtbekannt sei, daß er eine der Kreaturen des p. Wiltangel sei. Lurkschies, daß die Angaben des p. Runge vollinhaltlich zuträfen; daß er in der Brandnacht um Mitternacht eingeschlafen sei und, kurz vor ein Uhr, über dem Heulen eines Hundes erwacht, Brandgeruch wahrgenommen, Feuerschein an drei Stellen gesehen und im Kesselhaus p. Wiltangel entdeckt habe, der das Sägemehl vor den Kesseln mit Petroleum übergossen und angezündet habe.

Bei seinem Versuch, das Feuer zu ersticken, sei er von p. Wiltangel mit einem gekrümmten Messer angegriffen worden und habe sich nur durch die Flucht retten können.

Wiltangel: Er leugne nicht, kurz vor ein Uhr auf dem Lagerplatz gewesen zu sein, wo es an drei Stellen bereits gebrannt und wo er gesehen habe, daß Lurkschies an einer vierten Stelle Feuer angelegt habe. Zum Löschen sei es zu spät gewesen. Über die Gründe seiner Anwesenheit auf dem Lagerplatz verweigere er die Auskunft.

»Erstens«, argumentiert der Staatsanwalt, »Tatsachen: Bei Beginn des Brandes befinden sich Runge sechsundsiebzig Kilometer entfernt von der Brandstätte – Alibi einwandfrei –, Lurkschies und Wiltangel auf der Brandstätte; zu 1 als Wächter, zu 2 unter Verweigerung der Angabe der Gründe.

Hypothese 1: Wiltangel legt das Feuer an, um sich zu rächen. Erfolg: Runge erhält die Versicherungssumme. Erledigt.

Hypothese 2: Wiltangel legt das Feuer an, um Frau Runge zu bekommen. Erfolg: wie 1, es sei denn, daß er Runge der Brandstiftung bezichtigen und hinreichend verdächtig machen könnte. Es ist ihm bekannt, daß Runge verreist ist. Weshalb wartet er nicht bis zu Runges Rückkehr, um ihn dann zu bezichtigen? Erledigt. Statt dessen bezichtigt er Lurkschies. Erfolg in diesem Falle wie zu 1 und 2. Erledigt.

Hypothese 3: Wiltangel legt das Feuer im Einverständnis mit Runge an. Kaufpreis: die Frau. a) Lurkschies Mitwisser. Weshalb bezichtigt er Wiltangel, statt geschlafen und nichts gesehen zu haben? Unklar. b) Lurkschies nicht Mitwisser. Aussage wahr. Krummes Messer in Wiltangels Koffer gefunden. Wenn wahr, weshalb Eingeständnis Wiltangels, auf der Brandstätte gewesen zu sein? Weshalb nicht Leugnung? Unklar.

Hypothese 4: Wiltangel legt das Feuer im Einverständnis mit Runge an. Kaufpreis: die Frau. Runge will die Tat, aber den Täter um den Kaufpreis prellen. Besticht Lurkschies oder empfiehlt ihm schärfste Wachsamkeit … Drohbriefe erhalten und so weiter. Klar. Aber weshalb gibt Wiltangel zu? Unklar.

Hypothese 5: Lurkschies legt ›für sich allein‹ das Feuer an. Überrascht. Bezichtigt. Motive? Unklar.

Hypothese 6: Lurkschies legt im Auftrag von Runge das Feuer an. Versicherungsbetrug. Wird von Wiltangel überrascht, bezichtigt ihn. Was tut Wiltangel dort? Ist er in der Nacht bei Frau Runge und schweigt, um sie zu schonen? Möglich. Aber das krumme Messer?

 

Resümee: Es scheiden aus Hypothesen 1 und 2. Es sind denkbar Hypothesen 3 bis 5, es ist möglich Hypothese 6.

Es wird Anklage erhoben gegen Wiltangel, Runge und Lurkschies wegen vorsätzlicher Brandstiftung bzw. wegen Beihilfe dazu.

Es werden Zeugen geladen: auf Anordnung der Staatsanwaltschaft Frau Barbara Runge, die beiden Dienstmädchen des Rungeschen Hauses, die Schülerin Eva Kaltenborn, der Forstkassenrendant i.R. Hindersin, der Untersekundaner Jürgen Bechler, die Eltern des p. Wiltangel. Auf Antrag des Verteidigers von C. A. Runge der Kommissar der Feuerversicherung Nordstern zum Zwecke des Nachweises, daß das Lager unter Höhe seines Wertes versichert gewesen sei. Auf Antrag des Verteidigers von Wolf Wiltangel der Justizsekretär Hugo Schreyvogel über intime Beziehungen von C. A. Runge zu Frau Lurkschies und ebendieselbe Frau Lurkschies. Vorbehaltlich weiterer Anträge auf Zeugenladung im Laufe des Prozesses.«

 

Bis zur Hauptverhandlung geschehen einige merkwürdige Dinge.

Erstens: in Riechenberg.

Es wird nie ganz klar, wer zuerst auf den Gedanken einer »Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten der Brandopfer der Stadt« gekommen ist. Die geborene Pfeffer behauptet es vom Lehrkörper, der Lehrkörper von der geborenen Pfeffer, die Frau des Postmeisters von der Frau des Bürgermeisters und so weiter. Fest stand, daß hundertundzwanzig Arbeiter mit ihren Familien für einige Zeit arbeitslos waren und daß drei Häuser abgebrannt waren. Aber ebenso stand fest, daß eine Reihe von Familien ein Beispiel geben wollte, daß man die soziale Frage auf eine Weise zu lösen gedachte, die Vergnügen mit Nächstenliebe verband. Und ebenso fest, daß in Riechenberg verborgene Talente lebten, die aus der Verschüttung nach dem Lichte strebten.

Da war Fräulein Birkenwald, eine ältere, unverehelichte Schwester des Direktors, die Klavierunterricht erteilte und seit zehn Jahren an der Chopinschen »Fantasie auf den Tod eines Helden« (f-Moll, op. 49) arbeitete. Da war Fräulein Kasulke, Dentistin, die alle Honoratioren-Zähne von Riechenberg kannte und am Sonnabend und Sonntag bei geöffneten Fenstern Schubertlieder sang. Da waren Schauspielerinnen, Spitzentänzerinnen, Rezitatoren, ein Jongleur (Verkäufer im Konfektionshaus Bieber & Co.), da war sogar ein Streichquartett mit Gollimbek als Primgeiger.

Die ersten Besprechungen ergaben ein Programmgebot von etwa sechseinhalb Stunden Dauer. In vierzehn Tagen, nach erbitterten Kämpfen, konnte das Programm als unumstößlich gelten.

 

1. Ouvertüre zu den »Ruinen von Athen«
L. van Beethoven

für zwei Klaviere zu vier Händen

Frau Ewerling und Fräulein Birkenwald
Frau Dr. Keiserling und Herbert Birkenwald jr.

2. Ansprache des Bürgermeisters

3. Aus der »Glocke«
Friedrich von Schiller
Der Feuerreiter
Eduard Mörike
Das Lied vom braven Mann
Gottfr. Aug. Bürger

Rezitation:
Studienreferendar Dr. Redlich

4. Cagliostro redivivus
Jongleurexzentriksketch

Herr Gustav Margies

5. Fantasie auf den Tod eines Helden
Fréd. Chopin op. 49

Fräulein Agatha Birkenwald

Pause

6. Der Feuerreiter
Hugo Wolf
Der Fischer
Franz Schubert
Der Erlkönig
Franz Schubert

Fräulein Lisl Kasulke
Am Flügel:
Fräulein Agathe Birkenwald

7. Adagio aus dem Streichquartett op. 18, Nr. 6
L. van Beethoven

Die Herren:
Gollimbek, Ohnesorge, Licht und Tausendfreund

8. Parterreakrobatik und Pyramiden

Schüler des Staatl. Humboldt-Gymnasiums zu Riechenberg

Tombola. Glücksrad. Würfelbude. Amerikanische Versteigerung. Tanz.

 

Die Mitglieder des Festkomitees behaupteten, daß dieses Programm Stil besitze, da fast alle Nummern in einer innerlichen Beziehung zu dem Zweck des Festes ständen. Die Vertreter der einzelnen Nummern ließen, nicht ohne hämisches Lächeln, durchblicken, daß die Milde des Programmausschusses nur durch den sozialen Zweck des Festes einigermaßen entschuldigt werden könne.

»Sie schreit, als ob sie sich selbst einen Zahn zieht«, konnte beispielsweise Fräulein Birkenwald von der Schubertsängerin zu ihren Schülerinnen sagen.

»Nummer 1 müßte eigentlich die ›Ruinen von Riechenberg‹ heißen«, sagte Lisl Kasulke in einer wohltätigen Pause ihrer Bohrmaschine zu ihrer Patientin, die mit geöffnetem Munde im Stuhl saß.

»Streichquartette in allen Ehren«, sagte Dr. Keiserling im Konferenzzimmer, »aber daß die Nichtakademiker in einer Gymnasialstadt die erste und zweite Geige spielen, dürfte doch den Belangen des Philologenstandes nicht ganz entsprechen.«

»Margies«, sagte die geborene Pfeffer, »ja, faute de mieux natürlich … es bleiben immer Prätentionen hängen, wenn solche Leute in gebildete Kreise kommen.«

Es gab ironischen Applaus bei den Proben. Es gab Anzüglichkeiten, Wortwechsel, Szenen. Aber die »Arena« hielt sie zusammen, des Ruhmes Silberton, der Traum von Beifall, Jubel, da capo. Der Wunsch nach Programmnummer 8 war vom jungen Grafen Kalnein ausgesprochen worden, höflich, zurückhaltend, bestimmt. Die geborene Pfeffer hatte ein wenig mit ihrem goldenen Kreuz gespielt, aber man hatte nicht abzulehnen gewagt, obwohl der Graf anscheinend auch zu denen gehört hatte, die … aber vielleicht sei ihm nun ein Licht aufgegangen.

Acht Tage vor dem Fest gab es einen neuen Stoß. Bei der geborenen Pfeffer lief ein Brief mit der Anfrage ein, wieviel Ehrenkarten die »notleidende Bevölkerung« zu dem Fest zu erwarten habe. Oder solle die nämliche Bevölkerung vor den Saalfenstern stehen und die Mützen hinhalten, wenn es zu Ende sei? »Mit besten Grüßen Lina Schönwald«, stand unter dem Brief. Dahinter in Klammern: »Für viele«.

Der Ausschuß trat zusammen und beschloß nach einer eindringlichen Rede des Bürgermeisters, fünfzig Freikarten auszugeben. Die Verteilung sollte der Betriebsrat von C. A. Runge vornehmen. »Politik ist die Kunst der Realitäten, meine Damen und Herren«, sagte der Bürgermeister. »Der Winter steht vor der Tür, und es ist nicht gut, dem Frierenden den Mantel wegzunehmen.« Mit dieser glücklichen Formulierung schloß er die Sitzung.

Die soziale Haltung der Riechenberger Bürgerschaft kam in die Zeitungen. Die Stiftungen für Tombola, Würfelbude und Versteigerung übertrafen alle Erwartungen. Natürlich gab es auch hier Hochstapler, »Müllkutscher«, wie die geborene Pfeffer sie nannte, die den Abfall ihres Hausrats auf den Gabentisch abluden: Porzellantassen mit einem kleinen Sprung, selbstgemalte Teller, gehäkelte Börsen, Goethe in Gips, den Trompeter von Säckingen. Aber die Kaufleute waren großzügig, die Landwirtschaft knauserte nicht mit Naturalien.

»Ein großer, ja ein glänzender Erfolg steht zu erwarten«, schrieb die Riechenberger Zeitung.

 

Zweitens: in der Kreisstadt.

Acht Tage vor der Generalprobe zum Wohltätigkeitsfest erhält der Untersuchungsgefangene Wiltangel eine kleine Kiste mit Feigen. G. F. Bechler, Kolonial- und Eisenwaren. Sie geht durch die Kontrolle. Sie ist nicht verdächtig. Wolf stellt sie auf seinen Tisch und betrachtet sie von allen Seiten. Nichts. Er nimmt die Feigen heraus und untersucht den Boden. Nichts. Dann beginnt er mit dem Essen. Er liebt Feigen nicht besonders, aber das Ganze kommt ihm merkwürdig vor.

Die dritte Feige in der zweiten Schicht ist es. Er beißt auf etwas Sprödes, Trockenes. Es ist ein dünnes, vielfach gefaltetes Papier. Schreibmaschinenschrift. »Freitag, 23. d.M., 21 Uhr. Motorboot auf Laseny-See. Vollmond. Gib Zeichen. Handtuch oder Licht, damit wissen, welches Fenster. Befreier nahe.«

Zuerst erschrickt er, aber dann lächelt er. Sie haben nicht alles verschütten können, Boas und Kompanie. Nicht alles verbiegen. Es ist eine Menge übriggeblieben, an das sie nicht herankommen. Er geht ans Fenster und sieht hinaus. Die Rückwand des Gefängnisses geht auf den See. Es sind nicht mehr als zwanzig Schritte. Eine hohe Mauer, Glasscherben und Stacheldraht. Dazwischen die Gemüsebeete der Gefängnisbeamten. Leichtsinnig, denkt er, so nahe am Wasser.

Zuerst denkt er an den Rechtsanwalt, der die ganze geplante Aktion abbremsen könnte. Aber das wäre nicht gut. Es ist eine Sache zwischen ihm und dem Camp allein. Und wenn sie erst das Fenster wissen wollen, ist es noch Zeit genug. Der See vor seinen Augen ist grau, von einem kalten Winde dunkel bewegt. Dahinter stehen die Wälder. Die Eichen haben noch einen braunen Schimmer. Alles andere ist schon winterlich verschlossen. Es friert ihn ein wenig, wenn er an das Kommende denkt. Er kennt die Gefahr, die auf ihn wartet. Aber dahinter, hinter jedem Ausgang, so oder so, steht die Erfüllung. Er hat sie herausgelöst. Er hat nichts dazu getan, als daß er zur rechten Zeit gekommen ist, aber er hat keinen Knoten durchschlagen. Er hat ihn aufgelöst, oder er hat ihn wenigstens zur Seite geschoben, als er von selbst auseinanderfiel.

Er sagt dem Rechtsanwalt nichts. Er bietet ihm von den Feigen an und bittet ihn nur, ihm eine Kerze mitzubringen. Die Nächte seien lang und schwer.

»Werden Sie es sagen?« fragt Dr. Frenkel wieder einmal.

Er schüttelt den Kopf. Nein, er werde nichts sagen.

 

Drittens: bei Hugo Schreyvogel.

Allabendlicher Besuch: die Campleute. Mit hochgeschlagenen Kragen. Lautlos wie die Verschwörer. Klopfzeichen an der Tür. Der dünne Ton von Laubsägen und gehämmertem Blech. Der tiefe Klang eines Gongs. Geruch von Schminke. Gedämpfte Gespräche, unterbrochen von Schreyvogels Reibeisenstimme. In jeder Nacht ein paar Schatten um den Motorbootschuppen des Fischpächters. Aber alles in der Verborgenheit.

In der Schule ein Blick von Bank zu Bank, ein geflüstertes Wort in den Pausen. Musterhafte Vorbereitung zu den Lehrstunden. »Höchst segensvoll«, meckert Boas, »wenn gewisse Leute … wieder einmal … hinter gewissen Türen verschwinden.«

Ruhige, klare Augen, die an seiner Brille haften. Kein Lächeln, keine Verlegenheit. Musterhafte Übersetzung, musterhafte grammatische Erläuterung.

Am Abend der Generalprobe, Freitag, 20.18 Uhr, während auf zwei Flügeln unter acht Händen die Ruinen von Athen zusammendonnern, öffnet sich lautlos das Tor des Schuppens, und das Motorboot, von umwickelten Rudern getrieben, gleitet wie ein Schatten auf das dunkle Wasser hinaus. Eine schwere Wolke steht vor dem Mond. Sechs Minuten rechnet Jürgen Bechler. Niebergall und Krauthenne liegen in den Rudern, daß der Schaum vor dem Bug rauscht. Der Wind steht von der Stadt hinüber, und sie können aus den geöffneten Fenstern des Goldenen Löwen die Rhythmen der Ruinen wie Stöße eines Motors hören. Vom Kirchenturm schlägt es ein Viertel.

Jürgen sieht noch einmal zurück. Die Brücke schwebt wie ein feines Gespinst vor der sich erhellenden Wolke. Im Sägewerk fressen die Gatter, knirschend und atemlos. Es riecht noch immer nach Brand und Trümmern.

»Stopp!« schreit er und wirft den Motor an. Die Kette der Explosionen heult in die Höhe. Dann donnern die Zylinder im rasenden Takt. Sie sehen zurück. Das Wasser leuchtet schon hinter ihnen. Ein matter Schein fließt über die Dächer. Die wenigen Lichter verblassen. Ein Hund heult an der Bahnstation. Jürgen hängt über dem Motor, zusammengekauert wie über einem Tier. Die beiden anderen liegen zu seinen Füßen. Der Mond scheint scharf in ihre vorwärtsgewandten Gesichter, hinter denen die Haare wie eine wehende Fahne stehen. Sie denken nicht. Sie haben nur Bilder vor ihren tränenden Augen, Fetzen von Bildern, die durch einen schmalen Lichtstreifen schießen: Wasser, das wie dunkler Stoff unter einer blitzenden Schere zerreißt, Raumsilhouetten, ernst und groß vor milchhellem Himmel, ein einsames Licht, das am Ufer entgegenkommt, da ist, hinter ihnen verschwindet, die Vision eines finsteren Hauses, wie ein Brett gegen den Himmel gestellt, und ein Licht, das da sein wird, ein wehendes Tuch, ein Zeichen aus dem Abgrund. Und alles dieses getränkt von dem Strom eines brausenden Lebens, das über alle auftauchenden Gesichter spült. Boas, schlafend in seinem Bett, der Ziegenbart wie eine Baumflechte auf den weißen Kissen … die acht mißgünstigen Hände über den Tasten der beiden Flügel … das Gesicht des Oberkellners, bleich, fett, feucht …

»Gläser!« ruft Jürgen über den Motor hinüber.

Die Fahrrinne ist schmal, bevor sie sich in den Laseny-See öffnet, aber er vermindert die Tourenzahl nicht. Land und Wasser liegen vor seiner Erinnerung wie eine Seite aus der Syntax. Er kann die Augen schließen und mit der Hand auf jede Rohrinsel deuten, die vorüberfliegt.

Die andern wickeln die Ferngläser aus der Wolldecke. Das Boot schießt nach rechts in den sich öffnenden See, wendet in einem sanften Bogen, mäßigt die Fahrt und gleitet geradeaus auf das finstere Viereck am andern Ufer zu. Es wächst aus der Erde, Zoll für Zoll, blasses Mondlicht um Blitzableiter, Gesimse und Fenster.

Der Motor schweigt. Sie knien hinter dem Ruderhaus. Nur die Gläser schieben sich über den Rand. Sie hören jeder des andern Herzschlag, einen gedämpften Motor, der erstickt in das Schweigen hämmert. Jürgen dreht sein linkes Handgelenk ins Licht.

»Zwanzig neunundfünfzig«, sagt er heiser. Sie pressen das Bild der Hauswand in ihre Erinnerung hinein. Zweimal elf Fenster. Vor der untersten Reihe ragt die Ufermauer. Aber die unterste kann es nicht sein. Da sind die Wohn- und Büroräume.

Eine Kirchenglocke schlägt an, fern, hoch, unerreichbar. Neun langsame Schläge. Und beim neunten Schlage springt in der obersten Reihe ein Fenster ins Licht. Das dritte von links. Sie sehen mit den Gläsern jeden Gitterstab vor dem hellen Hintergrund. Sie sehen die Flamme der Kerze links unten am Fensterrand, Hand und Arm, die die Kerze heben. Steil in die Höhe, schräg nach unten rechts, steil in die Höhe. Pause. Ein Kreis rechts daneben. Pause. Das Licht versinkt. Nur ein matter Dämmerschein bleibt.

»No«, flüstert Jürgen.

Noch einmal … Strich … Strich … Strich … Strich … Pause … Kreis.

Noch einmal … Strich … Strich … Strich … Strich … Pause … Kreis.

Und dann er selbst, die Kerze in der erhobenen linken Hand, eine Bewegung der Rechten mit geöffneter Handfläche. Der Campfeuergruß. Dunkel. Schweigen.

Vielleicht dauert es drei Atemzüge lang, bis Jürgen sich gefaßt hat. Dann hebt er die Taschenlampe und berührt den Schieber. Dreimal flammt die Antwort nach dem Fenster: Strich … Punkt … Pause … Strich … Strich … Strich. »No.«

Dann tastet die Hand nach dem Motor. Das Boot wendet, langsam. Langsam sucht es die Durchfahrt aus dem See heraus.

Als sie das Boot wieder in den Schuppen schieben, hören sie noch Fräulein Kasulkes schneidende Stimme und die hämmernden Triolen zum »Erlkönig«.

Das Ganze hat eine Stunde und zwanzig Minuten gedauert.

Sie stehen noch im Garten vor Krauthennes Pension, bevor sie zur letzten Nummer der Generalprobe gehen. In den Kronen der kahlen Pappeln steht der Wind. Sie frieren nicht, aber ihre Glieder zittern, weil in jenem Lichtzeichen die Hoffnung aus ihnen gestürzt ist. Und nun sind sie leer.

»Nichts zu machen«, sagt Jürgen schließlich. »Aus und erledigt.«

»Wir könnten noch einmal einen Zettel …«, wendet Krauthenne ein.

»Nein. Er wird seine Gründe haben. Fertig. Aber von morgen ab, bei der leisesten Anspielung, wird den Armleuchtern auf die Hühneraugen getreten, daß sie wie eine Rakete hochgehen … Nun kommt … und setzt ein Bürgergesicht auf … der Schleimscheißer ist da …« Hört ihr's wimmern hoch vom Turm? Das ist Sturm.

Und dann waren sie aufmerksame Zuschauer von Nummer 8, Parterreakrobatik und Pyramiden. Von den Campleuten wirkte nur Graf Kalnein mit, weil das Los auf ihn gefallen war.


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